Zwei Babys und eine Blitzhochzeit - Melissa Senate - E-Book

Zwei Babys und eine Blitzhochzeit E-Book

Melissa Senate

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Beschreibung

Ihre kleinen Söhne wurden bei der Geburt vertauscht! Shelby ist entsetzt. Das Baby, das sie mehr liebt als ihr eigenes Leben, ist der Sohn des reichen Ranchers Liam Mercer. Und jetzt? Liam macht ihr einen ungeheuren Vorschlag: eine Vernunftehe. Mami, Daddy und zwei Babys …

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Seitenzahl: 175

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IMPRESSUM

Zwei Babys und eine Blitzhochzeit erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2018 by Melissa Senate Originaltitel: „The Baby Switch!“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA, Band 74 Übersetzung: Alina Lantelme

Umschlagsmotive: GettyImages / LSOphoto, Damla Ozturk

Veröffentlicht im ePub Format in 05/2022

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751514378

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

Liam Mercer ging im Kopf seinen Terminplan für Freitag, den vierzehnten April, durch: Neben Verhandlungen über den Kauf von Kenyon Corp., vier Meetings, dem Unterzeichnen unzähliger Papiere und der Vorbereitung des vierteljährlichen Vorstandsberichts wollte er seinen Sohn für dessen allerersten Haarschnitt zu Kidz Kutz bringen, wo es einen Kindersitz in Form einer Eisenbahn geben sollte.

Sein letzter Tagesordnungspunkt sah außerdem vor, beim wöchentlichen Abendessen der Familie auf der Mercer-Ranch den Riss in der Beziehung zwischen seinem Vater und seinem jüngeren Bruder Drake zu kitten. Drake machte schon immer, was er wollte.

Also ein Freitag wie jeder andere, mit Ausnahme des Friseurbesuchs. Wenn es um Alexander ging, liebte es Liam, wenn sich Dinge zum allerersten Mal ereigneten. Er notierte alle Geschehnisse dieser Art in einem Entwicklungsbuch, das ihm seine Cousine Clara am Tag nach der Geburt seines Sohns zusammen mit einer riesigen Plüschgiraffe geschenkt hatte. Der allererste Eintrag lautete:

Eine knappe halbe Stunde nach seiner Geburt hat Alexander West Mercer mit seiner winzigen Faust meinen Zeigefinger umschlossen.

In diesem Moment hatten sich alle Sorgen in Luft aufgelöst, ob er als achtundzwanzigjähriger Single und Unternehmenschef tatsächlich ein Baby aufziehen könnte, zumal er keine Ahnung gehabt hatte, dass er Vater werden würde. Natürlich waren all die Sorgen kurz darauf zurückgekehrt, aber er hatte den kleinen Jungen sofort ins Herz geschlossen.

Um kurz vor neun Uhr öffnete er die Tür von Mercer Industries und betrat mit Alexander auf dem Arm den Eingangsbereich des Unternehmens. Die schwere Tasche mit den Babysachen trug er über der Schulter.

„Ah, da ist Wyomings glücklichstes Baby!“

Seine Lieblingscousine Clara, die Vizechefin von Mercer Industries war, tippte Alexander auf die Nase. „Ja, du bist ein Glückskind, Millionär von Geburt an. Schöne graublaue Augen, das Grübchen der Mercers und eine Familie, die in dich vernarrt ist. Nicht zu vergessen ein Daddy, der dich in der praktisch gelegenen Kita hier im Unternehmen zweimal täglich besucht.“

„Tatsächlich dreimal“, sagte Liam. Er konnte nicht genug Zeit mit seinem Sohn verbringen – und endlich war Freitag. Obwohl er auch am Wochenende immer arbeitete, freute er sich schon darauf, Alexander zu einer Wanderung auf den Wedlock Creek Mountain mitzunehmen und ihm dort die riesigen Pappeln zu zeigen.

Sein Sohn würde sich die Landschaft von der Bauchtrage aus ansehen – eines der vielen Geschenke, die er zur Geburt von der Familie, von Freunden und Mitarbeitern bekommen hatte. Sie waren alle total perplex gewesen, dass er Vater geworden war, denn er lebte für seine Arbeit.

Nach der Wanderung würde er Alexander im Kinderzimmer dessen Lieblingskinderbuch vorlesen und am Sonntag mit ihm zur weitläufigen Familienranch fahren, auf der sein Vater nur für seinen Enkelsohn bereits einen Streichelzoo eingerichtet hatte.

Das war noch viel zu früh, aber laut Harrington Mercer war Alexander seinem Alter um Jahre voraus. Sein Vater übertrieb fürchterlich, wenn es um seinen bisher einzigen Enkel ging. Liam musste allerdings zugeben, dass ihn der großväterliche Stolz sehr rührte.

Wie schon mehrmals in der letzten halben Stunde vibrierte sein Handy in der Hosentasche. „Kannst du Alexander mal einen Moment lang halten, Clara?“

„Oh nein, auf gar keinen Fall! Dann habe ich wieder sein Bäuerchen auf meinem Kleid, und das wichtige Meeting mit Kenyon Corp. steht an, wie du weißt.“ Clara lächelte Alexander an. „Ich liebe dich, mein Kleiner, auch wenn ich jetzt nicht riskiere, dass du wie beim Geburtstagsessen deiner Großmutter mein Kleid vollsabberst.“ Sie warf dem Baby einen Luftkuss zu und verschwand hinter den Milchglastüren.

Liam verdrehte lächelnd die Augen. Vor sechs Monaten und einem Tag hätte er auch nicht riskiert, dass Babyspucke auf seinem Hugo-Boss-Anzug landete. Inzwischen machte es ihm nichts mehr aus. Wie sehr er sich im letzten halben Jahr wegen seines Sohns verändert hatte, war erstaunlich.

Allerdings hielt er Alexander keineswegs für das glücklichste Baby Wyomings, wie Clara gesagt hatte, denn der Junge hatte keine Mutter. Sie war bei seiner Geburt gestorben – ein Schock.

Um sich mit seiner neuen Rolle als Vater vertraut zu machen, hatte er zwei Wochen lang Urlaub genommen und eine Säuglingsschwester engagiert. Unter ihrer Anleitung hatte er gelernt, nachts alle paar Stunden aufzustehen, Babyfläschchen zu erwärmen und Windeln zu wechseln. Er hatte herausgefunden, welche Schreie seines Babys Hunger, eine volle Windel oder das Bedürfnis nach Trost und Zuwendung bedeuteten.

Jetzt – sechs Monate später – war er vielleicht sogar ein guter Vater und rund um die Uhr für seinen Sohn da, aber er konnte dennoch keine Mutter ersetzen – und bei der Suche nach einer Mutter für seinen Sohn gab es ein Problem: Er suchte keine Ehefrau.

„Da ist ja unser kleiner Erbe!“, rief Harrington Mercer. Der achtundfünfzigjährige Generaldirektor nahm das Baby und hielt es hoch. „Alexander, während du auf dem College bist, wirst du hier in der Firma Praktika absolvieren. Dann wirst du Betriebswirtschaft studieren und schließlich einmal MI übernehmen – genau wie dein Papa und Opa das Unternehmen von deinem Urgroßvater Wilton Mercer übernommen haben.“

„Dad, er ist sechs Monate alt. Lass ihn erst einmal eine Nacht durchschlafen, bevor er als Junioranalyst bei MI anfängt, ja?!“

„Es ist nie zu früh, einen Erben darauf vorzubereiten. Das weißt du doch am besten. Du bist in diesem Gebäude groß geworden.“ Er lächelte und küsste Alexander auf die Wange. „Ich habe ein kleines Geschenk für dich.“

Er reichte das Baby wieder seinem Sohn und nahm einen winzigen braunen Stetson aus der Aktentasche. „Hier, wir mögen Geschäftsmänner sein, aber wir kommen aus Wyoming und sind im Grunde alle Cowboys.“ Er setzte Alexander den winzigen Filzhut mit breiter Krempe auf, nickte anerkennend und verschwand hinter den Milchglastüren.

„In einem Moment verstehe ich deinen Opa überhaupt nicht“, flüsterte Liam seinem Sohn zu, „und im nächsten Moment möchte ich ihn abknutschen. Hach, Menschen sind kompliziert.“

Alexander lächelte, umfasste Liams Kinn und drückte zu.

„Weißt du, was überhaupt nicht kompliziert ist? Wie sehr ich dich liebe.“

Liam fuhr mit dem Aufzug in die dritte Etage, auf der sich das unternehmenseigene Fitnesscenter, die Cafeteria und die Kita befanden. Im zweiten Raum der Kita wurden Babys bis zu einem Alter von vierzehn Monaten betreut. Die hellblauen Wände und die Ausstattung mit Wippen, Spielmatten, Wiegen und Mobiles verliehen dem Raum eine behagliche Atmosphäre.

„Guten Morgen, Mr. Mercer“, sagte die Leiterin der Säuglingsbetreuung lächelnd. „Und guten Morgen, Alexander. Hey, mir gefällt dein Hut!“

Liams Großmutter Alexandra Mercer hatte die unternehmenseigene Kita vor fast sechzig Jahren ins Leben gerufen. Damals war die brillante Geschäftsfrau und spätere Unternehmenschefin Mutter geworden und hatte ihren Ehemann und MI-Generaldirektor Wilton davon überzeugt, eine Kinderbetreuungseinrichtung für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu eröffnen.

Heute waren mehr als die Hälfte der Angestellten bei MI Frauen, und die Kita war fast immer bis auf den letzten Platz ausgelastet. Die Mitarbeiter waren zufriedener und produktiver, wenn sie ihre Babys und Kinder ganz in der Nähe gut versorgt wussten. Liam konnte das inzwischen aus eigener Erfahrung bestätigen.

Er zückte sein Handy, um ein Foto von Alexander zu machen, der immer noch den Stetson trug, und bemerkte dabei eine unbekannte Nummer auf dem Display. Der Teilnehmer hatte schon mehrmals versucht, ihn zu erreichen. Als er das Foto machte, vibrierte das Handy erneut.

„Bis nachher, Cowboy“, sagte er zu seinem Sohn und nahm das Gespräch entgegen, als er die Kita verließ. „Liam Mercer.“

„Oh, zum Glück erreichen wir Sie endlich, Mr. Mercer! Mein Name ist Anne Parcells. Ich leite die Wedlock Creek Clinic. Wir müssen Sie bitten, sofort herzukommen und Ihr minderjähriges Kind Alexander West Mercer sowie Ihren Anwalt mitzubringen.“

Liam erstarrte. „Worum geht es?“

„Wir reden in der Klinik über alles. Könnten Sie um Viertel nach neun Uhr hier sein? Die anderen werden dann auch eingetroffen sein.“

„Die anderen?!“

„Können wir Sie um Viertel nach neun erwarten, Mr. Mercer? Bitte kommen Sie in mein Büro.“

Er sah auf seine Armbanduhr. Es war fünf Minuten vor neun Uhr. „Ich werde da sein.“ Alexander war in dieser Klinik geboren worden. Wenn Mrs. Parcells seinen Sohn als minderjähriges Kind bezeichnete und von einem Anwalt redete, lag wahrscheinlich eine Art Haftungsproblem wegen der Nacht vor, in der Alexander zur Welt gekommen war. Vielleicht eine Sammelklage.

Als die Erinnerungen an den Schneesturm zurückkamen, schloss er für einen Moment die Augen. Alexanders Mutter hatte ihn angerufen. Liza Harwood hatte so verzweifelt geklungen, wie er es noch nie erlebt hatte. Allerdings hatte er sie auch nicht lange gekannt.

„Liam, es bleibt keine Zeit für Erklärungen!“, hatte sie gesagt. „Ich bin mit deinem Baby im neunten Monat schwanger, und die Wehen haben schon eingesetzt. Ich bin auf dem Weg zum Krankenhaus. Der Schneesturm ist so schlimm! Ich habe Angst, dass mir irgendetwas zustößt – für den Fall habe ich dir einen Brief hinterlassen …“

In den meisten Haushalten in Wedlock Creek war wegen des Schneesturms die Stromversorgung zusammengebrochen, und in der Klinik war der Notfallgenerator sogar zweimal ausgefallen. In der Stadt hatte es durch umgestürzte Bäume und heruntergefallene Äste sehr viele Unfälle gegeben.

Liza hatte es zwar unfallfrei in die Klinik geschafft, aber sie hatte die Geburt des Kindes nicht überlebt – eine Tragödie, die nichts mit dem Schneesturm oder der Klinikversorgung zu tun gehabt hatte.

Shelby Ingalls saß im Büro der Leiterin der Wedlock Creek Clinic und drückte ihren kleinen Sohn an ihre Brust. Shane schlief im Babytragetuch. Sie warf einen Blick auf die Tür. Hoffentlich kommt Mrs. Parcells bald zurück und bringt dieses Meeting – worum es auch immer gehen mag – möglichst schnell über die Bühne.

Shelby hatte ihren Secondhandladen Treasures um zehn Uhr öffnen wollen und vorher noch die schönen altertümlichen Bilderrahmen ins rechte Licht rücken wollen, die sie erst neulich bei einer Haushaltsauflösung entdeckt hatte. Sie wusste, dass die Bilderrahmen einigen ihrer Stammkunden sehr gefallen würden.

Wedlock Creek war zwar eine Kleinstadt, aber im Zentrum herrschte geschäftiges Treiben, und am Stadtrand fanden regelmäßig Rodeos statt. Also kamen Leute aus ganz Wyoming und besuchten die Restaurants, das Kino und eben auch die Läden in der kilometerlangen Main Street.

Als Anne Parcells angerufen und sie gebeten hatte, in die Klinik zu kommen, ihr minderjähriges Kind und ihren Anwalt mitzubringen, war Shelby gerade auf dem Weg zu ihrem Secondhandgeschäft gewesen. Mrs. Parcells Formulierung und das Wort Anwalt hatten Shelby in größte Aufregung versetzt.

Shane war nämlich sehr krank gewesen. Wegen eines Magenvirus hatte sie ihn vor einer Woche in die Klinik gebracht, wo eine Blutuntersuchung angeordnet worden war. Seitdem hatte Shelby auf die Testergebnisse gewartet.

Shane war inzwischen wieder wohlauf, und auch Mrs. Parcells hatte ihr versichert, dass ihr Sohn gesund war. Dennoch hatte die Frau darauf bestanden, dass Shelby sofort mit Shane und noch dazu einem Anwalt in die Klinik kommen sollte.

Erstens hatte sie keinen Anwalt, und es gab auch keinen Anwalt in ihrer recht großen Familie. Zweitens wollte sie nicht, dass ihre Familie von dem Termin erfuhr, bevor sie selbst wusste, worum es ging. Ihre Schwester, Mutter, Tante Cheyenne und eine Menge Cousins und Cousinen hätten sich sonst alle in diesem Büro versammelt.

Also hatte sie ihre Schwester angerufen. Obwohl Norah eine Klatschtante vor dem Herrn war, die alles und jeden in der Kleinstadt kannte, konnte sie ein Geheimnis für sich behalten. Und bei dem Telefonat hatte sich herausgestellt, dass sich ihre Schwester neuerdings ausgerechnet mit einem sehr ausgebufften Anwalt verabredete.

Ein paar Minuten später hatte ihre Schwester zurückgerufen und Shelby versichert, dass Rechtsanwalt David Dirks sie um zehn Minuten nach neun Uhr in der Klinik treffen würde. Sie hatte ihr auch ausgerichtet, dass es sich bei dem Termin höchstwahrscheinlich um eine Sammelklage handelte.

In der Nacht, in der Shane zur Welt gekommen war, hatte es nämlich einen Stromausfall gegeben, und der Notfallgenerator in der Klinik war zweimal ausgefallen. Norah hatte Shelby zugesichert, niemandem etwas von dem Termin zu erzählen, aber sie hatte darauf bestanden, dass Shelby sie danach sofort anrufen würde.

Shelby betrachtete ihren geliebten kleinen Sohn und strich über seine feinen braunen Haare. Einen Moment später erschien ein attraktiver Mann Anfang dreißig, der ein Jungengesicht hatte und eine schwarze Hornbrille trug.

„David Dirks.“ Er schüttelte ihr die Hand und setzte sich neben sie. „Wenn die Klinikleiterin hereinkommt und ihre Ansprache hält, enthalten Sie sich bitte jeglichen Kommentars. Beantworten Sie keine Fragen. Lassen Sie mich für Sie reden, ja?!“

„Ich rede immer für mich selbst, aber ich höre durchaus auf Ihren Rat, und dann sehen wir weiter.“ In diesem Moment kamen zwei andere Männer zur Tür herein. Beim Anblick des Mannes, der ein Baby auf dem Arm trug, stockte ihr fast der Atem.

Sie hatte den Mann schon einmal gesehen und würde sein Gesicht auch nie vergessen, nicht nur, weil er unglaublich gut aussah. Er war etwa eins sechsundachtzig groß, schlank und muskulös, hatte dicke dunkle Haare, schöne blaue Augen und rechts neben dem Mund ein Grübchen.

Er hatte in der Nacht, in der sie in den Kreißsaal der Klinik gebracht worden war, im überfüllten Wartebereich gesessen. Er hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen gehabt, als sie mit der Transportliege eilig hereingefahren worden war. Er hatte für einen winzigen Moment aufgeschaut, und sie hatten einander in die Augen gesehen.

Diesen Moment lang hatte die Mischung aus Angst und Sorge, die sich auf seinem Gesicht und in seinen Augen widergespiegelt hatte, Shelby derart gefangengenommen, dass sie nichts anderes mehr wahrgenommen hatte als ihn. Angesichts der Tatsache, dass sie bereits in den Wehen gelegen hatte, sollte das durchaus etwas heißen. Wenige Sekunden später hatte der Sanitäter sie in den Kreißsaal geschoben.

Seitdem hatte sie sich immer wieder einmal gefragt, ob die Person wohlauf war, auf die der Mann damals offensichtlich voller Sorge gewartet hatte. In dieser Nacht hatte ja ein furchtbarer Schneesturm getobt, und die normalerweise zehnminütige Fahrt von ihrer direkt über dem Secondhandladen liegenden Wohnung zur Klinik hatte fast eine Stunde gedauert.

Da sie jetzt diesen Mann mit dem Baby anstarrte, warf er einen Blick auf sie. Shelby konnte erkennen, dass er nachdachte, wo er ihr schon einmal begegnet war.

„Guten Morgen“, sagte eine Frau, die nach den beiden Männern ins Büro kam. „Ich bin Anne Parcells. Danke, dass Sie gekommen sind, Ms. Ingalls und Mr. Mercer.“ Alle Beteiligten stellten sich einander vor und setzten sich.

Die Klinikleiterin räusperte sich. Shelby empfand sogleich Mitgefühl. Die gemeinnützige Wedlock Creek Clinic, die eine Notfallambulanz einschloss, war ein Segen für viele Menschen im Landkreis, denn das nächste Krankenhaus lag eine Dreiviertelstunde Fahrtzeit entfernt. Im Fall einer Sammelklage müsste die Klinik vielleicht schließen.

„Ich sage es geradeheraus.“ Mrs. Parcells sah von einigen Papieren auf. „Vor einer Woche hat Ms. Ingalls ihren sechs Monate alten Sohn Shane mit einem Magenvirus in die Klinik gebracht. Es wurde eine Blutuntersuchung angeordnet. Laut den Laborergebnissen, die uns seit heute Morgen vorliegen, besteht eine Unstimmigkeit zwischen den Blutgruppen von Ms. Ingalls und Shane Ingalls.“

Eine Unstimmigkeit? Shelby starrte die Frau an, die sie einen Moment lang teilnahmsvoll ansah, bevor sie wieder auf die Papiere blickte.

„Den Ergebnissen zufolge kann Ms. Ingalls unmöglich die Mutter von Shane Ingalls sein.“

Wie bitte? Was zur Hölle …? Shelby legte die Arme um Shane und sprang auf. „Das ist unmöglich! Natürlich ist er mein Sohn. Ich habe ihn zur Welt gebracht!“

„Der Test wurde sicherheitshalber dreimal wiederholt. Ich fürchte, dass Shane Ingalls nicht Ihr leiblicher Sohn sein kann.“

Shelby wurde schwindelig. Sie sank wieder auf den Stuhl. Da musste etwas falsch sein – das war die einzige Erklärung. Natürlich war Shane ihr Sohn! Vage bekam sie mit, dass sich ihr Anwalt die Unterlagen geben ließ und durchlas.

„Meine Güte“, flüsterte er.

Sie schloss die Augen und versuchte, Haltung zu bewahren, obwohl sie das Gefühl hatte, in jedem Moment ohnmächtig zu werden.

„Wir werden Ihnen und Shane erneut Blut abnehmen und in einem anderen Labor Bluttests machen lassen“, sagte David Dirks.

Sie nickte. Ja, ein weiterer Bluttest in einem anderen Labor. Es handelte sich gewiss nur um einen Fehler. Die Ergebnisse würden zeigen, dass sie Shanes Mutter war.

„Verzeihung“, sagte Liam Mercers Anwalt, „aber was hat die Sache mit meinem Mandanten zu tun?“

Mrs. Parcells holte tief Luft. „Aufgrund der Ergebnisse der Blutuntersuchung habe ich ein Gespräch mit der in der Nacht der Geburt diensthabenden Schwester geführt, die vor drei Monaten in den Ruhestand gegangen ist. Wir glauben, dass Shane Ingalls und Alexander Mercer, die beide in den frühen Morgenstunden des fünften Novembers geboren wurden, nach der Geburt versehentlich vertauscht worden sind.“

Shelby rang hörbar nach Atem.

„Das ist unmöglich!“, sagte Liam Mercer.

Die Klinikleiterin sah erst Shelby und sah dann Liam an. „In dem vom Schneesturm verursachten Chaos hat die Schwester den beiden männlichen Säuglingen erst zu dem Zeitpunkt personalisierte Patientenarmbänder angelegt, als der Notfallgenerator wieder angesprungen ist. Sie war sich sicher, dass sie Ms. Ingalls Sohn in das linke Bettchen gelegt hat und Ms. Harwoods Sohn in das rechte Bettchen. Da wir jetzt wissen, dass Ms. Ingalls aber nicht die leibliche Mutter von Shane sein kann, glaubt die Schwester, sich vertan zu haben.“

Liam stand auf und drückte seinen Sohn an sich. „Das ist lächerlich. Wie Mr. Dirks gesagt hat, muss der Fehler bei den Bluttests gemacht worden sein – ein falsch beschriftetes Röhrchen, und schon sind Mutter und Kind plötzlich nicht mehr miteinander verwandt. Die Babys sind nicht vertauscht worden!“

„Mr. Mercer, ich wünschte auch, es wäre so, aber der Generator ist genau zu der Zeit ausgefallen, in der die Babys auf die Kinderstation gebracht worden sind, um gewaschen zu werden. Also ist es sehr gut möglich, dass sie tatsächlich vertauscht wurden. Außerdem wurde Ms. Ingalls Blut im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge schon zweimal getestet, und die Ergebnisse sind dokumentiert. Ihre und Shanes Blutgruppe sind nicht verträglich.“

Oh nein. Shelby verlor den letzten Funken Hoffnung.

„Was heißt sehr gut möglich? Entweder hat die Schwester die Babys vertauscht oder nicht. Wenn Sie sich nicht sicher sind, dann …“ Liam schüttelte den Kopf und starrte die Klinikleiterin an. „Moment mal, Alexander ist hier geboren worden. Also müssen seine Blutgruppe und die Blutgruppe seiner Mutter dokumentiert sein. Sind die verträglich? Bestimmt.“

„Ja, Alexanders Blutgruppe ist eine derjenigen, die am häufigsten vorkommt. Sie ist mit Ms. Harwoods, aber auch mit Ms. Ingalls Blutgruppe verträglich. Das heißt, es müssen DNA-Tests durchgeführt werden.“

„Sehen Sie“, sagte Liam. „Alexanders Blutgruppe passt zur Blutgruppe seiner Mutter und ganz sicher auch zu meiner Blutgruppe. Er ist mein Sohn.“

„Sie waren in den letzten fünf Jahren zweimal Patient in unserem Krankenhaus. Auch Ihre Blutgruppe ist dokumentiert und mit Alexanders Blutgruppe verträglich.“

„Das ganze Durcheinander hat also nichts mit mir zu tun“, sagte er sehr erleichtert und sah zu Shelby hinüber. „Das ist irgendwas falsch. Es muss ein Fehler sein.“

„Er hat recht!“, rief Shelby panisch. „Es muss ein Fehler sein!“

„In der Nacht des fünften Novembers sind in der Klinik vier Babys geboren worden“, erwiderte Mrs. Parcells. „Zwei Jungen und zwei Mädchen. Wenn es zu einer Verwechslung gekommen ist, dann zwischen Shane Ingalls und Alexander Mercer.“

Die Anwälte fingen an zu reden. Shelby betrachtete Liam, der jetzt auf und ab ging – und schaute sich sein Baby genauer an. Sie schnappte nach Luft.

„Was ist?“ Liam erstarrte und musterte sie.

„Das kleine Muttermal auf seinem Ohrläppchen“, flüsterte sie und stand auf. „Das habe ich auch, genau wie meine Großmutter.“ Alle schauten auf den winzigen rotbraunen Fleck auf dem Ohrläppchen des Babys und dann auf Shelbys Ohrläppchen.

„Um Himmels willen!“, sagte Liam und hielt Alexander so, dass der aus der Sichtweite war. „Das ist ein kleiner Kratzer, der wieder verblasst.“

Shelby sank erneut auf den Stuhl und starrte auf Shanes dunkle Haare. Sie war zwar blond, aber Shanes Vater war dunkelhaarig und hatte wie Shane blaue Augen. Sie hatte den Rodeoreiter dummerweise nach einer kurzen und stürmischen Umwerbung geheiratet. Er hatte in dem Moment mit einer anderen Frau die Stadt verlassen, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie schwanger war.

Das Baby, das Liam Mercer auf dem Arm hielt, hatte ebenfalls dunkle Haare und blaue Augen, einen graublauen Farbton. Tatsächlich sahen sich die Babys ziemlich ähnlich. Abgesehen davon, dass Shanes Gesichtszüge ein wenig markanter waren. Ja, Shane sah Liam Mercer ähnlich. Oh nein, das kann doch nicht sein. Es liegt ein Fehler vor. Shane ist mein Sohn.