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Ein verschwundenes Kind und die lebenslange Suche nach der Wahrheit Ricarda Raspe und ihr Verlobter freuen sich auf ihr erstes Kind. Doch dann geht bei der Geburt in der Dresdner Klinik etwas schief − und es heißt, Ricardas Baby sei tot. Laut Vorschrift darf sie es nicht einmal mehr sehen. DDR-Alltag im Jahr 1973. Aber Ricarda glaubt nicht an den Tod ihres Kindes. Sie glaubt vielmehr an eine staatlich angeordnete Kindesentführung. Auch der Polizist Thomas Rust, der zufällig Zeuge des dramatischen Vorfalls wurde, hegt diesen Verdacht und stellt Recherchen an, die ihn in höchste Gefahr bringen. Erst 17 Jahre später laufen die Fäden zusammen, als die junge Claudia Behling jene Frau sucht, die sie nach ihrer Geburt weggegeben haben soll – ihre Mutter.
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Seitenzahl: 486
Frank Goldammer
Zwei fremde Leben
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Der junge Mann trat aus dem Eingang des Frauenklinikums der Medizinischen Akademie in die kalte Morgenluft. Er war schlank, mit etwas zu langem dunklem Haar und einem Oberlippenbart. Er blieb stehen und schloss die für diese Jahreszeit eigentlich zu dünne Jacke aus grauem Dederonstoff. Alles hatte plötzlich schnell gehen müssen. Jetzt war ihm kalt. Zumindest schützte ihn der braune Rollkragenpullover ein wenig vor der Kälte. Er holte aus der Jackentasche eine zerknitterte Schachtel F6 und schüttelte sich eine der noch verbliebenen Zigaretten heraus.
Es war sehr früh am Morgen, erst kurz nach fünf, und noch dunkel. Große Straßenlaternen beleuchteten den Eingangsbereich. Thomas Rust drehte dem aufkommenden Wind den Rücken zu und versuchte, die Zigarette mit seinem Feuerzeug anzuzünden. Weil es nicht funktionierte, schüttelte er es, doch es schien leer zu sein. Er steckte es weg und klopfte seine Jacke nach Streichhölzern ab. Nur mit Mühe gelang es ihm schließlich, die Zigarette in seinen hohlen Händen zu entzünden. Dann nahm er einen tiefen Zug und noch einen, er sah zu Boden. Mit der Schuhspitze schnippte er ein paar Steinchen weg. Als sich zwei Krankenschwestern dem Eingang näherten, machte er ihnen Platz und nickte ihnen beiläufig zu. Sie erwiderten sein Nicken und verschwanden im Gebäude.
Schon drei Mal hatte Rust auf der Station nachgefragt, ob es Neuigkeiten gäbe. Doch er erhielt weder eine Auskunft, noch ließ man ihn zu Heike vor. Besuchszeit war erst am Nachmittag, das wusste er. Sie hätten ihm aber doch wenigstens sagen können, wie es ihr ging, ob noch akute Gefahr bestand. Noch einmal nahm er einen tiefen Zug und blickte nach oben. Das Fenster über ihm war nur angelehnt. War das das Zimmer, in dem Heike nun lag? Er wusste nicht einmal, wo sie sie hingebracht hatten.
Er fror immer mehr. Das lag nicht nur an der zu dünnen Kleidung. Er machte sich Sorgen. Es wird schon nichts sein, zwang er sich zu denken. Vielleicht waren es nur Krämpfe. Aber vielleicht auch schon Vorwehen. Das Kind sollte erst in fünf Wochen kommen. Sein erstes. Ihr erstes.
Rust zog noch einmal an der Zigarette und bemerkte, wie seine Finger zitterten. Ein Kaffee würde ihm guttun. Aber wo sollte er den jetzt herbekommen?
Er lief los, um sich ein wenig die Beine zu vertreten. Langsam wurde es betriebsamer auf dem weitläufigen Krankenhausgelände. Als er die Hupe eines Multicar hörte, tat er einen Schritt zur Seite und ließ den Kleinstlaster passieren. Der Mann am Steuer tippte dankend an seine Schirmmütze. Rust hob knapp die Hand und ging dann langsam weiter, bis zur Rückseite des großen Gebäudes. Die Lichter eines Wagens, der hinter dem Haus hervorkam, trafen ihn. Aus irgendeinem Grund blendete der Fahrer die Scheinwerfer auf. Rust kniff die Augen zusammen und sah dann dem Wagen nach, der um die nächste Ecke bog und verschwand. Es war ein grauer Moskwitsch 408 mit einem I am Anfang des Kennzeichens. Ein Auto aus Berlin, Rust wunderte sich. Nachdenklich ging er weiter und hatte für wenige Sekunden einmal nicht an Heike und das Kind gedacht.
Auf der Rückseite des Gebäudes musste er feststellen, dass das Gelände von einem Bretterzaun umgeben war. Er kehrte um und nahm wenige Minuten später wieder seinen Platz vor der großen Eingangstür ein. Er beschloss, seine letzten drei Zigaretten in der Schachtel unangetastet zu lassen, und sah missmutig auf die Uhr. Halb sechs. Ihm war noch immer kalt.
Eine Krankenschwester kam aus der großen Tür, sah sich um und blieb abwartend unter einer der Laternen stehen. Sie musste um die fünfzig sein und wirkte erfahren und routiniert. Rust erkannte sie als diejenige, die bei Heikes Aufnahme dabei gewesen war und dem Chefarzt assistiert hatte. Hoffnungsvoll trat Rust ins Licht der Laterne. Als die Schwester ihn erkannte, zog sie sich die weiße Strickjacke fest um den Oberkörper und verschränkte die Arme.
»Ich rate Ihnen, fahren Sie nach Hause«, sagte sie, noch bevor Rust das Wort an sie gerichtet hatte. »Es hat keinen Zweck hierzubleiben. Die Untersuchungen dauern noch an, und ich kann Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt keinerlei Auskunft geben. Ihre Frau hat leichte Blutungen, wir kümmern uns darum. Kommen Sie heute Nachmittag zur Besuchszeit wieder.« Sie blickte ihn müde an und zitterte in der Kälte.
»Können Sie mich nicht anrufen? Wir haben daheim ein Telefon.«
»Kommen Sie zur Besuchszeit!« Die Schwester blieb hart.
»Können Sie mir nicht wenigstens …«, versuchte er es noch einmal.
»Nein!« Die Schwester machte kehrt und ließ ihn stehen.
Rust blickte ihr wie erstarrt hinterher.
»Was stehen Sie denn hier?«, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihm. Es war der Fahrer des Multicars, der auf dem Weg in das barackenähnliche Gebäude gegenüber der Frauenklinik war. Rust schätzte ihn auf sechzig. Ein untersetzter Mann mit Schnauzer, der über seinem blauen Arbeitsanzug eine graue gesteppte Wattejacke trug.
Rust hob die Schultern. »Meine Frau ist heute früh mit Beschwerden eingeliefert worden.«
»Und Sie wollen nicht heimgehen.« Das war keine Frage gewesen, eher eine Feststellung. Der Mann wandte sich ab und schloss die Tür zu der Baracke auf. »Kaffee?«
»Ja, ja, sehr gern.« Rust nickte, überrascht und erfreut. Er folgte dem Mann in das niedrige Gebäude. Durch einen schmalen, trüb beleuchteten Gang gelangten sie in ein kleines Zimmer, in dem es nach Kaffee, Werkzeugöl und Linoleum roch.
»Ich geh mal Wasser kochen. Setz dich nur hin!«
Der Mann duzte ihn ganz selbstverständlich. Die vertrauliche Anrede störte Rust nicht.
Der Hausmeister deutete auf einen Holzstuhl, nahm sich den kleinen Wasserkessel, der auf dem Tisch gestanden hatte, und verließ den Raum. Rust setzte sich, rückte noch näher an den gusseisernen Heizkörper, der Geräusche von sich gab, als klimperten kleine Kieselsteine durch die Röhren. An den Wänden hingen Holztafeln mit Zangen und Schraubenziehern verschiedenster Größen, auf dem Tisch stapelten sich Dutzende Glühbirnen in Wellpappschachteln. Der Hausmeister kam zurück und bemerkte Rusts Blick.
»Tja, erst gibt’s monatelang gar keine, dann bekommst du zweihundert auf einmal und weißt nicht, wohin damit. Brauchst du eine? Sind aber nur dreißig Watt.«
Aber er wartete nicht auf Rusts Antwort und widmete sich der Kaffeezubereitung mit einem Nylon-Filterbehälter, den er auf die Kanne setzte. »Im Schwesternzimmer haben sie eine Kaffeemaschine. Aber denkste, du kriegst mal einen?«
Er holte das kochende Wasser aus dem Nebenzimmer und goss auf.
»Was hat deine Frau denn für Beschwerden?«, fragte er, als sie wenige Minuten später in ihren heißen Tassen rührten. Rust tat einen zweiten Würfelzucker hinzu. Er fragte sich, ob er hier drinnen rauchen durfte, doch solange der andere selbst keine Anstalten machte, ließ er es bleiben. Irgendwie tat es gut, hier zu sitzen, so verging Zeit, und der Hausmeister strahlte eine unerschütterliche Ruhe aus.
»Das Kind soll eigentlich erst in fünf Wochen kommen, aber sie hat bereits Schmerzen und Blutungen. Das ist viel zu früh.«
Der Hausmeister nickte bedächtig und trank von dem heißen Kaffee.
»Mario«, sagte er plötzlich und streckte die Hand über den Tisch aus.
»Thomas«, revanchierte sich Rust.
Noch einmal trank der Mann und schlürfte leise. Dabei tunkte sein Schnauzer in den Kaffee. Mit einer routinierten Bewegung streifte er mit der Unterlippe die Feuchtigkeit ab. Rust ertappte sich dabei, dass er schmunzeln musste und fasste sich unwillkürlich an seinen eigenen Oberlippenbart. Erst gestern Abend hatte ihn Heike noch gestutzt.
»Es passieren so viele Dinge«, sagte Mario und sah ihm dabei in die Augen, als müsse er seine nächsten Worte genau überdenken. »Der menschliche Körper, der ist wie eine Maschine, in der alles funktioniert. Aber sobald mal etwas fehlt, sobald ein Rädchen sich nicht mehr dreht, schon bricht die Produktion zusammen …« Nun hielt er inne. »Aber dann!«, jetzt deutete er auf den Stapel Glühbirnen, als erklärte der alles. »Manchmal zwickt es eben, das geht meistens alles gut aus am Ende«, philosophierte er weiter.
Rust nickte dankbar. Es war nicht wirklich tröstlich, was der Mann ihm erzählte, doch trotzdem war seine Aufregung merklich abgeflaut.
»Aber sie haben mich nicht zu ihr gelassen, und gesagt hat auch keiner etwas«, beschwerte er sich nach einigen Momenten des Schweigens.
»Na, überleg mal, da könnte jeder rein und raus, wie er wollte«, brummte der Hausmeister.
Auch wieder wahr, dachte Rust.
Wieder schwiegen sie und der Heizkörper blubberte.
»Und Sie … Und du hast Nachtschicht?«, fragte Rust nach einer Weile.
»Nee, bin nur eher gekommen. War noch was zu erledigen.« Der Hausmeister schlug für einen Moment die Augen nieder.
Rust fragte nicht weiter. Wer weiß, was der Mann mit dem Multicar transportiert hatte. Vielleicht hatte er ein bisschen Kohle abgezweigt. Man musste sich zu helfen wissen, wenn man etwas haben wollte.
»Vorhin stand hinten am Haus ein Moskwitsch. Mit Berliner Kennzeichen«, begann Rust, um die unangenehme Stille zu durchbrechen.
»Hinterm Haus, an der Rampe?«
Rust nickte. »Ein Arzt vielleicht?«
»Aber keiner von denen fährt hier einen Moskwitsch. Wirklich Berlin?«
Rust nickte wieder. Eine Weile saßen sie wieder stumm da und nippten am Kaffee.
»Und«, brach jetzt der Hausmeister das Schweigen. »Was machst du sonst so?«
»Bin Busfahrer.«
»Ah«, der Hausmeister hob das Kinn. So reagierten die meisten. Das war Rust recht so. Busfahrer. Da wussten die meisten nichts dazu zu sagen. Das war kein Beruf, an dem man etwas festmachen konnte. Nichts, womit man jemandem helfen konnte. Niemand, der an Bauholz kam oder Heizkörper oder Zement oder an einen Multicar.
Augenblicklich schien der Hausmeister das Interesse an ihm zu verlieren, vielleicht war er aber auch nur abgelenkt.
»Was ist denn mit dem da los?«, rief er, reckte sich und zwang Rust, ebenfalls aus dem Fenster zu sehen. Ein hellbeiger Wartburg war vor das Haus gefahren, hielt mitten auf dem Weg und blockierte die Zufahrt. Ein junger Mann sprang heraus, schloss das Auto nicht ab und rannte ins Haus.
»So kann der aber nicht stehenbleiben, eigentlich darf der hier auch gar nicht rein«, murmelte der Hausmeister. Dann sah er auf die Uhr.
Rust trank den letzten Schluck Kaffee. »Vielen Dank, hat gutgetan.« Er erhob sich. »Schönen Dienst noch!«
»Wird schon werden, wirste sehen«, versuchte der Hausmeister ihn aufzumuntern.
Rust stand nun wieder draußen vor der großen Eingangstür, wagte sich aber immer noch nicht hinein. Er hatte sich überlegt, dass es vielleicht besser war, auf die neue Schicht zu warten. Vielleicht gab es da eine Schwester, die umgänglicher war. Er rauchte seine vorletzte Zigarette, nahm sich wie immer vor, dass dies dann die letzten gewesen sein sollten, und wusste doch schon, dass er sich im Tabakladen neue holen würde.
Ihm war wieder kalt. Er hätte in der Hausmeisterbude seine Jacke ausziehen sollen. Nun fror er mehr als vorher. Noch zehn Minuten gab er sich, dann würde er hineingehen. Außerdem musste er mal zur Toilette. Das würden sie ihm nicht verwehren können. Und vielleicht gelang es ihm, Heikes Zimmer zu finden. Warum dauerte der Schichtwechsel nur so lang? Er nahm seine letzte Zigarette heraus, zerknüllte die Schachtel und steckte sie in die Jackentasche.
Endlich wurde die große Eingangstür aufgestoßen. Aber es war keine der Schwestern, sondern der junge Mann aus dem Wartburg. Er taumelte mehr, als dass er lief. Die kalte Luft ließ ihn förmlich zurückprallen. Er verharrte, schwankte ein wenig. Rust zog sich noch weiter zurück, bis er die Hauswand hinter sich spürte. Der andere griff nun in seine Hosentasche und holte seine Autoschlüssel hervor. Rust hatte er noch nicht bemerkt. Mit unsicherem Schritt lief er nun wieder los, die Jacke offen, spürte aber die Kälte offensichtlich nicht.
Rust beobachtete, wie der junge Mann unsicheren Schrittes zu seinem Wagen ging. Er hatte Mühe, den Schlüssel ins Türschloss zu stecken, und hatte wohl auch vergessen, dass er gar nicht abgeschlossen hatte.
Ob er betrunken war? Rust warf die Zigarette auf den Boden und drückte sie mit den Schuhspitzen aus.
»Warten Sie mal!« Das konnte er nicht zulassen, dass der Mann in diesem Zustand fuhr.
Der junge Mann richtete sich auf und sah sich nach der Stimme um. Als er Rust erblickte, drehte er sich um und lehnte sich an seinen Wagen.
»Haben Sie getrunken?«, fragte Rust.
»Getrunken?«, fragte der junge Mann zurück und sah aus, als verstünde er die Frage nicht. Rust trat so nah an ihn heran, dass dieser zur Seite auswich. Doch Alkoholgeruch konnte Rust nicht wahrnehmen.
»Was ist denn mit Ihnen? Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte Rust.
»Ich weiß nicht, nein …« Der junge Mann wirkte verwirrt. »Wenn Sie mich jetzt bitte …, ich muss …, es ist schon …« Er sprach den Satz nicht zu Ende, drängte Rust beiseite und versuchte erneut, den Schlüssel ins Schloss zu stecken.
»Die Tür ist offen«, sagte Rust. Der junge Mann starrte ihn an, als hätte er ihn schon wieder vergessen. Dann riss er die Wagentür auf. Rust drückte sie wieder zu.
»Sie können so nicht fahren. Sie bringen sich ja um. Oder jemand anderen.«
Der andere wollte protestieren, doch dann aber ergab er sich, stützte seine Unterarme auf das Autodach und ließ den Kopf nach vorn sinken.
»Was ist denn passiert?«, fragte Rust und hatte bereits eine dunkle Ahnung, wie die Antwort lauten würde.
»Ich habe einen Anruf bekommen auf Arbeit«, sagte der Mann tonlos. »Ich solle ins Krankenhaus kommen. Hab ja schon darauf gewartet. Ricarda ist schon seit gestern Nachmittag da. Aber dann hieß es, das Kind sei tot. Ich solle etwas unterschreiben.«
»Unterschreiben?«
»Ja, für die Bestattung.« Der junge Mann nickte. Plötzlich musste er würgen und beugte sich vor. »Meiner Mutter muss ich das noch erzählen«, keuchte er und bezwang den Brechreiz.
Rust wusste einen Moment nichts zu sagen. Ihm war plötzlich selbst übel geworden. Was so ein Anruf bedeuten musste.
»Gab es denn Schwierigkeiten?«, fragte er leise.
»Gar nicht, nein, alles war gut. Genau zum Termin setzten die Wehen ein. Gestern Nachmittag hat sie das Fruchtwasser verloren.« Dem Mann verzog es wieder das Gesicht.
»Und jetzt?«, fragte Rust weiter und sah dabei verstohlen zu den Fenstern hinauf. Irgendwo da oben musste Heike liegen.
»Ich weiß nicht. Ricarda ist gar nicht richtig bei sich, ich glaube, sie weiß es noch gar nicht. Ich durfte nur ganz kurz zu ihr. Das Kind ist nicht mehr da. Man hat gesagt, es wird untersucht, und ich soll nachmittags wiederkommen. Aber ich kann doch Ricarda nicht …« Der Mann stockte und sah Rust plötzlich in die Augen. Er blinzelte die Tränen weg. »Vor einer Stunde noch, da war alles in Ordnung, weißte?«
Rust nickte still.
»Und nun ist unser Kind tot, und Ricarda liegt da oben, und ich darf nicht mal bei ihr bleiben und das Kind nicht sehen. Unterschreiben darf ich auch nicht mehr.«
»Warum denn das?«
»Weil sie bemerkt haben, dass wir nicht verheiratet sind.« Der Mann verzog verächtlich den Mund.
»Wann ist es denn geschehen? Gerade eben?«
»In der Nacht irgendwann.«
Eine Weile standen sie einfach da und langsam wurde es heller. Der Himmel im Osten färbte sich von Schwarz zu Grau. Aber um sie herum war noch immer alles in das orangegelbe Licht der Straßenlaternen getaucht.
Rust war der Erste, der wieder sprach. »Was machen Sie jetzt?«
»Ich weiß es nicht. Nach Hause fahren vielleicht. Das Auto zurückgeben. Ist ja gar nicht mein Auto, hab ich mir geborgt. Der Kinderwagen steht noch hier. Unten im Keller. Wir hatten ihn gestern schon mitgebracht.« Seine Augen wurden wieder feucht.
»Diese Untersuchung …«, begann Rust zögernd. »Wird eine Obduktion durchgeführt?«
»Ich weiß es nicht. Die Schwester sagte, es ist besser, man sieht es gar nicht erst. So was passiert.« Auf einmal zögerte er. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Ja, bitte entschuldigen Sie. Rust ist mein Name.«
»Sind Sie Arzt, oder so?«
»Nein, meine Frau liegt auch da drin. Eigentlich ist es bei ihr noch nicht so weit …« Rust wollte den Mann nicht weiter mit seiner Geschichte behelligen.
Der andere schwieg.
»Brauchst auch nichts zu sagen.« Er hielt dem Mann die Hand hin. »Ich heiße Thomas.«
»Steffen«, stellte der andere sich vor und nahm kurz seine Hand. »Steffen Weber. Ich muss jetzt.« Er öffnete die Wagentür, setzte sich ins Auto und startete den Motor. Dann kurbelte er das Fenster hinunter.
»Viel Glück«, sagte er, hebelte ungeübt an der Lenkradschaltung und fuhr davon.
Rust sah ihm nach.
»Na, immer noch da?«, fragte eine Stimme hinter ihm und ließ Rust herumfahren.
Es war der Hausmeister. Er hielt einen Straßenbesen in der Hand.
»Sag«, fragte Rust nachdenklich, »wenn ein Kind stirbt, bei der Geburt, oder wenn es zu einer Totgeburt kommt, was passiert mit dem Leichnam?«
»Kommt drauf an. Manche werden beerdigt. Manches landet im Müll, geht wohl nach Gewicht. Aber mach dir mal keinen Kopf. Das wird schon wieder!«
Der Hausmeister klopfte Rust kurz auf die Schulter, hob die Hand zum Gruß und ging davon.
»Wenn Sie meiner Mutter das bitte sagen?« Rust atmete tief ein und lauschte der aufgeregten Stimme am Telefon. »Nein, bitte, es besteht kein Grund zur Sorge, wir können nur nicht zum Geburtstag kommen, wollen Sie das bitte ausrichten!« Ihm war nicht wohl. Die Enge der gelben Telefonzelle bedrückte ihn. Dass die Frau am anderen Ende der Leitung so begriffsstutzig war, raubte ihm die Geduld. Fasse dich kurz, mahnte eine angenietete kleine Metalltafel. Ungehalten stieß er die schwere Tür der Telefonzelle auf, um Luft in die Zelle zu lassen.
»Sie soll sich keine Sorgen machen! Ja, bitte, ich muss jetzt … Auf Wiederhören«, bemühte Rust sich um Freundlichkeit und hängte den Hörer unsanft in der Gabel des Fernsprechautomaten ein. Draußen atmete er noch einmal tief durch. Ihm war, als wäre erst jetzt zu ihm durchgedrungen, was dem anderen Mann geschehen war. Die Angst, sein Kind zu verlieren, übermannte ihn, und noch viel mehr die Sorge um Heike. Er fürchtete, sie würde das nicht verkraften. Fünf Jahre hatten sie versucht, ein Kind zu bekommen. Heike war so glücklich gewesen, als es endlich geklappt hat. Gestern Abend, als die Schmerzen begannen, da hatte sie noch gelacht und gemeint, sie hätte nicht so viele Bohnen essen sollen. Und heute Nacht, ihr bleiches Gesicht, als sie ihn geweckt hatte. Ohne einen Ton, einfach nur berührt und er hatte gewusst, etwas stimmt nicht. Er musste wissen, wie es ihr jetzt ging. Kurzentschlossen änderte Rust seine Pläne wieder. Nachdem ihn auch die Oberschwester der neuen Schicht deutlich abgewiesen hatte, war es ihm eigentlich sinnlos erschienen, noch länger dort zu warten. Er hatte nach Haus fahren wollen. Nun kehrte er doch zur Frauenklinik zurück. Es war schon fast hell.
»Waren Sie vorhin nicht schon da?«, fragte die Oberschwester ungehalten. Zwei weitere Schwestern sahen auf und blickten Rust an.
»Hören Sie«, bat Rust und kam sich wie ein Bittsteller vor, im Türrahmen des Schwesternzimmers stehend, unter dem strengen Blick dreier Frauen, »ich will doch nur wissen, wie es meiner Frau geht. Ich habe sie vor über zwei Stunden hergebracht.«
»Es hat sich noch nichts geändert.«
»Kann ich sie sehen, nur kurz? Ich gehe dann auch gleich.«
Auf dem Gang erschien ein Arzt in weißem Kittel. Er war Mitte vierzig, groß, glattrasiert, das blonde Haar färbte sich grau an den Schläfen. Eine Autoritätserscheinung. Die Schwestern nahmen unverzüglich eine gerade Haltung an.
»Schwester Martha, guten Morgen«, sagte der Arzt mit müden Augen. Seine Hände steckten in den Kitteltaschen.
Rust gab die Tür frei.
»Was gibt es denn?«
Die Oberschwester deutete auf Rust. »Dieser junge Mann will nicht verstehen, dass er zur Besuchszeit wiederkommen soll.«
»Ich will nur kurz meine Frau sehen«, sagte Rust leise.
»Herr Rust?«, fragte der Arzt. »Kommen Sie mit.« Der Arzt wies mit dem Kopf den Gang hinunter, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen.
»Aber Herr Doktor!«, entrüstete sich die Oberschwester.
Rust folgte dem Doktor, der stumm und ohne Eile ausschritt. Beim Treppenhaus bogen sie ab und stiegen noch eine Etage höher.
Auf den Gängen grüßten die Schwestern den Arzt und sahen Rust verwundert an. Der konnte sich nicht von dem Gefühl freimachen, dass er fehl am Platze war. Unvermittelt blieb der Arzt stehen. Er war einen Kopf größer als Rust, sein Äußeres tadellos. Doch seine Augen waren trüb.
»So ein Körper, der ist keine Maschine. Immerzu wird er Belastungen ausgesetzt, werden Hormone ausgeschüttet, will ein Organ nicht so, wie es soll. Der Blutdruck steigt und sinkt, ebenso verhält es sich mit den Blutwerten. Ständig ist er um Ausgleich bemüht. So eine Schwangerschaft ist eine Ausnahmesituation. Da kommt es schon mal zu kleineren Komplikationen.«
Genauso unvermittelt wie er stehen geblieben war, lief er weiter. Rust folgte ihm, sah auf den Boden, wollte nicht versehentlich in eine der offen stehenden Zimmertüren blicken. Eine hochschwangere Frau kam ihnen entgegen. Eine Hand hatte sie auf den Bauch gelegt, mit der anderen stützte sie sich an der Wand ab. Eine junge Schwester begleitete sie und grüßte den Arzt schüchtern.
»Hier!«, sagte der Arzt, nahm endlich eine Hand aus dem Kittel und öffnete eine Tür. Er ging voraus, Rust zögerte einen Moment. Hinter sich hörte er eilige Schritte.
»Sie können hier nicht einfach …«, rief eine Schwester halblaut, dann sah sie den Arzt und verstummte. »Herr Doktor«, grüßte sie.
»Das geht in Ordnung, Schwester Silke.« Der Doktor winkte Rust heran. Der hatte Heike schon in einem der hinteren Betten beim Fenster ausgemacht. Drei andere Frauen lagen noch im Zimmer, die ihn alle anschauten. Heike stemmte sich im Bett hoch, als sie ihn erkannte. Sie war weiß im Gesicht, lächelte aber verhalten. Es schien ihr peinlich zu sein, dass er da war, und fast schämte Rust sich, dass er so hartnäckig gewesen war. Er blieb wie angewurzelt in der Tür stehen.
»Guten Morgen, die Damen«, grüßte der Arzt freundlich, aber routiniert. Er ging zielstrebig zu Heikes Bett. »Haben Sie noch Schmerzen, Frau Rust?«
Heike nickte schüchtern. Der Arzt schlug die Decke zurück, tastete den Bauch ab. »Hier?«, fragte er. Heike nickte.
»Es besteht wohl kein besonderer Anlass zur Sorge. Möglicherweise liegt das Kind nur ungünstig und drückt einen Harnleiter ab. Konnten Sie Wasser lassen?«
Heike schüttelte den Kopf.
»Wir behalten Sie hier, zur Beobachtung. Wollen Sie noch mal?«, fragte er zu Rust gewandt. Verlegen nickte dieser, ging zu Heike, beugte sich hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Hab meiner Mutter ausrichten lassen, dass wir nicht kommen. Soll ich deiner etwas sagen?«, fragte er leise.
»Nein, erst mal nicht.« Heike lächelte, und es war ihr anzusehen, dass sie sich genierte vor den anderen im Zimmer. Rust richtete sich auf. Er nickte dem Arzt dankend zu und gab ihm gleichzeitig zu verstehen, dass er fertig war.
»Bis nachher zur Visite«, verabschiedete sich der Arzt bei den Frauen, als sie das Zimmer verließen.
»Sagen Sie, darf ich Sie etwas fragen?«, sagte Rust, als sie wieder im Treppenhaus angelangt waren.
Der Arzt nickte.
»Wenn es zu einer Totgeburt kommt, was geschieht dann mit dem Kind?« Gerade hatten sie das Halbpodest erreicht. Der Arzt blieb stehen. Frühes Tageslicht fiel durch das riesige Fenster, ein Schwarm Krähen kreiste über den Bäumen.
»Warum wollen Sie das wissen?«, fragte der Arzt und verzog ein wenig das Gesicht.
»Es hat mich interessiert«, sagte Rust vage.
»Nun, sie werden bestattet.« Der Arzt sah Rust noch einen Moment an. Dann lief er weiter.
Doch offenbar beschäftigte ihn die Frage. Im Erdgeschoss nahm er ihn noch einmal beiseite. »Fragen Sie aus einem speziellen Grund?«
Rust hatte damit gerechnet und die wenigen Augenblicke genutzt, darüber nachzudenken, was er sagen sollte.
»Ich musste mich die letzten Stunden mit dem Gedanken auseinandersetzen, dass so etwas geschehen könnte. Und deshalb frage ich mich, wie man damit umgeht.«
Eine Tür öffnete sich und Babygeschrei wurde laut. Dann schloss sich die Tür wieder. Der Arzt hob den Kopf ein wenig. Ihm war anzusehen, dass ihm diese Antwort nicht genügte. »Ihr Name ist Rust, nicht wahr?«
Rust nickte. »Und Ihrer, wenn ich fragen darf?«
»Raspe, Doktor Raspe. Hören Sie, Herr Rust … Genosse?«
Rust nickte wieder und wurde stutzig. Hatte der Mann geraten?
»Hören Sie, Genosse Rust. Vergessen Sie das. Solche Dinge können geschehen, aber wir werden schon für Ihre Frau und das Kind sorgen. Machen Sie sich keine Gedanken.«
Wieder öffnete sich eine Tür und mehrere Krankenschwestern erschienen mit je zwei Neugeborenen auf dem Arm, fest in Decken gewickelt und mit winzigen Mützchen auf den Köpfen.
Der Arzt nahm die entstehende Unruhe zum Anlass, sich zu verabschieden. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, es gibt noch viel zu tun. Sie finden alleine hinaus?«
Am frühen Nachmittag stand Rust wieder vor der Frauenklinik. Er hatte einen kleinen Koffer dabei, in den er einige Unterwäsche, zwei Pullover, eine Haarbürste und diverse andere Dinge gepackt hatte, um die Heike ihn gebeten hatte. Diesmal wollte er nicht auffallen und wartete, bis die Besuchszeit begann. Er war nicht der Einzige. Einige ältere Frauen und zwei Männer in etwa seinem Alter warteten ebenfalls. Niemand sprach. Als eine der Frauen auf die Uhr schaute und sich dann in Bewegung setzte, folgten ihr alle anderen ins Gebäude.
Das Krankenzimmer war voll, zwei der anderen Frauen hatten ebenfalls Besuch. Alle flüsterten. Und Heike zeigte sich zurückhaltend.
»Ich muss bleiben. Vielleicht sogar bis zur Entbindung. Du musst im Betrieb Bescheid geben. Es entscheidet sich aber erst morgen oder übermorgen.«
»Sind sie nett hier?«, fragte Rust. Gern hätte er Heike gefragt, ob sie etwas von der Frau wusste, die ihr Kind verloren hatte. Doch er wollte seine Frau nicht damit konfrontieren.
»Ja, ganz freundlich. Eine mehr, die andere weniger. Morgen ist Reistag. Zum Entwässern.«
Heike mochte keinen Reis, wusste Rust.
»Hast du nach dem Kinderwagen sehen können?«, fragte Heike.
»Daran hab ich gar nicht gedacht«, gab Rust zu.
»Dabei hättest du doch Zeit gehabt«, schimpfte Heike leise. Rust nickte. Sie hatten eine Anzeige in der Zeitung gefunden und sich telefonisch vormerken lassen. Er hätte die Gelegenheit nutzen sollen, sich den Kinderwagen heute noch anzusehen, bestimmt war er bald anderweitig vergeben. Interessenten würde es genug geben.
»Mach das gleich noch. Ruf an und fahr hin, wenn möglich. Und wenn er halbwegs in Ordnung ist, nimm ihn. Falls wir einen besseren bekommen sollten, können wir den immer noch verkaufen.«
Rust nickte nachdrücklich, er wollte nur ungern von Heike zurechtgewiesen werden. »Ja, ich mach das schon«, brummte er.
»Na, dann los!« Heike zog ihn zu sich heran und gab ihm einen schnellen Kuss auf den Mund.
Seltsam beschwingt eilte Rust die Treppen hinab. Heikes Geschäftigkeit beruhigte ihn, strahlte sie doch damit wieder Zuversicht aus. Alles würde gut werden.
Als er mit Schwung das Haus verließ und in die Kälte kam, die noch keinerlei Frühling versprach, stieß er beinahe mit Steffen Weber zusammen.
Am liebsten hätte Rust so getan, als habe er den Mann nicht erkannt. Aber dieser hatte ihn schon gesehen und grüßte mit einem müden Nicken.
Rust brauchte ein paar Momente, bis er wusste, was er sagen sollte. »Kann ich helfen? Soll ich dich irgendwo hinfahren?«, fragte er.
Weber winkte ab.
Das wäre die Gelegenheit gewesen, einfach weiterzugehen, wusste Rust, doch etwas hielt ihn zurück.
»Weiß es deine Frau eigentlich schon?«, fragte er. »Deine Verlobte, meine ich«, korrigierte er sich. Versehentlich war er selbst ins Du gewechselt.
Weber nickte. »Sie haben es ihr heute Morgen gesagt.«
»Wie geht es ihr?«, fragte Rust weiter. Jetzt waren die ersten Hemmschwellen überwunden.
»Nicht gut.« Weber zuckte mit den Achseln.
»Hat man denn herausgefunden … also, weiß man den Grund?«
Der andere schüttelte ganz knapp den Kopf.
»Und hast du es sehen können?«
»Was geht dich das denn an?«, fragte Weber und klang auf einmal ungehalten.
»’tschuldige. Es geht mich nichts an.« Rust hob die Hand zum Gruß und wandte sich ab.
»Und wenn du es genau wissen willst: Wir können es nicht sehen. Es ist nicht mehr hier, sagen sie. Es ist schon weg«, rief Weber ihm hinterher.
»Wie meinst du das, nicht mehr hier?« Rust war stehen geblieben und hatte sich noch einmal umgedreht.
Weber zuckte wieder mit den Achseln. »Na, nicht mehr hier. Es ist besser so, sagen sie. Ricarda soll morgen entlassen werden. Ich wollte nur den Kinderwagen holen.« Weber deutete mit dem Kopf auf eine schmale betonierte Schräge, die zu einem Kellereingang führte.
Rust sah dem Mann nach, wie er die Rampe hinablief und durch die braun lackierte Tür verschwand. Er wollte nicht zusehen, wie der Mann den leeren Kinderwagen davonschob. Rust warf einen Blick zur Baracke rüber, doch niemand war zu sehen. Stattdessen öffnete sich wieder die Krankenhaustür. Eine Krankenschwester kam heraus, hatte sich eine Steppjacke übergeworfen. Eilig überquerte sie den Platz vor der Klinik. Er hatte sie oben im Gang schon einmal gesehen.
»Entschuldigen Sie!«, rief er und holte mit schnellen Schritten auf.
»Ich habe keine Zeit«, sagte die junge Frau, »muss zur Kaderleitung!«
»Ich habe nur eine Frage. Wie wird denn mit Kindern verfahren, die tot geboren werden?«
Die Schwester stockte im Laufen und sah ihn verwundert an. Rust fühlte sich genötigt, sich zu erklären.
»Heute Nacht gab es wohl einen Vorfall. Eine Totgeburt, und man sagt, das Kind sei schon weg.«
»Davon weiß ich nichts!« Die Schwester beschleunigte ihren Schritt.
»Von der Totgeburt?«
»Es ist ein großes Krankenhaus, so was geschieht. Wenden Sie sich an die Oberschwester oder an den Chefarzt.«
»Und was geschieht mit den Kindern?« Rust blieb hartnäckig.
»Die werden beerdigt. Würden Sie mich jetzt bitte in Ruhe lassen.«
»Eines nur noch, gibt es jemanden im Haus, der aus Berlin kommt, oder wissen Sie von jemandem mit Berliner Verwandtschaft?«
Die Krankenschwester sah ihn erneut verblüfft an, geriet dabei aber ins Stolpern. Rust fasste instinktiv nach ihr und packte sie am Ellbogen. Unwirsch entriss sie ihm den Arm.
»Ich weiß gar nichts. Ich weiß auch gar nicht, wer Sie sind. Magda!«, rief sie plötzlich und ein wenig zu schrill, und in einiger Entfernung blieb eine andere Frau stehen.
Rust ließ es gut sein. Es hatte keinen Zweck mehr. Nachdenklich kehrte er zur Frauenklinik zurück. Der Trabant parkte auf der Straße hinter dem Haus. Motorengeräusch näherte sich. Rust sah sich um und entdeckte den Hausmeister auf dem Fahrersitz des Multicar. Auf der kleinen Ladefläche standen Eimer mit zusammengefegtem Splitt. Der Mann hielt an, öffnete seine Tür einen Spalt.
»Komm, steig ein!«
Rust zögerte nicht, lief ums Fahrzeug und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Schon fuhren sie an.
»Ich hab mal gefragt, wie das ist mit den Kindern. Es heißt, wenn sie unter tausendsiebenhundert Gramm wiegen, dann werden sie mit dem Krankenhausmüll entsorgt, alles darüber bekommt eine Bestattung«, begann der Hausmeister unvermittelt.
Rust schürzte die Lippen. »Wen hast du denn gefragt?«
»Jemanden, der es weiß. Ich frage mich nur, warum du das so genau wissen willst? Hast den Raspe schon gefragt und die gerade doch auch, oder?« Er deutete vage über die Schulter.
Rust hob an zu sprechen, doch der Hausmeister ließ es nicht dazu kommen. »Warum sagst du denn nicht, dass du bei der Polente bist? Schämst du dich?«, fragte er geradeaus.
Rust fühlte sich ertappt, wollte sich aber keine Blöße geben. »Sobald ich das sage, halten sich immer alle zurück. Da erzähle ich lieber, dass ich Busfahrer bin.«
»Hat aber nichts genutzt. Ich hab’s dir angesehen. Hast so ’ne Art …. Wo biste denn?«
»Bei der Kripo. Leutnant.«
Der Hausmeister warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Und wie alt biste?«
»Siebenundzwanzig.«
»Ich war früher auch ein paar Jahre bei dem Verein. Bis zweiundfünfzig, dann wurde ich rausgekegelt, weil denen aufgestoßen war, dass ich im Krieg beim Ami in Gefangenschaft war. Dabei habe ich drei Urkunden für meine Leistung beim Aufbau des Sozialismus bekommen.« Der Mann lachte ehrlich belustigt auf. »Nun baue ich den Sozialismus im Heizungskeller auf. Wie geht es deiner Frau?«
»Ganz gut.«
Sie hatten die Baracke erreicht. Der Hausmeister rangierte den Kleinlaster vor einen großen Holzkasten, auf dem mit schwarzer Farbe Streugut geschrieben stand, und stellte den Motor ab.
Dann wurde er ernst. »Du, mit dem Raspe sei vorsichtig. Mit dem ist nicht zu spaßen. Der hat Kontakte.«
»Ich habe nicht vor, dem Mann zu nahe zu treten.«
»Mein ja nur, die sind sehr empfindlich, wenn man ihnen Fehler vorwirft.«
»Du meinst, das Kind ist durch einen ärztlichen Fehler gestorben?«
Der Hausmeister hob die Hände. »Ich sag immer, nur wer nichts macht, macht keine Fehler. Aber das sollte jetzt gar nicht bedeuten, dass etwas schiefgelaufen ist. Eigentlich wollte ich dich nur warnen. An den Raspe kommt man nicht so leicht ran. Der hat mich kürzlich mal mitgenommen, hab was gebaut auf seinem Grundstück. Hat ein ziemlich großes Haus in Radebeul gekauft. ’ne richtige Villa, sag ich dir. Kann man gar nicht gebrauchen heutzutage. Aber so jemand hat ja keine Probleme, an Zement oder Steine zu kommen, wenn der was bauen will. Der darf ja auch in den Westen.«
Rust wusste nicht, worauf der Mann hinauswollte.
»Ich will nur mal klarstellen, ich bin nicht wegen Doktor Raspe hier. Meine Frau liegt wirklich da oben!«
Der Hausmeister nickte beschwichtigend, hob dann aber gleich wieder zu sprechen an. »Jedenfalls hab ich mich mal sachte umgehört. Keiner wusste irgendwas von einem Berliner Kennzeichen. Vor allem nicht mitten in der Nacht. Geklaut wurde jedenfalls nichts. Was auch?«
Wenig später stand Rust in seinem Wohnungsflur, den Telefonhörer am Ohr. Er hatte seinen Chef angerufen, ihm die Lage geschildert und um Rat gebeten.
»Was Sie mit Ihrer Freizeit anstellen, Genosse Rust, darüber habe ich nicht zu verfügen. Solange es sich mit unseren Richtlinien vereinbaren lässt, wenn Sie verstehen, was ich meine«, sagte sein Vorgesetzter.
»Das verstehe ich schon, Genosse Hauptmann. Ich will nur ein paar von der Nachtschicht befragen.«
»Vergessen Sie aber nicht, dass keinerlei Ermittlungsauftrag vorliegt. Die betroffenen Eltern müssten eine Strafanzeige stellen. Es sei denn, Sie wollen Anzeige erstatten. Aber das würde auch nicht unsere Abteilung betreffen. Da muss man Experten zu Rate ziehen.«
Rust nickte schweigend vor sich hin. Das Telefonat zog sich schon unnötig in die Länge, und die Angelegenheit mit dem Kinderwagen hatte er dabei ganz vergessen. Hoffentlich war es nicht zu spät. Er nutzte die kurze Pause, um einzuhaken.
»Wie gesagt, ich will nur fragen. Ich wollte Sie nur um Ihre Meinung bitten.« Er sprach nur halblaut, in der Wohnung über ihm rumorte es. Der Plattenbau übertrug jedes Geräusch in alle Etagen. Jeder würde etwas vom Babygeschrei abbekommen, ob er wollte oder nicht. Doch beschweren sollte sich keiner, waren doch die Kinder der anderen auch nicht gerade leise.
»Also, fragen kostet ja nichts. Urlaub haben Sie sowieso. Aber gemach, Genosse, keinen Übereifer! Bei solch heiklen Angelegenheiten stößt man schnell in ein Wespennest.«
Irgendwie kam es Rust vor, als ob sein Chef sich über ihn lustig machte. Aber vielleicht war es nur seine Art.
»Ich werde Vorsicht walten lassen. Vielen Dank erst mal!«
Rust legte auf und musste kurz überlegen, was er noch vorgehabt hatte. Dann fiel es ihm ein. Im Wohnzimmer fand er die ausgeschnittene Anzeige auf dem Couchtisch. Er ging wieder zum Telefon.
»Guten Tag, Rust hier, wir hatten gestern schon wegen dem Kinderwagen …« Rust wurde unterbrochen.
»Schon weg«, wiederholte er das Gehörte. »Gerade eben.« Das zu sagen war unnötig gewesen, auch wenn die Frau damit nur ihr Bedauern zum Ausdruck bringen wollte. Heike würde sich ärgern. Rust ging durchs Wohnzimmer in die kleine Küche und warf den Zettel in den Mülleimer. Er musste seiner Frau ja nicht sagen, dass sie den Wagen knapp verpasst hatten. Dann würde sie ihm wenigstens nicht allzu böse sein.
Rust sah zum Fenster hinaus. Vor seinen Augen breitete sich das stetig wachsende Wohngebiet aus. Plattenbauten, wohin er sah, Fundamente, Rohbau oder auch schon Häuser, fast zum Bezug bereit. Zehntausende Wohnungen sollten entstehen, wusste Rust, überall in der DDR. Schwarze Rußwolken stiegen hinter dem nächsten Block auf, einmal alle zwei Wochen verbrannten die Bauarbeiter ihren Müll in großen Gitterboxen. Rust wusste von gigantischen Bebauungsplänen. Am Rande der Stadt, mitten auf dem Feld, sollten riesige Wohngebiete entstehen. Bezahlbarer Wohnraum für zehntausende Menschen. Schon erstaunlich, was dieser kleine Staat stemmte. Da konnte man über die verschlammten Wege im Neubaugebiet schon mal hinwegsehen oder darüber, dass ein Fernseher ein halbes Jahresgehalt kostete. Die Leute sollten das viel mehr zu schätzen wissen, dachte er sich.
Trotz der schlechten Akustik waren sie heilfroh gewesen, eine Wohnung in einem der ersten fertigen Wohnblöcke bekommen zu haben. Sie hatten Zentralheizung, ein schönes kleines Bad mit Wanne, ein Kellerabteil mit Trockenraum, ein Zimmer für das Kind und sogar einen Balkon. In der Nähe sollte ein Kindergarten eröffnet werden, eine Poliklinik gab es auch und eine Kaufhalle. Der reinste Luxus im Vergleich zu seiner alten Bude in der Neustadt, in der sie zwei Jahre gelebt hatten.
So viele Leute warteten auf eine Wohnung wie diese. Rust wusste, dass sie bevorzugt behandelt worden waren, weil Heike schwanger war und hauptsächlich, weil er Polizist und SED-Mitglied war. Genauso war er zu seinem Trabant gekommen. Er wusste von Freunden, die schon Jahre auf ihr bestelltes Auto warteten. Er hatte kein schlechtes Gewissen deshalb. Jeder nahm, was er bekommen konnte. Auch in seine alte Wohnung, kaum mehr als zwei feuchte Zimmer, mit Toilette auf der Halbtreppe, war gleich wieder jemand eingezogen.
Rust sah auf die Uhr. Er hatte noch Zeit, wollte die Gelegenheit nutzen, um sich ein wenig auszuruhen, sich von dem Schreck zu erholen und etwas zu tun, was er sonst kaum tat. Aus dem Wohnzimmerschrank holte er eine Schallplatte, legte sie vorsichtig auf das Abspielgerät, setzte ebenso behutsam die Tonnadel auf. Heike mochte die Musik von Manfred Krug nicht besonders, jetzt war also eine gute Gelegenheit. Rust legte sich auf die Couch, sah noch einmal auf die Uhr. Vier Stunden hatte er noch, ehe im Krankenhaus die Nachtschicht begann.
Er hatte noch den seltsamen Geschmack des Kaffees auf der Zunge, als er den Motor seines Trabants startete. Der Wagen reagierte nicht. Rust erinnerte sich, dass er den Choke ziehen musste. Er war noch nicht an das Fahrzeug gewöhnt. Beim zweiten Versuch sprang der Motor an, und nun hallte sein munteres Kläffen an den Hauswänden wider. Rust hatte sich eine Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, zündete sie an und kurbelte das Fenster ein Stück runter, ehe er anfuhr. Der Kaffee war wirklich seltsam in letzter Zeit. Ihm war schon länger aufgefallen, dass die Leute aus einem nicht erklärbaren Grund den Aufstieg und Niedergang der DDR an der Qualität des Kaffees festmachten. Kaum jemand, der nicht vom Geschmack des Kaffees auf die Zustände in der Republik schloss.
Rust schob den Ganghebel hinter dem Lenkrad nach oben und fuhr los. Immerhin hatte es in den letzten Jahren einige Veränderungen gegeben. Die Versorgungslage hatte sich eindeutig verbessert und die Hysterie der ersten Jahre, nach dem Bau des antifaschistischen Schutzwalls, hatte sich gelegt.
Er bog von der Försterlingstraße stadteinwärts auf die Pirnaer Landstraße ab. Die Räder des Wagens ratterten über das Kopfsteinpflaster. Übervorsichtig wich Rust einem Schlagloch aus. Viel war nicht mehr los um diese Zeit. Wie fliegende Untertassen huschten die orangegelben Laternenlichter über ihn hinweg.
Er parkte außerhalb des Krankenhausgeländes, in der Nähe der Straßenbahnhaltestelle der Linie 6, und stieg aus. Auf der Straße zündete er sich noch eine Zigarette an und ging über das Gelände auf die Frauenklinik zu. Es war noch viel zu früh, aber er konnte nur ahnen, wann die Nachtschicht eintreffen würde.
In der Kälte und der Dunkelheit fühlten sich die Minuten wie eine Ewigkeit an. Was ging es ihn eigentlich an, fragte er sich. Solche Dinge passierten nun mal. Vermutlich öfter als man glaubte. Schrecklich für die Betroffenen. Er konnte froh sein, wenn bei ihnen alles gut ging. Sollte er Steffen Weber nach dem Kinderwagen fragen? Ob sie ihn vielleicht ausleihen könnten oder gar kaufen? Rust schämte sich für den Gedanken. Wie konnte er so pietätlos sein? Aber andererseits würden die Webers den Kinderwagen in den nächsten Monaten nicht brauchen oder vielleicht sowieso verkaufen wollen, falls ihnen die Lust am Kinderkriegen vergangen war.
Rust schnippte die Zigarettenkippe weg und mit ihr seinen kleinen, üblen Gedanken. Schritte näherten sich. Eine junge Frau steuerte genau auf die Klinik zu. Rust ging ein Stück parallel und bog dann rechts ab, damit sich ihre Wege wie zufällig kreuzten.
Die Schwester schrak auf, als er vor dem Haus neben ihr ins Licht trat.
»Sie schon wieder!«, sagte sie und verlangsamte ihren Schritt. »Haben Sie denn Ihre Frau noch immer nicht sehen dürfen?« Nun blieb sie stehen.
»Doch, schon …« Rust nestelte die Zigaretten aus seiner Jackentasche. Seine Finger waren klamm. »Mögen Sie?« An diese Schwester konnte er sich gar nicht erinnern.
Die junge Frau schaute rasch auf ihre Uhr, dann nickte sie und nahm sich eine Zigarette. Rust, der nicht daran gedacht hatte, sein Feuerzeug aufzufüllen, strich ein Zündholz an, schützte die kleine Flamme mit der Hand. Die Schwester beugte sich vor und nahm einen tiefen Zug. Rust entzündete mit derselben Flamme seine Kippe.
Ein paar Sekunden standen sie schweigend da und rauchten.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, begann er schließlich.
»Umsonst stehen Sie ja wohl nicht hier.« Die junge Schwester verzog den Mund zu einem kleinen Lächeln.
»Ich will nicht neugierig erscheinen, aber können Sie mir erzählen, was gestern Abend geschehen ist?«
Sofort verlor sich das Lächeln im Gesicht der jungen Frau. »Hier, im Krankenhaus?«
»Ja, also, ein … Freund von mir, besser gesagt dessen Verlobte hat gestern bei der Geburt ihr Kind verloren.«
»Das ist schlimm. Aber so etwas kommt vor.« Die Schwester verzog den Mund.
»Aber ist es normal, dass man das Kind nicht sehen darf?«
Jetzt erst vernahm er die Schritte hinter sich. Er sah sich um.
»Hören Sie mal!« Die Oberschwester vom Vortag stand hinter ihm und blickte ihn streng an. »Was sind Sie denn für einer? Sie haben gar keine Veranlassung, hier zu sein und komische Fragen zu stellen.«
Im ersten Moment wollte es Rust auf eine Konfrontation ankommen lassen, denn es war weder verboten, sich hier draußen aufzuhalten noch mit jemandem zu sprechen. Doch dann dachte er an Heike, die oben auf Station lag. Er wollte es nicht riskieren, dass die Oberschwester ihren Unmut an ihr ausließ.
Die Oberschwester gab ihm eine Sekunde zu antworten, doch Rust schwieg und trat einen Schritt zurück. Mit einem leisen Schnauben setzte sich die Frau wieder in Bewegung. Die junge Krankenschwester hatte sich inzwischen in Richtung des Hauseingangs entfernt und ihre Zigarette in einem Ascher ausgedrückt. Sie hielt ihrer Kollegin die Tür auf, was diese mit einem Nicken quittierte. Dann gab sie Rust ein Handzeichen, hob Zeige- und Mittelfinger an. Rust konnte das nur so deuten, dass sie bei nächster Gelegenheit noch einmal herauskommen würde, entweder in zwei Stunden oder um zwei Uhr in der Nacht. Er nickte ihr zu, doch das sah sie schon nicht mehr.
Die Zeit zog sich endlos hin, und er musste gegen das ständige Verlangen zu rauchen ankämpfen. Zwar gab es in der Nähe eine Kneipe, dort wäre es warm gewesen und vielleicht hätte er sogar noch eine Kleinigkeit zu essen bekommen. Doch dann verpasste er vielleicht die Krankenschwester. So lief er mehrere Runden auf dem Gelände, immer in Sichtweite der Klinik, teilte die Zeit in Zwanzig-Minuten-Abstände, in denen er sich eine Zigarette gönnte. Immerhin regnete es nicht und die Temperatur sank nicht unter null.
Endlich war die Zeit um und Rust bezog Posten. Da öffnete sich die Tür und eine Frau kam heraus. Ihrem Verhalten nach musste es die junge Schwester sein, denn sie sah sich um, ging ein paar Meter nach links, dann nach rechts. Rust verließ seine Deckung, und die Schwester kam auf ihn zu. Ungefragt bot Rust ihr eine Zigarette an. Sie nahm sie dankbar an.
»Wie heißt du denn? Ich meine mit Vornamen«, fragte sie Rust und blies den Rauch gen Himmel aus.
»Thomas.«
»Monika.« Sie reichte ihm die Hand. Rust war etwas überrascht von dieser förmlichen Geste.
»Die Olle macht sich hier immer zum Obermacker. Die lässt nichts auf ihre Klinik kommen. Bist du Polizist, oder so?«
Rust wusste, »oder so« hieß Stasi. »Ich bin bei der Kripo«, sagte er.
Schwester Monika hob den Kopf und zog die Mundwinkel herunter. »Muss ich jetzt Angst haben?«, fragte sie und zwinkerte verschwörerisch.
Aber Rust hatte keine Lust auf Spielchen. »Was ist denn passiert gestern Nacht?«
»Ich weiß es nicht ganz genau, aber es gab wohl unerwartet Schwierigkeiten bei einer Entbindung und das Kind kam tot zur Welt.«
»Wird überprüft, was da geschehen ist?«
»Ja, klar.«
»Und wenn sich herausstellt, dass es einen Behandlungsfehler gab, was geschieht dann?«
»Das kannst du dir ja sicher denken, dass die das nicht an die große Glocke hängen werden. Aber das ist eben so. Wenn ein Lokführer einen Fehler macht, sterben auch Menschen.« Die junge Frau sah sich um und warf einen prüfenden Blick auf die Fenster über ihnen. Einige standen einen Spalt offen.
»Aber das heißt ja nicht, dass da gestern Fehler gemacht wurden. Es gibt so viele Dinge, die bei einer Geburt unvorhergesehen passieren können. Siehste ja, sogar einen wie Raspe erwischt es. Ich kann dir aber sagen, wer die Hebamme war. Dagmar Krüger heißt sie. Sie ist vorerst suspendiert, also vom Dienst freigestellt. Aber das weißt du nicht von mir! Ich muss jetzt auch wieder rein.«
»Warte noch kurz!« Rust winkte sie noch ein Stück heran.
»Du meinst, Doktor Raspe war an der Entbindung beteiligt?«, fragte er leise. Das würde dessen verhaltene Reaktion erklären.
»Aber nicht nur das. Es war ja seine Tochter, die hier entbunden hat. Es war sein Enkelkind, das gestorben ist.«
Für einen Moment schnürte es Rust die Kehle zu.
»Wenn er aber dabei war, wieso ist die Hebamme dann suspendiert? Hat sie gepfuscht?«
»Nein, das will ich doch gar nicht sagen«, ruderte Schwester Monika zurück. »Ich meine nur, es passieren immer mal Fehler. Ist doch ganz logisch.«
»Aber wenn es sein Enkel war, müsste dann Doktor Raspe nicht erst recht ein Interesse daran haben, Ursachenforschung zu betreiben?«
Schwester Monika kam noch etwas näher zu Rust, bevor sie antwortete.
»Das wird ja auch gemacht. Aber es geht hier auch um seine eigene Abteilung, und er hat einen Ruf zu verlieren.« Sie hob vieldeutig die Augenbrauen. »Jetzt muss ich aber!«
Rust hielt sie ein weiteres Mal zurück. »Warte noch mal, ganz kurz. Ich habe hinter dem Haus einen Moskwitsch gesehen, Berliner Kennzeichen. War da jemand im Krankenhaus? Jemand, den du nicht kennst?«
Die Frau runzelte die Stirn. Dann schüttelte sie den Kopf. »Keine Ahnung, davon weiß ich nichts. Ich muss jetzt! Und wie gesagt, von mir weißt du nichts!« Sie winkte, eilte dann mit schnellen Schritten zum Hauseingang und verschwand.
Rust blieb zurück. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. So leicht trat man ins Fettnäpfchen, dachte er bei sich. Erstaunlich, dass der Arzt so gefasst geblieben war. Er hatte ja sicherlich schon einiges gesehen, doch wenn es einen selbst betraf, war es schon noch etwas ganz anderes.
Das Telefonklingeln ließ ihn aus dem Schlaf hochschrecken. Für die Jahreszeit kam es ihm ungewöhnlich hell vor, doch ein Blick auf den Wecker brachte Klarheit: Es war kurz vor zehn am Morgen. Erschrocken fuhr er hoch. War etwas mit Heike? Rust sprang aus dem Bett, taumelte von leichtem Schwindel übermannt in den Flur und nahm den Hörer ab.
»Rust«, meldete er sich.
»Seidel hier. Rust, hören Sie«, raunte sein Chef, »was auch immer Sie machen, es zieht schon weite Kreise.«
»Wie meinen Sie das?« Rust wischte sich die Müdigkeit aus den Augen.
»Gerade bekam ich einen Anruf von höherer Stelle. Sie würden in der Nacht in der Klinik dem Personal auflauern und ungebührliche Fragen stellen.«
»Wer hat sich beschwert?«
»Nicht von Belang. Wichtig ist für Sie, Ihr Name wurde erwähnt.«
»Genosse Hauptmann, möglicherweise ist da etwas vorgefallen. Schlamperei womöglich oder eine andere Art von Fehlverhalten.«
»Dann ist es aber nicht Ihr Bier, Rust, dafür gibt es andere Stellen. So etwas wird nachgeprüft. Soweit ich weiß, wird obduziert. Das geht Sie nichts an. Nutzen Sie den Urlaub, ruhen Sie sich aus. Wenn erst Ihr Kind da ist, werden Sie die Ruhe und den Schlaf vermissen. Verstanden, Rust?«
»Hm, hab ich.«
»Sie klingen nicht zufrieden. Aber vertrauen Sie mir. Es ist besser für alle Beteiligten. Schönen Tag noch. Bis nächste Woche!«
Rust legte auf. Seidel hatte ja recht. Er hatte keinerlei Kenntnisse von den Vorgängen in einem Krankenhaus und seine wenigen Informationen hatte er von einem Hausmeister und einer redseligen Krankenschwester. Da klingelte sein Telefon erneut.
Rust nahm ab. »Rust!«
»Ja, ich höre!«
Schnell nahm er seinen Notizblock und den Bleistift, um sich etwas zu notieren.
»Danke schön«, murmelte er. »Ja, ich weiß schon«, fügte er noch hinzu. »Ja, nein, ich sage niemandem etwas!« Dann legte er auf. Nachdenklich blieb er noch einige Augenblicke stehen, sah sich selbst im Spiegel, mit wirrem Haar und im viel zu weiten Schlafanzug. Dann knöpfte er das Oberteil auf, zog es sich aus und ging ins Bad.
Ohne etwas gegessen zu haben, nur mit einer Tasse Kaffee im Bauch, startete er eine Viertelstunde später seinen Trabant, zündete sich eine Kippe an und kurbelte das Fenster runter. Er sah noch einmal auf dem Zettel nach, den er sich aus dem Notizblock gerissen hatte.
Rust war zur Polizei gegangen, um seinen Dienst an der DDR zu leisten, einen Sozialismus zu schaffen, der ein angenehmes, sicheres Leben versprach, in dem Arbeit wertgeschätzt wurde und jeder gleichgestellt war. Es interessierte ihn, was das für ein Fahrzeug gewesen war, das nachts hinter der Klinik gestanden hatte. Dessen Nummer er sich notiert hatte. Und es interessierte ihn, was es mit dem Arzt auf sich hatte, dessen eigene Tochter in seiner Klinik ein Kind verloren hatte.
Er konnte jetzt entscheiden, sich entweder nicht in Dinge einzumischen, die vielleicht zu groß für ihn waren, von denen er nichts verstand, oder seiner Neugier und einem dumpfen Gefühl zu folgen, das ihm sagte, dass hier ein Unrecht geschehen war.
Es gab genügend Dinge in diesem Staat, die nicht funktionierten, genügend Zahlen, die gefälscht wurden, und Menschen, die ihre Posten missbrauchten, um sich zu bereichern. Das war nur menschlich, und es zeigte, dass der Weg in eine sozialistische Gesellschaft ein steiniger war und noch viel Mühe und Willen bedurfte. Man konnte nicht gegen alles ankommen. Aber diese Sache hier zehrte an seinem Gewissen.
Rust überlegte noch kurz, dann legte er den ersten Gang ein. Er hatte eine Entscheidung getroffen.
Die Böhmische Straße in der Dresdner Neustadt lag gar nicht weit von seiner alten Adresse. Sechs Monate war er nicht hier gewesen, seit seinem Umzug. Doch nun, da er den Anblick der schlichten hellen Plattenbauten gewöhnt war, erschien ihm das Viertel noch düsterer und baufälliger als zuvor. Wahrscheinlich wäre es das Beste, man risse es ganz ab und baute neue Häuser.
Das Kläffen seines Wagens war unnatürlich laut zwischen den engen Hauswänden. Bei einer Polsterei stellte er den Trabant ab und stieg aus. Laut seinem Zettel musste er am Ziel sein. Auf dem Gehweg türmte sich ein Berg aus Kohlebriketts. Aus der Polsterei tönte schnelles Hämmern, es roch nach Müll. Mit leisem Quietschen näherte sich ein älterer Mann mit einer Schubkarre aus der Hausdurchfahrt. Er hatte schwarze Flecken im Gesicht. Ohne Rust zu beachten, begann er die Briketts in die Schubkarre zu schaufeln. Er schnaufte angestrengt. Rust wusste, was diese Arbeit bedeutete, er hatte genug Kohlen geschleppt, seit seiner frühesten Kindheit.
»Ich möchte zu Weber«, sprach er den Mann an.
»Hinterhaus«, bekam er als knappe Antwort.
Rust durchquerte den offenen Hausflur und stand in dem ersten, von hohen schwarzgrauen Mauern umfassten Hinterhof. Linker Hand war ungefähr ein Dutzend blecherne Mülltonnen zu sehen, zwischen Wäschestangen hingen Bettlaken auf der Leine. Irgendwo klopfte jemand einen Teppich, es hallte rhythmisch und dumpf. Auch die Tür zum Hinterhaus stand offen. Ihn schauderte. Hier war alles düster, kalt und feucht. Kaum besser als die Mietskasernen, die früher das Stadtbild geprägt hatten, dachte er. Wohnraum für unzählige billige Arbeitskräfte, für die Kriegsindustrie der Großkapitalisten.
Rust studierte die Namen an den Briefkästen, wurde aber nicht fündig. Er durchquerte das Hinterhaus, um in einen nächsten Hof zu gelangen. Dort hockte ein junger Mann auf dem sandigen Boden und schraubte an seinem Moped herum, einer mitgenommen aussehenden braunroten Simson Star. Zuerst drehte er sich nur um, weil er sehen wollte, wer gekommen war. Dann erhob er sich. Er trug Schlaghosen und eine braune Lederjacke.
»Wer sind Sie denn?«
»Ich suche Steffen Weber. Er gab mir diese Adresse.«
Der junge Mann wischte sich seine schwarzen Finger an einem ebenso schwarzen Lappen ab. »Heute hat schon mal jemand nach ihm gefragt.«
Rust kommentierte das nicht. »Ich komme vom Kombinat. Ich bin delegiert, sozusagen. Seine Frau sollte entbinden.« Er wusste, das war ein Schuss ins Blaue. Er hatte keine Ahnung, wo Steffen Weber arbeitete. Doch offenbar genügte die Aussage dem Mann als Legitimation. Er entspannte sich etwas.
»Steffen wohnt da oben.« Er deutete auf das zweigeschossige Haus hinter sich, das irgendwie eingezwängt zwischen den anderen Häusern wirkte. Der Dachstuhl hing durch, und der Putz hatte sich großflächig von der Wand gelöst. Es war nur eine Frage der Zeit, dass das ganze Haus in sich zusammenfallen würde. Dagegen war selbst Rusts frühere Wohnung noch gut erhalten gewesen.
»Da wohnen sie? Ich meine …« Er hatte fragen wollen, ob das Kind dann auch da aufgewachsen wäre. Der junge Mann verstand die unvollendete Frage falsch. »Sind halt nicht verheiratet. Da kannst du ewig auf ’ne Wohnung warten.«
»Weiß schon«, kommentierte Rust. »Ist Steffen da?«
»Na, wenn er nicht im Kombinat ist …« Der junge Mann deutete auf die Eingangstür, warf den Lappen zu seinem Moped und holte eine Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche. Rust, der das als Aufforderung verstanden hatte, drückte die Klinke an der Tür herunter, doch sie war verschlossen. Er klingelte an dem oberen der zwei metallenen Klingelknöpfe. Im Haus schrillte eine Klingel. Weiter geschah nichts.
»Manchmal ist er Billard spielen in der Kneipe auf der Rothenburger«, meinte der junge Mann.
»Um diese Uhrzeit?«, fragte Rust. »Sie wohnen doch da, können Sie mir bitte aufschließen?«
Nun veränderte sich die Haltung des Mannes. »Sind Sie ein Polizist oder so was?«
Was hatte er an sich, dass die Leute ihm den Polizisten immer gleich ansahen, fragte sich Rust. War es die Kleidung oder sein Auftreten? »Ja, ich bin Polizist, aber ich bin in privater Sache hier. Wollen Sie mich bitte reinlassen.« Rust warf einen raschen Blick auf das Moped. Gut möglich, dass es gestohlen war oder wenigstens Teile davon.
Der Mann hob die Schultern, zog einen großen Bartschlüssel aus der Jackentasche und schloss die Tür auf.
»Danke.« Rust schob sich an dem Mann vorbei ins Haus.
In einer kleinen Nische vor der Treppe stand der Kinderwagen. Blau mit großen schmalen Reifen. Rust streifte ihn mit prüfendem Blick und ging dann die Treppe hinauf. Von innen machte das Haus einen noch schlechteren Eindruck. Auf halbem Absatz warf Rust einen Blick aus dem Fenster. Ringsum nur Hausrückwände, Mauern, Verfall, Birken, die aus Dachrinnen wuchsen.
Oben stand er vor einer Tür. Er klopfte.
»Steffen? Herr Weber? Thomas Rust hier. Der Mann aus dem Krankenhaus«, rief er halblaut und lauschte. Es blieb ruhig. »Ich weiß, dass Sie da sind. Ich würde gern mal kurz mit Ihnen sprechen.«
»Moment«, rief Weber und öffnete die Tür.
»Wie geht’s?«, fragte Rust. Weber sah übernächtigt aus. Als hätte er getrunken. Es roch nach Zigarettenrauch aus der Wohnung. »Müssten Sie nicht auf Arbeit sein?«
»Schon«, murmelte Weber. Er machte keine Anstalten, Rust hineinzulassen.
»Wie geht es denn?«, wiederholte Rust.
»Wie schon.« Mehr sagte er nicht.
»Kann ich nicht kurz reinkommen?«
Weber verzog das Gesicht, als hätte er Zahnweh. Dann nickte er und gab den Weg frei. Rust streifte die Schuhe ab, stand nun in Socken im Flur und sah Weber abwartend an. Der war irgendwie verlegen und hielt noch immer die Tür auf.
»Wollen wir hier im Flur sprechen?«, fragte Rust. Ein Brett mit Haken an der Wand diente als Garderobe. Durch ein kleines Fenster fiel Licht und reflektierte in einem großen, gerahmten Spiegel. Ein Foto war in die Ecke geklemmt und zeigte Weber mit einer jungen, hübschen Frau, etwas kleiner als er, mit lockigem hellem Haar. Sie lachte fröhlich überrascht in die Kamera, konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, welches Unheil auf sie zukommen würde.
»Ist sie das? Ihre Frau?« Rust deutete auf das Bild.
Weber schloss die Tür und nickte. »Meine Verlobte, ja.«
»Gab es denn Probleme während der Schwangerschaft? Hatte Ihre Frau Beschwerden?«
Weber schüttelte den Kopf. »Nein, nichts.«
»Ich habe gestern erfahren, dass Doktor Raspe der Vater Ihrer Frau ist. Sind Sie deshalb in diese Klinik gefahren? Wollten Sie das?«
»Wir wollten das beide nicht, er hat aber darauf bestanden.« Steffen Weber sah ihn nun beinahe emotionslos an.
»Kommt Ihre Frau bald aus dem Krankenhaus?«
»Morgen … Nein, übermorgen.«
»Wie geht es dann weiter für Sie?«
»Wie denn schon?«, murrte Weber ungehalten. »Wir werden auf Arbeit gehen und das Leben geht weiter.«
Dann klapperte etwas leise hinter einer der geschlossenen Türen. Weber sah auf, und erst diese Bewegung ließ Rust aufmerksam werden.
»Haben Sie Besuch?«
»Ja … Also … das ist Barbara, Ricardas Freundin.« Weber zögerte noch einen Moment. Dann öffnete er die nächstliegende Tür, die in eine kleine Küche führte. Neben der Anrichte und einem Holzofen stand ein Esstisch unter der Dachschräge. An der anderen Wand war eine Badewanne, abgedeckt mit einem Brett, dazu ein Badeofen, den man anheizen musste. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher voller Zigarettenkippen. Verschiedene Gläser und eine fast leere Flasche Goldbrand standen herum. Das Küchenfenster war offen. Eine junge Frau erhob sich von ihrem Stuhl. Entschuldigend sah sie Weber an. Sie war blond, und am Haaransatz erkannte Rust, dass es gefärbt war. Ihr Rock reichte nur bis knapp übers Knie, darunter trug sie Nylonstrumpfhosen. Ihr Gesicht war gerötet vom Alkohol, die Kälte durch das offene Fenster schien sie nicht zu spüren. Einige Knöpfe ihrer Bluse standen offen. Vermutlich hatte sie Rusts Blick wahrgenommen, verlegen knöpfte sie die Bluse zu.
»Barbara«, stellte sie sich dann vor und reichte Rust die Hand. Ihm war, als habe er sie schon einmal gesehen.
»Sie kam mich besuchen, als sie von der Angelegenheit erfuhr«, erklärte Weber ungefragt.
»Ich bin Ricardas Freundin. Wir kennen uns schon ewig. Seit dem Kindergarten. Ich wohne nicht weit von hier. Und Sie?«
»Bis vor Kurzem habe ich auch in der Gegend gewohnt. Vorn, Alaunstraße.« Bestimmt war sie ihm deshalb schon mal begegnet. »Ich habe ein paar Fragen an Herrn Weber. Ich bin Polizist, aber nur in privater Sache hier.« Rust sah sich nach Weber um.
Weber machte keinerlei Anstalten, seine Bekannte aus der Wohnung zu komplimentieren.
»Ich möchte nur wissen, ob es Schwierigkeiten gab, ob Ihre Frau etwas erzählt hat. Hat sie vielleicht falsche Medikamente bekommen? Angeblich ist die Hebamme suspendiert, die das Kind entbunden hat. Ich möchte nur in Erfahrung bringen, ob vielleicht Fehler gemacht wurden, die man jetzt unter den Teppich zu kehren versucht.«
»Aber es macht das Kind nicht wieder lebendig«, sagte Weber leise.
»Ist es Ihnen denn egal?«, fragte Rust.
»Natürlich nicht. Aber gestern, da war ich wie unter Schock und weiß auch gar nicht, was ich zu Ihnen gesagt habe. Ich habe ja gar nicht verlangt, dass die Polizei nachforscht.«
»Ich mache das auch eher inoffiziell.«