Zwienacht - Raimon Weber - E-Book

Zwienacht E-Book

Raimon Weber

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Beschreibung

Bestseller-Autor Richard Gerling öffnet orientierungslos die Augen. Ein sanfter Kindergesang hat ihn geweckt. Benommen kriecht er aus einem Gebüsch hervor und steht mitten auf einem Einschulungsfest von Erstklässlern. Die Zuschauermenge schreit entsetzt auf: Richard Gerling ist halbnackt! Was ist passiert? Ohne jegliche Erinnerung, taucht Gerling in einer Kleinstadt im Osten Deutschlands vor den Medien unter. Doch auf der Suche nach der Wahrheit, gerät er plötzlich in den Mittelpunkt der Gefahr ... „Zwienacht" - ein packender Psychothriller von Darkside Park-Autor Raimon Weber, der unter die Haut geht! „Mit einem weiteren Streich bestätigt Raimon Weber, regionaler Kultautor, seinen Ruf als 'Stephen King' des Ruhrgebiets." WAZ „Der spannungsgeladene und zuweilen beklemmende Thriller spricht vor allem Gänsehaut-Fans an!" WESTFALIUM

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Zwienacht

Raimon Weber

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-942261-18-0

Psychothriller GmbH

www.psychothriller.de

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung, der Vertonung als Hörbuch oder -spiel, oder der Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen, Video oder Internet, auch einzelner Text- und Bildteile, sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

Für Johanna

Den Fünften strangulierte und erschlug ich im Osten. In Demut vor meiner ungeheuren Aufgabe.

Der Reisende

R. Kenning

Spätsommer

Unter den geschlossenen Lidern huschten die Augen hin und her.

Gesang weckte ihn. Er öffnete die verklebten Lippen und ächzte heiser.

Es war schwül, die Luft fühlte sich klebrig an.

Durst!

Niemals in seinem Leben war er durstiger gewesen. Er versuchte sich aufzurichten, aber die Muskeln wollten nicht gehorchen. Für Sekunden glitt er zurück in den Schlaf.

Die hellen Stimmen drangen erneut in sein Bewusstsein. Richards müder und verwirrter Verstand suchte nach einer Erklärung. Hatte er vergessen, den Fernseher auszuschalten? Warum fühlte sich seine Matratze so hart an? War er etwa auf dem Fußboden eingeschlafen?

Richard öffnete die Augen erneut und verstand nichts von dem, was er sah. Ihn umgab ein Halbdunkel unter Zweigen mit fleischigen Blättern, von denen ein moderiger Geruch ausging, der ihn würgen ließ.

Irgendwo in der Nähe wurde ein neues Lied angestimmt.

Richard kroch auf allen Vieren über den lehmigen Untergrund, zuckte instinktiv zurück, als sich die Spitze eines Zweiges in seine Wange bohrte und schrie auf, als ein weiterer, zurückschnellender Zweig sein Gesicht peitschte. Der Schmerz ließ seine Augen tränen. Die Tränen vermischten sich mit Schweiß. Er geriet in Panik, war völlig desorientiert, stieß halb blind winselnde Laute aus, rutschte auf den Knien hektisch weiter, beide Arme zum Schutz vor weiteren Angriffen des Gebüschs über dem Kopf verschränkt. Ein Kronkorken bohrte sich in sein Knie.

Dann war er frei, hockte im Licht und musste sich übergeben. Er würgte den Inhalt seines Magens mit solcher Vehemenz hervor, dass er trotz seiner Verwirrung befürchtete, irgendetwas in seinem Inneren könnte dabei zerreißen.

Der Gesang geriet ins Stocken, einzelne Stimmen setzten aus, schließlich alle, bis auf eine, die anders ... älter klang. Vielleicht zwei Sekunden lang intonierte sie noch inbrünstig das Lied von den Indianern und den Chinesen, die lesen lernen wollten, wie um die anderen wieder zum Mitsingen zu bewegen.

Stille.

Jemand sagte laut „Mein Gott!“, ein Mädchen rief „Iiih!“ und übergangslos war der Platz von wütendem Geschrei erfüllt.

Richard hob den Kopf und wischte sich mit den Fäusten übers Gesicht, um klarer sehen zu können.

Mindestens hundert Augenpaare starrten ihn an. Männer, Frauen und vor allem Kinder. Zwei Dutzend Jungen und Mädchen standen auf einem Podest. Vor ihnen eine einzelne Frau – graue Kurzhaarfrisur, hellblaues Kleid mit einem Schweißfleck, der sich entlang ihrer Wirbelsäule ausbreitete: die Lehrerin, die bis zuletzt so eifrig gesungen hatte.

Erst jetzt schien sie mitbekommen zu haben, dass etwas nicht stimmte und wandte sich um.

Richards benebelter Verstand begann stockend zu erfassen, an welchem Ort er sich befand. Die Sommerferien waren vorbei. Dies war eine Einschulungsfeier für Erstklässler. Mit Eltern, Oma und Opa und den älteren Schülern, die soeben ihr eingeübtes Willkommensständchen abgebrochen hatten.

Eine düstere Wolkenbank schob sich vor die Sonne und nahm allen Farben die Intensität. Von Osten her drang Donnergrollen.

Richard hatte keine Ahnung, wie er hierher gekommen war. Einige der Erwachsenen schienen ihm vertraut. Er entdeckte einen Fotografen der Lokalpresse, der ihn mit der Kamera ins Visier nahm. Plötzlich begann sich die ganze Szenerie wie ein Karussell langsam zu drehen. Richard versuchte mit den Augen einen festen Punkt – einen metallenen Müllkorb – zu fixieren.

„Ich muss krank sein“, krächzte er entschuldigend mit einer Stimme, die wie ein rostiges Scharnier klang. Endlich gelang es ihm schwankend aufzustehen.

„Und ob, du Schwein!“, bellte eine Stimme von links und ehe er sich zur Seite wenden konnte, traf ihn ein Tritt in den Unterleib. Richard knickte ein wie ein Klappmesser, seine vom jahrelangen Sitzen am Schreibtisch mürbe gewordenen Kniegelenke gaben dabei ein Geräusch wie trockenes Holz, das zerbricht, von sich. Mit beiden Händen umfasste er seine Genitalien, die sich in glutflüssiges Blei verwandelt hatten. Und erst jetzt, als der Schmerz den Nebel in seinem Kopf abrupt gelichtet hatte und er an sich heruntersah, um zu prüfen, wie viel Schaden er dort unten davongetragen hatte, stellte Richard fest, dass er nackt war.

Bis auf einen winzigen schwarzen Lederslip mit einer kreisrunden Öffnung, aus der sein schlaffes Glied baumelte. Wie etwas, das nicht zu ihm gehörte.

Der Donner grollte jetzt lauter. Und viel näher.

Richards Verstand nahm sich eine Auszeit, unfähig zu verstehen, was hier geschah.

Der untersetzte Kerl, der ihn getreten hatte, stand mit geballten Fäusten und bebenden Lippen vor ihm. Ein Regentropfen klatschte auf seinen Schädel. Der Mann fuhr sich beiläufig mit der Hand durch das schüttere Haar, ohne Richard aus den Augen zu lassen. Der Fotograf war jetzt bis auf ein paar Meter herangekommen und hob erneut seine Kamera für ein paar Nahaufnahmen.

„Ni... ni..., nicht“, stotterte Richard. Da ließ ein neuerlicher Donnerschlag den Tag erbeben. Fette Tropfen klatschten vereinzelt auf den Asphalt des Schulhofs.

„Ich rufe die Polizei“, schrillte eine Frauenstimme. Die Chorleiterin in dem verschwitzten Kleid musterte ihn aus sicherer Entfernung mit einem Blick, als sei Richard ein Mensch gewordenes Ekzem. In ihrer rechten Hand hielt sie ein Handy.

Richard fragte sich, ob das alles nur ein Albtraum sei, als er lautes Fauchen vernahm. Als würde heißer Dampf aus einem Kessel entweichen. Plötzlich war er von grellem, purpurweißem Licht umgeben. Als würde er direkt in das Innenleben eines Halogenstrahlers starren.

Dann sah, hörte und fühlte er gar nichts mehr.

Der Körper eines Menschen enthält sechs Liter Blut. Das ist ausreichend Rot, um damit mein Lieblingszimmer anzustreichen.

Der Reisende

Spätherbst

Richard Gerling spähte aus dem Fenster. Auf der Straße, ein Stockwerk unter ihm, schob ein Mädchen ihr Fahrrad über das nass glänzende Kopfsteinpflaster. Es sah dabei aus, als hätte es den schönsten Tagtraum ihres bisher vielleicht fünfzehnjährigen Lebens. Richard fragte sich, wie viele Gründe es in seinen über vierzig Jahren gegeben hatte, um auch nur annähernd so versonnen durch seine ehemalige Heimatstadt Unna zu spazieren.

Erste Liebe ... die ersten Monate seiner Ehe ...

Das Letztere verneinte er. Eigentlich hatte er schon sehr schnell gespürt, dass er und Susanne niemals ein ganzes Leben gemeinsam verbringen würden. Nach ein paar Monaten konnte er nicht einmal mehr ihre Stimme ertragen. Es hatte ihm auch nicht das Geringste ausgemacht, dass Sex über Nacht bedeutungslos wurde. Zumindest mit seiner Frau. Nach der Scheidung hatte es ein paar Affären gegeben. Dabei war nichts von der Art gewesen, für das man in Lederslips und Hundehalsbänder schlüpfte und sich obendrein dermaßen abschoss, dass der Verstand vorübergehend zu einem weich gekochten Ei degenerierte.

Richard presste die Faust gegen die Stirn. Hinter seinen Schläfen pochte der Schmerz. So plötzlich und brutal, dass sich sein Blick verschleierte. Fast blind tastete er nach dem Sessel neben dem Fenster und ließ sich in die Polster sinken.

Es gab einen wirklich guten Moment in seinem Leben, erinnerte er sich, während er nach den Schmerztabletten griff: Als er vor fünfzehn Jahren das erste Exemplar seines Debütromans in Händen hielt, ihn aufklappte und am Papier und dem frischen Leim schnupperte, der die von ihm gefüllten Seiten zusammenhielt.

Richard steckte sich zwei Ibuprofen in den Mund, zerbiss sie und schaffte es die mehligen Krümel trocken herunterzuwürgen.

Das letzte Vierteljahr in Unna war Richard vorgekommen, als hätte man ihn halb wahnsinnig durch ein Labyrinth gezerrt, in dem hinter jeder Ecke eine feixende Fratze hervorlugte oder Gestalten mehr oder weniger verstohlen mit dem Finger auf ihn deuteten. Als er im Supermarkt von ein paar jungen Burschen rüde angerempelt wurde, ließ er sich die Lebensmittel nur noch ins Haus liefern. Aber das war kein Ausweg.

Er war berühmter als jemals zuvor. Allerdings nicht durch seine schriftstellerische Leistung, sondern durch das, was ihm widerfahren war. Etwas, das über seinen Auftritt in SM-Montur inklusive Erbrechen auf dem Schulhof einer Grundschule hinausging und die Angelegenheit für Boulevard-Blätter und die Skandal-Magazine bei den privaten Fernsehsendern zumindest für eine Weile interessant werden ließ.

Und Richard den Aufenthalt in seiner Heimat unmöglich machte.

Zum zwanzigsten Mal an diesem Vormittag fragte er sich: Was war damals geschehen? Wie war er in diese Situation geraten? Und vorallem: Wer hatte sich das Ganze ausgedacht?

Richard hatte die letzten Stunden vor seinem Blackout mühsam recherchieren müssen. Es kam ihm vor, als wären Teile seines Erinnerungsvermögens einfach gelöscht worden.

Er beugte sich vor, um einen letzten Blick auf das Mädchen mit dem Fahrrad zu werfen, dann betrachtete er das kreisrunde, blasse Mal auf seinem rechten Handrücken. Es schmerzte nie, ganz im Gegensatz zu seinem Schädel.

Darin war irgendetwas kaputt gegangen.

An dem Abend, bevor er sich auf dem Schulhof wiederfand, war er auf der alljährlichen Sommerparty seines Verlegers Klaus Sänger gewesen. Sänger feierte grundsätzlich am letzten Tag der großen Ferien.

Normalerweise mied Richard solche Veranstaltungen, aber dieses Mal hatte sein Verleger darauf bestanden und Richard wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen.

Auf der Party war es hoch hergegangen. Gut hundert Gäste wippten zur Live-Musik einer Jazzband und schütteten Longdrinks vom eigens engagierten Barmixer in sich hinein.

Richard vertrug nur wenig Alkohol und so war er sich ziemlich sicher, dass er es bei ein paar Gläsern Bier belassen hatte.

Natürlich waren auch Kollegen von Richard unter den Gästen gewesen. Vielleicht hatte sich einer von ihnen einen Scherz mit ihm machen wollen. Einen überaus drastischen Scherz mit K.-o.-Tropfen und SM-Montur.

Aber niemand wollte etwas bemerkt haben. Sein Verleger hatte vermutet, dass sich Richard einfach irgendwann klammheimlich davongeschlichen hatte.

Richard Gerling setzte sich wieder an den Schreibtisch. Er hatte ihn direkt unter das Fenster im Schlafzimmer gestellt, in der Hoffnung, inspiriert vom neuen Ausblick und in der Gewissheit in Sicherheit zu sein, wieder zu seinem alten Arbeitspensum zurückzufinden. Er hatte es immer geliebt, den Computer in der Nähe des Bettes aufzustellen. Früher war er immer wieder in der Nacht aufgewacht, den Kopf voller Ideen, die sofort in die Tastatur gehämmert werden mussten, ehe sie sich wieder verflüchtigten.

Heute war alles anders.

Richard starrte mit glasigem Blick auf den Computermonitor. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen zu einem undeutlichen Strichcode. Er würde wohl auch heute nicht einen einzigen Satz zustande bringen können.

Seit einem Monat lebte er in Döbeln, seinem Exil. Mit viel Akribie hatte er die Wohnung in der ersten Etage des Altbaus eingerichtet und war zurückgekehrt zu seiner ganz speziellen vorehelichen Form von Gemütlichkeit, die aus übervollen Bücherregalen, gestapelten Zeitschriften und bunten Tüchern an Wänden und Lampen bestand. Das heißt, eigentlich benötigte er nur einen Teil der Wohnung. Das Schlafzimmer mit Schreibtisch, Nachschlagewerken und Bett war sein Lieblingsort.

Die Wohnung wurde durch einen Flur in zwei Hälften getrennt. Schlafzimmer und das kaum genutzte Wohnzimmer zeigten zur Straße, während sich Küche, Bad und ein weiteres Zimmer, in das er sein überflüssiges Gerümpel gepackt hatte, auf der Rückseite des Hauses befanden.

Anfangs war Richard voller Elan gewesen. Endlich konnte er wieder auf die Straße gehen, ohne Gefahr zu laufen, beleidigt oder zumindest schief angesehen zu werden. Er mochte das Leben in der kleinen Stadt, ging zum Einkaufen auf den Wochenmarkt und beobachtete anschließend von einem Platz im Café die Menschen, wie er es früher immer in seiner Heimat getan hatte, um sich inspirieren zu lassen. Und er war davon überzeugt gewesen, die Inspiration gefunden zu haben, als er endlich mit einem neuen Roman begann.

Dann war der Einbruch gekommen. Zuerst verschlimmerte sich die Schlaflosigkeit und dann folgten sehr schnell Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen.

Bisher hatte Richard es nur auf eine halbgare Kolumne für eine Monatszeitschrift gebracht. Ihm war, als sei der letzte Rest Sinn aus seinem Leben gesickert. Der neue Roman, der Nachfolger seines Bestsellers, hing auf Seite 16 fest und er bezweifelte, ob auch nur eine dieser Seiten es wert war, gedruckt zu werden. Die Story erschien ihm banal, die Charaktere flacher als in jeder Heftchenreihe. Er glaubte niemals in die seelischen Abgründe eines Menschen eintauchen zu können, wie es beim letzten Buch gelungen war. Ihm wurde klar, dass sich dieser Coup nicht wiederholen ließ.

Richard vernahm ein Geräusch, zuerst ein Trippeln, dann ein emsiges Schaben. So, als würde sich etwas durch die Wand zu seiner Rechten graben. Er hatte es zum ersten Mal vor ein paar Tagen gehört und anfangs versuchte er sich einzureden, es seien Vögel, die es irgendwie geschafft hatten, in einen Zwischenraum zwischen seiner Wohnung und dem Nachbarhaus zu gelangen. Dort brüteten, um ihren Nachwuchs aufzuziehen. Aber Vögel legten ihre Eier nicht in den letzten Tagen des Oktobers ab und würden auch kein Interesse daran haben, sich Einlass in seinen Unterschlupf zu verschaffen.

Richard sprang so heftig auf, dass der Stuhl umfiel. Er holte aus und trat mit voller Wucht gegen die Wand. Er zielte auf einen Punkt direkt über der Fußleiste, wo der Abdruck seiner Schuhspitze bereits einen Schmutzfleck auf der weißen Raufasertapete hinterlassen hatte. Das Kratzen verstummte. Zumindest für eine Weile.

Er würde noch einmal den Vermieter anrufen und darauf drängen, dass sich endlich ein Kammerjäger der Sache annahm.

Billy

An manchen Tagen hieß der Mann Billy, obwohl er größten Wert darauf legte, dass ihn nie jemand so in seiner Heimatstadt Döbeln nennen würde. Billy klang für ihn niedlich und ... hilflos. Wie jemand, den man herumschubsen kann. Und benutzen.

Nach dem Abendessen mit seiner Mutter zog er heimlich den Latexslip an. Er konnte sich dann nur noch in kurzen, fast trippelnden Schritten fortbewegen. Der Latex schnürte seinen Unterkörper dermaßen ein, dass eine Erektion unmöglich war und die Erregung, die er schon beim bloßen Anblick des roten Slips fühlte, so schmerzhaft im Zaum gehalten wurde.

Seine zweiundachtzigjährige Mutter hatte heute darauf bestanden zu kochen, um wenigstens einmal in der Woche den in einer Aluminiumschale servierten und immer nur lauwarmen Gerichten aus der Großküche zu entkommen. Sie hatte Kohlrouladen gemacht. Versalzen, weil entweder ihre Geschmacksnerven nachließen oder den zitternden Händen das Dosieren nicht mehr gelingen wollte. Immer wenn Billy aufstieß, kroch der Geschmack des Kohls die Kehle hinauf. Er verabscheute das, stand dieses banale Kohlaroma doch zu sehr im Kontrast zu der schrillen und stimulierenden Welt, in die er sich in wenigen Stunden bis in den Morgen hinein begeben würde. Sekt, Wodka und Kokain würden den Mief des Alltags vertreiben. Und Schweiß, vielleicht auch ein klein wenig der Duft des eigenen Bluts.

Er hörte den heiseren Ruf seiner Mutter aus dem Parterre. Sie schaffte die Treppenstufen in die obere Etage schon längst nicht mehr. Nach dem letzten Schlaganfall war sie an den Rollstuhl gefesselt. Es war das Herz, aber sie hatte sich dem dringenden Rat der Kardiologen eine Operation durchzuführen vehement widersetzt.

Er akzeptierte die Entscheidung seiner Mutter, die kurze Zeitspanne, die ihr noch blieb, ohne eine solch qualvolle Prozedur verbringen zu wollen.

Den Einbau eines Treppenlifts hatte er allerdingsmit den Besonderheiten des alten Hauses abgelehnt. Sie hatte hier oben nichts zu suchen, das hier war sein Reich. Er betrachtete sich noch einmal im Spiegel seines Schlafzimmers, zog sich eine Jeans und ein Hemd über und sah ungeduldig auf die Armbanduhr. Vermutlich kam seine Mutter mal wieder nicht mit der Fernbedienung des Fernsehers zurecht und stand unmittelbar vor einer Panikattacke, weil sie Gefahr lief die ersten Sekunden von Florian Silbereisens Auftritt zu versäumen.

„Junge!“ Als er in den Flur trat, hörte er sie erneut krächzen. Sie klang nicht drängend oder vorwurfsvoll, wie noch vor wenigen Jahren, eher kleinlaut, als wollte sie ihrem viel beschäftigten Sohn nicht zur Last fallen. Sie hatte angesichts ihres dahinsiechenden Körpers erkannt, wie wichtig er für sie war.

Unter der Hose gab der Latex bei jeder Bewegung ein ganz leises Quietschen von sich. Es war an der Zeit, sich nach Dresden aufzumachen.

Richard Gerling schlief nicht. Er lag auf dem Bett und sah in die Dunkelheit. Seit zwei Wochen, in denen sich der Schlaf in jeder Nacht auf höchstens drei Stunden des Dahindämmerns beschränkte, versuchte er sich einzureden, dass dieser Zustand kein Grund zur Beunruhigung darstellte. Aber jeder weitere Morgen, der viel zu früh mit hängenden Lidern und schmerzenden Gliedmaßen begann, machte ihn nervöser.

Die Zeiger des Weckers standen auf zwanzig nach drei. Schon um zehn hatte er sich hingelegt, das Radio eingeschaltet und einen Sender mit Oldies und Schlagern ausgesucht, obwohl ihm an solcher Musik nicht viel lag. Die Lieder brachten keine Überraschungen, waren wie ein ruhiger Fluss, umrahmt von ebenso monotonen wie belanglosen Kommentaren des Moderators.

Das Radioprogramm hatte es ermöglicht, Richard zu einem kurzen Schlaf zu verhelfen, bei dem der Verstand nicht völlig abschaltete, sondern wie in einer Art Stand-by-Betrieb verharrte. Bereit, auf jedes ungewöhnliche Geräusch zu reagieren, und wie in nahezu jeder der letzten Nächte hatte es ein solches Geräusch gegeben. Vor etwa einer Viertelstunde war irgendwo etwas sehr Schweres mit einem dumpfen Poltern zu Boden gefallen. Richard war aufgeschreckt und zu verwirrt gewesen, um deuten zu können, woher das Poltern gekommen war. Er schüttelte nur unwillig den Kopf mit dem noch tauben Verstand, kaum fähig oben und unten, rechts oder links zu unterscheiden.

Im Radio schwatzte der Moderator von den Heiratsplänen einer Schlagerdiva, dann ertönte leise ein Stück von ihrem neuesten Album.

„Das war es dann für heute“, brummte Richard und schwang die Füße aus dem Bett. Er hockte noch eine Weile auf der Bettkante, drückte das Kinn gegen die Brust, faltete die Hände wie zum Gebet, während die grauen Haare zerzaust in alle Richtungen strebten. Richard war bereits mit dreißig ergraut und seit dem Vorfall vor einem Vierteljahr in Unna hatte er sich von seiner Stoppelfrisur verabschiedet und die Haare wachsen lassen, um seine alte Identität nicht nur mit einem neuen Namen zu verschleiern. Zusätzlich hatte er seinen Kinnbart abrasiert und die Kontaktlinsen gegen eine runde Nickelbrille eingetauscht. So war er Richard Gerling geworden. Bisher hatten es ihm die Döbelner abgenommen.

Richard schlurfte zum Fenster. In den Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite war nur ein einziges Fenster beleuchtet. Am Tage schaute dort häufig ein Rentner hinaus, stützte sich auf ein Kissen und beobachtete aus dem ersten Stock das Geschehen unter sich: spielende Kinder, Hausfrauen, die vom Einkauf zurückkamen und sich mit ihren vollen Tüten vom Discounter zu einem Schwatz auf dem Bürgersteig zusammenfanden.

Der Rentner trug auch an den kälter werdenden Herbsttagen nur ein altmodisches, weißes Unterhemd. Er schien ein Waffennarr zu sein, denn auch jetzt konnte Richard durch den Schleier der Gardine eine Reihe von Gewehren und einen Krummsäbel an der Wand hängen sehen. Wenn der alte Mann, Richard am Fenster bemerkte, hob er grüßend die Hand und Richard fand es ein klein wenig tröstend, dass außer ihm noch jemand – egal ob Waffenfetischist oder nicht – zu solch früher Stunde wach war.

Er stellte sich vor, wie sein Nachbar in diesem Moment in der Küche hockte, vor sich vielleicht eine Tasse Kaffee und ein Nachschlagewerk mit den Abbildungen historischer Karabiner und Pistolen.

Die Straße, die Richard mit ihren Bauten und dem Kopfsteinpflaster immer ein wenig an das alte Berlin vor dem Mauerfall erinnerte, lag ruhig im Licht der Laternen. Nur eine kleine Katze schlich geduckt über das Pflaster, hielt kurz inne und verschwand dann aus Richards Blickfeld. Vermutlich suchte sie einen Weg in das leer stehende Nachbarhaus, dem einzigen nicht renovierten Gebäude der ganzen Straße. Ein marodes Paradies für Ratten, direkt hinter der Wand von Richards Wohnung. Bei seiner Ankunft hatte es ihn an einen riesigen, faulen Zahn erinnert. Die Eingänge und Fenster hatte man mit Brettern vernagelt und an die Ruine schloss sich eine ebenfalls verlassene Fabrik an.

Richard hatte keine Ahnung, was dort zu Zeiten der DDR hergestellt worden war, aber vermutlich waren Abriss- und Entsorgungskosten zu hoch für potentielle Interessenten. Vielleicht würde die Fabrik noch ewig in parasitärer Vereinigung mit dem Wohnhaus vor sich hin verrotten.

Richard streckte die schmerzenden Arme bis die Gelenke knackten, als der Schrei eines Tieres das Gedudel aus dem Radio übertönte. Schrill, überschnappend und voller Todesangst.

Die Katze, fiel ihm ein. Er öffnete das Fenster, sofort drang ein Schwall kalter Luft durch den Spalt und ließ ihn frösteln. Er schlang den Bademantel um sich und lehnte sich weit vor, aber er konnte die Katze nicht entdecken. Vielleicht, sagte er sich, war sie im Kampf mit den Bewohnern der Ruine unterlegen. Wie um seine Vermutung zu bestätigen, begann wieder das emsige Kratzen hinter der Schlafzimmerwand.

Schlafzimmer und Küche seiner Wohnung waren Wand an Wand mit der Ruine der Ratten. Aber er hörte sie nur im Schlafzimmer. Es war, als hätten sie nur darauf gewartet, bis er sich den Raum nach seinen Vorstellungen hergerichtet hatte, um ihm dann den Nerv zu töten.

Er war nicht bereit, nur wegen dieser widerlichen Nager sein Hauptquartier zu verlagern.

Richard presste ein Ohr gegen die Wand und das Geräusch war mit einem Mal so laut und unmittelbar, dass er zurückschreckte. Er stand starr auf der Stelle, atmete hektisch und ballte die Fäuste.

„Scheiße!“, stieß er hervor und „Ich lasse euch umbringen!“

Als hätten die Ratten ihn verstanden, stellten sie ihre Arbeit abrupt ein.

Richard wankte in die Küche, er brauchte dringend etwas zu trinken. Im Kühlschrank befand sich nur ein halbleeres Tetrapack Milch. Richard nahm einen Schluck und spuckte die Milch angewidert in den Spülstein. Sie war sauer geworden. Die ständigen Kopfschmerzen und der Mangel an Schlaf machten es immer schwerer, Alltäglichkeiten wie den Kauf von Lebensmitteln zu bewältigen. Wenn er sich dazu aufraffte in den nächsten Supermarkt zu gehen, stand er ratlos zwischen den Regalen, unfähig sich daran zu erinnern, was er benötigte.

Richard spülte sich den Mund mit Wasser aus dem Kran aus. Er setzte sich an den Küchentisch und starrte das Bild an der gegenüberliegenden Wand an. Es zeigte einen norwegischen Fjord, dessen stahlblaues Wasser von einem winzig erscheinenden Fährschiff durchpflügt wurde.

Bei seinem ersten Urlaub in Norwegen hatte er sich gleich in das Land verliebt. Die Weite mit seinen wenigen und unaufgeregten Einheimischen schien wie für ihn gemacht. Er bevorzugte die Einsamkeit, hatte nie die Nähe vieler Menschen gesucht und fühlte sich in großen Städten, in denen sich im Sommer die Hitze staute, während sie in den kalten Monaten grau und abweisend wirkten, eingeengt.

Das Bild strahlte eine ungeheure Ruhe aus. Richard verlor sich darin, ohne es richtig wahrzunehmen, spürte nicht wie die Augenlider zu flattern begannen und er von einer Sekunde zur anderen einnickte.

Als er erwachte, wusste er nicht, wie lange er sitzend und den Kopf in die rechte Hand gestützt, geschlafen hatte. Die Nacht drängte sich noch immer ohne eine erste Ankündigung des Tages gegen die Fenster.

Aber etwas war anders. Alles um ihn herum wirkte unscharf. Er betrachtete den Tisch, den Küchenschrank und auch den norwegischen Fjord durch feinen Nebel. Richard tastete nach seiner Brille und setzte sie auf. Der Trübung verschwand nicht. Richard streckte die Hand aus, als könnte er den Nebel greifen, aber er fühlte nichts, nur schien seine Hand die Luft um ihn herum in Bewegung zu versetzen. Erstaunt stellte er fest, dass dieses Phänomen von farbigen Schlieren begleitet wurde. So, als würde er in einer öligen Pfütze rühren.

Das liegt nur an der Schlaflosigkeit, versuchte er sich einzureden, ohne verhindern zu können, dass sich sein Herzschlag beschleunigte. Vielleicht war es aber auch der Anfang von etwas, wovor er sich am meisten fürchtete.

Er vollführte mit dem Zeigefinger ein paar schnelle Drehungen und erzeugte dabei einen schillernden Strudel unmittelbar vor seinem Gesicht. Er schloss die Augen, aber der bizarre Anblick schien sich auf seinen Lidern eingebrannt zu haben.

Das Radio im Schlafzimmer spielte etwas von Vicky Leandros. Richard kannte das Lied aus seiner Kindheit. Doch die Stimme wurde von einem feinen Flirren begleitet. Ein Geräusch, das Richard zu seiner eigenen Verwunderung sofort mit Lametta assoziierte.

Veränderung der visuellen und akustischen Wahrnehmung, stellte Richard fest und stand kurz davor, laut aufzuschreien. Nur der Gedanke an den morgigenTermin bewahrte ihn davor. Er öffnete die Augen. Die Luft war klar. Zögernd streckte er die Hand aus, spreizte die Finger. Keine Schlieren.

Vielleicht ist es nur ein Wachtraum gewesen.

Maria

Ungefähr zwei Stunden nach dem Aufstehen fühlte er sich meistens am besten. Nicht frisch, geschweige denn vom kommenden Tag inspiriert, aber er war manchmal sogar rege genug, um am Computer ein paar Sätze zu konstruieren. Ab Mittag ließ seine Energie dann rapide nach.

Heute war es allerdings anders, die Erinnerung an die merkwürdigen Wahrnehmungsstörungen ließ ihn nicht los. Der Monitor blieb schwarz und Richard ertappte sich dabei, wie er immer wieder auf die Uhr blickte.

Um fünf Minuten nach neun hörte er den kleinen Fiat kommen. Er hatte extra eines der beiden Schlafzimmerfenster einen Spalt weit geöffnet, um die Ankunft nicht zu versäumen.

Unten vor dem Haus wurde der Motor abgestellt, dann öffnete sich die Fahrertür. Richard beobachtete, wie die Frau mit den schulterlangen braunen Locken aus dem Wagen stieg. Sie trug wie immer einen weißen Kittel. Richard schätzte sie aus der Entfernung auf Mitte dreißig. Sie hatte einen südländischen Teint und war nicht viel größer als ein Meter sechzig.

Er war sich darüber im Klaren, dass ihre zierliche Statur den Beschützerinstinkt in ihm auslöste, aber da war auch dieses Lächeln in ihrem Gesicht. Sie lächelte jeden Morgen ohne ersichtlichen Grund. Da war niemand auf der Straße, dem sie besonders freundlich gegenübertreten wollte, sie schien einfach in den Tag hineinzulachen.

Außerdem war er vernarrt in ihren Kittel.

Auf den Türen des roten Fiats klebten in weißen Buchstaben der Name, die Telefonnummer und die Internetadresse eines Pflegedienstes. Richard hatte auf der Internetseite ein Foto der jungen Frau entdeckt. Sie hieß Maria Couto dos Santos und Richard vermutete aufgrund des Namens, dass sie Portugiesin war.

Maria tauchte mit ihrem feuerroten Dienstwagen immer zwischen neun und halb zehn auf.

Jetzt war sie im Haus und er konnte hören, wie sie die Treppe bis in die Etage über ihm erklomm.

Außer Richard gab es in dem vierstöckigen Haus, wenn man das ausgebaute Dach als Etage mitzählte, sechs weitere Mietparteien. Im Parterre wohnte ein rüstiges Rentnerehepaar. Mehrmals am Tag führte der Mann einen Rauhaardackel aus. Mit so weit ausholenden Schritten, dass der kleine Hund mit seinen kurzen Beinen nur mühsam Schritt halten konnte. Die zweite Partei im Parterre bestand aus einer Familie mit zwei Mädchen im Grundschulalter. Die Kinder runzelten immer die Stirn, wenn sie ihn sahen. Als hätten die Eltern eine deutliche Warnung vor dem neu hinzugezogenen Kauz ausgesprochen.

Dem Mann, der offenbar allein in der zweiten Wohnung auf seiner Etage lebte, war Richard bisher nur dreimal begegnet. Er war fett. Nicht nur beleibt, sondern fett. Sein Kopf mit dem teigigen Gesicht wirkte wie die Imitation des Vollmondes, der halslos auf dem Kopf mit dem schwarzen Locken thronte. Die Finger glichen prallen Würsten.

Bei der ersten Begegnung vor der Haustür war Richard von der ungeheuren Leibesfülle so verblüfft gewesen, dass er den Mann unverhohlen angestarrt haben musste, bis sich sein Nachbar mit einem ärgerlichen Grunzen von ihm abgewandt hatte. Richard war sich seines unverschämten Benehmens sofort bewusst geworden, aber ehe ihm eine Entschuldigung eingefallen war, stürmte der Mann mit erstaunlicher Geschwindigkeit die Stufen hinauf. Dabei hatte sein Körper beinahe den gesamten Flur ausgefüllt, während dabei die hölzernen Stufen bedrohlich unter ihm ächzten.

Hin und wieder bekam er Besuch von einer älteren Frau. Die unüberhörbaren Geräusche, die dann wenig später folgten – ein Staubsauger im Einsatz, Geklapper von Geschirr – zeigten, dass in der Wohnung geputzt wurde. Vermutlich war die Frau seine Mutter. Ein einziges Mal hatte er den Mann mit seinem alten, gelben DDR-Moped losfahren sehen und befürchtet, das Ding würde unter ihm zusammenbrechen. Die meiste Zeit stand das Gefährt allerdings im Flur und verlor Öl.

Im zweiten Stock lebte ein junges Paar mit einem Baby. Richard hörte es manchmal in seinen zu langen Nächten weinen. Die Mutter, eine freundliche, junge Frau, hatte kürzlich angeklopft und sich dafür bei ihm entschuldigt. Er musste sich nicht verstellen, als er ihr sagte, dass ihm ein kleines Kind nichts ausmachen würde. Es waren andere Dinge, die ihm den Schlaf raubten. Aber das erwähnte er nicht.

Die andere, direkt über Richard gelegene Wohnung, war es, die von der Portugiesin täglich aufgesucht wurde. Ahrens stand auf dem Namensschild neben der Klingel, aber er wusste über die Bewohner nur, dass sie niemals die Wohnung verließen und offensichtlich pflegebedürftig waren.

Das Dachgeschoss war zur einen Hälfte Abstell- und Trockenraum, während in die andere Hälfte kurz nach seiner Ankunft in Döbeln zwei Frauen mittleren Alters eingezogen waren. Sie waren meistens unterwegs und wenn sie doch einmal zuhause waren, erkannte Richard das an dem blauen Trabant, der dann am Bordstein parkte.

Es störte Richard nicht, dass er so gut wie nichts über seine Nachbarn wusste. Der einzige Mensch, der bisher sein Interesse wecken konnte, war Maria Couto dos Santos.

Er ging in den Flur, hörte das Klirren ihres Schlüsselbunds, dann schlug die Wohnungstür hinter ihr zu.

Richard überlegte, wie viel er bei seinem Termin in wenigen Stunden preisgeben wollte. Beinahe alles, beschloss er. Sonst wäre es so, als würde ein starker Trinker auf die Frage des Arztes nach dessen Alkoholkonsum mit „Hin und wieder einen Schluck“ antworten.

Der Reisende 1

Wenn man von den anderen Menschen gemieden wird, nur misstrauische oder ängstliche Blicke erntet, dann braucht man sich auch nicht um sie zu kümmern.

So einfach ist das. Eine offene Feindseligkeit würden die sich nie erlauben. Oh nein! Die Leute wichen vor mir zurück, wagten keinen Protest, wenn ich mich an der Supermarktkasse vordrängte. Manchmal stieß ich ihnen absichtlich den Einkaufswagen in die Kniekehlen. Wenn sie sich dann entrüstet umwandten, ihre Fratzen nach einer Entschuldigung heischten, blickte ich sie völlig unbewegt an und sie wurden zu ängstlichen Schafen.

Ich musste ihnen einfach wehtun, wenn ich mich zu lange unter ihnen aufhielt.

Nur im Bett war es erträglich. Geschützt und warm, umgeben vom eigenen Geruch. Dort konnte man nachdenken, essen, fand Ruhe zur Entspannung. Stundenlang lag ich auf der Matratze und onanierte. Nur selten dachte ich dabei an Frauen, wusste ich doch aus eigener Erfahrung, dass sie ganz anders waren, als es die Filme vorgaukelten. Auch das war für mich eine Form von Betrug. Besser man mied Frauen und ging so allem Stress aus dem Weg.

Seit langem quälten mich Kopfschmerzen. Meistens verkroch ich mich dann unter der Bettdecke, aber heute war ich nicht dazu bereit, mir von den Schmerzen den Tag versauen zu lassen.

Mit nach vorn gebeugtem Oberkörper und geröteten Augen betrat ich die Apotheke.

„Schmerztabletten“, orderte ich grußlos. „Starke!“

Im Flur vor meiner Wohnungstür wurde ich dann von einer Gruppe Jugendlicher angerempelt. Ich erwischte einen von ihm am Arm und drückte mit aller Kraft zu. Ich konnte den Knochen unter dem Fleisch spüren. Der Junge verzog vor Schmerzen das Gesicht, Tränen schossen ihm in die Augen. Er versuchte vergeblich sich loszureißen, wurde geschüttelt und erhielt einen Stoß, der ihn straucheln ließ.

„Ihr seid wertlos!“, schrie ich und spuckte vor den Jugendlichen aus. Sie rannten erschrocken die Treppe hinab und einer rief mir aus sicherer Entfernung „Hurenbock!“ zu.

Diese elenden Feiglinge!

In meiner Wohnung zerkaute ich mehr Tabletten, als der Beipackzettel erlaubte und spülte sie mit Bier hinunter.

Es konnte Konsequenzen haben, wenn ich gegenüber solch einem Balg die Beherrschung verlor. Aufgebrachte Eltern standen dann vor meiner Tür, vorausgesetzt sie brachten den Mut dazu auf. Wahrscheinlicher war, dass sie mich bei der Polizei anschwärzten. Auf jeden Fall würde ich mich dann mit irgendwelchen Leuten herumschlagen müssen.

Es war immer das Gleiche, die Reaktionen so vorhersehbar. Alle in einen Topf und Deckel drauf. Traf man einen, traf man alle, brachte Unruhe in diesen erbärmlichen Haufen.

Das Dröhnen in meinem Schädel klang ab. Ich grinste und wusste genau um ihre Schwächen.

Spätfolgen

Die Praxis befand sich direkt an der Mulde, jenem kleinen Fluss, der bei langen Regenzeiten reißend werden konnte und die Stadt in der Vergangenheit mehr als einmal überflutet hatte.

Richard verharrte auf der Brücke und blickte in das jetzt träge unter ihm vorüber fließende Wasser. Er verfolgte mit den Augen einen treibenden Ast, der beinahe die Form eines menschlichen Oberschenkelknochens besaß. Nach ein paar Sekunden war das Stück Holz außer Sicht. Richard atmete einige Male tief ein und machte sich auf die letzten Schritte zur Praxis.

Dr. Joachim Busch – Psychiater stand auf dem Schild neben der Eingangstür. Die Auswahl an Experten war in Döbeln nicht groß gewesen. Es hatte Richard einige Überwindung gekostet sich an einen Psychiater zu wenden, aber er war Realist genug um zu wissen, dass seine Erlebnisse und die daraus resultierenden Probleme diesen Schritt schon in Unna erforderlich gemacht hätten.

Der elektrische Türöffner summte und Richard trat ein.

Diesen ersten Termin hatte er nur vier Tage nach seinem Anruf bekommen. Richard war froh, sich für eine private Krankenversicherung entschieden zu haben.

Eine Frau, die Richard auf jenseits der sechzig schätzte, trug seine Daten in eine grüne Karteikarte ein. Den Computer, der auf einem separaten Schreibtisch stand, ließ sie ungenutzt. Der Bildschirmschoner ließ schillernde Luftblasen über den Monitor schweben. Sie erinnerten Richard ein wenig an die öligen Schlieren, die er glaubte, in den frühen Morgenstunden in seiner Küche gesehen zu haben.

Die Frau, Richard überlegte, ob man sie als Assistentin oder Arzthelferin bezeichnete, gab ungefragt ein paar Bemerkungen zum Wetter und den allgemeinen Preissteigerungen zum Besten. Richard verhielt sich freundlich, aber wortkarg und konnte sich die Frau mit ihrer leicht ins lilafarbene neigenden Dauerwelle als chronische Klatschbase vorstellen. Sie führte ihn in ein helles Wartezimmer mit Aussicht auf den Fluss und er bereute es bereits hierher gekommen zu sein.

Nur wenige Minuten später hörte er die Stimmen zweier Männer. Der Psychiater verabschiedete einen Patienten. Richard wurde ein wenig ruhiger, als er feststellte, dass er ihn nicht zu Gesicht bekam, obwohl die Tür zum Flur nicht ganz geschlossen war. Es musste einen separaten Ausgang geben, um die Privatsphäre bestmöglich zu wahren. Wahrscheinlich würde er nie einem anderen Menschen im Wartezimmer begegnen. Jede Behandlung war exakt terminiert.

Schritte näherten sich. Ein groß gewachsener Mann in Richards Alter trat in das Wartezimmer, blieb lächelnd vor Richard stehen, der sich halb von seinem Stuhl erhoben hatte und streckte die Hand aus. Sie fühlte sich fest und vor allem trocken an, was Richard als angenehm empfand.

„Joachim Busch“, stellte sich der Psychiater vor. „Sie sind Herr Gerling.“ Eine Feststellung, keine Frage. Eine einzelne, schwarze Strähne hatte sich aus der geordneten Frisur gelöst und hing dem Mann in die Stirn.

Richard nickte. Dr. Busch umgab der Geruch von Nikotin und herben Rasierwasser. Statt eines weißen Kittels trug er ein hellblaues Hemd über der verblichenen Jeans.

„Kommen Sie, unterhalten wir uns ein wenig.“ Busch deutete mit einer Handbewegung zum Flur und blies sich die Haarsträhne aus der Stirn.

Das Behandlungszimmer erinnerte Richard an die verkleinerte Ausführung einer Warte-Lounge der ersten Klasse in einem Flughafengebäude. Zartblaue Wände, beinahe identisch mit dem Farbton von Buschs Hemd, zwei historische Stiche, die das alte Döbeln zeigten. Es gab zwei Sitzgruppen, die sich um jeweils einen niedrigen Glastisch mit Chromgestell platzierten. In einer Ecke stand eine filigrane Pflanze in einem fleischfarbenen Gefäß. Ein paar braune Tonkügelchen der Hydrokultur waren auf den silbergrauen Teppich gekullert und bildeten den einzigen Makel in dem ansonsten blitzsauberen Raum. Es gab keinen Schreibtisch, kein Regal mit Fachliteratur oder irgendwelche Behandlungsgeräte. Wobei Richard sich sofort fragte, wie er sich die medizinischen Gerätschaften eines Psychiaters überhaupt vorzustellen hatte.

Dr. Busch bat ihn Platz zu nehmen und Richard ließ sich in einen der behaglichen Sessel fallen.

„Sie sagten am Telefon, dass Sie an den Folgen eines Unfalls leiden.“ Busch hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. „Was für eine Art Unfall war das?“ Der Doktor lehnte sich zurück und sah ihn mit einem angedeuteten Lächeln an.

Richard schluckte hörbar, seine Kehle hatte sich in Sandpapier verwandelt. Zwei, drei Sekunden vergingen. Busch verzog keine Miene, nickte und schüttete dann ein Glas mit Wasser aus einer Kristallkaraffe voll.

„Danke“, krächzte Richard und nahm einen tiefen Schluck. „Ich wurde vom Blitz getroffen“, sagte er dann und suchte nach einer Reaktion in Buschs Gesicht.

„Mmm...“, machte Busch. „Wie lange ist das her?“

„Drei Monate.“

Der Psychiater musterte seinen Patienten. „Wie schwerwiegend waren die Verletzungen?“

„Es gab keine. Zumindest keine sichtbaren.“

„Was meinen Sie mit keine sichtbaren?“

Richard trommelte mit dem Zeigefinger einen nervösen Rhythmus auf der Sessellehne. „Ich war kurz bewusstlos.“

„Wie kurz?“

„Nur ein paar Minuten.“

„Ah... .“

„Aber ich glaube, dass der Blitz möglicherweise etwas in meinem Inneren ... in meinem Kopf angestellt hat. Ich habe recherchiert und dabei herausgefunden, dass es zu Spätfolgen kommen kann. Ungewöhnlichen Spätfolgen.“

Busch nickte. „Und Sie glauben an derartigen Spätfolgen zu leiden. Wie äußert sich das?“

„Ich habe häufig starke Kopfschmerzen und kann kaum noch schlafen.“

Der Psychiater zückte einen winzigen Schreibblock aus der Brusttasche seines Hemds und machte sich eine Notiz. So schnell, dass Richard vermutete, es gäbe ein medizinisches Kürzel für Schlaflosigkeit.

„Außerdem hatte ich heute Morgen eine visuelle Wahrnehmungsstörung.“

Busch war die Ruhe selbst. „Was ist geschehen?“

Richard schilderte den feinen Nebel in seiner Küche und die öligen Schlieren, die er mit seinen Bewegungen in der Luft erzeugt hatte.

„Das war das erste Mal?“, fragte Busch und brauchte diesmal etwas länger, um die Information auf seinem Block festzuhalten.

„Ja.“

Der Psychiater tippte sich mit dem Bleistift an die Nase. „Waren Sie nach dem Blitzschlag in medizinischer Behandlung?“

Richard zögerte kurz. „Ja ... ich wurde in der Ambulanz durchgecheckt.“

„Es gab keine weitere Behandlung?“

„Nein.“