Das Weiße Haus - Gerrit Homanner - E-Book

Das Weiße Haus E-Book

Gerrit Homanner

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Beschreibung

Eine alte Dame, gefürchtet wegen ihres gemeinen Charakters, und darum bei vielen schon lange nur noch die Alte genannt, wird tot geborgen, obwohl das Feuer rasch gelöscht wurde. Wegen eines fehlenden Schlüssels gerät die Familie unter Verdacht. Eine Tochter der Alten hat sich mit dem Herrn Pastor schon vor Jahren abgesetzt. Die Jüngere lebt mit der Vergangenheit und ihrer Familie im Weißen Haus und liebt und beherrscht ihre Glieder als Mutter und Gattin. Nicht weit vom Tatort und nahe der Tatzeit wird ein Schüler erstochen. Ein Zusammenhang? Kommissar von Bork, das Alte nicht verachtend, gerecht, klug und weise, vertraut vordergründig seinem Urin und den Damen, würde er lächelnd einräumen. Und doch wissen, dass es seine Erfahrung und Geduld am Ende sein wird, die ihn erfolgreich sein lassen. Der Krebs der geliebten Mara, die ihn einstmals aus den Klauen seiner Trübsal befreite, wirft ihn aus der Bahn und er befreit sich durch eine radikale Entscheidung.

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Gerrit Homanner, 1943 geboren, seit 1971 verheiratet.

Fliesenlegerlehre

Studium von 1965 bis 1972 zunächst Architektur, dann Lehramt Diplomabschluss in Erziehungswissenschaften 1972

Nach zwei Jahren im Schuldienst und einigen in der Fortbildung 25 Jahre Leiter sozialpädagogischer Einrichtungen.

Seit 2006 im Ruhestand

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

1An der Wende vom schon späten Frühjahr zum Sommer las Mara von Bork die Titelseite des Tageblatts.

„Dein Fall?“

Während er den starken Kaffee genoss, nickte er zögerlich, bevor er ergänzte: „Noch nicht ganz.“

Mehr erwartete sie um diese frühe Stunde nicht. Eine Zurückhaltung, deren Quelle so alt wie ihre Ehe war. Damals hatte sie, ob seiner morgendlichen Anlaufschwäche wieder einmal auf seine Antwort wartend, statt einer Mahnung nachsichtig gelächelt. Später sollte er glauben, sie hätten sich dereinst entsprechend verständigt.

„Achtzigjährige Unternehmerwitwe durch einen Schwelbrand gestorben?“ So die Überschrift, die er auf dem Weg vom Briefkasten zum Frühstück mit einem Kopfschütteln kommentiert hatte. „Brandursache in Unternehmervilla ungeklärt“ hatten sie den Artikel im Lokalteil überschrieben. Und darunter, mit deutlich kleineren Drucktypen, aber ebenfalls in Fettdruck, hatten sie auf eine ihm alles andere als angemessen scheinende Andeutung einer Nachbarin aufgegriffen. „Dunkle Vermutungen mehr als Spekulation?“

„Erst hat sie ihren Mann ins Grab gebracht, jetzt hat er sie nachholen lassen, es gibt halt doch noch Gerechtigkeit“, begannen sie dann den Text mit Bezug auf diese ungenannt bleiben wollende Nachbarin, die sich just so gegenüber einem Polizeibeamten vor Ort geäußert haben sollte.

„Wohl nicht ernst zu nehmen?“ Mit dieser Feststellung sollte ihn Mittenhofer später empfangen, nachdem er ihm seine schwere Hand gereicht und ihn gebeten hatte, Platz zu nehmen.

Von Bork widersprach dessen Bewertung nicht, beschränkte sich auf ein Anheben der Brauen.

Mittenhofer, leitender Kriminaldirektor und sein Chef, bat ihn, die Angelegenheit mit den Mitarbeitern seines Kollegen Weitemeier zu erledigen. Die seien bereits vor Ort.

„Ein Bandscheibenvorfall, so was kann bei Schreibtischhockern und Übergewichtigen“, er sah auf seinen Bauch, „ja leider leicht passieren. Wird wohl für längere Zeit ausfallen. Da dachte ich, seinen beiden Helfern, Schneider und Hauser könnte doch etwas frischer Wind nicht schaden?“

Seine Einladung zur Kritik an den Kollegen ignorierte er.

„Ihre Mitarbeiter haben doch noch zu tun?“

„Vielleicht zwei Tage“ antwortete er ein wenig abwesend, sich die Arbeit mit den neuen Kollegen vorstellend.

„So reagiert das Volk nun mal“, war Mittenhofer schon weiter. „Wenn sie auch nicht prominent, ihre Familie aber schon ein wenig bekannter ist. Die übliche Neidkampagne halt“, ergänzte er nun, da von Bork ihm nicht widersprochen hatte.

„Und die Presse bedient die niederen Instinkte doch gern, hier wie anderswo. Ist es doch so richtig was fürs Volk, die reiche Alte als Xanthippe und Frau des ehedem so trinkfesten und nicht nur bei den Schützen beliebten Meier und dazu noch Mutter des fast jedem Bürger bekannten Sparkassendirektors. Was mehr sollten die dürstenden Seelen verlangen?“

Von Bork glaubte das Vibrieren des mächtigen Körpers gespürt zu haben, ohne dass sein Auge es hätte bestätigen können.

Seine Mara, der er die Zeitung zugeschoben hatte, würde sie wie gewohnt anschließend lesen, und ahnen, dass bei solchen Fällen, wo man voraussichtlich im familiären Sumpf und Dickicht von Gefühlen umzukommen Gefahr lief, ihr Gatte seit Jahren erste Wahl war. Ihr von seinem Gespräch mit ihm zu berichten, wäre seinem Temperament indes fremd gewesen.

Mittenhofer hatte diese Einschätzung der Talente von Borks von seinem Vorgänger bereitwillig übernommen. Das war‘s dann mit ihrer Kontinuität. Um seiner Profilierung willen musste er verständlicherweise um Unterscheidbarkeit bemüht sein. Dabei ließen seine von so auffälliger Fülle bestimmten Konturen eine Verwechslung kaum zu.

Er sei zwar fünf Jahre jünger, frotzelte sein Chef ein übers andere Mal, dafür aber gut dreißig Kilo schwerer als sein bester Mann, wie er von Bork mit Vergnügen aber auch Überzeugung immer wieder zu nennen sich nicht nehmen ließ.

Obwohl der es auch auf immerhin neunzig Kilo brachte.

„Warum lächelst du?“ fragte Mara ihm beim Abendbrot.

„Ich hab‘ an meinen Chef gedacht, diesen Schlingel, wie er mir den Fall wieder angetragen hat.“

„Er weiß offenbar, was er an dir hat.“

„Meine Schwächen könnte er doch auch nur von dir erfahren. Keiner macht sie sich schließlich so gekonnt zunutze.“

„Soll ich noch mal Gorgonzola mitbringen?“

„Gerne mein Schatz, wenn du auch diese Schwäche unterstützen willst“ und unverhältnismäßig lebhaft für die späte Stunde fügte er hinzu, „und bring doch noch was von dem kräftigen Vollkornbrot mit, wenn's dir nichts ausmacht. Mit dem würzigem Käse oder auch nur Butter schmeckt es nämlich himmlisch.“

Abends aßen sie eigentlich nicht aufwändig, irgendwas Kleines und Kaltes, sah man von den gelegentlichen Knackwürstchen oder Spiegeleiern ab. Unter der Woche, waren sie einig, wollten sie ihr knappe Zeit nicht für die Zubereitung des Essens opfern. Natürlich hatte er keinen pünktlichen Feierabend, so dass es sich gut traf, dass auch Mara als Innenarchitektin bei ihren Kunden oft erst am Abend, wenn die Herren zu Hause waren, was werden konnte. Trotzdem bemühten sie sich, dann wenigstens bei einem Tee später noch beisammen zu sitzen. Wenn's dann auch schon mal nach zehn wurde.

Sie musste über ihre beruflichen Erlebnisse und Vorhaben mit ihm reden, er hatte dieses Bedürfnis nur ausnahmsweise.

Obwohl sie eine selbstsichere Frau und Unternehmerin war, legte sie auf seine Meinungen ungeschmälerten Wert.

So waren nach rund dreißig Jahren Ehe ihre Beziehungsmuster geklärt und beidseitig akzeptiert.

„Du musst mich heute Abend beraten. Ich hab‘ mir für das Haus in N. ein Farbkonzept ausgedacht und bin inzwischen unsicher, ob das zu den gediegenen Leuten auch passt.“

Sein Nicken reichte ihr. Mehr erwartete sie nicht.

Auch wenn er seine vermeintliche Natur, sich am Morgen betont mundfaul zu geben, wie eine Marotte pflegte, entgingen ihm ihre anmutigen Bewegungen so wenig wie ihre stets geschmackvolle und ihr graziles Äußeres mit Bedacht unterstützende Kleidung. „Sind wir nicht beide nicht mehr die Jüngsten“ dachte er ein übers andere Mal, wenn er sie hereinschweben sah. Leicht wie eine Feder und mit den läppischen vier Jahren, die sie jünger ist, doch nicht zu erklären! Besonders am Morgen, wenn er seiner alten Visage, wie er dann schon mal vor sich hin seufzte, trotz viel kalten Wassers erfolglos Frische einzuhauchen versuchte, war er immer wieder überrascht, wenn er im Spiegel ihr waches und gute Laune versprühendes Gesicht hinter sich auftauchen sah. Könnte sie nicht meine Tochter sein, fragte dann schon mal sein noch träges und offenbar auch kokettes Hirn.

Intuitiv glitt vor dem Abschied, wenn immer das Wetter zur Freundlichkeit geneigt war, sein Blick über den Balkon und kehrte zumindest ein wenig glücklicher und auch wacher heim, wenn ihn die Weite des Tals grüßte. Und wenn er nach seiner Tasche griff und mit einem letzten Blick in den schön gerahmten Spiegel am Ausgang sah, stand sie schon hinter ihm.

„Willst du dich nicht verabschieden?" hörte er wie erwartet und drehte sich, um seinen Mund auf ihre weichen Lippen zu legen. „Es ist schön, mit dir verheiratet zu sein“, sagte sie, wie fast jeden Morgen, seit nun fast dreißig Jahren. Wie meist wollte er eben sein obligatorisches „Dito“ mit dem ebensolchen milden Lächeln erwidern, als er stockte und sie nochmal ansah.

„Ist was mit dir“ fragte er, „du siehst mitgenommen aus. Hattest du unruhig geschlafen?“

„Ja, ist wohl die Arbeit, die mich beschäftigt hat“, antwortete sie und erst irgendwann während des Tages sollte er ihr ein wenig verlegenes Lachen erinnern. Durch einen letzten Blick in den Spiegel nahm er sein Ebenbild mit in den Wagen. Dort, als hoffe er, das Bild korrigieren zu können, prüfte er es nochmals in dem kleinen Rückspiegel. „Ja“, bestätigte er seinen Gedanken, „da könnte was dran sein. Ich bin nun mal kein lässiger Typ.“

Das glatte, nicht eben dicke und mittlerweile ergraute, einst mittelblonde Haar hatte er rechts gescheitelt. Seine große, aus braunem Horn geformte Brille war ihm selbstverständlicher als seine Schuhe. Gehörte sie doch zu ihm, solange seine Erinnerung reichte. Gewiss aber waren die Gestelle früher weniger leicht und teuer. Und natürlich, dachte er, machen mich auch Schlips und Sakko nicht jünger. Aber das bin ich halt.

Nur gedanklich schien er die Schultern anzuheben.

Denn selbst der rotbraune Schnauzer, der seine Lippen auf Maras Rat seit nun schon bald zehn Jahren zierte, konnte das Bild des gut gekleideten, seriösen Herrn nicht wenden.

„Dafür habe ich sie“, dachte er glücklich und grinste, da er sie sah, die für ihn ewig junge Frau mit den großen Augen über den hohen Backenknochen und den weichen und sinnlichen Lippen, die ihn eben verabschiedet hatten.

Nach dem Feierabend des anderen zu fragen, hatten sie sich aus gutem Grund abgewöhnt.

2In seiner am Lenkrad liegenden Linken spürte er, kaum hatte er den Schlüssel gedreht, das Schütteln des kleinen Löwen. Ihr Zweihundertfünfer war ihnen nie mehr als ein Zweisitzer, zu weit musste er den Sitz zurückschieben. Weil die Garage ihrem Volvo, den meist Mara fuhr, vorbehalten war, blieb für den Kleinen nur die Straße. Für die kurze Strecke zum Dienst war er vor allem sehr sparsam.

Es war Dienstag, der 27. Mai 1980. Die Polizei saß in einem alten, ebenso behäbig wie soliden Backsteinbau an der Wallstraße. Von Bork mochte ihn mit seinen angestaubten Gängen, den bescheidenen Zimmern und dem vergilbten Innern.

„Passt doch zu uns“ hatte er, verschmitzt grienend, seinem jüngeren Mitarbeiter Karl Jäger auf dessen Klagen beschieden.

„Ja Chef, da haben Sie leider Recht“, hatte der schlagfertig und ein wenig angesäuert bestätigt. „Die Ganoven würden sich die Hände reiben, sähen sie, wie wir uns an den alten Maschinen im Zweifingersuchsystem mühen“, hatte er ergänzt und nicht versäumt, mit einem Blick die Elektrische des Chefs mit ihrem Fünfseitenspeicher, die der freilich fast nie benützte, zu streifen.

Obwohl von Bork eigentlich wusste und es gelegentlich auch einräumte, dass sein junger Mitarbeiter Recht hatte, konnte er es nicht lassen, mit glaubhaft gleichgültigen Miene zu verkünden, all diesen modernen Schnickschnack vermisse er nicht.

„Dafür haben wir auch keinen durch Arbeitsteilung entfremdeten Job“ bemerkte er schon mal und insofern abschließend, als der akademisch und intellektuell nicht eben vorbelastete Kollege dann auf Nachfragen verzichtete. Der Chef kokettierte mit seiner verschmitzt vorgetragenen Anleihe bei Dutschke & Co so gerne, als sei er 1968 nicht auch schon Ende vierzig gewesen.

„Und überhaupt, mein lieber Jäger“, diese sehr direkte und ein wenig zu vertraut tuende Anrede seines jüngsten Mitarbeiters war aber die einzige Nachlässigkeit, die er sich zuschulden kommen ließ, „sind Kreativität und analytischer Scharfsinn durch nichts, zuallerletzt durch Technik und EDV zu ersetzen.“

Und nach einer Pause des Ein- und Ausatmens fügte er dann gerne noch ein fragendes oder hintan.

Der Herr Baron könne leicht reden, hatte Jäger seinem Kollegen Reinhard Köhler schon mal anvertraut, habe er zu Hause doch alles, wovon sie nur träumten.

„Egal“ hielt der ihm entgegen, „von keinem können wir mehr lernen. Der Alte ist für mich ein Glücksfall.“

Jäger nickte resigniert, vor allem, nachdem Köhler ihm erklärt hatte, worauf von Bork mit seinem Entfremdungsbegriff abhebe, dass sie nämlich doch immerhin wüssten, wofür sie arbeiteten und am Schluss auch ein Ergebnis in ihren Händen hielten. „Aber“, fügte Köhler dann, Jägers Unbehagen spürend, hinzu, „dass entschuldigt unsere dürftige Ausstattung natürlich nicht.“ „Hallo, wie sieht's aus“ fragte von Bork, wie gewohnt seinen Kopf im Vorbeigehen kurz hereinsteckend.

Köhler saß schon um diese frühe Stunde zwei Knöpfe seines karierten Hemds geöffnet und die Ärmel hochgekrempelt vor seiner Kaffeetasse. „Wird Zeit, dass wir was Neues starten. Zwar unvermeidbar, ich weiß, aber Nacharbeiten sind nun, mal nicht mein Ding.“

Von Bork hörte es und nahm es lächelnd und unkommentiert mit in sein Zimmer. Obwohl er vom Büro seiner Mitarbeiter gleich weiter in seines hätte gehen können, hatte er sich angewöhnt, den Weg über den Flur zu nehmen. Meist besuchte er so noch Frau Buder, ihre Bürokraft, die nur wenige Schritte weiter saß, zwischen dem ersten und zweiten Kommissariat. Sie war aber heute unterwegs.

Nachdem er die Tasche abgestellt und einen prüfenden Blick auf seinen Schreibtisch geworfen hatte, wusch er sich die Hände.

Die Waschbecken in jedem Büro waren ein angenehmes Relikt dieser alten Bauten. Mit einem Blick in den Spiegel prüfte er sein Äußeres, bevor er einen Flügel des Fensters öffnet und auf die ab Mitte des Jahres die Wärme angenehm dämpfende Kastanie sah. Der von ihr während der Sommermonate verursachte Mangel an Licht war da als Obolus in Ordnung. Die dunkle Jahreszeit ließ sie aber unvermeidbar ein wenig früher beginnen. Später aber, wenn der Verlust des Laubs ihnen das Licht zurückgab, waren Stamm und Geäst eine ihm angenehme Erinnerung an die Kräfte des Lebens. Jetzt bildeten die weißen Kerzen, wie er die Blütenrispen liebevoll nannte, vor den roten Ziegelwänden einen schönen Kontrast.

Er sah auf die Notizen, die ihm die Buder vor ihrer Dienstreise, wie er erkannte, aufbereitet hatte. „So ist sie“, dachte er und sein Nicken signalisierte Zufriedenheit.

„Wo ist Jäger“ fragte er Köhler, an deren Türpfosten lehnend. Wie üblich war er vom Flur aus eingetreten. Es sei kein Umweg, hatte er in die verdutzten Gesichter der Kollegen behauptet, als sie vor Jahren ob seines ständigen Umwegs über den Flur ihre Verwunderung in Worte fassten. In beiden Fällen müsse er zwei Türen öffnen und schließen, hatte er mit Bezug auf die Doppeltüre, die ihre Zimmer trennte, schmunzelnd erklärt.

„Ist gleich zurück“, antwortete Köhler, der mit einem Augenaufschlag Richtung Türe signalisierte, dass er zur Toilette sei.

„Tag Chef, unser Oberster hat mal wieder Sehnsucht nach Ihnen. Seine Meisner hat’s mir auf dem Flur gesagt. War in seinem Auftrag auf dem Weg zu Ihnen. Es sei sehr eilig.“

Auch ohne Blickkontakt glaubte von Bork sein blödes Grinsen körperlich zu spüren. Zu oft fehlte es dem Kollegen am Gefühl für die rechte Distanz. Ob solcher Erfahrung sprach von Bork ihn oft bewusst mit Herr an, ohne seine solcherart vorgenommene Distanzierung freilich durchzuhalten. „Mal sehen, vielleicht hat er ja was für uns“, wandte er sich lachend an Köhler.

„Hoffentlich was Gescheites. Die Geschichte mit der Alten zum Beispiel, die wär’s doch?“

„Tut mir Leid, aber da hat der Chef schon Hauser und Schneider, meine Leihgaben von Weitemeier hingeschickt. Ob es mehr als ein simpler Brand war, wer weiß? Zumindest sind‘s Prominente in unserem Dorf, wie auch unser Oberster meinte.“

„Hab einen Mord zu vergeben, wie’s ausschaut. Wieder saß er bei Weitemeier. Wär das nichts für ihre Leute?“

Auf seinen Wink nahm von Bork Platz.

„Man hat einen jungen Mann am Birkenweg unter einem Strauch gefunden. Erstochen wie’s aussieht. Wohl vor ein paar Stunden. Hab‘ die Spurensicherung schon mal losgeschickt. War so frei, Sie anzukündigen?“

„Schön“ antwortete von Bork sich erhebend. „Wissen Sie doch, was Sie tun.“ Sie grinsten sich an. Viel Glück gab er ihm mit auf den Weg. Eine viertel Stunde später war er vor Ort. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten ihre Arbeit abgeschlossen.

„Harald Heiermann, siebzehn, fast aus der Nachbarschaft, von der Mozartstraße. Gestern Abend hatte er seinen Freund Fritz Winter am Wallgraben um 19.45 Uhr verlassen und war nicht zu Hause angekommen. Die Eltern haben ihn noch gestern Nacht vermisst gemeldet.“

„Interessant“ sinnierte von Bork. Die hochgezogenen Brauen der Beamten entgingen ihm. Die zeitliche und räumliche Nähe zum Brand war ihm aufgefallen. „Und sonst?“

„Er hat eine Kopfwunde, die geblutet haben dürfte. Wir haben Blutspuren vierzig Meter weiter“, er zeigte die Richtung, „an der Bordsteinkante gefunden. Müsste ja ein Zufall sein, wenn’s da keinen Zusammenhang geben sollte. Und ein Messerchen im Graben, ganz nahe der Blutspur. Sieht aber eher harmlos aus, ein kleines Taschenmesserchen, mal sehen, was die Techniker dazu sagen. Die Leiche sollen sie in der Gerichtsmedizin abliefern?“

Von Bork nickte. „Hat es einen Kampf gegeben?“

„Kann sein. Einen Knopf von seinem Hemd lag am vermuteten Tatort. Unseren Bericht werden bald haben. Die Gerichtsmedizin hat ihr eigenes Tempo.“

Als er ins Büro kam, waren die beiden ausgeflogen. Auch nicht schlecht dachte er und setzte sich an den Schreibtisch. Erst mal einen Kaffee. Er schaute durch ihre Zwischentür, aber Jägers Kaffeemaschine ruhte. Also sehen, ob die Buder zurück war.

„Suchen Sie ihre Mitarbeiter?“

Bevor er sich zu einer Antwort entschloss, sagte sie, die seien noch mal zum Gericht. Wollten aber bald wieder da sein.

„Möchten Sie einen Kaffee?“

„Da sag ich nicht nein.“ Als der Kaffee wirkte, ging’s wieder. „Es muss sein“, dachte er und erhob sich. „War mal wieder gut, ihr Kaffee, wie immer.“ Er war schon an der Tür, als er sich nochmal umdrehte. „Wenn man mich suchen sollte, hab das Vergnügen, die Todesnachricht an die Eltern eines Siebzehnjährigen zu überbringen. Ermordet! Wird wohl nicht lange dauern.“

Als er klingelte, hatte er sein Rezept noch nicht gefunden. Nach drei Versuchen schlenderte er, sich immer wieder umsehend, zum Wagen zurück. Er spürte die Erleichterung. Aber es war nur aufgeschoben. Würde er doch wieder los müssen und es wird nicht leichter werden.

„War wohl umsonst“ stellte Jäger lakonisch fest. „Die Kollegen von der Wache haben gerade angerufen. Die Eltern waren dort, wollten sich nach ihrem Filius erkundigen. Sie haben sie zurückgefahren.“

„Viel Zeit werden wir ihnen nicht lassen können.“

Als Köhler kam und Platz genommen hatte, grinste ihn von Bork an und fragte, wann sie für den Mordfall frei wären.

„Du kannst doch direkt“, meinte der, Jäger anschauend, der gleich nickte. „Ich brauch‘ noch morgen.“

„Okay, dann schauen Sie, Herr Jäger, mal im Landesjugendheim vorbei. Hauser und Schneider bearbeiten den Brandfall Meier und sind dort noch nicht gewesen. Fragen Sie also am besten gleich für beide Fälle, wer von den Burschen im Ausgang war und für die Taten in Frage komme. War immerhin der gleiche Abend. Nichts als Routine, ich weiß“, baute er Einwänden vor. „Aber wollen doch nichts versäumen? Sind immerhin zweihundert Kandidaten, von denen sicher einige für solche Geschichten das Zeug haben.“

„Kein Problem, Chef. Vielleicht geh‘ ich noch heute. Werde aber erst mal telefonieren.“

„Ich geh mal zu Mittenhofer und werde ihm vom Tatort berichten. Anschließend besuche ich unsere Kollegen nebenan. Damit sie sich nicht vernachlässigt fühlen. Bis morgen also.“

Die Tür wie gewohnt im Vorbeigehen kurz und einen Spalt breit aufhaltend, wünschte von Bork einen guten Morgen.

„Komme gerade vom Chef, hatte ihn gestern nicht mehr angetroffen“, informierte er Köhler, sich noch mal umdrehend. „Der will mich anrufen, sobald er seinen Besuch los ist. Danach komme ich dann zu Ihnen.“

Zurück erinnerte er sich an Jägers geplanten Besuch und sah auf dessen Stuhl. Dann zu Köhler.

„Der wird ihnen nichts Erhellendes berichten können“, nahm Köhler seine unausgesprochene Frage auf. „Wird gleich da sein, hat nämlich eben angerufen und erzählt, dass es gestern zwar spät geworden, er aber mit leeren Taschen heimgekommen sei. Ziemlich frustriert wirkte er.“

„Aller Anfang ist schwer“ gab sich von Bork gelassen, gewohnt, seine Mitarbeiter, besonders Jäger, Köhler war da weniger bedürftig, mit Aufmunterungen bei Laune zu halten. „Vielleicht bringen uns die Ergebnisse der Obduktion und kriminaltechnischen Untersuchungen ja was?“

Köhler kannte ihn und spürte, seine Hoffnung war nicht so groß. Von Bork schaute ihn an, den älteren seiner jungen Mitarbeiter. Seit kurzem hatte er seine Glatze von auf ihr noch angesiedelten spärlichen Haarresten befreit. Ein guter Mann, klug und sensibel, dachte er und begann zu schmunzeln, bevor er weitersprach. „Wissen Sie eigentlich, dass sie immerhin anderthalb Jahrzehnte jünger sind als ich?“

„Sehe zumindest nicht so aus, scherzte er, sich mit der Hand die Glatze streichelnd.“

„Na ja, bedeutet es doch auch anderthalb Jahrzehnte weniger Enttäuschungen. Was halten Sie von der Annahme, je weniger, desto mehr Optimismus?“

„Ein Holzweg denke ich. Oder wollen wir uns künftig mit Jägers Optimismus bescheiden?“

„Eins zu null für Sie.“

Von Bork mochte keine Verdrießlichkeit. Schon gar nicht so früh. Und verrückt machen oder sich unter Druck setzen ließ er sich ohnehin nicht, wie jeder im Haus wusste.

„Was sollen die Kollegen von der Technik in diesem Fall finden, was wir nicht schon wissen? Dass keine verwertbaren Spuren an diesem Spielmesserchen sind? Und überhaupt...“

„Ja Herr Köhler?“

„Ein solches Messerchen, daran stirbt doch niemand.“

„Spuren sind Spuren. An ihnen stirbt man nicht. Trotzdem sind sie unsere besten Freunde. Vielleicht auch dieses Messerchen.“

Jetzt sahen sie fast gleichzeitig zur Tür, Jägers Schritt war ihnen zu vertraut. Nach einem Hallo setzte er sich auf die Schreibtischkante. Mit seinen athletischen 1,85 war er nicht nur der größte, sondern auch der sportlichste unter ihnen.

„War mal wieder ein Schuss in den Ofen“ nörgelte er, als beider Augen auf ihm ruhten. „Ich weiß nicht, ob diese Routinebesuche in dieser Kaserne wirklich hilfreich sind. Angeblich hatte nach einundzwanzig Uhr natürlich keiner der Zöglinge gefehlt.“

Obwohl er von Bork meinte, sah er ihn nicht an. „Hauser hab’ ich schon informiert. Die brauchen ihre kostbare Zeit schließlich nicht auch noch vertun.“

„Wenn Sie sich so sicher sind, dass wir die Jungs zu Unrecht im Kreis der Verdächtigen führen, umso besser. Die Zweifel, die dem von ihnen gebrauchten Wort ‚angeblich’ ja innewohnen, waren von ihnen also nicht beabsichtigt?“

„Leider doch“ widersprach er wie aus der Pistole geschossen. „Fand ich’s doch merkwürdig, dass der Direktor dieses Ladens, Dr. Groß“, da lachte er süffisant, „wenn ich der wäre, würde ich mich umtaufen lassen, sich da so sicher war. Zwar stimmten ihm seine Leitungskollegen, der Psychiater und der Erziehungsleiter, die er telefonisch verständigt und zu sich zitiert hatte, anscheinend zu, aber zumindest zwischen ihm und dem Dr. Löhr schien mir nicht alles koscher zu sein, so wie der mit ihm geredet hat? ‚Wenn der Herr Direktor sich sicher sei, müsse es wohl so gewesen sein’, hatte der Dr. Groß Behauptung so verulkt, dass ich mir meinen Teil einfach denken musste?“

„Warum haben Sie nicht nachgehakt?“

Kaum hatte von Borks kritische Frage Jäger erreicht, verfinsterte sich dessen Miene. Da er diese Wandlung immer wieder erst bemerkte, wenn die sie hervorrufenden Worte seinen Lippen bereits entflohen waren, geschah es immer wieder, mindestens einmal pro Monat.

Jägers Gesicht umwölke sich augenblicklich mit einem Trauerflor, hatte ihm Frau Buder als Bild angeboten. Alles an seinem Kopf samt seiner grauen Augen wechsle binnen Bruchteilen von Sekunden die Färbung.

Ja hatte er ihr geantwortet, so sieht er aus, aber warum? Hatte er doch noch eine ganz andere Melange entdeckt. Jägers waidwunder und bei von Bork wider Willen immer Mitleid erregender Ausdruck enthielt für ihn eine abstoßende Aggressivität, die in ihm gleichzeitig Ärger wie Hilflosigkeit hervorrief. Bildeten sich doch binnen Sekunden auf seiner glatten und jungen Stirn eine zwar kaum auftragende, dennoch unübersehbar scharfe und senkrechte Linie.

Ein nicht unterdrückbarer Rest von Zorn hatte von Bork es sich erklärt. Die Haut könne weder verbergen noch lügen resümierte er, die ob seines dunklen Teints nicht so sehr auffallende leichte Röte einschließend.

„Es war ein Gefühl. Nicht mehr. Was hätte ich fragen können?“

Seine Stimme klang wie stets, wenn er Kritik zu spüren meinte, gereizt, aggressiv und vorwurfsvoll.

„Ja“ sagte von Bork und hielt inne. So begann er häufiger, wenn er nachdenken musste, sich möglicherweise getäuscht und das Gesagte vielleicht gar korrigieren musste.

„Herr Jäger, Sie haben vollkommen Recht! Meine Frage war unüberlegt, nein dumm. Denn natürlich konnten Sie ihre Ahnung über das, was sie zu beobachten glaubten, als Gast nicht äußern. Entschuldigen Sie bitte.“

Jäger war so perplex, schien gar zu erröten, so dass er sich rettete, indem er schnell weitersprach.

„Es war vielleicht halb zehn, als ich mich verabschiedete. Vermutlich durch Dr. Löhrs Anspielung herausgefordert, hatte Dr. Groß die beiden gebeten, mit mir alle in Betracht kommenden Kandidaten durchzugehen. Ein aufwendiges, doch leider nichts veränderndes Unternehmen.

Ich lag längst im Bett, als sich meine Zweifel wieder meldeten und sich immer mehr verstärkten. Und je länger ich nachsann, je komischer ward mir deren Miteinander. War es nicht nur ein Routinebesuch, versuchte ich mich zu beruhigen, wie so oft, wenn was passiert war?“

Von Bork und Köhler kannten das Trio des Landesjugendheims seit Jahren. Den Direktor und Juristen Dr. Groß, den Psychiater Dr. Löhr und Franz Siemering, Erziehungsleiter und Psychologe. An ihrer Zusammenarbeit war ihnen nie was aufgefallen.

Köhler, der den Kollegen nicht nur duzte, sondern auch mochte, traute dessen Beobachtungen, wie von Bork ahnte, wenn es um innere Vorgänge ging, auch nur so lala.

Daher vermutete von Bork, die drei Herren könnten ihren jungen Kollegen etwas von oben herab behandelt haben. Und das könnte ihn verständlicherweise gereizt haben. Das hatte er schon einige Male erlebt. Trotzdem schätzte er ihn. Irgendwie, wie er sich selbst nur unpräzise Auskunft zu geben in der Lage war. Seine Einsatzbereitschaft und Zuverlässigkeit, aber auch seine Penibilität waren sein Stärken! Jägers Beobachtung der Anspielung Dr. Löhrs hingegen bedurften eines sensiblen Gespürs für Zwischentöne. Plötzlich lächelte von Bork ihm so freundlich zu, als seien ihm seine Gedanken peinlich. Vielleicht darum registrierte er seine männliche Ausstrahlung heute ohne Häme. Und als sie ihn gar zu seinem morgendlichen Blick in den Spiegel führte, konnte er nicht anders, er musste lächeln.

Jägers leicht gewelltes, nach hinten gekämmtes dunkles Haar, die grauen Augen und der ausgeprägte Kiefer erinnerten ihn an stilisierte Köpfe griechischer Götter. Dabei breitschultrig und solange nicht stupid aussehend, wie ihm nicht eine irritierende Bemerkung diesen dunklen und starren Blick verlieh.

Das Telefon klingelte. Köhler nahm es auf, ja sagte er, bevor er den Hörer mit den Worten „für Sie“ weiterreichte.

„Okay, bin gleich da.“

„Danke“ sagte Mittenhofer so auffallend knapp, als von Bork ihm seine noch dürren Resultate berichtet hatte, dass er ahnte, er würde ihm was Wichtigeres mitteilen wollen.

„Wenn Sie bei dieser Demel, ich meine die Frau des Sparkassendirektors“, ergänzte er spöttisch und vernehmlich schmunzelnd, „mit Glacéhandschuhen nicht weiterkommen sollten, wünsche ich ihnen in Anbetracht der nicht uninteressierten Öffentlichkeit eine glückliche Hand.“

Na ja, gute Wünsche von seinem Chef könne man immer brauchen, entgegnete er und fügte lachend hinzu, seine Dienstwaffe vielleicht gegen eine Lektüre über die Welt des Dr. Freud eintauschen zu wollen.

„Nicht schlecht“ entgegnete Mittenhofer lachend, „dachte ich doch, Ihnen seinen dessen psychologische Waffen ohnehin sehr vertraut?“

3Die Kollegen des zweiten Kommissariats saßen genau vier Türen weiter, dazwischen ihr beiden Chefs und zwischen denen wieder Frau Buder, die das gemeinsame Sekretariat schmiss.

Weitemeier, Chef des Zweiten, also von Schneider und Hauser, arbeitete stets bei weit zum Büro seiner Mitarbeiter geöffneten Zwischentüren. So auch jetzt, obwohl er doch krankheitsbedingt abwesend war. Gut für die Luft, dachte von Bork, als er hereinkam und sich umsah. Obwohl kein militanter Nichtraucher, zwei Raucher von ihrem Kaliber in solch einem Büro, grenzte schon an Körperverletzung. Immerhin, auch Weitemeier ist schon ein bisschen mehr als nur ein Gelegenheitsraucher.

Hauser, der kleinere und ältere Nachbar, war, kaum dass von Bork eingetreten war, aufgesprungen und hatte ihn gebeten, Platz zu nehmen.

„Bitte hier, Herr von Bork, wenn’s recht ist.“ Dabei wies er mit elegantem Hüftschwung auf ihr am besten erhaltenes und auch bequemstes Möbel. „Da sitzt auch immer unser Chef“, erklärte er so devot wie selbstverständlich.

„Danke, solch einen Empfang lass ich mir gefallen.“

Hausers Auftritt hatte von Borks übliche Kontenance ein wenig in Unordnung gebracht. Etwas verlegen schüttelte er daher seine und Schneiders Hände besonders herzlich, was im Präsidium eigentlich unüblich war. „Und, wie geht’s ihrem Chef?“

„Na ja, nichts Ernstes, wie Sie ja wissen werden, aber halt langwierig, wie Bandscheibenvorfälle so sind. Unser Direktor soll ja schon gespottet haben, das komme davon, wenn man immer nur den Schreibtisch quäle.“

„Wenn's danach ginge, müsste der sich aber auch schon mal ein Bett reservieren lassen.“ Das war Schneider, ein gewitzterer Typ mit rundem Kopf und schwarzem, kurzem Putz.

Bevor von Bork zur Sache kam, blieb sein ihr Büro inspizierender Blick an einem schwer zu übersehenden Kalender hängen, der ihn mit einer ihm zwar nicht vertrauten, aber gleichwohl längst öffentlichen Person in gedanklichen Kontakt brachte.

Und mit ihr, der Herausgeberin der Emma, ihr Name fiel ihm nicht ein, war er, wie sein Kopfschütteln verriet, ausnahmsweise einer Meinung. Und das in einem Kommissariat.

Das verlegene Hüsteln Schneiders ließ vermuten, dass er die Bahn der Augen seines Interimschefs verfolgt hatte.

Das ist Weitemeiers Angelegenheit, hatte von Bork entschieden. Schneider war einundvierzig, zwei Jahre jünger als Köhler und elf älter als Jäger und hatte nicht nur sehr lebhafte dunkle Augen, sondern auch noch kein graues Haar in seinem schwarzen Bürstenschnitt. Die Dichte ließ aber schon etwas nach, wie von Bork zufrieden zu erkennen glaubte. Mit einszweiundsiebzig war er zwar kaum größer als sein Gegenüber, aber deutlich wendiger. Eben hatte er mit Ablegen der Inspektorenprüfung den Sprung vom mittleren in den gehobenen Dienst geschafft.

„Dann schießen Sie mal los!“ Von Bork streckte sich auf dem ihm zugewiesenen Platz. Obwohl nun in seinem Rücken, konnte er die Pin-ups in einem Polizeibüro noch nicht vergessen. Mit von den ihm gegenübersitzenden Kollegen kaum wahrnehmbaren Bewegungen begleitete sein Kopf seinen stummen Kommentar: Dass Weitemeier das durchgehen ließ? Schließlich werden hier auch Damen vernommen. Es waren zwar keine Nackedeis, er musste sich noch mal umsehen, aber immerhin, sauber war der Mai 1980 nicht.

Mit einem entschiedenen Ruck wandte er sich nun zu Hauser. Der war, obwohl er nicht mehr allzu viel Weg zur Rente zurückzulegen hatte, noch immer eitler und verletzbarer als Schneider. Es war also kein Zufall, dass von Bork in der Kantine mitgehört hatte, wie seine Tischnachbarn Schneider den Aufstieg zutrauten und auch gönnten, während sie über Hausers Grenzen lästerten. Wie bei mir, dachte er.

„Ja Herr... von Bork“ nahm Hauser das Wort. Während dessen kurzer Sprechhemmung befürchtete der schon, er wolle ihn mit seiner Amtsbezeichnung oder gar mit Baron anreden.

„Wir sind natürlich nicht untätig gewesen“ betonte er „und haben auch schon ein erstes Ergebnis, das allerdings noch weitere Ermittlungen erfordert. Der Kollege“, er sah zu Schneider, „und meine Wenigkeit haben da einiges entdeckt, was unseren Fachkollegen ermöglichen sollten, Brandstiftung nachzuweisen. Und weil die alte Dame dabei zu Tode gekommen ist, hätten wir's ja vielleicht gar mit Mord zu tun.“

Hauser wollte seine Ausführungen offensichtlich erst einmal wirken lassen und hatte nicht mit dem drängenden Bedürfnis Schneiders gerechnet, sich bei ihrem Interimschef auch ins rechte Licht rücken zu wollen.

Als von Bork Hauser ob dessen sicheren Urteils wohl etwas überrascht ansah, mischte der sich mit einem schnellen Bemerken ein. „Der Brand, obwohl es ja eigentlich gar nicht richtig gebrannt hat, ist innerhalb der Wohnung gelegt worden. Entweder die alte Dame oder ein Dritter muss dem Täter die Haus- und auch die Wohnungstür geöffnet haben, wenn der nicht selbst im Besitz eines Schlüssels gewesen sein sollte. Ein Profi war’s sicher nicht“, er grinste, „muss wohl eher sehr nervös oder ängstlich gewesen sein. Hat nämlich seiner Feuerquelle in einem Eimer mit einer Schüssel als Deckel quasi den Atem genommen und dann auch noch versucht, daneben feuchte Wäsche mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Mehr als viel Qualm ist daraus, wie man sich denken kann, auch nicht geworden. Für eine tödliche Rauchvergiftung hat‘s aber offensichtlich gereicht.“

„Jetzt brauche ich doch einen Kaffee.“ Von Bork sah zu Hauser, dessen entsprechendes Angebot er eben noch abgelehnt hatte.

„Nehmen Sie Sahne oder Zucker?“

„Weder noch, wenn schon, denn schon. Ihre Ermittlungen haben mich neugierig gemacht, da kann Koffein nicht schaden.“

„Fein“ freute sich Hauser und stellte die Kanne umständlich an ihren Platz zurück. Nachdem er sich zurückgelehnt und den Schlips geradegerückt hatte, setzte er seinen Rapport fort:

„Anna Meier, so heißt die Getötete, wohnte im zweiten Stock. Um 20.07 Uhr hatte eine Nachbarin die Brandwache angerufen. Mit den Worten 'kommen sie schnell, aus dem Haus Hindenburgstraße 26 steigt Qualm auf‘, hatte sie sich gemeldet.

Die Feuerwehr ist zwölf Minuten später vor Ort und hat die alte Dame nach Aufbrechen der Haustür zu retten versucht. Sie war nur eingeschnappt gewesen, wie später festgestellt wurde. Die Wohnungstür aber hatte offen gestanden!

Die Brandquelle habe nur noch geringfügig gequalmt und sei rasch erstickt worden. Alles habe sie recht laienhaft angemutet, so die Feuerwehr. Zwar habe der Täter einen in einem Eimer mit Benzin getränkten Lappen angesteckt, dann aber das Feuer mit einer umgekehrt aufgelegten Schüssel wieder erstickt. Auch auf die daneben stehende Wäscheschüssel habe er Benzin geschüttet und entzündet, aber die Wäsche war halt feucht.

Er müsse entweder sehr fahrig gewesen oder durch irgendwas gestört worden sein. Und beim Verlassen der Wohnung habe er die Tür zum Wohnraum der Alten offenbar nur angelehnt, so dass der ohnehin geringe Qualm nur langsam ins Wohnzimmer gelangt sei.

Umso überraschender sei, dass man die Alte nicht habe retten können. Sollte sie geschlafen habe, könnte schon das Einatmen von relativ wenig Kohlenmonoxyd zur Bewusstlosigkeit geführt haben. So wäre zu erklären, dass sie weder ein Fenster geöffnet noch geschrien habe. Gewissheit über die Todesursache erhalte man wohl erst durch die Autopsie.

Das war’s eigentlich, was der Brandmeister berichtet hatte“ schloss Hauser mit einem sich versichernden Blick zu Schneider.

Nach dessen Nicken, fuhr er fort:

„Als wir die Ermittlungen aufnahmen, war auch uns aufgefallen, dass es so gut wie keine Brandspuren gab.

Bleyer von der Kriminaltechnik meinte, wenn die Obduktion keine Todesursache ergeben sollte, könnten auch, weil die Zeit bis zum Eintreffen der Feuerwehr doch recht kurz gewesen sei, giftige Kunststoffdämpfe entwichen sein. Seinen Bericht erhalten wir in drei Tagen.“

„Wir können uns nicht so viel Zeit lassen“, warf Schneider ein.

„Schätzen wir ihn nicht, den guten Bleyer? Arbeitet er nicht zuverlässig und macht er, wenn's eilig ist, nicht jede Überstunde?“

Von Bork ließ seinen mahnenden Blick von Schneider zu Hauser wandern. „Noch nie, kann ich mich erinnern, dass er seine zeitlichen Zusagen nicht eingehalten hätte. Schauen Sie ihn doch nur an, dieses kleine, zarte Männchen. Ganz so sind auch seine Expertisen. Vorsichtig, nie anmaßend, aber genau, auch in seinen Zweifeln. Ein wirklich guter Mann!“

„Sie haben ja Recht. Ein bisschen frotzeln wird man aber doch noch dürfen?“

„Natürlich, ich mag den Kollegen wohl zu sehr“, antwortete er achselzuckend. „Ich mag seine leise und bescheidene Art, uns zu unterstützen. Aber frotzeln Sie ruhig, meine Herren, wenn’s ihrer Seele gut tut!“

„Darf ich meinen Bericht jetzt bitte zu Ende bringen?“

Hausers als Frage getarnten Worte wurden, als er den Nacken streckte, von Bork als das empfunden, was sie waren. Er gab mal wieder die beleidigte Leberwurst. Und wie manchmal, wenn von Bork den einsfünfundsechzig großen Beamten auf seine den ganzen Mann dominierende mächtige graue Mähne reduziert über den Flur watscheln sah, tat er ihm nun augenblicklich fast ein wenig Leid. Gab doch auch er sein Bestes.

„Gerne Herr Hauser, entschuldigen Sie meinen Einwurf.“

„Keine Ursache, Herr von Bork.“

Während von Borks Tadels hatte Hauser seine Haltung intuitiv so gestrafft, dass der Finger auf seinen Notizen verrutscht war. Nun musste er den Anschluss zu suchen.

„Die Schlösser an der Haus- und auch der Wohnungstür wiesen einer ersten Prüfung zufolge keine Spuren von Gewalt auf. Also müsste der Täter entweder eingelassen worden sein oder einen Schlüssel gehabt haben.

Von der unter der Alten wohnenden Familie der Tochter Brigitte Demel war niemand da, denn die war bei der Geburtstagfeier ihrer verheirateten Tochter Brenda Willms.“

„Und wer sonst hatte noch einen Schlüssel?“

Von Bork sah zu Schneider, der schon eine Weile in den Startlöchern zu liegen schien.

„Heinz, mach mal weiter“ legte Hauser das Staffelholz in dessen Hände.

„Die von Hauser eben erwähnte Brigitte Demel ist die jüngere Schwester und Frau des Sparkassendirektors. Die Familie wohnt im Erdgeschoss oder 1. Obergeschoss. Das Souterrain ist an die Sparkasse ihres Gatten vermietet.

Frau Demel soll, wie man hört, mit ihrer Mutter auf recht unangenehme Weise verbunden gewesen sein.

Die Tochter Lore, verheiratete Bach, lebt schon seit ihrem Abitur nicht mehr im Ort, und hält nach allem, was wir gehört haben, bewusst Distanz zu ihrem Elternhaus und ihrer Schwester.

Brigitte Demel ist drei Jahre jünger und sagte, jedes Familienmitglied habe einen Schlüssel.

Ihre ein wenig unnahbar wirkende Schwester gab dagegen an, keinen zu besitzen. Es wird nicht viel zu bedeuten haben.

Nach meinem Eindruck schienen die Schwestern nicht auf bestem Fuße miteinander zu stehen.“

Ein Seitenblick zu Hauser ließ diesen bestätigend nicken.

„Obwohl die Demel das, wie ich vermute, bestreiten würde“, fuhr er fort. „Sie ist nicht eine, die Querelen innerhalb der Familie einräumen würde. Ihr Mann, der Sparkassenchef, wirkt so ruhig und verträglich, wie man ihn aus den Käseblättchen kennt.

Auf mancher Feier präsent, immer einen netten Schnack auf den Lippen, wäre er der legitime Nachfolger seines Schwiegervaters. Wirkt aber besonnener als der Ruf des Alten.

In dieser Familie scheinen die Weiber nicht nur die zweite Geige zu spielen. Denn bei fast jeder seiner Bemerkungen schien er sich durch flüchtige Blicke des Einverständnisses seiner Frau zu versichern. Die siebzehnjährige Tochter Kirsten erfuhr für ihre abfällige Bemerkung über die ‚verrückte Alte da oben' von ihrer Mutter eine strenge Ermahnung.“

„Hatte die alte Dame Feinde oder gibt es in der Familie einen Verdacht?“

Beide lächelten wie auf Kommando. Der saloppere Schneider ließ seinem umständlichen Kollegen wieder den Vortritt.

„Die Kleine war bei unserer entsprechenden Frage ihrer Mutter zuvorgekommen, obwohl das nicht leicht ist. ‚Alle, die sie besser gekannt haben’ ließ sie uns wissen.

‚Kirsten, so redet man nicht von seiner Oma. Im Übrigen stimmt das so auch nicht. Sie ging halt manchem von uns wegen ihres Putzticks schon mal auf den Wecker‘ spielte sie die Einlassung ihrer Tochter runter.

‚War sie nicht sehr herrschsüchtig?‘ Mit erhobenen Brauen sah er seine Frau an. ‚Vor allem Vater hat es doch beileibe nicht leicht mit ihr‘, wagte er zu vermitteln.“

„Interessant, interessant“ sinnierte von Bork. „Wenn sich die Schwestern betreffs der Schlüssel nicht widersprächen, würden Sie die Familienangehörigen dann auch verdächtigen?“

„Vielleicht eher nicht“, meinte Schneider und erfuhr das zustimmende Lächeln Hausers. „Obwohl wir über die materiellen Verhältnisse der Herrschaften ja noch so gut wie nichts wissen.

Selbst wenn die Alte, wie man sich erzählt, ziemlich reich gewesen sein soll, ein Motiv wäre das doch kaum...?“

„Eben“ fügte Hauser den Worten seines Kollegen an. „Demel sitzt schließlich an der Quelle.“

„Wann wollte Bleyer seinen Bericht noch fertig haben?“ fragte von Bork.

„In zwei, drei Tagen.“

„Dann können wir uns ja mal über die Herrschaften schlauer machen. Wär doch nicht das erste Mal, dass jahrelang marternde Beziehungen unter Verwandten, deren Ehrenkodex die offene Auseinandersetzung verbot, in einer Katastrophe endeten.

Versuchen wir uns halt ein Bild von der deren Miteinander zu machen.

Sie befragen die Nachbarn, ich kümmere mich um die Familie!“

4„Herr Siemering, können Sie sich vorstellen, dass einer unserer Knaben mit diesen Vorgängen was zu tun hat?“ Das spöttische Grinsen des Psychiaters, Dr. Löhr, der seitlich von ihm stand, blieb dem Herrn Direktor verborgen.

Auch Franz Siemering hatte es nicht bemerkt, war er doch ob der direkten Ansprache seines Chefs in Habachtstellung.

„Na ja“ begann der, „meine Hand würde ich dafür allerdings nicht ins Feuer legen. Obwohl ...“

„Obwohl was?“ Dr. Groß dünne Stimme klang streng.

„Ich kein Motiv sehe. Der ermordete Junge ging einmal zum Gymnasium und zum anderen blieb sein Portemonnaie offenbar unberührt. Andererseits“, er versuchte Löhr einzubeziehen, der aus dem Fenster sah, sah also auf dessen Rücken, „wissen wir, dass unsere Logik bei den Jungs schon mal fehlgeht.“

„Ist es das Gymnasium von unserem Herzeigezögling?“

„Ja, das Theodor-Heuss. Aber dachten sie wirklich?“

„Natürlich nicht“ beschied ihn Dr. Groß, obwohl er Frank wohl kaum kannte. Er sah auf Dr. Löhrs Rücken, der noch immer nach draußen sah, als ginge ihn das alles gar nichts an. „Und welche Einschätzung hat der Herr Psychiater?“

„Als Kollege stimme ich mit Herrn Siemering überein.“

Seine Miene indes ließ seine Position sehr willkürlich erscheinen. Und so fügte er auch alsbald hinzu: „Als Psychiater kann ich mir aufgrund der dürren Kenntnisse aber kein Urteil gestatten.“

Erst jetzt, er sah noch immer zum Fenster, drehte er sich langsam wieder in den Raum. Dr. Groß einen Moment fixierend, sah er dann zu Siemering und meinte, den Herrn Direktor wieder in den Blick nehmend, gedehnt und süffisant, wie ihm sein Kollege anschließend bestätigen sollte, „Warum denn machen wir uns überhaupt Gedanken, da Sie doch offenbar wissen, wie Sie dem Polypen erklärt haben, dass alle an Bord waren?“

„Können wir uns denn sicher sein, selbst wenn die Damen und Herren Erzieher melden, dass keiner im Ausgang gewesen sei? Und ist uns dieser eigentlich doch unakzeptable und peinliche Zustand“, er schwenkte seinen Kopf Richtung Siemering, „nicht leider bekannt?“

„Da kann ich ihnen nicht widersprechen.“ Dr. Löhrs spitz und zu einem schmalen Strich gepresste Lippen sprachen für sich.

„Um einundzwanzig Uhr werden, darauf würde ich eine Wette annehmen, einige Jungs nicht im Haus gewesen sein“, räumte Franz Siemering leise ein. Beobachter könnten ob seiner schlaffen Erscheinung, den hängenden Schultern und der in das Bild passenden Nickelbrille versucht sein, dies als Eingeständnis seiner Schuld zu deuten.

„Das ist meine Erfahrung“, Herr Direktor, ergänzte Siemering, auf dessen kritischen Blick. „Erst beim Rundgang, nach der Übergabe um halb elf, wissen die Kollegen definitiv, wer da ist und nehmen auch dann erst ihre Eintragungen vor. Da fehlten noch drei, allerdings Jungs, bei denen wir relativ sicher sein können, dass sie nicht in Frage kommen.“

„Das ist ja ein sauberer Laden, wenn selbst der Erziehungsleiter nicht weiß, wer von seinen Probanden um neun tatsächlich im Haus ist. Wie können wir der Kripo, Presse und Öffentlichkeit ihr Befremden über solche Nachlässigkeiten verübeln? Hüten wir doch schließlich keine Flöhe.“

Dr. Groß hatte sich nicht die Mühe gemacht, auch nur eine Spur von Verständnis zu zeigen. Offen ließ er den Spott in seine Züge schießen. Dann ruhte sein beinahe flehender Blick auf Löhr, dem Herrn Psychiater, wie er ihn anscheinend ironisch, aber, wie dem genauen Beobachter nicht entgehen konnte, eher als Zeichen von Respekt zu titulieren pflegte. Ihm brachte er zwar mehr Achtung, dafür aber weniger Sympathie als Siemering entgegen.

Löhr genoss seine Stellung und ließ sich Zeit.

„Ich hätte die Herren von der Polizei mit den Worten ‚bei unseren Jugendlichen kann man nie wissen‘ eingeladen, sich bitte umzusehen und ihnen jede Unterstützung zugesagt. So sind wir in der Defensive. Und die ist nicht mein Spiel, Herr Direktor.“ Wieder hatte er die Stimme angehoben und den mokanten Zug, der seine Mundwinkel so häufig umspielte, nicht verborgen.

„Da ist was dran. Aber nun ist es passiert“, räumte er ein.

Es war ein Fehler, dachte er und eigentlich wusste er‘s schon, kaum, dass er ihn gemacht hatte. Dass er den kleinen Krüppel kurz vor neun von seinem Balkon aus zufällig im Wald sah, hätte er ja ruhig verschweigen können. Leider war er aber seinetwegen nervös geworden und hatte daher den Mund zu voll genommen. Dabei konnte dieses kleine, rote Männchen mit der Sache, da war er ganz sicher, nichts zu tun haben. War er doch nur hier, weil er einige Male beim Zündeln erwischt worden war. Aber ein Mord? Nein! Und Feuerlegen innerhalb einer Wohnung?

Zündeln war doch was anderes und war er nicht zu dumm und unbedarft? Andererseits, wenn sie ihn vernehmen würden?

War er nicht ein sehr schwacher Charakter, einer der leicht ins Schwätzen geriete?

Als sich des Alten Bedrängnis in gesteigertem Bewegungsdrang zu äußern begann, ahnte Siemering, ihr Chef könne bald die Beherrschung verlieren. „Siemering“ hörte er auch schon dessen angestrengte und hohe Stimme kreischen, „Sie rufen die Herren bitte morgen früh an und erklären ihnen, dass ich die Auskunft der Erzieher in Unkenntnis der nur ihnen vertrauten Ungenauigkeit weitergegeben hätte. Und natürlich würden wir die Polizei in jeder Weise unterstützen, wenn sich ihr Verdacht auf unsere Einrichtung richten sollte.“

Als ahne er die höhnische Miene seines Psychiaters, vermied er’s, ihn anzusehen. „Sie werden mit mir doch d’accord sein?“ fragte er ihn nach einer Pause.

„Natürlich, Herr Direktor, eine sehr kluge Parade.“

Seine abendliche Beobachtung des Roten vor seinem Fenster für sich behalten zu sollen, schien Groß aber nach wie vor geboten. In die Zange genommen redet so einer doch leicht von Dingen, nach denen nicht gefragt wurde, ein solcher Wurm, dachte er verächtlich, den kleinen Buckel des Roten vor Augen.

„Noch einen guten Abend den Herren.“

„Danke ebenso.“

Dr. Löhr und Franz Siemering liefen schweigend zum Parkplatz.

„Warum hat der Alte das nur so entschieden behauptet“, fragte Franz, war doch gar nicht nötig.

„Wenn du ihm die Ehre antust, in seinem Handeln eine Strategie oder eine Logik zu suchen, bist du schon auf dem Holzweg. Geh einfach davon aus, er wollte sich dicke tun. Sein Geltungsdrang wird die beste Erklärung sein.“

„Meinst du, es ist so einfach?“

„Wahrscheinlich nicht. Aber wenn der Zwerg dich so anmacht, könnte ich ihm was auf seine kleine Fresse geben. Das zumindest weiß ich.“

Dieter Löhr legte seinem Kollegen dankbar den Arm um die Schulter, bevor sie zu ihren Wagen gingen.

5„Wo stecken sie nur?“

Lore, der das moralinsaure und scheinheilige Getue ihrer Schwester wie ihr ebensolches Gequake mal wieder auf den Senkel ging, sah sich in deren Wohnzimmer um, als könne es dort ein Versteck geben. Sie war sauer, dass man sie mit ihr alleine gelassen hatten. Zumindest Gernot sollte doch wissen, wie ungern sie mit ihrer Schwester alleine war. Und bei solch einem Anlass schon gar nicht.

„Heiner wird sein neues Auto vorführen“, erklärte Brigitte.

„Das ist jetzt auch wichtig.“

Brenda und Kirsten, ihrer Schwester Töchter, waren, wie Lore unzufrieden bemerkte, nun schon seit einer halben Stunde auf Kirstens Zimmer verschwunden. Mit ihnen wär’s leichter auszuhalten.

„Einen solchen Tod hat Mutter nicht verdient. Und ich hätte ihn ihr auch nicht gewünscht, niemand in unserer Familie.“

Obwohl sie die Schwester war, fühlte sich Lore von ihrer so nachdrücklichen Behauptung nicht eingeschlossen. Wahrscheinlich hatte ihre Schwester sie auch nicht eingeschlossen, als sie von unserer Familie brabbelte. Sie sah Brigitte nicht an und schwieg. Ihr Kopfschütteln blieb unsichtbar. Unbeirrt setzte die acht Jahre jüngere Brigitte ihre Monologe fort.

„Sie war doch noch so gesund, hätte sich schöne Jahre machen können. Warum nur musste das passieren?“

„Außer deiner Familie gibt es keinen Gewinner.“

Lore hatte beinahe lautlos und ohne Nachdruck gesprochen. Als wäre ihr nichts als eine jedem selbstverständliche Wahrheit über die Lippen gegangen.

Bevor Brigittes wütender Widerspruch sie zu erschlagen drohte, erklärte sie ihre Meinung.

„Eure Ehe ist gerettet und auch Kirsten wird bleiben können und deine Nerven werden sich hoffentlich auch erholen.“

„Unsere liebe Mutter, auch deine, ist keine drei Tage, nicht mal unter der Erde! So kann nur reden, wer herzlos ist und mit seiner Familie längst nichts mehr am Hut hatte“, schrie Brigitte Demel.

„Ich bin gegen eine Abrechnung“ erklärte Lore Bach mit einer sie selbst überraschenden Ruhe, „sie führt ohnehin zu nichts.“

„Und wer hat damit angefangen?“

„Ihr hättet längs ausziehen müssen, Brigitte. Spätestens als sie Vater in den Tod getrieben hatte.“

„Das du so was behaupten magst, von deiner eben verstorbenen Mutter. Redest, als habe all dies mit dir nichts zu tun.“

„Du kanntest meine Meinung. Ich habe sie nie geändert.“

„Nicht jeder kann nur an sich denken.“

„Wie Recht du doch hast. Aber sie hat genau das getan!“

„Du kannst ihn als Geschäftswagen abschreiben. Einem kleinen Pastor würde das Finanzamt gerade ein Dienstrad anerkennen oder die Kosten für einmal im Jahr die Schuhe besohlen“, hörte Lore ihren Mann sagen und beide leise lachen.

Heiner und Gernot waren die stilleren Hälften. Ihre entspannten Mienen schienen den Grund ihres Zusammenseins vergessen zu haben. Trotz des traurigen Anlasses lächelte Lore zustimmend, als sie dachte, dass auch Heiner wie sie empfinden dürfte.

„Was hieltet ihr von einem milden französischen Cognac? Ich kann ihn empfehlen“, schlug Heiner heiter vor, den strengen Blick seiner Frau ignorierend.

Lore und Gernot nickten unbekümmert.

„Mir ist nicht danach“, qualifizierte Brigitte seine Einladung als geschmackloses Ansinnen.

„Er wird uns gut tun“, stellte der erstaunlich unbeirrt fest und hielt die Flasche einladend in die Höhe.

„Ich traue diesem Herrn von und zu nicht.“ Seine Frau bemerkte es ernst und mit einem fragenden Blick in die Runde. „Versucht einen mit seinem vornehmen Getue doch nur aus der Reserve zu locken. Und dass er es als Blaublütiger zu nicht mehr gebracht hat, gibt doch auch zu denken?“

„Der Stammbaum reicht glücklicherweise nicht mehr, um andere für sich arbeiten zu lassen“, meinte Gernot und ließ den Herrn Pastor in sich zufrieden grinsen. „Man will sie schon auf den Fluren des Arbeitsamtes gesehen haben“, fügte er feixend an.

„Auf unsere Zukunft!“ brachte Gernot einen Toast aus und hob sein Glas Richtung Lore und Heiner.

Der hätte sich aus Solidarität mit seiner Brigitte fast zu einer abfälligen Bemerkung einladen lassen, besann sich aber rechtzeitig und meinte, der sei schon okay, „ich glaube, der hat einfach Lust an seinem Job.“

„Wir werden sehen“ schloss seine Frau spitz.

Lore hatte sich zum Fenster gewandt, so konnte sie außer ihren Gedanken auch ihrer Miene freieren Lauf lassen. Wäre Gernot nicht ein so freundlicher und nachsichtiger Charakter, dachte sie und wusste, dass dies nichts mit seinem Beruf zu tun hatte, da kannte sie ganz andere, ja widerliche Exemplare, sie würde sich für ihre Familie schämen. Gernot hatte sie immer wieder davon abgehalten, sich aus diesem Babel entschieden zurückzuziehen. Brenda und Kirsten verlören nicht nur Tante und Onkel, auch er seine Nichten. Und sie seien doch für diese Verstrickungen nicht verantwortlich, nur die ein bisschen weniger leidenden Opfer. Das fand sie auch.

„Der von Bork wollte uns erst mal kennenlernen, um sich ein Bild zu machen. Seine Fragen waren doch sehr allgemein und wie ich fand, sehr behutsam? Und nach Lage der Dinge muss er sich wohl für uns interessieren. Es ist sein Beruf.“

Gernot sah nun, als er geendet hatte, seine Schwägerin an, als glaube er, sie für seine Sicht der Dinge gewinnen zu können.

„Du musst ja an das Gute glauben“, gab die aber nur zurück.

„Bei uns Protestanten“, erklärte er ihr, für die eine Ehe mit einem Evangelischen noch immer als Mischheirat galt, „gilt der Pfarrer nicht mehr als jedes Gemeindeglied. Und für diesen Inspektor, Brigitte, ich weiß nicht, wie er sich genau nennt, wird bestimmt einen höheren Rang haben, egal, ich nenn ihn einfach mal so, würde ich mir die Finger aber verbrennen wollen. Bei ihm, spüre ich, könnte das Etikett Noblesse oblige noch seine Berechtigung haben. Der Herr befördert die Vorurteile gegen seinen Stand nicht, bin ich mir sicher. Und auf einschlägigen Gesellschaften wird man ihn wohl auch kaum treffen.“

„Mögest du deine Worte nicht auffressen müssen“, antwortete Brigitte, offenbar wenig überzeugt.

„Ob Opa da oben schon auf der Flucht sein wird?“

Die beiden Mädchen waren eingetreten. Und es war die jüngere Kirsten, die so direkt auf die Dinge zusteuerte. Brenda dachte meist nicht anders, hatte aber ein milderes Temperament und war, obwohl neun Jahre älter, verheiratet und junge Mutter, noch immer spürbarer an die Gedanken ihrer Mutter gebunden.

Ihr Äußeres bediente das Klischee. Kirsten war dunkel, zierlich und apart, Brenda blond, ein wenig voller und hübsch. Obwohl ein Jahr mehr auseinander als Mutter und Tante, waren sie sich sehr verbunden. Wenn Brenda Kirstens forscher Auftritt auch fremd war, teilte sie deren Einlassungen über ihre Großmutter ohne Einschränkung, obwohl sie zu ihrer Oma ein zumindest während der letzten Jahre ganz passables Verhältnis hatte.

„Opa Walther wird sich maskiert haben“ kicherte sie, während sie ihren Arm um Kirsten legte.

Lore Bach hatte den kurzen Wortwechsel mit Sympathie gehört und sollte ihrem Mann später erzählen, wie sehr sie Brendas für sie doch durchaus mutigen Kommentar gefreut habe.

„So redet man nicht über Verstorbene! Oma hat jetzt unsere Nachsicht verdient. Wir sollten uns nun ihrer guten und liebenswerten Seiten erinnern!“

Lore, die sich schon wieder zum Fenster gewandt hatte, drehte sich schnell um, wollte in die Gesichter der Mädchen schauen. Brendas Lippen, die sich einem spontanen Impuls folgend, schon voneinander gelöst hatten, waren aber diesmal leider wieder mut- und kraftlos geworden.

„So weit reicht meine Erinnerung nicht mehr, bin wohl nicht alt genug“, so Kirstens schnodderige Antwort.

„Würdest du dich für die Taktlosigkeiten deiner Tochter vielleicht auch mal zuständig fühlen?“ versuchte Brigitte Heiner in die Pflicht zu nehmen.

„Wollen wir nun lieber moralische oder diplomatische Töchter, meine Liebe? Wir können ihnen doch nicht Blindheit verordnen. Wär’s denn nicht nachgerade paradox, uns über das Temperament deiner Mutter streiten zu wollen?“

Heiners forsches Bekenntnis hatte alle seine sonst so reichlichen Kontrollen vergessen gemacht und kam so authentisch daher, dass selbst die schon zum Widerstand geöffneten Lippen seiner Frau mutlos wurden.

Beim anschließenden Spaziergang waren Heiner und Gernot meist zwanzig Schritte hintan, während Lore und Kirsten in ihr intensives Gespräch vertieft stramm vornweg liefen.

Brigitte und Brenda bereiteten das Abendessen vor. Wusste Brenda mit den unvermeidbaren Nachhutgefechten ihrer Mutter doch ohne größere Mühe umzugehen. Ihre meist verhaltene Zustimmung und das gemeinsames Tun beruhigten bald deren gereizte Nerven.

Und auch Kirstens rebellisches Räsonieren gegen die Tote verlor durch Tante Lores behutsames Verständnis ihren Quell.

Während des Essens konzentrierte man sich auf Praktischeres. Wohin nach der Beerdigung, wen lädt man zum Kaffee ein und wo sollten die auswärtigen Gäste schlafen?

Der Tisch war abgeräumt und die Spülmaschine verrichtete, sich hinter der Küchentür hin und wieder leise gurgelnd in Erinnerung bringend, ihren Dienst.

Man hatte die Gläser schon einmal schweigend angehoben, samt seiner Frau übrigens, nachdem Heiner, da ihm kein Trinkspruch ohne Risiko eingefallen war, auf einen solchen verzichtet hatte. „Nach der Beerdigung wird sich von Bork verstärkt für unsere Familie interessieren!“ Für Gernot, der es arglos feststellte, war es offenbar an der Zeit, den Blick auf Bevorstehendes zu lenken. „Ob eure Mutter wohl ein Testament gemacht hat?“ Forschend sah er zu Brigitte und Heiner. „Sollte sich ihr Tötungsverdacht bestätigen und sie uns als Verdächtige einbeziehen, werden sie nach einem Motiv suchen müssen. Verständlicherweise“ setzte er hinzu, als er beinahe augenblicklich den Unwillen in Brigittes Miene aufzuziehen vermeinte. „Und da spielt Geld halt immer eine Rolle“, endete er mit Nachdruck.

„Wir brauchen es so wenig wie ihr!“ Auf Brigittes Stirn hatte sich wieder jene von Unheil kündende senkrechte Falte kurz gezeigt. „Natürlich nicht“ gab Gernot, der um der Harmonie willen, eher als seine Frau, auch fünf gerade lassen sein konnte, rasch zu. „Nur das müssen die Herren erst herausfinden. Und ob es ein hinreichendes Argument ist? Nicht nur wir sagen doch mitunter, die Reichen könnten nie genug kriegen?“

„Ich glaube nicht, dass sie eines hat“, gab sie, durch seine letzten Ausführungen offenbar beschwichtigt, Auskunft. „Und wenn, würde Pastor Meinhard das meiste kriegen oder der Tierschutzverein? Oder meinst du nicht“, fragte sie ihren Mann.

Heiner hob die Achseln. „Da wäre ich nicht so sicher. Dass sie so schwätzte, glaub ich sofort, aber wenn’s zum Schwur kommt, könnte auch bei ihr Blut dicker als Wasser sein.“

„Hätte es also einen Grund gegeben, sie an dieser Gemeinheit hindern zu wollen!“ Gernot grinste verschmitzt in die Runde.

„Auf jeden Fall schlage ich vor, aus unserer Meinung über eure Mutter kein Hehl zu machen. Wenn wir’s nämlich verschweigen, die Nachbarn werden ihre Fantasien ganz sicher haben und sich mit ihnen auch gerne ein wenig wichtigmachen.“

„Ich würde dem Polizisten erzählen, dass ich dem Drachen zwar einen schöneren Tod gewünscht hätte, in ihm aber auch Gottes Gerechtigkeit gegenüber meinem lieben Opa sehen würde.“

„Kirsten!“

„Stimmt doch! Nicht nur ich denke so!“

„Oma war oft anstrengend und ungerecht, aber den Tod haben wir ihr nicht gewünscht.“

Brenda schien unschlüssig, was sie in dieser Situation empfinden solle.

„Wie oft haben wir alle ihr doch die Pest oder Schlimmeres an den Leib gewünscht!“

Brigitte Demel atmete tief und beließ es bei einem vernichtenden Blick an ihren Mann. „Bist du eigentlich auch ihr Vater oder nur der Hausfreund?“ giftete sie ihn an.

Der vermied trotzig den Blickkontakt und schwieg.

Gernot, der Herr Pastor, wie seine Schwägerin und ihr Mann ihn schon mal gerne ironisch nannten, betrachtete die drei Frauen, Brigitte, Brenda und Kirsten.

Keine Ähnlichkeit zwischen Mutter und Töchtern stellte er fest. Trotz dauerhafter gesundheitlicher Malaisen, für Lore vor allem durch von ihr verursachten Familienstress bedingt, sah Brigitte nicht aus wie eine Fünfzigerin.

Ihr dunkles, kurzes Haar war erst von wenigen grauen Fäden durchwebt. Sie schien ihm jetzt, da er sie unvoreingenommen ansah, gar hübscher als Kirsten. Ihr nervöser und aufbrausender Charakter hatte ihrem Gewicht keine Chance gelassen. Sie war nicht so feingliedrig wie Kirsten und wirkte trotzdem schlanker. Vielleicht waren es ihre sich auffällig abzeichnende Knochen, die für die Falten der Kleider verantwortlich waren. Die nachtblauen Augen mit den buschigen Brauen hatte sie von ihrem Vater.

Brendas Züge waren weicher, ihre Haut glatt und rosig. Blassbraune Augen verwiesen auf ihren Papa. Ihre dicken, blonden Haare waren kurz und auf so pfiffige Weise geschnitten, dass sie das nur Hübsche und Liebe ihrer Züge zu neutralisieren vermochten. Aufgrund ihrer freundlichen Ausstrahlung konnte man sich gut vorstellen, dass sie bei den Patienten beliebt war und die für den harten Job im Krankenhaus nötige seelische und körperliche Kraft mitbrachte.

Kirstens schmales Gesicht wurde von einer schwarzglänzenden Mähne gerahmt, die bis über die Schultern reichte. Eine schmale, gerade Nase, wasserblaue Augen und die bernsteinfarbene Haut ergänzten ihr apartes Äußeres. Dass sie von den Jungs begehrt würde, wunderte Onkel Gernot nicht.

Hoffentlich zog Kirsten aus den Erfahrungen ihrer Schwester die richtigen Schlüsse, dachte er. Die hatte sich nämlich vor wenigen Monaten von ihrem Mann getrennt.

Aus dessen verzweifelte Ankündigung, seine Schwiegermutter nicht mehr ertragen zu können, weil die sich in unerträglicher Weise in ihre Familie einmische, hatte sie stoischen geantwortet, dann müsse er eben ausziehen.

Wie es schien, hatte die darauf erfolgte Trennung keine Spuren hinterlassen. War ihre Mutter doch allzu gerne an seine Stelle getreten und hatte, es waren nun schon sechs Monate, die Betreuung des kleinen, einjährigen Alexanders übernommen.

Dadurch konnte Brenda wieder als Krankenschwester arbeiten. Ihr Mann hatte dies vorher verhindert. Entweder du bleibst zu Hause oder wir verzichten auf ein Kind, hatte er verlangt. Als sich Brenda für den Nachwuchs entschieden hatte, bestand er darauf, dass sie ihre eigene Familie hätten und sich die Schwiegermutter aus der Erziehung herauszuhalten habe. An den Folgen dieses Konflikts war Brendas Seele gescheitert.

Heiner war als Vater zu schwach und schwankend gewesen, um den ihm eigentlich verständlichen Wunsch des Schwiegersohns zu unterstützen. Es war aber wohl nicht nur Rücksicht auf seine Frau, zuletzt hing er wohl selbst zu sehr am überholten Ideal einer über die Generationen hinweg funktionierenden Familie.

„Ja“ erinnerte Gernot jetzt, da er seinen Blick von den so ungleichen Schwestern löste, Lores düstre Worte:

„Wie soll meine Schwester das Vater und uns alle beherrschende Regime unserer Mutter auch erkennen? Ist sie nicht, ohne darum zu wissen, in ihre Fußstapfen getreten? Nicht so gemein wie die Alte, beileibe nicht, aber was nützt der gute Wille, wenn er sich so verheerend auswirkt.

Brigitte hätte in der Sparkasse bleiben sollen. Die Berufstätigkeit hatte ihr sichtlich Freude bereitet. Ihr ausgeprägtes Verlangen nach Kontakten fand dort ebenso ein Ziel wie ihr Bedürfnis nach Anerkennung.

Das alles haben die Einflüsterungen der Alten zunichtegemacht. Eine Mutter mit zwei Kindern, die keine Not leide, es nicht nötig habe zu arbeiten, gehöre ins Haus, hatte sie immer gepredigt und so ihr Unheil auch noch über die nächste Generation gebracht.“

6Gestern hatten sie sich ratlos immer die gleichen und sie keinen Schritt weiterbringenden Fragen gestellt. Eine Tasse Kaffee nach der anderen musste den Frust betäuben und Jägers Keksdose machte Runde um Runde. Nur von Bork griff sich immer wieder an seine Hüften und ließ dann schon mal eine Runde der Kekse aus.

Auch Umstände, die dazu führen könnten, dass man mit so einem kleinen Messerchen einem Menschen tödliche Verletzungen beibringen könne, hatten sie erörtert.

Doch heute war alles anders!

Die Obduktion der Gerichtsmedizin hatte bei dem Siebzehnjährigen ein überraschendes, aber eindeutiges Ergebnis.

Harald Heiermann war an einem schon alleine ausreichenden Stich in die Leber verstorben.

Die durch den Sturz auf die Bordsteinkante verursachte Kopfverletzung hätte seinen Tod vermutlich nicht ausgelöst.

Für die Leberverletzung habe der Täter eine Stichwaffe mit einer vermutlich zehn Zentimeter langen Klinge benutzt. Das am Tatort gefundene Messerchen scheide daher aus. Die Verletzung an der Hüfte war belanglos.

Ohne die tödliche Leberverletzung und die auf einen Kampf deutenden Wollfasern unter Haralds Fingernägeln sowie den zwei abgerissenen Knöpfen an seiner Jacke, hätte man die Hypothese eines unglücklichen Sturzes nicht löschen können.

Jetzt müsse man von Mord oder Totschlag ausgehen, mindestens aber von Körperverletzung mit Todesfolge.