Zwei Schwestern - Gerrit Homanner - E-Book

Zwei Schwestern E-Book

Gerrit Homanner

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Beschreibung

Die beiden Töchter eines gutsituierten Paares, sie eine selbstsichere Freifrau, er ein bodenständiger Notar, sind auf dem Weg ins Leben und wählen ihre Partner entsprechend ihres sehr unterschiedlichen Naturells. Dora, die Ältere, verliebt sich in den charakterstarken Ben, Kollege der Schwester. Der ist zwar Lehrer aus Passion, aber bereit, für seinen Kinderwunsch und die Berufstätigkeit seiner Frau den Haushalt zu führen. Die jüngere Kati will hoch hinaus und angelt sich einen Bankdirektor, der in diese Allianz hineinstolpert. Seiner verwitweten Mama wird er indes zeitlebens sehr nahe bleiben. Doch Villa und Personal können Katis hochgestochenen und unrealistischen Hoffnungen auf ein gesellschaftliches Lebens nicht befriedigen. So sucht sie ihre Langeweile und Unzufriedenheit als Mitglied eines Tennisclubs zu kompensieren. Die Betreuung ihrer Kinder überlässt sie dem Personal und der in ihrer Rolle glücklichen Schwiegermutter. Ihr Sohn sucht die Liebe seiner Mama vergeblich, wird daher in der Pubertät schwierig und in der Schule auffällig. Kati kann ihm die ersehnte Liebe aber nicht gewähren. An diesem Mangel zerbricht der Junge und flüchtet sich schließlich in Gewalt. Bald wird der Mann der älteren Schwester in den Strudel der eskalierenden Ereignisse wider Willen hineingezogen und erhält eine ungewollt zentrale Rolle in einem sich immer weiter verschärfenden Konflikt.

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Die Töchter eines gutsituierten Paares, sie eine selbstbewusste Freifrau, er bodenständiger Notar, sind auf dem Weg ins Leben. Da sie von sehr unterschiedlichem Temperament und Charakter sind, haben sie bei ihrer Partnerwahl ganz verschiedene Vorstellungen.

Dora, die Ältere, verliebt sich in den bescheidenen aber charakterstarken Ben, Kollege der Schwester. Obwohl Lehrer aus Passion, ist er wegen seines Kinderwunsches bereit, für die Berufstätigkeit seiner Frau als Richterin den Haushalt zu führen.

Die jüngere Kati träumt indes von einem Leben auf höherem Fuß und angelt sich einen Bankdirektor, der in diese Allianz mehr oder weniger hineinstolpert.

Seiner verwitweten Mama wird er zeitlebens so nahe bleiben, dass es seine Umgebung irritiert.

Allerdings ist er seiner Frau und Familie ein sehr ritterlicher und fürsorgender Gatte und Vater.

Doch Villa und Personal können Katis unrealistischen Träume und Erwartungen von einem gehobenen gesellschaftlichen Leben nicht befriedigen.

So sucht sie ihre Langeweile und Unzufriedenheit als Mitglied eines Tennisclubs zu kompensieren.

Die Betreuung ihrer Kinder überlässt sie dem Personal und der in ihrer neuen Rolle glücklichen Schwiegermutter.

Ihr Sohn aber sucht die Liebe seiner Mama vergeblich und wird in der Pubertät zunehmend schwierig und in der Schule auffällig.

Seine Mama kann und will ihm die so machtvoll ersehnte Liebe aber nicht gewähren. An diesem Mangel zerbricht der Junge und flüchtet sich zunehmend in Gewalt.

Bald wird Ben, ihr Schwager, in den Strudel der eskalierenden Ereignisse wider Willen reingezogen und erhält eine ungewollt zentrale Rolle im sich immer weiter verschärfenden Konflikt.

Gerrit Homanner

Jahrgang 1943

Verheiratet seit 1971

1958 bis 1961 Fliesenlegerlehre

Studium von 1965 bis 1972

Zunächst Ingenieurbau,

dann Lehramt.

1972

Diplom in Erziehungswissenschaften

Nach zwei Jahren im Schuldienst

und einigen in der Fortbildung

arbeitete er 25 Jahre als Leiter

sozialpädagogischer Einrichtung

Inhaltsverzeichnis

Villa von Bergen

Dora von Bergen

Die Party

Flug in die Neue Welt

Drei Monate später

Freifrauen

Eine Stippvisite

Zuhause

Wiedersehen mit Ben

Abendbrot

Mansardengeflüster

Besuch bei Bens Eltern

Frank Albertz Bewerbung

Die Jüngere geht voran

Das Schicksal nimmt seinen Lauf

Freundinnen

Kaffee bei der Sparkassendirektorin

Wegmarken

Ein glücklicher Unfall

Dora und Ben von Bergen

Wilhelms Sechzigster

Mit Laura zur richtigen Familie

Wilhelm im Krankenhaus

Ersatzmütter oder die Mädchen

Bennos 10. Geburtstag

Bescheiden und liebevoll

Ben trifft Frank Albertz

Kaffee in kleiner Runde

Verbotene Liebe

Quälendes Wissen

Wilhelms Siebzigster

Entscheidungen

Fünf vor zwölf?

Eine heikle Mission

Besuch der Schwiegermutter

Lukas schockiert Benno

Wochenendhaus niedergebrannt

Chef des Geheimdienstes

Seelsorger wider Willen

Eine neue Zeit

Und nun?

Ein Unglück kommt selten allein

Die Mitte des Lebens

Zwei Jahre später

Das bin ich ihm schuldig

Man ist nie zu alt

Lieber alt und gesund als jung und krank

Und sie bewegt sich doch

Unglaublich und traurig

Untergetaucht

Schlag auf Schlag

Ein halbes Jahr später

Familienzusammenführung

Wieder ein Anruf

Villa von Bergen

An einem Mittwochmorgen betritt Wilhelm von Bergen das Esszimmer. Seine Frau sitzt an einen ungewöhnlich gedeckten Frühstückstisch. Erschrocken macht er kehrt. Glück gehabt denkt er, sie hat mich nicht bemerkt. Er schaut in seinen Kalender.

Hat er was vergessen? Nein. Irritiert und unschlüssig sieht er auf die Tür zum Esszimmer. Sie hatte aufrecht an ihrem Platz gesessen, auf dem Tisch brannte eine Kerze.

Egal entschied er den Kopf wägend, werde wohl alt. Beim zweiten Anlauf wünschte er ihr schon beim Eintreten und verhältnismäßig laut einen Guten Morgen.

Er hat seinen Platz noch nicht erreicht, als sich Kunigunde erhebt.

Unsicher sieht er sie an. Sie kommt ihm zwei Schritte entgegen und umarmt ihn. Wilhelm lächelt unsicher und geht zu seinem Platz. Sie senkt den Kopf, faltet die Hände und schließt die Augen.

Geistesgegenwärtig liest er das Gebet von ihren Lippen. „Amen“ erwidert er, nachdem sie mit diesem Wort die Augen öffnete und ihn nun ansieht.

„Der Herr schütze unsere Familie!“ Sie hält ihm ihr Glas entgegen.

Erst jetzt sieht er das seine. „Ja, meine Liebe, das ist immer gut.“

Noch rätselt er, bleibt vorsichtig, vermeidet vielleicht Unpassendes zu fragen. Also lächelt er, noch immer ahnungslos. Vorsichtig greift er zum Brötchen.

Jetzt bemerkt er, es muss etwas passiert sein, sie hat Lachs serviert.

Also nimmt er ihn, obwohl ihm eher nach Marmelade ist.

„Ein schöner Tisch, meine Liebe“ sagt er aufs Geratewohl.

„Ob sie das alles normal finden? Ist Lukas nicht unser Enkel?“

Was soll sie denn machen, die Gute, lag ihm auf der Zunge, doch er blieb vorsichtig. „Ich weiß nicht“ antwortete er stattdessen und bemerkte erst jetzt, wie wahr seine Worte sich anfühlten.

Kunigunde hatte die Stirn gekräuselt, als sie ihn fragend ansah.

Wilhelm biss in sein mit Lachs belegtes Brötchen.

„Lecker“ sagte er bewusst heiter und nahm einen Schluck Kaffee.

„Eigentlich keine Situation zum Feiern“ erwiderte sie.

„Nein, eigentlich nicht.“ So hätte er das Spiel beinahe fortgesetzt.

„Trotzdem sieht dein Tisch feierlich aus, sehr sogar.“

„Ja Wilhelm, der lächerliche Versuch, die Augen zu verschließen.

Warum nicht lachen, wenn einem nach Weinen zumute ist? Ein untaugliches Aufbäumen natürlich, ich sehe es ja ein. Aber dass sie dabei schlafen können?“

„Wer weiß, ob sie’s können?“ Nur nicht eskalieren, dachte er.

„Markus, ein solider, aber doch offenbar hilfloser Vater. Und Kati?

Ohne jedes Verantwortungsgefühl! Es scheint ihr scheißegal zu sein, ob ihr Junge zugrunde geht, eigentlich hat sie sich doch nie um ihn gekümmert.“

„Sie wollte ja keine Kinder“ warf Wilhelm mit dünner Stimme ein.

„Richtig, aber Markus doch getan, was er konnte und geglaubt, mit Geld ließe sich alles regeln.

Aber die Treue seiner Frau konnte er nicht kaufen.“

„Man darf nicht alles glauben.“

„Du könntest ihn dir ja mal zur Brust nehmen!“

„Solltest du nicht erst mal mit deiner Tochter sprechen?“

„Unsere Tochter! Sie wird lachen und alles bestreiten.“

„Schmeckt köstlich! Und dein so wunderbar gedeckter Tisch, wie du das nur immer hinkriegst.“

Gewonnen dachte er, denn endlich, lächelte sie zufrieden.

Schön, einen so dankbaren Mann zu haben, ging ihr wieder mal durch den Kopf. Ein Gedanke, der ihr mit den Jahren immer häufiger begegnete. Auch wenn er so ganz anders tickt, so verdammt normal, dachte sie. Und war doch zufrieden, sich für ihn entschieden zu haben.

„Wahrscheinlich, Kunigunde, hast du recht. Oder aber“, er schien seine Antwort zu wägen, „wir sind nicht mehr up to date? Denn sie gehen doch ganz ordentlich miteinander um.“

„Ja, weil Markus alles erträgt, was sie ihm zumutet.“

Wilhelm wusste, seine Frau war nicht einverstanden. Eigentlich so wenig wie er. „Leider“ sagte er also leise und fügte nuschelnd hinzu, „was soll der Arme auch machen.“

„Ich weiß es auch nicht, der muss einer anderen Welt leben.“

Ratlos stand sie auf, sah kurz zum Fenster hinaus, bevor sie feststellte: „Du bist siebzig, Wilhelm“ und nachdem sie sich wieder gesetzt hatte, „und ich nur zwei Jahre jünger.“

Sie machte eine so lange Pause, dass Wilhelm, „man sieht es dir aber beileibe nicht an“, platzieren zu müssen glaubte. Obwohl er damit auch seine Überzeugung aussprach.

„Wäre es nicht an der Zeit“, setzte sie nun huldvoll lächelnd fort, „den Staffelstab weiterzureichen und uns an der noch verbleibenden Zeit zu erfreuen? Vielleicht hülfe es mir ja auch ein wenig, die familiären Sorgen hintanzustellen.“

„Wenn das so einfach wäre“ gab Wilhelm, seinen Kopf hin und her wägend, zu bedenken.

„Dass unsere Dora als deine natürliche Nachfolgerin ausgefallen ist, weißt du ja nun schon seit Jahren. Hatten ihre Berufung zur Richterin schließlich begrüßt, waren gar stolz.

Man mag über den Adel ja lächeln, aber … nein Wilhelm, ich höre schon auf, weiß ich doch, dass das hohe Ross doch längst lahmt.

Macht’s mir Ben doch immer wieder vor, wer in unserer Familie edel ist. Da muss ich wohl Abbitte tun. Trotzdem, ist schon ein Graus, eine so zerfranste Familie sein eigen nennen zu müssen.

Und ich sehe kein Licht am Horizont.“

„Zerfranst!? Hab‘ ich auch noch nicht gehört, ein süßer Ausdruck.

Aber wer weiß schon, wieviel Ordnung unsere Zeit noch verträgt.

Was wichtig ist und wie’s aussieht, scheint Anne keinen Schaden erlitten zu haben.“

„Dein Wort in Gottes Ohr. Und wenn, ist’s wohl eher Zufall oder Glück, aber wissen wir‘s?“ Immerhin nickte sie zögerlich.

Bevor er sich ins Büro verabschiedete, ließ er seine Augen noch eine Runde drehen, über den Tisch, die Tapeten und die Bilder, das ganze gehobene Ambiente, das er seiner Freiherrin verdankte.

Aber, dachte er, hätte ich‘s vermisst? Nein, wusste er, erhob sich, trat zu ihr und tupfte seine Lippen auf ihre Stirn.

„Danke, meine Liebe, wünsche dir einen wunderschönen Tag und dass du dich nicht grämen mögest. Alles wird gut.“

„Dir auch, mein biederer und trotz allem geliebter Zeitgenosse.“

Schmunzelnd und für seine Verhältnisse schon beschwingt nahm er die ersten Stufen nach unten. Ja, dachte er, auf die Strecke eines Lebens gesehen sind Gegensätze nicht das Schlechteste.

„Guten Morgen, Herr Doktor.“

„Einen Wunderschönen“ beschied er Frau Bode am Empfang und erkannte, es gibt nichts Dringendes. Sonst hätte sie ihre Augen nicht gleich wieder auf ihren Block gesenkt.

Hinter seinem Schreibtisch, sich an seinem Platz zurechtruckelnd, lächelte er amüsiert und summte eine Melodie.

Die Termine lagen, geordnet nach ihrer zeitlichen Abfolge, auf der rechten Seite. Der erste obenauf.

Wie meist war er so zeitig, dass er sich durch einen gründlichen Blick in die Akte auf den ersten Besucher einstellen konnte.

Beurkundung eines Kaufvertrages. Routine erkannte er und legte sich ein wenig zurück. Seine Kunigunde lächelte ihm entgegen, wie seit rund 40 Jahren. Und er lächelte zurück. Daneben ein Foto zweier junger Frauen, Kati dunkelhaarig und Dora blond. Seine Töchter. Keine Hochzeitsbilder. Und daneben die nächste Generation, Anne, Lukas, Laura und Benno.

Zerfranst dachte er, Kunigundes zuvor nie gehörte Bemerkung mit einem zwiespältigen Lächeln erinnernd. Schließlich nickte er.

„Was macht denn deine schöne Tochter, Wilhelm“, fragten ihn die Freunde schon mal beim Schoppen. Und auch, ob denn der große Dunkle sein Nachfolger werde.

„Kommt Zeit, kommt Rat“ antwortete er meist, ironisch lächelnd.

„Oder wirke ich schon so hinfällig, dass es höchste Zeit ist?“

Trotzdem, es nervte, auch wenn alles vielleicht oder wahrscheinlich grundlos war.

Frank Albertz, das Corpus Delicti, saß nur zwei Türen weiter.

„Einen Guten Morgen.“

Nur als Schatten, zu sehr war Wilhelm in seine Gedanken versunken, nahm er ihn, gerade noch ausweichend, wahr.

„Morgen“ erwiderte er, sich vor dem Urinal stehend nach Albertz umdrehend, der am Waschbecken stand. „Entschuldigung, war schon bei meinem Termin.“

Ja, dachte er, sich ans Gespräch mit Kunigunde erinnernd, das Geräusch der sich schließenden Tür verriet ihm Albertz Abgang, vielleicht hat sie ja recht. Aber sollte, könnte, dürfte ich ihn einfach zur Rede stellen? Nein antwortete er sich als Jurist. Dafür war die Datenlage doch allzu dürftig.

Immerhin hatte ihm Dora ihm vor dessen Einstellung zur Vorsicht geraten. Sie kenne den Kerl. Ja, so hatte sie ihn genannt. Mehr aber wollte sie nicht preisgegeben.

Irgendwie, resümierte er jetzt kopfschüttelnd, waren sie über die Jahre nie richtig warm geworden. Obwohl ich doch ein recht unkomplizierter Typ sei, einer mit dem man nicht nur reden, sondern doch auch Pferde stehlen könne, wie ihm fast jeder im Dorf bestätigen würde.

Und wenn es nicht an ihm, sondern an Kati liegen sollte? Warum nicht, denkt er, als er auf das Foto seiner hübschen Tochter sieht.

Kunigunde verdammt ähnlich, denkt er und nickt verlegen, als er sich an ihren Ausdruck, eine zerfranste Familie, erinnert. Ja, da könntest du Recht haben.

„Ich bin soweit“ trompetete er dann, offenbar mit seinem Ergebnis zufrieden. Entspannt sah er in Richtung Empfang.

Dora von Bergen

Als Dora 1992 das 2. Juristische Examen mit Bravour bestand, wusste sie nicht nur, was ihr Papa sich wünschen würde, nein, auch sie hatte ihren Namen schon hin und wieder auf dem Kanzleischild ihres Papas gesehen.

Obwohl sie alles andere als eine Träumerin war, hatte sie ihr Ideal trotz jahrelanger juristischer Lehre nicht aus dem Auge verloren, eine nicht nur Recht sprechende, sondern auch für Gerechtigkeit sorgende Justiz.

Was wäre ein Leben ohne Träume, so würde sie den Einwänden verschmitzt und schmunzelnd begegnen. So war sie zumindest im Dunkel der Nacht und unter der schweigsamen Zeugenschaft der Sterne eine Rebellin. Ein sie bei Licht absurd anmutendes Zeugnis.

Letztlich hätte sie auch nicht erklären können, was sie auf diesen Traum gebracht hatte. Denn eingedenk der immerhin schon in dritter Generation existierenden Kanzlei hatte sie sozusagen mit der Vatermilch eingesogen, wie wichtig der Anwalt eines Beschuldigten als Glied eines demokratischen Rechtssystems sei.

Denn schon seit der zehnten Klasse war sie hin und wieder Gast auf den Zuschauerbänken der Gerichte. Nicht nur bei Verfahren ihres Papas.

An ihre berufliche Zukunft denkend, tröstete sie, dass Papa erst vierundfünfzig war und die Regelung seiner Nachfolge keine Dringlichkeit hatte. Obwohl …

Erst mal in die Staaten, dachte sie, sich die Chance nicht entgehen lassen wollend. Und dann? Na ja, wer weiß, was ihr der Zufall bescheren mochte? Eins nach dem anderen. Wer hat schon solches Glück und kann sich vor dem Berufsstart internationalen Wind um die Nase wehen lassen. Immerhin eine Kanzlei in New York, auf Empfehlung ihres Professors, eine sicher spannende Zeit, dachte sie sorglos, nachdem sie sich ohne großen Optimismus um eine Richterstelle beworben hatte.

Mit ihrem seltenen ‚Gut‘ bei der ersten und der hohen Punktzahl bei der zweiten Staatsprüfung hatte ihr Professor seiner strebsa men Studentin dringend geraten, sich zumindest zu bewerben.

Schließlich habe sie mit ihren Vorleistungen doch hervorragende Aussichten, zum Auswahlverfahren eingeladen zu werden. ‚Und dort, liebe Frau von Bergen, ich kenne Sie ja eine Weile, müssten Sie schon beschwipst erscheinen, wenn es nicht klappen sollte‘.

Diese Klippe lag nun hinter ihr. Eine harte Nummer, dachte sie und lächelte ein wenig stolz, als sie sich ans Öffnen der Nachricht erinnerte. Ihr Professor hatte recht behalten. Niemandem außer ihm, hatte sie‘s erzählt, auch nicht ihrem Papa.

Auf ihr Gastspiel in den Staaten würde man natürlich Rücksicht nehmen, hatte ihr die Justizbehörde zugestanden.

Sie stand am Fenster ihres großen Zimmers, das in der weitläufigen Wohnung ihrer Familie über der im Erdgeschoss befindlichen Kanzlei des Papas lag. Von hier schaute sie über den parkähnlichen Garten zur Straße, vorbei an der mächtigen Linde, die ihr Laub noch nicht ganz verloren hatte. Das neblige Grau dieses Novembertags ließ die Welt ein wenig schrumpfen.

Das Zimmer nach vorne hatte sie erhalten, weil sie die Ältere ist.

Kati, ihre zwei Jahre jüngere Schwester, sieht nach hinten in einen ebenso schönen Garten, der an den nur wenig höher gelegenen Friedhof grenzt. Rechts dahinter der Kirchturm.

Aus dem Dorf nach New York. Ob sie ihre Linde vermissen wird?

Was für ein Gedanke mit gerade mal siebenundzwanzig.

„Hast du nicht Schiss, allein in eine Weltstadt?“

„Sollte ich?“ Sie sah die Schwester überrascht an. „Kann man sich Spannenderes vorstellen?“

„Amis sollen ja freundlich, umgänglich und unkompliziert sein, aber auch etwas ungeschliffen und ohne Charme.“

„Na und?“ erklärte sie, in Katis kokette Miene lächelnd.

„Ist doch nur eine Dienstreise, für die Hochzeitsreise würde ich eher an Italien denken.“

Dora kannte das Fräulein Schwester nun fünfundzwanzig Jahre, reichlich Zeit, sich an ihren ganz anderen Blick auf die Welt zu gewöhnen.

„Ich find’s spannend, mal ganz auf mich gestellt zu sein. Ohne Netz und Papa“, hatte sie lachend ergänzt.“

„Bist ja auch die geborene Einzelgängerin.“

Leichthin war es Kati von der Zunge gesprungen, nicht kritisch, aber auch ohne einen Anflug von Zweifel.

Dora lächelte, ohne zuzustimmen, doch auch ein wenig stolz. Sind schließlich alles andere als eineiige Zwillinge. Gottseidank dachte sie, an die ihr von Kati eingebrockte Abschiedsparty denkend.

„In drei Tagen“ seufzte sie, ohne einen Hauch von Freude. Schon die Einladungsliste war ihr zu viel. Für Kati kein Problem. Soll ich einladen, hatte sie gefragt, als mache ihr nichts mehr Spaß. Die drei Leutchen, an denen dir was liegen sollte, kannst du mir ja nennen, hatte sie gespottet. Wenn ich sie nicht ohnehin aufgenommen haben sollte, lachte sie noch einmal, diesmal aber mit einem Klaps auf Doras Arm.

Ja dachte sie, den schwesterlichen Puff erinnernd, sie ist mir gleich nah wie fremd. Eigentlich ganz unkompliziert. Eigentlich betonte sie lächelnd. Aber so sind sie, die geborenen Freifrauen. Dora und ihr Papa hatten sich angewöhnt, Kati und die Mama so zu nennen, wenn sie unter sich waren. Denn Papa fühlte sich auch nach seiner Verheiratung mit der Freifrau Kunigunde von Bergen unter seinen Freunden im Krug am wohlsten. Dass sie ihn dort schon mal frotzelnd den Freiherrn nannten oder je nach Laune auch Baron, amüsierte ihn längst. Denn seine Freunde Fritz Stelljes, der Apotheker, Hannes Böttjer, der Bürgermeister, Konrad Fuhrmann, der Öko-Landwirt und sein Hausarzt Walter Kemperdick, meinten es gut mit ihm.

Und auch im Schützenverein wurde er wie einer der ihren begrüßt und geschätzt. Wenn auch ein bisschen weniger vertraut als beim ihm dann doch ein wenig näheren Stammtisch.

Wenn Dora an New York dachte, sah sie sich als winzigen Punkt am Fuße der Häuserschluchten, den Kopf weit zurückgelegt, um so wenigstens ein wenig des knappen Himmels zu erspähen.

Würde es dort bei Gericht wirklich so theatralisch zugehen, fragte sie sich und griente mit ihren ebenmäßigen Zügen, die wie stets so beherrscht blieben, dass sie ihre Gefühle kaum verrieten.

Wenn sie aber schon mal fantasierte, wie sie in naher Zukunft als Richterin von vorne oder oben Recht sprechen würde, im Namen des Volkes, leuchteten zumindest ihre Augen ein wenig.

Und ihr Papa? Würde er enttäuscht sein?

Natürlich würde er ihr von Herzen gratulieren, wie es aber in ihm aussähe, war sie nicht sicher.

Ganz anders die Mama, Kunigunde Freifrau von Bergen. Sie wird es, da war sich Dora sicher, als die gebührende Würdigung oder den Lohn ihrer Herkunft begrüßen und mit gestreckter Haltung feststellen, wunderbar, eine von Bergen als Richterin.

Dora jedoch und ihr mit so viel Bodenhaftung und Bescheidenheit gesegneter Papa würden sich, darob kaum überrascht, verstohlen zulächeln und alsbald vereint zu Opa Müller schauen, darauf wartend, welche Verwertung der Herr Notar a. D. für dieses Ereignis ins Feld führen könnte.

Die Party

Obwohl Dora den Anlass für diesen Klamauk, je näher ihr der Tag kam, immer unangemessener, ja nachgerade albern fand, hatte sie sich arrangiert.

Es ist dein Fest, da wirst du deine Gäste doch persönlich begrüßen wollen, waren sich Mama und Kati einig. Und so stand sie in der Küche, harrend des ersten Gasts.

Um 18.00 Uhr, als sie das erste Klingeln zur Türe rief, war’s längst dunkel. Zwei aus ihrer Abi-Klasse standen vor ihr, an die sie kaum gedacht hätte und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich zuletzt gesehen hatten. Conni und Hanna. Immerhin sprangen ihr deren Namen wie von selbst auf die Zunge und plötzlich spürte sie ehrliche Freude. Wie war Kati nur auf sie gekommen?

Gegen Papas großzügigen Vorschlag, in ein Restaurant zu gehen, hatte sie sich gewehrt. Wer bin ich denn, fragte sie und was ist schon eine 2. Staatsprüfung? Und ob ich für ein Praktikum nach New York, Bremen oder Hamburg gehe, was gibt’s da zu feiern?

„Bist schließlich dank meiner Wenigkeit nicht Lieschen Müller“, wandte ihre Mama spitz und mit gestrecktem Nacken ein.

„Als die gemeine Tochter des Dorfnotars Wilhelm Müllers, was wäre dann anders?“

„Nichts, du Oberschlaumeier. Einfach eine Frage der Konvention, der Haltung, ob man in Frack oder Latzhose heiratet.

Ich bin während meines Lebens mit mir als Freifrau Kunigunde von Bergen immer eins gewesen und gut gefahren. Sollte meine holde Tochter indes auf eine Gemeinmachung Wert legen, wird sie sich diesen Wunsch bei der Eheschließung erfüllen können.“

Doras Spitze hatte die Mama unbeeindruckt retourniert. Nur vor ihrer Reprise hatte sie die Lider kurz fallen lassen. Bei ihr eine geläufige Reaktion.

Ihre Tochter hatte sich aus Trotz, Eigensinn oder Dickköpfigkeit, wie die Mama es nennen würde, gar gesträubt, wenigstens einen kurzen Blick auf Katis Einladungsliste zu werfen. „Werde sie beim Eintreffen früh genug sehen“, hatte sie spöttisch erklärt.

Gegen ihre Bitte, das verrückte Spektakel bitte auf ihre Generation zu beschränken , gab‘s indes keinen Einspruch. Mama und Papa würden nach der Begrüßung ausgehen.

Diese Vorgeschichte ging ihr durch den Kopf, als sie sich ansahen.

„Ich freue mich, dass ihr gekommen seid“, beantwortete sie ihren Dank für die Einladung und es war so gemeint, wie sie jetzt, als sie Hanna ansah, plötzlich spürte. Und weil sie merkte, dass sie kaum mehr erinnerte, als dass sie mit ihr Abitur gemacht hatten, schämte sie sich.

Oben angekommen, klingelte es erneut.

„Deine Gäste werden pünktlicher sein als in der Uni“, frotzelte Kati und eilte vor ihr die Treppe hinab. Sie sollte recht behalten, nach einer Viertelstunde war’s erledigt.

„Sechsundzwanzig“ sagte Dora, Kati fragend ansehend.

„Passt“ antwortete die, „vielleicht noch ein oder zwei.“

Während der Begrüßung knubbelte sich’s ein wenig, doch dann, ihre Eltern hatten sich schon verabschiedet, verteilten sie sich aufs Wohn-, Ess- und Herrenzimmer. Nur ihren Salon hatte die Mama gesperrt.

Noch stand man, das Glas in der Hand, seine Aufmerksamkeit hin und wieder auch einem Vorübergehenden schenkend, in Grüppchen beieinander. Erst nachdem Kati sie ans kleine Büfett in die Küche gerufen hatte, verteilten sich die Gäste mit Tellern in der Hand auf die diversen Sitzgelegenheiten in den drei Räumen.

Dora saß mit Conni und Hanna in Papas Arbeitszimmer. „Nun bin ich aber neugierig, was ihr zu erzählen habt, denn bei mir hat alles seinen erwartbaren Gang genommen. Gerade das Studium abgeschlossen, werde ich übermorgen in die Staaten fliegen und ein Praktikum antreten. Ein Glücksfall, hab‘ in einer New Yorker Kanzlei dank meines Professors die Gelegenheit, das dortige Rechtssystem zu beschnuppern.“

„Was für ein Abenteuer! Und ich steh‘ noch immer wie ein armer Tropf im Gymnasium“, erklärte Conni, „und mir ist, als lernte ich mehr als meine Schüler.“

„Na ja, mir steht die Feuertaufe noch bevor. Weiß ich, wie’s mir ergeht?“

„Und dann bin ich auch noch schwanger“ schob Conni ein wenig verdruckst nun nach. „Als mein Mann über seinen Kinderwunsch sprach, hatte ich zu schnell nachgegeben. Peinlich oder? Weiß ich doch auch, dass man sich sowas nur bei Vater Staat leisten kann.

Aber ich bin ja noch jung“, ergänzte sie ihr Geständnis verlegen.

„Bei Dora könnten wir uns solch eine Tollheit doch kaum vorstellen oder? Warst doch nicht nur die Beste, sondern auch immer sehr diszipliniert und selbstbewusst.“

„Richtig“, Hanna nickte, „aber sie ist nie übergeschnappt.“

Verlegen legte Dora ihre Hand an Hannas Arm. „Jetzt du bitte.“

Obwohl Hanna noch nichts von sich erzählt hatte, fühlte sie sich zu ihr hingezogen. War es ihre Zurückhaltung? Dora versuchte sich zu erinnern. Nie geschminkt, keine Jungs und sehr hilfsbereit, fiel ihr gleich ein. Vielleicht nicht unbedingt hübsch, im landläufigen Sinne relativierte sie, aber sie hatte was. Ihre klaren, blauen Augen sahen aus einem unauffälligen Gesicht. Ganz anders ihr dickes Haar, dunkel, leicht gewellt und kräftig, wie ihre Brauen und Lippen.

„Bin zu naiv gewesen, hab‘ an Medizin gedacht, aber nicht an den Numerus Clausus. Wegen meines bescheidenen Schnitts musste ich also mehrere Wartesemester einplanen. Da war ein Praktikum im Krankenhaus naheliegend. Und da sitze ich nun“, lachte sie.

„Immerhin hab‘ ich die Zeit für eine Ausbildung als Krankenschwester genutzt. Und obwohl ich längst eine Zusage für einen Studienplatz habe, ist der Reiz irgendwie eingeschlafen.

Und trotzdem bin ich rund mit mir und meinem Leben. Hab‘ einen krisensicheren Arbeitsplatz, kann Gutes tun und lerne so manch lieben Menschen kennen. So verdanke ich meine nette, kleine Wohnung zum Beispiel einer ehemaligen Patientin. Sie liegt unter der Mansarde ihrer Villa und ist wunderhübsch. Inzwischen hab‘ ich ein Klavier und einen traumhaften Leseplatz mit Blick auf einen riesigen Ahorn. Was will ich mehr?“

Die naheliegende Frage traute sich Dora nicht zu stellen. Waren sie schließlich beide schon siebenundzwanzig.

Zweimal schon, sie hatte ihn nicht übersehen können, stand er an der Tür und hatte ungeniert versucht, ihren Blick einzufangen.

Sollte er sich selbst eingeladen haben? Sicher nicht, soweit würde er nicht gehen, war sie sicher. Andererseits kennt Kati zwar Gott und die Welt, um nicht Hinz und Kunz zu sagen. Aber den Kerl, Albertz? Unangenehme Erinnerungen flogen sie an, ein fieser Kerl mit einem passenden Kumpel. Ärgerlich riss sie sich los.

Wie Kati wohl Hannas bescheidene Schilderung aufgenommen hätte? Glücklich mit ihrem Klavier und dem Blick aus ihrer kleinen Mansarde auf einen mächtigen Ahorn? An Spitzwegs armen Künstler unterm Regenschirm musste sie denken und empfand angesichts eigener Pläne einen Hauch schlechten Gewissens, gar eine unerfindliche Traurigkeit.

„Der größte Reichtum seien bescheidene Bedürfnisse, sagt man, glaube ich, nicht zu Unrecht. Bist du doch der strahlende Beweis.

Schade, dass ich schon übermorgen fliege, sonst hätte ich dein Paradies liebend gerne kennengelernt.“

„Rufe an und erhole dich bei mir von der Hektik New Yorks.“

„Abgemacht.“

„Lange nicht gesehen, schöne Frau!“

Frank Albertz! Dora stellte sich taub und flüchtete in die Küche.

Sie hatte Glück, denn dort stand Herr Holstein, so hatte Kati ihn, der sie während ihres Referendariats als Fachlehrer betreut habe, vorgestellt.

„Sie sind also die große Schwester, der es vergönnt ist, sich in den Staaten umzusehen.“

Was für ein angenehmes, gewinnendes Lächeln, dachte sie, oder war’s einfach nur, weil er sie gerettet hatte. „Ja, die bin ich, und es war mein Professor, der mir die Chance eröffnete. Selbst wäre ich auf dieses Abenteuer kaum verfallen.“

„Und Sie werden die Kanzlei ihres Herrn Vaters mit ihrer kühlen Rationalität bereichern?“

Irritiert sah sie ihn an. Sollte Kati? „Bestimmt nicht“ antwortete sie sehr entschieden.

„Oh, entschuldigen Sie.“

„Keine Ursache“ erklärte sie lächelnd. „Aber ganz so bequem soll mein Start doch bitte nicht verlaufen.“

Kaum größer als ich, dachte sie, als sie ihn jetzt geradewegs ansah.

Seine Augen strahlten sie durch eine Nickelbrille so freundlich an, dass ihr augenblicklich warm wurde.

Nein, dachte sie, männlich, wenn sie ihn mit dem Scheusal Albertz verglich, sieht Katis Fachleiter wirklich nicht aus, kein Adonis, aber ein Herr, Gott sei Dank. Und vor allem sympathisch mit dem blondgewellten Haar.

„Das Temperament meiner Schwester sagt ihnen eher zu? Kühle Rationalität ist ihr ja nicht unbedingt eigen.“

Mit ihrer ironisch gedachten Anspielung über Bande hatte sie ihn offenbar verstört.

„Entschuldigen Sie“, er trat einen Schritt vom Büfett zurück und erklärte im Weggehen, „ich glaube, wir sind hier im Weg.“

Wie aufmerksam und rücksichtsvoll dachte sie spontan, bevor sie welch zarte und empfindliche Seele ergänzte und ihn nachdenklich begleitete.

„Wie findet ihr ihn?“ Kati sah Hanna und Conni an.

„Gut aussehen tut er, aber …“

„Nimmt sich vielleicht zu wichtig“, verlieh Hanna Connis Zögern Worte. „Ein wenig zu selbstsicher vielleicht?“

Als sie Kati ansah, dachte Conni, sie waren vielleicht zu streng.

„Ist sich seiner Wirkung als gutaussehender Kerl wohl zu sicher.

Das ist es, glaube ich, was mir auffiel.“

„Warum sollte er nicht? Tun wir’s nicht auch?“

„Ich weiß nicht?“ antwortete Conni unsicher.

„Bei dir, liebe Kati, scheint er einen Schlag zu haben, einen kleinen zumindest? Liebe mache blind ist aber sicher übertrieben?“

„Also Hanna, nun ist‘s aber gut.“

„Dora ist vor ihm in die Küche geflüchtet“, vermutete Hanna.

„Bei meiner strengen Schwester ist ein Mann schnell ein Macho.“

Als Dora zurückkam, war Kati gegangen.

„Ein schrecklicher Kerl“, erklärte sie ihnen ihre Flucht, „und auch noch ein Berufskollege. Hält sich für unwiderstehlich. Weshalb sie den eingeladen hat, ist mir ein Rätsel. Oder auch nicht“, fügte sie mit einem maliziösen Lächeln hinzu.

„Deine Schwester fand ihn, glaube ich, gar nicht so unangenehm“ erklärte Hanna, Conni, die bestätigend nickte, einbeziehend. „Sie hat sein aufgesetzt, selbstsicheres Auftreten verteidigt.“

„Für mich leider nicht überraschend. Sie hat ein konventionelleres Männerbild, ist halt normaler.“

„Als du?“

„Könnte sein. Die Schöne und das Biest?!“

Dora wartete einen Moment, bevor sie das verstehende Lächeln der beiden aufnahm und „erstaunlich, dass wir uns trotzdem ganz ordentlich verstehen“ ergänzte.

„Kennst du den Kerl oder reichte dir sein Auftreten?“

Sie sah sich um, Kati und Albertz waren nicht zu sehen. „Beides.

Setzen wir uns da in die Ecke? Es soll aber bitte unter uns bleiben.

Als Studentin war ich auf einer Party, vor drei Jahren glaube ich, in einem klotzig, protzigen Haus seines Kumpels Carsten Meier, eines schnell zu Geld gekommenen Baulöwen.“

„Ja den kenn‘ ich“ warf Conni ein. Vom Hörensagen ergänzte sie und sah Hanna mit geschürzten Lippen an.

„Verdammt unappetitliche Erinnerungen. Er holte mich wieder und wieder zum Tanzen und rückte mir, obwohl ich ihn von mir wegzuhalten versuchte, immer mehr auf die Pelle. Und schließlich, da mochte er schon einiges intus haben, drückte er mir sein Bein so unverschämt in den Schritt, dass ich mich mit den Worten ‚jetzt reicht‘s‘ befreite und flüchtete. Wenig später trat er an unseren Tisch, seinen lüsternen Blick hab‘ ich nicht vergessen, und sagte mit glasigen Augen ‚muss es einer Freiherrin nicht auch mal besorgt werden‘?

Ich hatte mich erstaunlich gut unter Kontrolle und verweigerte ihm einfach den Blickkontakt. Tage später erhielt ich postalisch seine Entschuldigung mit der Bitte um Aussprache. Die hab‘ ich mir erspart und nicht reagiert. Und jetzt das.“

Dora schüttelte den Kopf. „Ich kann mir nicht erklären, was sich meine Schwester dabei gedacht hat. Von dem geschilderten Vorfall weiß sie allerdings nicht.“

„Hab‘ sie eben vertraut miteinander reden sehen. Kann es sein, dass sie …?“

„Ja, ich befürchte, es kann sein“ unterbrach Dora sie.

„Vielleicht sein passables Aussehen?“

„Leider das einzig passable an dem Kerl.“

„Du bist noch nicht liiert?“

„Nein Conni und das in unserem Alter!“ Dora lachte amüsiert.

„Schwierig, wenn ich’s erklären sollte. Meine Mama hat mich letztens gar gefragt, ob ich den Männern zu emanzipiert sei.

Als ich abends im Bett lag, ließ mich ihre Frage nicht einschlafen.

Ich musste an Kati denken, die solange meine Erinnerung reicht, immer was am Laufen hatte. Aber ich hatte es nie vermisst, war offenbar immer mit irgendwelchen Dingen beschäftigt. Es könne an der Ernsthaftigkeit liegen, mit der ich studierte, hatte ich mich vielleicht belogen.“

„Vermisst du nichts?“

Nachdenklich sah sie Conni an. Ein Nein, würde es passen? Nein dachte sie, so wenig wie ein Ja.

„Du weißt es nicht?“

„Ein Professor hatte mich mal ganz kurz aus dem Gleichgewicht gebracht. Vielleicht war ich gar ein bisschen verliebt. Hatte mich aber schnell wieder gefangen. Es waren aber, weiß ich, meist ältere Semester, die mich ansprachen. Eher ernste und kluge Herren.

Nicht wie mein Papa, der wäre mir zu hausbacken. Obwohl ich mich bei ihm beschützt fühlte und ganz ich selbst sein könnte. Wie meine Mama.“

„Bedürfnisse“, meldete sich Hanna, „von denen ich einige in meiner Mansarde befriedigt sehe.“

Conni und Dora lachten laut und herzlich.

„Das ist Herr Holstein!“ Dora hatte ihn sozusagen vorgestellt, als er sie, langsam vorbeischleichend, ansah. „Er hat Kati während ihres Referendariats als Fachlehrer betreut.“

„Hanna Walter, Conni Benson“, stellten sich die beiden selbst vor.

„Ehemalige Klassenkameraden“ ergänzte Dora. „Ich habe erzählt, dass Sie Kati auf die Sprünge geholfen haben.“

„Na ja, ich hatte nur drei Jahre Vorsprung.“

„Ich stehe erst wenige Wochen vor meiner Klasse“ erklärte Conni „und muss zugeben, wie wenig mein fachlicher Vorsprung hilft.

Achtung und Respekt, große Worte meines Fachlehrers, wie sehr würde ich sie mir wünschen. Sie müssen einfach sicherer auftreten, so mein Fachleiter, selbst wenn sie’s nicht sind. Wie das gehen soll, hat er mir leider nicht verraten.

Aller Anfang sei schwer, mit solchen Gemeinplätzen versuche ich allabendlich in den Schlaf zu finden. Kennen Sie das Gefühl?“

Holstein wirkte plötzlich überfordert, schien ein wenig verlegen.

„Eigentlich nicht, muss mit meiner Klasse wohl viel Glück gehabt haben.“ Er sah Conni Benson entschuldigend an.

„Und Sie?“

Dora sah ihn überrascht an.

„Haben Sie ein bisschen Schiss vor ihrem ersten Fall?“

„Der kommt erst nach Amerika. Hoffentlich macht mich der Flug über den Atlantik nicht nur älter, sondern auch reifer?“

„So wie ihre Schwester über sie redet, dürften Sie weder Tod noch Teufel fürchten.“

„Vielleicht bleib‘ ich aus Angst vor solcher Erwartung gleich dort und heirate einen Ami.“

Als sie sein verdutztes Gesicht sah, lachte sie herzhaft.

„Nein, so verrückt ist die Schwester ihrer Referendarin dann doch nicht. Aber ich träume hin und wieder schon mal verrückte Bilder aus dem Gerichtssaal.“

„Ich sehe Sie vor mir, Frau von Bergen“, wie ein Magier schloss er die Augen, „nirgends als dort kann ihr Platz sein, über Ihnen die Justitia mit Waage, aber ohne das Richtschwert, und vor Ihnen das Volk, dem Sie Recht sprechen. Denn ihr Kopf ist den Vorbildern der griechischen Mythologie allzu ähnlich.“

Errötend sah sie an Holstein vorbei. So entgingen ihr die erstaunten Blicke ihrer Freundinnen.

Während er sie bewundernd ansah, taumelte sie zwischen Stolz und Kopfschütteln. Dann entschied sie sich zu lächeln. Unsicher sah sie zu ihren Klassenkameradinnen.

„Sie kennen sich in der Rechtsgeschichte ja erstaunlich gut aus?“

„Geschichte ist neben der Philosophie meine Passion, Mathe und Englisch nur meine sogenannten Korrekturfächer.“

„Schätzen ihre Schüler Sie wirklich mehr als ihre Kollegen?“

„Wenn ihre Schwester rechthaben sollte, mich würde es freuen.“

„Sie Glücklicher!“ Conni Benson sah resigniert aus. „Für mich ist jedes aufmunternde Wort meiner Kollegen wie Balsam.“

„Ich kann Sie mehr als gut verstehen. Zu Beginn lechzt man nach der Anerkennung der Schüler. Je unsicherer man sich fühlt umso mehr. Da gerät man leicht mit dem Ziel in Konflikt, Autorität und Respekt aufzubauen.“

Conni Benson nickte. „Genau, zu viel Nähe könne leicht ins Auge gehen, hatten die Kollegen gewarnt. Gerade als junge Frau.“

„Es ist eine naheliegende Versuchung, es sich aus Unsicherheit mit den Schülern nicht verderben zu wollen. Aber Strenge ist für sich genommen auch der falsche Weg. Respekt entsteht nur, wenn es einem gelingt, glaubwürdig zu wirken.

Bei mir ist’s vermutlich meine ehrliche und offene Überzeugung, die den Schülern gefällt. Eine Haltung, die vor allem die älteren Kollegen eher skeptisch beurteilen, wenn sie mir gewogen sind.

Die meisten aber geben sich ohnehin lieber allwissend.“

Als sie ihn fragend ansahen, merkte er, dass er seine Haltung, er hatte von Überzeugung gesprochen, nicht verraten hatte.

„Dabei ist mein Glaube oder mein Rezept eigentlich ganz simpel.

Wenn Schüler was nicht verstehen, gehe ich einfach davon aus, es liege an mir, mir sei es nicht gelungen, den Stoff so zu vermitteln, dass ihn alle aufnehmen konnten. Und dann versuche ich‘s halt aufs Neue, auf eine andere Weise, einem anderen Weg.

Und das Schöne ist, wenn es endlich klappt, habe ich auch noch ein Erfolgserlebnis. Eine Win-win-Situation sozusagen. Er lächelte zufrieden.“

„Und warum macht’s Ihnen niemand nach?“

„Weil die Kollegen meinen, solch begriffsstutzige Schüler hätten auf dem Gymnasium nichts zu suchen.“

Die drei Damen sahen ihn an, als seien sie überrascht, doch dann schien sich ihre Erinnerung an die eigene Schulzeit langsam einzustellen und sie begannen zu nicken.

„Und Ihr, liebe Kollegen, seid Ihr hier richtig? So würde ich gerne, nein eigentlich sollte oder müsste ich so zurückfragen! Aber noch lieber würde ich meinem Lieblingsprofessor das Wort geben.

‚Von den Geheimnissen der Mathematik‘ erklärte er uns lächelnd, ‚wissen Mathematiker natürlich viel mehr als so gemeine Lehrer.

Aber die sind nicht ihre Konkurrenten!! Merken sie sich das bitte!!

Denn die Aufgabe eines Lehrers ist es, ihren Schülern die Mathematik so nahe zu bringen, so zu erklären, dass sie ihren Schrecken verliert und sie Lust an dieser Art, die Wirklichkeit zu begreifen, gewinnen. Darin besteht ihre heilige Aufgabe, für die sie brennen müssen. Das ist die Kunst, für welche die angehenden Mathematiker eben genau nicht ausgebildet werden.

Für einen im jeweiligen Fach sehr talentierten Schüler reicht ein Fachmann, für die vielen anderen aber sind Sie nötig, Pädagogen, die den fremden und schon mal zähen Stoff so lange zu wenden und von verschiedenen Seiten zu beleuchten verstehen, bis er für fast jeden verdaulich ist.

Dann aber dürfen Sie sich zu Recht an den großen und glücklichen Augen ihrer Schüler als Folge deren Aha-Erlebnisses erfreuen.

Und meine Damen und Herren, glauben Sie mir bitte, solches Entblättern oder Sezieren des Wesens eines jeden Faches ist auch eine Kunst, ich nenne sie den Königsweg der Pädagogen!‘.

Natürlich war er an der Uni ein Exot. Idiotenpapst ward er hinter vorgehaltener Hand von den Kollegen spöttisch tituliert. Aber ich bin sicher, er war stolz ob dieses Etiketts.“

„Toll! Was für ein Professor!“ Hanna hätte fast geklatscht.

Überrascht sah Dora sie an.

„Ja“, sie lachte nachgerade inbrünstig, „du würdest mich verstehen, wenn du diese Halbgötter in Weiß täglich erlebtest.“

Dora sah Herrn Holstein an, respektvoll hätte sie gerne ihren Kopf ein wenig in den Nacken gelegt, als müsse sie’s, weil er tatsächlich wie aus dem Nichts etwas gewachsen schien, dachte sie später.

„Und meine Schwester?“

„Sie ist ein Sonderfall.“

Obwohl sie Holsteins spontane und doch auch etwas nebulöse Feststellung neugierig machte, glaubte sie, aus gutem Grund nicht nachfragen zu sollen.

„Und Sie haben trotz solcher Kollegen das Gefühl, für sich den richtigen Platz und Weg gefunden zu haben?“

„Ja!“ Da klang kein Zweifel mit. „Was kann‘s Schöneres geben, als gerade den weniger begabten Schülern auf ihrem Weg ins Leben zu helfen? Und ich bin mein eigener Herr, brauche keine Ellbogen, um meinen Platz zu behaupten, bin als Beamter doch ohnehin auf der sicheren Seite und verdiene auch noch ordentlich. Kann man mehr verlangen?“

„Haben Sie Familie?“

Als sie später, da lag sie schon eine Weile schlaflos im Bett, sich ihrer Frage erinnerte, ward ihr ganz warm, fast schon heiß, denn was zum Teufel mochte sie zu dieser Neugier veranlasst haben?

„Natürlich.“ Er ließ einen Moment verstreichen, bevor er sich ein schelmisches Lächeln erlaubte. „Mama und Papa, die ihre Namen verdienen. Beide fleißig und ehrlich, er Handwerker, sie im Büro.

Wir sind eine bescheidene, aber glückliche Familie.“

Dora spürte, wie sich ihre Wangen ob seiner so offenen und vor allem bescheidenen Antwort zu röten schienen. Und war sie nicht gar ironisch?

„Für meinen Bauch sei ja nun gesorgt, für mein eigentliches Glück müsse ich aber langsam selbst sorgen, hatte mir die Mama mit ihrem liebsten Lächeln verkündet, als ich verbeamtet wurde. Und ich hab’s ihr versprochen.“

Nicht seine dürren Worte waren‘s, die sie auf dem schmalen Pfad in den Schlaf immer wieder aufhalten sollten, es müssen auch die Augen gewesen sein, den sie nun als sehr tiefgründig erinnerte, wie ein Meer aus Fragen, Hoffnungen und Versprechen!

Sie sah zu Hanna, deren Schwärmen von ihrem kleinen Glück in der Mansarde sie noch beschäftigte, redete sie nicht wie Holsteins Schwester im Geiste? Und wo stände ich heute, wäre ich in eine einfache Familie geboren worden, fragte sie sich?

Gerechtigkeit dachte sie betroffen, als habe sie erstmals erfahren, wieviel Glück ihr Schicksal doch berge, ist das ganz andere, über das in den Gerichten nicht verhandelt wird, auf die sie auch von dort oben, wie Herr Holstein es so nett beschrieben hatte, keinen Einfluss haben wird.

„Conni, du bist von uns vieren die Einzige, die den ersten Schritt zu einer Familie schon gewagt hat?“

Sie nickte verlegen und sah auf ihren Bauch. „Und auch die Folge des zweiten schon in sich trägt.“

„Glücklich?“

„Vielleicht ging alles ein bisschen zu schnell.“

„Wir drei haben’s noch in der Hand“ stellte Holstein lakonisch fest.

„Wie Sie über ihre Schüler gesprochen haben, Herr Holstein, hat mich tief beeindruckt. Sie können viel mehr für die Gerechtigkeit tun als ich da oben, wie Sie meinen Platz so nett umschrieben.

Es muss doch ein schönes Gefühl sein, da ein wenig nachhelfen zu können. Auch wenn man mal aus der Reihe tanzen muss.“

„Na ja, außer dem einen oder anderen überlegenen Blick hatte ich für meine eigene Meinung doch nichts auszuhalten. Denn wenn man auch auf die Zustimmung des Kollegiums mal verzichten muss, als Beamter sind die Risiken für das bisschen Mut so begrenzt, dass man die Nase leicht in den Wind halten kann.“

„Aber man muss die Häme doch aushalten?“

„Ich bin weder Revoluzzer noch übermäßig konfliktfreudig, wie Sie mir glauben können. Aber im Schuldienst kann man eigentlich leicht mal gegen den Strom schwimmen, hat man doch kaum mehr als das überlegene Lächeln der Kollegen zu fürchten. Die meisten Kollegen nehmen mich, so mein Eindruck, einfach nicht so ernst. Und weil ich niemanden bedränge, gibt’s keinen Stress.

Vielleicht ein Erbe.“

Dora kräuselte die Stirn, als sie sich ansahen.

„Mein Papa hatte oft eine andere Meinung, war aber als einfacher Arbeiter viel zu unwichtig. Sich organisieren? Nein, mit denen wollte er nicht. ‚Funktionäre‘ winkte er ab, wenn Gewerkschafter im Fernsehen große Reden schwangen. Immerhin habe ich so von meinem Papa schon früh gelernt, nicht alles zu glauben.“

„Bei uns gab die Mama den Kurs für das vor, was sich gehörte.

Als Freifrau fühlt sie sich da bis heute zuständig. Papa hat ihr nie widersprochen. Ich glaube, bei seinem Stammtisch im Krug wird er seine eher bodenständige Meinung schon vertreten. Obwohl es nie ausgesprochen wurde, fühlte ich mich als seine Tochter. Und ich glaube, es beruhte auf Gegenseitigkeit.

Kati wurde von meiner Mama schon als kleines Mädchen als Verbündete für ihren Eigensinn in Beschlag genommen. Fragen Sie nicht warum. Ob da Anlage oder frühe Prägung im Spiel war, wer weiß. So ist sie die musisch und modisch orientierte Freifrau geworden, während ich von Papa eher die Orientierung am Normalsein mitgekriegt habe, wenn auch nicht unbedingt seine Bodenständigkeit und dörfliche Verbundenheit.“

„Trotzdem glaube ich, Sie würden sich in meinem Job nicht mit stiller Opposition begnügen!“

„Noch musste ich nichts beweisen.“

„So Dora, wir wollen mal los. Es war ein sehr schöner Abend. Und alles Gute für dein Abenteuer in der neuen Welt.“

„Danke ihr Lieben, war wirklich schön, euch wiederzusehen.“

„Und denk dran, meine Mansarde hat was.“

Hannas Hand, sollte Dora später erinnern, fühlte sich an wie ein Versprechen.

„Ich bring‘ euch runter“ sprach‘s aus ihr. Auf dem Podest der Freitreppe spürte man die Kühle des Novembers. Das Leuchten der Straßenlaterne verzauberte das Astwerk der Linde. Während sie ihnen nachsah, verband sich ihre Fantasie von der Gemütlichkeit ihrer Mansarde mit den wallenden Schwaden des Nebels.

Später, als sie vor dem Spiegel ihres kleinen Bads stand, fragte sie sich, was an Hanna sie nur so angezogen habe.

Nachdem sie die unangenehm gewordene Kühle ausgeschlossen hatte, sah sie noch einen langen Moment durchs schmiedeeiserne Gitter auf den vom Licht der Laterne durchwebten Nebel. Ihre Rücken aber hatte er längst verschluckt. Erst auf der Treppe löste sie sich Stufe um Stufe von dem sie so betörenden Grau.

Die Stimmen Katis und Albertz‘ holten sie zurück. Sie wich in die Küche aus. Gut, dass es vorbei ist, dachte sie, die Reste des Büfetts vor Augen. Obwohl …? Blieb doch immerhin Hannas Mansarde.

Sie führte einen Sticker mit Käse und Traube zum Mund und ließ kurz die Lider fallen, als sie Schritte zu hören glaubte.

„Wollte mich verabschieden und Ihnen für den schönen Abend herzlich danken. Bei ihrer Schwester war ich schon. Ob wir uns gut unterhalten hätten, hatte sie gefragt.“

„Sie sind ja ein höflicher Mensch.“

„Und ein ehrlicher!“

„Na denn, meine Schwester wird, wie mir schien, ja gefunden haben, was sie erhoffte.“

„Klingt sehr spitz?“

„Ja, ihrem Gebot der Ehrlichkeit gehorchend, gebe ich’s zu.“

„Und ihr Eindruck?“

„Ich würde Ihnen nicht widersprechen.“

„Das lindert meine Schuld für den Spott.“

„Schade, sehr schade! Da treffe ich eine Frau, der es schon nach wenigen Worten gelang, mich zu gewinnen und nun nimmt mir das Schicksal die Chance eines Wiedersehens.“

Dora war wie paralysiert, hatte das Gefühl, der Boden beginne zu schwanken. Wie unter Hypnose schaute sie ihn an, viel zu lang, wie sie später denken sollte.

„Wann fliegen Sie?“

„Übermorgen“ hörte sie sich mit unsicherer Stimme.

„Und morgen?“

„Ich bringe Sie noch zur Tür.“

Seine beinahe gehauchte Frage ließ sie, während sie die Füße noch nie so vorsichtig von Stufe zu Stufe bewegt hatte, auf eine Antwort sinnen.

„Hätte ich noch Zeit.“ Sie hatte sich ein Herz gefasst, sich selbst überrumpelt, ihr Herz drohte zu zerspringen.

„15 Uhr im Café vis-a-vis?“

„Gerne und kommen Sie gut nach Hause.“

Sie drehte sich zur Treppe und vermied es, ihm nachzusehen.

Flug in die Neue Welt

Die gewaltigen Kräfte bei der Beschleunigung auf der Startbahn pressten sie in ihren Sitz. Während des Steigflugs hielt sie ängstlich die Augen geschlossen. Erst als sich das Bordpersonal an sie wandte, spürte Dora, wie die Entspannung in sie kroch. Langsam öffnete sie die Augen und sah über die Wolken ins Nichts.

„Hatten Sie Angst?“

Die Stimme hatte einen angenehmen Klang.

„Ja, ein bisschen, muss ich zugeben.“ Mit einem Lächeln hatte sie sich zur Seite gedreht.

„Das verliert sich spätestens beim dritten Mal.“

„Was gegen meine Erfahrung spricht. Ich habe sie nicht gezählt, meine Angst hat sich aber kaum verringert.“ Als sie ihre Lider wie von selbst wieder fallen ließ, schwieg der ältere Herr höflich.

Obwohl sie trotz einer beinahe schlaflosen Nacht nicht müde war, hatte sie sich beim Einchecken vorgenommen, die erste Zeit über den Wolken die Augen in der Hoffnung zu schließen, dass ihr dort oben gelinge, ihre verwirrenden Erfahrungen der vergangenen Nacht zu verarbeiten.

Es waren nämlich drei Stunden geworden, die sie im Café verbracht und einen Cappuccino nach dem anderen gekostet hatten.

Nachdem er sie stehend mit einem Sektglas in der Hand begrüßt hatte, waren sie die letzten Gäste, die das Café um sechs verließen.

Wie im Flug war die Zeit vergangen. Über Gott und die Welt, wie man so sagt, hatten sie sich warm gemacht, um bald zu Themen zu gelangen, die sie zuvor kaum oder nie beschäftigt hatten.

Guter Dinge und von ihrem Gegenüber beseelt war sie ein wenig durcheinander nach Hause gekommen.

So gab es genug, über das sie hier oben nachdenken wollte.

Hatte er ihr gar einen Antrag gemacht? Wie genau hatte er sich nur ausgedrückt, als sie gegen Ende ihrer Kaffeestunde mit dem zweiten Piccolo zum Du kamen? ‚Es wäre mir in meinen kühnsten Träumen nicht eingefallen, eine echte Freiherrin an meine Seite zu wünschen.‘ Ja, so ungefähr hatte er sich ausgedrückt.

Nein, geküsst hatten sie sich nicht, obwohl sie sich Zentimeter um Zentimeter näher rückten. Gedrängt von einem Movens, das magisch zu nennen, sie sich auch in der Erinnerung nicht scheute.

Wie ist es möglich, doch unglaublich, bin ich nicht schon siebenundzwanzig? Ungläubig schüttelte sie den Kopf, versuchte sich auszulachen, als ein betörender Duft ihr plötzlich alles zurückbrachte, die zärtliche Nähe seiner Wange inklusive.

Erstaunt sah sie zur Seite, schnupperte, nickte und lächelte.

Es war einfach zu viel, zu plötzlich, zu unerwartet. Sie hatten sich wunderbar unterhalten und ihre Leben entblättert, als seien sie im Beichtstuhl oder beim Psychotherapeuten.

Warum aber war ich meist nur Zuhörerin, hatte er mir mit seinen Lobhudeleien den Atem genommen? Gedanken, die sie lange am Einschlafen hinderten und noch immer voller Rätsel waren.

Aber das Gefühl war doch sehr wohlig, als sie sich all seiner in ihr noch immer nachklingenden Worte erinnerte.

„Liebe Dora, ich fliege mit dir und meine Gedanken werden dir so nahe sein, dass Du sie, wenn Du’s richtig willst, spüren wirst.“

So hatte er sich verabschiedet.

„Danke für die schönen Stunden, ich werde mich bald melden.“

Ja dachte sie, es war die Wahrheit, die sich in mir zu Wort meldete, so wahr, dass sie sich fast krankgemeldet hätte.

Trotzdem, liebe Schwester, deine Party war eine Überrumpelung.

Auch wenn sie sich auch als ein Geschenk entpuppte, bleibt es eine, fügte sie nun lächelnd hinzu!

Ungerufen, aber unvermeidlich drängte er sich plötzlich in ihren Kopf. Frank Albertz! Ob sie? Zutrauen würde sie’s Kati. Und dann wäre auch ihre dreiste Einladung erklärt. Was für ein Gedanke!

Aber solch einen Schwager würde sie zu verhindern wissen.

Drei Monate später

Von ihrem Tischchen am Fenster im zweiundzwanzigsten Stock ihres winzigen New Yorker Apartments sah sie auf die zahllosen Fenster der gegenüberliegenden Fassade. Allein war man hier nie.

Vor allem nicht am Abend, wenn die Lichter Einblicke in die vielen Leben gewährten. Was hätte sie sich da nicht alles zusammenfantasieren können.

Doch ihre Tage in der Kanzlei waren von sättigenden Eindrücken so gefüllt, dass sie abends ausgelaugt und kaum noch imstande war, mehr als zehn Seiten zu lesen, ohne einzunicken.

So blieb für ein sich hinter den Fenstern möglicherweise anbietendes Kino kein Raum.

Und dann gab es ja ihn, Ben, der sie täglich erinnerte, wie sich ihr Empfinden veränderte. Anschläge auf ihre Unabhängigkeit hatte sie seine Briefe scherzhaft genannt.

Warum nur, dachte sie, hat Papa mir mit seinem ungewöhnlichen Angebot schon so früh das Herz beschwert, klagte sie, als sie auf Bens bald zu einem kleinen Stapel gewachsenen Briefe schaute.

‚Ich will dich nicht verführen, meine liebe Dora, hoffe vielmehr, du habest zu nichts weniger Lust, als mein Angebot zu erwägen, uns einen kurzen Besuch abzustatten. Wahrscheinlich sehe ich den kleinen, provinziellen Wilhelm mit dem schüchternen Herz früher Jahre, in denen ich mir vor so viel Fremdem in die Buchse gemacht hätte.‘

Wie ehrlich der Papa doch ist. Sie spürte, wie er sie rührte. Beileibe kein Angeber, einer der sich mit angewinkelten Armen hinstellt.

Und ich? Siebenundzwanzig, angehende Richterin, von Vernunft gesteuert! Und hier oben, den Wolken näher als der Straße, erlebt sie diesen Anschlag, wie eine Heimsuchung gab ihr das körperlich spürbare Drängen aus den Tiefen ihres Selbst keine Ruhe.

Noch hielt sie gegen alle Anfechtungen an ihrem Selbstbild fest.

Obwohl das Eis spürbar dünner wurde und ihr Herz sich erstmals gegen ihre Vernunft stemmte, ja ihr gar die Stirn zu bieten schien.

Würde sich Papa nicht getäuscht fühlen, wenn sie seine Großmut für ihre Schwäche nutzte? Immer wieder stockte ihr Schreibfluss.

Wie ehrlich muss ich sein? War ein Herr Holstein Papa nicht so fremd wie ihr die Häuserschluchten egal waren, durch die sie täglich hetzte, ohne das Besondere ihrer Kulisse zu schätzen.

Nie hatte sie sich so unfrei gefühlt, den freien Willen schwach und paralysiert, ihre Vernunft auf verlorenem Posten. War ihr in solch außergewöhnlicher Lage eine Notlüge erlaubt?

Aber bevor Papa mich wieder zum Flughafen fährt, spätestens vor dem Einchecken, muss ich Farbe bekennen.

Ihr Blick auf den stetig wachsenden Stapel von Bens Briefen verwies sie auf den Widerspruch, dem väterlichen Angebot nicht entsagen zu können und der augenfälligen Nachlässigkeit, nur jeden dritten beantwortet zu haben.

Denn erst Papas vor ihr liegende, immer wieder von der einen zur anderen Tischseite geschobene Offerte hatte in ihr den Taumel mit Blick in ihre längst entflammte Seele ausgelöst.

Wie gut für ihre Notlüge, Ben das Versprechen abgenommen zu haben, niemandem von ihrer Verbindung ein Sterbenswörtchen kund zu tun.

Gehörte es doch kaum zum guten Ton, die Eltern in einem so frühen Stadium, war es doch kaum mehr als ein zartes Pflänzchen, an seinem Glück teilhaben zu lassen.

Ihr sich einstellendes leichte Kopfschütteln schien sie indes Lügen strafen zu wollen, musste sie doch fühlen, wie das vermeintlich zarte Pflänzchen immer kräftigere Wurzeln bildete. Und auf ihren sonst alles beherrschender Verstand war kein Verlass mehr, er versagte ihr einfach die Gefolgschaft, schien machtlos gegen Bens sie mit jedem Brief ausführlicher werdende Fantasien und Versprechen. So hatte sich ihr Kaffeebesuch längst zu einer Romanze aufgeladen. Vor allem, was sich in ihrer Brust auftürmte, die allnächtlichen Träume und die ausgelösten Gedanken zwangen sie immer öfter, sich über ihre Ausflüchte zu wundern. Denn die sie mit dem erhofften Wiedersehen sich ihrer flugs bemächtigenden Bilder ließen sie ihren Herzschlag spüren.

Und dann natürlich Hanna in ihrer Mansarde besuchen, denn sie war durch einige Briefe schon fast zur so dringend gebrauchten Vertrauten geworden. Mit kleinen Einschränkungen, relativierte sie grinsend. Aber irgendwo musste sie doch hin, mit all dem, was sie so umtrieb. Obwohl sie bei ihr schon noch ein bisschen im Ungefähren geblieben war.

Aber die Coole und Kopfgesteuerte, als welche sie ihre Klassenkameraden zu Recht erinnerten, war passé, das Bild hatte sich mit jedem ihrer Briefe ein wenig mehr aufgelöst.

Welch glückliche Fügung, dachte sie, dass ich von dieser mir so fremden Seite in der Ferne, der fremden, neuen Welt erfahre.

Freifrauen

„Steht mir das?“ Kati sah zur Mama, drehte sich im Kreis und versuchte sich wie die Journalschönheiten zu bewegen. Lachend warf sie zum Schluss den Kopf in den Nacken.

„Schick mein Kleines, aber vielleicht einen fingerbreit zu kurz? Du musst deine Beine natürlich nicht verstecken, aber vergiss bitte nie deine Herkunft. Noblesse oblige sollte unser Motto sein.“

„Wie könnte ich.“

Kunigunde von Bergen schloss sinnierend die Augen. „Als ich so alt war …“, sie wog ihren Kopf, „ging’s gerade erst los mit Mini.

Und als du geboren warst, na ja, als zweifache Mutter und Gattin des Notars und dann noch auf dem Dorf? Ich glaube, ich habe bis in die Mitte der Siebziger gewartet. Du kennst doch Papa. Aber er war auch immer ein bisschen stolz. Hat er natürlich nie gesagt.“

„Ist es nicht doof, ein Leben ohne selbst verdientes Geld?“

Katis überraschende Frage ließ sie spontan und genüsslich lachen, dann fasste sie erstmal versonnen in ihre rotblonde Mähne. „Nein mein Kleines, diese Entscheidung habe ich keine Sekunde bereut!“

Ihre Worte klangen so überzeugend wie ihr herzliches Lachen.

„Nach dem Referendariat war ich froh, mir dank meines Mannes alles Weitere ersparen zu können. Eine der blöden Anspielungen von Kollegen ist mir noch im Ohr. Kunst und Musik sei doch kein Zufall bei einer Freifrau. Dass ich als Korrekturfach Englisch studiert hatte, unterschlugen sie kaum zufällig. Als kultivierte Frau mit diesen Kerlen, ich weiß nicht? Da fiel es mir leicht, mich für mein Klavier zu entscheiden.“

Kati schien über Mamas Schilderung sichtlich amüsiert.

„Da kann ich mich aber wirklich nicht beschweren. Die Herren Kollegen sind sehr hilfsbereit.“ Kokett reckte sie ihr Kinn.

„Schön, dass du dich da wohlfühlst. Aber vergiss nicht, es war halt fünfundzwanzig Jahre früher. Und eigene Kinder wirst du nicht vermissen?“

„Bestimmt nicht!“

„Wer war der große, dunkle Herr bei Doras Verabschiedung?“

„Frank Albertz! Der macht was her, nicht?“

„Ja“ sagte sie und wurde plötzlich nachdenklich. „Aber Äußeres, Kati, sollte nie den Ausschlag geben! Bildung und beste Manieren sind die Merkmale, die ich dir unbedingt ans Herz lege. Alles andere nutzt sich schnell ab oder wird zum Alltag.

Woher kannten der und Dora sich denn?“

„Vermutlich vom Studium, ist auch Jurist. Eigentlich hat er sich selbst eingeladen.“

„Wie das?“

„War im Café und kannte ihn nicht, als er mich auf Dora ansprach.

‚Sind Sie auch so stolz wie ihre ältere Schwester?‘

Sie sei ihm immer aus dem Weg gegangen, hatte er sich beklagt.

Darum habe ich mir erlaubt, ihn einzuladen.“

„Na, das war aber grenzwertig?“

„Schon, aber vielleicht war ich einfach nur neugierig. Ist doch ein interessanter Typ. Aber fair war’s nicht, gebe ich zu.“

„Dora hatte immer einen sehr eigenwilligen Geschmack.“

„Sie hat ihn auch so brüsk ignoriert, dass es mir fast peinlich war.

Dafür hat sie sich mit meinem Fachleiter viel, und wie es den Anschein hatte, auch gut unterhalten.“

„Du hattest doch ganz nett von ihm gesprochen, wenn ich mich richtig erinnere?“

„Schon ...“

„Aber?“

„Na ja, sexy ist er nicht gerade. Etwas fad und unmännlich, macht mir irgendwie zu wenig her.“

„Denk‘ an meinen dir eben erteilten Rat!“

„Steht schon hinter meinen Ohren.“

„Papa sah nicht nur gut aus, er stellte auch was dar als Nachfolger eines Notars. Vor allem war er aber äußerst zuvorkommen. Leider konnte und wollte er sich nie aus unserem Dorf befreien und ist bis heute einer von ihnen geblieben. Jeder kennt ihn, jeder mag ihn, jeder schätzt ihn. Ohne mich mein Kind“, sie hielt inne, „wäre er einfach Wilhelm Müller geblieben. Er war ohne jeden Ehrgeiz.

Und trotzdem würde ich ihn morgen wieder heiraten.“

„Weil er dich dein Ding machen lässt, du deine eigene Frau bist oder?“

„Weil ich ihn liebe.“

„Die Liebe gehe bekanntlich seltsame Wege, so der Volksmund, der sich aber ja nicht gerade mit Weisheit nährte?

Aber bei euch hat‘s ja geklappt oder? Erinnere keinen Streit und Dora und ich hatten eine schöne Kindheit. Obwohl ihr so verschieden seid. Wir sind Zeugen dieses Wunders.“

„Gut beobachtet. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie ist es uns gelungen, unsere Unterschiedlichkeit nicht nur zu respektieren, sondern gar zu kultivieren. Papa geht seit Urzeiten einmal die Woche zu seinem Stammtisch in den Krug, seiner Runde, wie er sie nennt und ich habe meinen Salon. Er geht zum Fußball und ich ins Konzert, er hat seine Skatbrüder, ich meine Bridgerunde, er ist bei den Schützen und ich singe im Kirchenchor.“

Stolz sah sie zu ihrer jüngeren Tochter.

„Ich glaube nicht trotz, sondern wegen unserer Verschiedenheit, mein Kind, hatten wir eine störungsfreie Ehe. Voraussetzung für ein Zusammenleben so unterschiedlicher Temperamente sind ein unbedingter Respekt, Toleranz und absolute Verlässlichkeit.“

Kati sah sie an und spürte, wie der Stolz ihrer Mama sie wärmte, ja auf sie übersprang. Sie ist noch immer mein Vorbild, ging’s ihr durch den Kopf. Und das, obwohl sie nie mit den Wölfen heulte und in fast allem anders tickt, ist es ihr gelungen, im Dorf eine Freifrau zu bleiben, ohne als hochnäsig abgelehnt zu werden.

„Sollte man aber nicht wenigstens auch ein bisschen verliebt sein?

Ein paar Schmetterlinge im Bauch können den Erfolg doch sicher nicht gefährden“ ergänzte Kati verschmitzt.

„Ob es diese zarten Tierchen waren, die bei Papa angeklopft hatten, lass ich mal dahingestellt“, sie lächelte sich ihrer Anziehung bewusst, „von Sinnen aber war er, wie ich erinnere.“ Ein stolzes Lächeln huschte über ihre Züge. „Und ich bin sicher, Vater würde meine Schilderung bestätigen. Nur, mein Liebes, zu einer guten Ehe oder einem gelingenden gemeinsamen Leben tragen diese Tierchen kaum bei. Trotzdem scheint es diesen geheimnisvollen Saft ja zu geben, der uns allzu leicht und schnell zum Schicksal wird, weil er uns zu oft für mehr als einen Moment den Verstand vernebelt und uns in eine lebenslange Gefangenschaft zwingt.

Also, meine liebe Kleine, da braucht’s sicher ein bisschen Glück, vor allem aber Vernunft und Gottes Segen, wie unser Herr Pfarrer zu Recht ergänzen würde. Doch planbar ist das alles kaum, vielleicht hilft letztlich doch ein wenig Gottvertrauen.“

„Ein Lotteriespiel also?“

„Nein! Nicht ganz.“ Sie lächelte über ihr vehementes Nein. „Jeder von uns, Papa und ich, wird da bestimmt seine eigenen Fantasien gehabt haben. Denn durch die müssen unsere Säfte ja irgendwie in Wallung geraten sein. Natürlich hat mir Papa, ein verdammt stattlicher Student, gefallen. Aber bald schon, glaube ich, habe ich in ihm Züge meines Vaters gesucht und gefunden.“

Kati sah sie an, auch mit Anfang fünfzig noch eine attraktive Frau.

Ihre rotblonde ihrer Mähne war weniger geworden, die helle Haut hatte sie mit ein wenig Rouge und oder Make-up aufgehübscht, da war sich Kati nicht sicher. Heute trug sie ein weich fallendes Kleid in einem zarten blau mit passenden blickdichten Strümpfen.

Der helle Februartag ließ das zarte Gelb ihres Salons erstrahlen und ihn noch höher und größer scheinen. Ihr Klavier indes schien für das kultivierte Gepräge verantwortlich. Damit Platz für Bilder blieb, hatte sie sich für halbhohe Bücheregale entschieden.

Aus dem Müller Wilhelm war inzwischen ein stattlicher Herr geworden, der sein Bäuchlein mit einem Schmunzeln trug und sein fülligeres Gesicht nicht bemerkte.

Für seine Kleidung indes übernahm seine Freifrau die Regie, was er sich gerne gefallen ließ. Ohne deine modische Inobhutnahme, meine Liebe, das hatte er gerne eingeräumt, wäre ich immer der Müller Wilhelm geblieben. Einfach, korrekt und sauber. Lachend hatte er ergänzt, deinen Adel trage ich doch ganz tapfer.

Als Katis Gedanken zu ihrer Mama zurückkehrten, dachte sie, so habe doch alles seine Ordnung, die Mama sorge für die Fassade und der Papa dafür, dass sie hält, was sie verspricht.

Aber, und das fiel ihr jetzt ein, hatte sie nicht mal gesagt, sie sei schließlich auch ohne ihn eine reiche Frau? Und als Papa sie darob erstaunt ansah, hatte sie mit dem unverwechselbaren Recken ihres Kinns ergänzt, zumindest mal sehr gut situiert. Vielleicht aber war sein Erstaunen ja auch einfach nur dem Umstand geschuldet, dass in ihrem Haus über Geld sonst nie geredet wurde.

„Was Mama würde Dora zu unserem Gespräch sagen?“

„Nichts. Sie würde sich ihren Teil denken, sehr diskret, wie es ihre Art ist. Im Übrigen würde ich mit ihr auch nie so reden.“

„Was meinst du, wer von uns wird zuerst heiraten?“

„Leichter könnte ich tippen, wer von euch eher wieder geschieden sein wird.“

„Das ist gemein.“ Sie sahen sich an und lachten herzhaft.

„Dann bitte, prophezeie Doras Zukunft.“

„Sie wird bei Papa einsteigen, ihren Doktor machen und den Ruf der Kanzlei mehren. Keine Kinder, da bin ich sicher, einen Mann vielleicht, aber der wird’s schwer haben.“

„Und ich?“

„Einfach das Gegenteil.“

„Genauer, wenn ich bitten darf.“

„Heirat eines feschen Kerls, der was an den Füßen hat. Dann Kinder, zwei würde ich tippen, den Ausstieg aus dem Job und weil es dir dann bald langweilig werden könnte, gibt‘s öfter Krach. Na ja und dann kommt’s eben auf das Schicksal an.“

„Mit den Kindern liegst du meilenweit daneben. Nichts wäre mir ärger, als mein Leben als Mutter zu verbringen!“