Der Göttervogel Garuda - Sabine Hübner - E-Book

Der Göttervogel Garuda E-Book

Sabine Hübner

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Beschreibung

In einer der Kōan-Geschichten des Shōyōroku sagt ein chinesischer Zen-Meister alter Zeit zu einem übermütigen Mönch: «Der wunderbare Garuda, der König der Vögel, herrscht über das Universum. Wer von unsresgleichen sollte sich da vorwagen wollen?» Er fragt damit, wer es wohl wagen könne, sich mit dem Wesen der Welt, dem Absoluten, zu messen, ihm ebenbürtig oder gar überlegen sein zu wollen.

Dieses mythologische Wesen Garuda, halb Vogel, halb Mensch, steht für das absolute Wesen des Universums, für den Urgrund von allem, was lebt und existiert. Diesen Urgrund gilt es auf dem spirituellen Weg zu erfahren, zu verinnerlichen und sich so zu einem freien und glücklichen Menschen zu entwickeln.

Diesem Ziel dient die Schulung mit den Kōan. Diese kleinen Geschichten erzählen wahre Begebenheiten und Gespräche, die zwischen den großen chinesischen Meistern alter Zeit und ihren Schülern, den oft kühnen und mutigen Mönchen, einmal stattgefunden hatten, um diese bis in die Erleuchtung hinein und darüber hinaus zu schulen. Aber auch heute noch üben viele Zen-Schüler erfolgreich mit den klassischen Kōan des Shōyōroku. Das vorliegende Buch beinhaltet Kommentare zu diesen Kōan-Geschichten, die ursprünglich vor Zen-Schülern der Autorin als Teishō — Dharma-Vorträge — gehalten wurden. Mögen diese Texte auch allen Lesern, die auf der Suche nach dem Wunderbaren sind, Freude bringen und vielleicht auch ein wenig Wegweisung sein.

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Seitenzahl: 871

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Sabine Hübner

Der Göttervogel Garuda Teishōs zu den 100 Kōans des Shōyōroku («Niederschrift aus der Klause des Gleichmuts»)

Verlag Werner Kristkeitz

Ich widme dieses Buch in Dankbarkeit und Freude allen Wesen, die mir jemals Lehrer waren.

S. H.

Hinweis

Möglicherweise können Standardschriften nicht alle verwendeten Zeichen in diesem Buch korrekt wiedergeben. Es wird daher empfohlen, in den Einstellungen Ihres Lesegerätes die Verlagsschrift zu aktivieren.

Impressum

Revidierte E-Book-Ausgabe der gedruckten Fassung. Copyright © 2017-2023 Verlag Werner Kristkeitz, Heidelberg. Alle Rechte für sämtliche Medien und jede Art der Verbreitung, Vervielfältigung, Speicherung oder sonstigen, auch auszugsweisen Verwertung bleiben vorbehalten.

Umschlaggestaltung unter Verwendung einer Zeichnung von Karsten Reckziegel, Vorra bei Hersbruck. Copyright © Karsten Reckziegel 2017. Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-932337-70-3 (gedrucktes Buch)

ISBN 978-3-948378-24-0 (E-Book)

www.kristkeitz.de

Vorwort

Es gibt nichts, was nicht die WIRKLICHKEIT ist. Die WIRKLICHKEIT ist immer da. Dies zu erfahren, ist der Grund, weshalb sich Menschen auf den WEG machen. Es ist wahrlich eine Lebensaufgabe, da die WIRKLICHKEIT immer noch durchdringender und in immer neuen Lebenssituationen erfahren werden kann. Das Bemühen, die letztendliche WIRKLICHKEIT zu erfassen, kann sogar über die aktuelle Lebensspanne hinausreichen, und möglicherweise hat ein Wesen bereits vor dieser aktuellen Manifestation sich darum bemüht. Ist ein intuitives Verständnis bereits vorhanden, geht es hier um ein Wiedererkennen von WIRKLICHKEIT. Bemühen in diesem Sinn ist aber kein aktiver Prozess, vielmehr geht es um die Ausrichtung auf die wahre Natur des SEINS.

Die WIRKLICHKEIT steht für sich selbst. Die WIRKLICHKEIT ist die WIRKLICHKEIT. Die WIRKLICHKEIT bleibt die WIRKLICHKEIT – auch für ein Wesen, das sie noch nicht aus eigener Erfahrung kennt. Die WIRKLICHKEIT bleibt die WIRKLICHKEIT aber auch für ein Wesen, das sie erfährt. Die WIRKLICHKEIT zeigt sich immerzu.

Es kann sich nun für jemanden die Frage stellen, weshalb dafür eine kommentierte Kōan-Sammlung erforderlich ist. Die meisten Menschen wurden durch die Erziehung der Eltern, durch Schule, durch eine universitäre Ausbildung und durch sonstige Bildungs- und Erziehungseinrichtungen konditioniert. Ihnen wurde eingetrichtert, was Wirklichkeit sei und was Wirklichkeit nicht sein könne. Dazu muss erst einmal darauf hingewiesen werden, dass Erziehung, Bildung und Ausbildung erforderlich sind, um aktiv und kompetent am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Es ist wichtig, in den konkreten und sich ständig wechselnden Lebenssituationen durchzublicken und sich auszukennen. Das konkrete Lernen sollte nie beendet werden, da sich ständig alle Lebensbereiche verändern. Wir vermeiden dadurch eine naive Herangehensweise an das Leben. Eine umfassende Kenntnis von den Dingen und Situationen der Welt ist die Voraussetzung dafür, um sich auf anbahnende Entwicklungen vorzubereiten. Möglicherweise haben wir uns aber sogar selbst konditioniert. Damit meine ich, dass wir das, was uns von Lehrern und Ausbildern als Wissen vermittelt wurde, für die Wirklichkeit gehalten haben. Wir sind damit einer Verwechslung aufgesessen.

Es kann sich nun die Frage anschließen, was denn Wirklichkeit überhaupt ist. Die WIRKLICHKEIT beruht ausschließlich auf Erfahrung. Es ist die Erfahrung des SEINS an sich. Die WIRKLICHKEIT ist die WIRKLICHKEIT. Diese Tatsache zutiefst zu erkennen, ist quasi der Endpunkt an Erfahrung. Jemand, der die WIRKLICHKEIT als Erfahrungsqualität kennt, hat zutiefst zu sich selbst gefunden. Er ist zu dem geworden, was er erfahren hat. Er ist WIRKLICHKEIT.

Manche Menschen haben seit ihrer Kindheit eine intuitive Ahnung davon. Auch wenn sie sich im Lauf des Erwachsenwerdens und des Lebens scheinbar davon entfernen, verbleibt tief in ihrem Innern ein intuitives Wissen davon. Letztendlich geht es darum, dieses intuitive Wissen, das in ihnen scheinbar verborgen ist, wiederzuentdecken. Es geht aber nicht nur um die Wiederentdeckung. Es geht auch darum, die WIRKLICHKEIT in den Situationen des Lebens zu erfassen. Die Lebenssituationen, ob sie nun als leicht oder schwer empfunden werden, sind nicht getrennt von der WIRKLICHKEIT. Die Lebenssituationen sind die WIRKLICHKEIT.

Ein guter Zen-Meister hat eine profunde Kenntnis der menschlichen Psyche und der geistigen Fähigkeiten. Er sieht, wenn ein Wesen offen ist für die WIRKLICHKEIT, er erkennt aber auch ein Wesen, das sich verschließt und sich weigert, zur WIRKLICHKEIT vorzudringen. Die WIRKLICHKEIT kümmert das nicht. Jedoch wird ein Mensch, dem diese Erfahrungsqualität zu Eigen ist, ruhig, und er hat die Gewissheit, Lebensziel und Lebensbestimmung erreicht zu haben.

Wozu nun ist dazu eine Kōan-Sammlung dienlich? Zum einen haben wir exemplarische Beispiele dafür, wie tief erleuchtete Zen-Meister auf die WIRKLICHKEIT hinweisen. Ihr Anschauungsbeispiel eines nicht-konditionierten Handelns kann einen Domino-Effekt auf Menschen und andere Wesen ausüben, die dafür offen sind. Ihr von einengenden Konditionierungen bereinigter, klarer Geist kann durch die Jahrhunderte wirken. Da es auf der absoluten Ebene keine Zeit gibt, ist ihr Wirken stets präsent. Zum anderen kann es eine Freude sein, von Lebensgeschichten und Lebenssituationen zu erfahren, die nicht von einengenden Moralvorstellungen und störenden Konditionierungen geprägt sind.

Viele Menschen bringen zwar grundsätzlich die Bereitschaft mit, sich der WIRKLICHKEIT zu öffnen, beziehungsweise sie kennen sie bereits aus eigener Erfahrung, jedoch sind sie in diversen Situationen dieser letzten WIRKLICHKEIT gegenüber verschlossen. Die Ursache hierfür können seelische Verletzungen, andere Traumata oder einfach Unkenntnis und mangelnde Einsicht sein. Unter der Anleitung und Führung eines zur Empathie fähigen Menschen können Verletzungen heilen, und die Einsichtsfähigkeit eines Menschen kann befreit werden.

Vor allem die Auslegungen und Kommentare eines zeitgenössischen Zen-Meisters wie im vorliegenden Buch zeigen die vielfältigen störenden Einstellungen und diejenigen Handlungsweisen auf, die eben einer tiefen spirituellen Erfahrung im Weg stehen. Sie zeigen auf, wie Menschen sich selbst einem nicht-bedingten Glück versperren.

Die gegebenen Teishōs zeigen aber auch auf, dass eine heilsame, positive Veränderung und eine neue Ausrichtung auf ein glücklicheres und freieres Dasein möglich sein kann. Einer zunehmenden Entwicklung zu einem positiven und heilsamen Leben, das von Mitempfinden zu den fühlenden Wesen gekennzeichnet ist, sind prinzipiell keine Grenzen gesetzt.

Mit dem vorliegenden Werk von Teishō-Kommentaren zur klassischen Kōan-Sammlung Shōyōroku liegt uns nun die dritte von der Zen-Meisterin Sabine Hübner kommentierte Kōan-Sammlung vor. Sie entstand aus der Arbeit mit ihren Schülern. Alle Kōan wurden im Rahmen von Teishōs den Schülern und Zen-Übenden dargelegt.

Es ist das Bemühen der Zen-Meisterin Sabine Hübner, möglichst nahe an die Urfassung einer Kōan-Begebenheit heranzukommen. Dazu hat sie sich an den chinesischen Texten orientiert. In den Fällen, in denen dies nicht zum vollständigen Verständnis der Kōan-Geschichte genügte, wurde von ihr aufgrund eigener Erfahrung in den Kommentaren das jeweilige Kōan detailliert erläutert. In ihren Darlegungen geht es ihr aber auch darum, den Kern der Begebenheit zwischen Meistern und Schülern herauszuarbeiten. Sie beschreibt den geistig-seelischen Zustand eines Schülers, der für ihn existenziell wichtige Fragen an einen Meister stellt. Sie beleuchtet das Verhalten des noch nicht zur Erleuchtung Gekommenen, meistens eines Mönches. Weiterhin erfahren wir etwas über die Hintergründe und die Umstände, unter denen die Kōan-Begebenheit stattfand. Ihre Erläuterungen der Reaktionen und Antworten der Meister bringen uns deren geistige Größe, Klarheit und Brillanz nahe. Es wird klar, dass der erst durch die Interaktion erzeugte Spannungszustand zwischen Meister und Schüler zu einer höheren Bewusstseinsstufe des Schülers führen kann. Dies wird jedoch erst dann verständlich, wenn eine Kōan-Begebenheit in ihrer ganzen Komplexität dargestellt ist.

Man kann sich vielleicht fragen, wozu ein weiteres Kōan-Buch nötig sein soll, heißt es doch, dass, wenn ein Kōan durchdrungen, verstanden, quasi gelöst ist, damit alle Kōan durchdrungen seien. Im Prinzip ist das dann richtig, wenn einem Übenden auf dem WEG permanent beide Ebenen – die Ebene der Form und diejenige der Leerheit – gegenwärtig sind.

Die Aktivität unserer Sinne und die Erfordernisse des Alltags können jedoch dazu führen, dass der Mensch den Schwerpunkt seiner Aufmerksamkeit nach außen verlagert. Die Arbeit mit einem Kōan führt einen Menschen wieder zum Wesentlichen – zu seinem SELBST. Er erkennt, dass es seine eigene, manchmal unbewusste, Entscheidung ist, sich von sich selbst wegzuführen. Aufmerksamkeit und Energie sind untrennbar miteinander verbunden. Dabei baut stete Aufmerksamkeit vermehrte Energie auf. Ist ein Mensch in sich gesammelt, kann er sich in einen Samādhi-Zustand hineinentwickeln. Das heißt, er erfährt sich nun wirklich eins mit dem, was gerade ist.

Aus diesem Einssein heraus kann dann eine Sinneserfahrung zu einem Tor zur spirituellen Erfahrung werden. Jede Berührung, jeder Anblick, jeder Ton, aber auch jedes Geschmackserlebnis kann sich nun bis hin zum allertiefsten SEIN ausweiten. Gemäß buddhistischer Auffassung wird auch das Denken als Sinnesqualität angesehen. Ein Mensch, der sich nicht mehr mit den Inhalten seiner Gedanken und Gedankenmuster identifiziert, wird auch das Denken als das erkennen, was es zutiefst ist – eine Manifestation des unaussprechlichen SEINS. Es geht nämlich nicht – wie fälschlicherweise manchmal angenommen – um eine Abwesenheit von Gedanken, sondern vielmehr darum, deren wahre Natur zu erkennen. Spirituelle Erfahrung ist jedoch nicht unbedingt an eine Sinnesqualität gebunden. Sie ist frei von allem und kann von jedem Übenden in jedem Augenblick erfahren werden.

Ein fortgeschrittener Schüler des WEGES, also jemand mit bereits gemachter und von einem dafür autorisierten Lehrer bestätigten Satori-Erfahrung, kann noch eine Neigung haben, den Schwerpunkt seiner Aufmerksamkeit entweder auf das Formhafte oder auf die Leerheit zu legen. Er ist somit noch nicht ganz in seiner Mitte. Je mehr Kōan jedoch bearbeitet und vollständig durchdrungen wurden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sein Bewusstsein sich immer häufiger genau auf der Grenze, also am Schnittpunkt Form-Leerheit befindet. Dieser hat nun kaum mehr die Tendenz zu kippen.

Eine besondere Herausforderung liegt zudem in der Veränderung. Lebenssituationen ändern sich, der Mensch unterliegt einer stetigen Veränderung hinsichtlich seiner körperlichen, seelischen und geistigen Qualitäten. Ja sogar das Veränderte selbst ändert sich. Nichts bleibt gleich. Die Erfahrung, konkret die spirituelle Erfahrung, ist als Erfahrungsqualität stets die gleiche. In der Veränderung die Ausrichtung auf das Heilsame, das Starke, das Kraftvolle beizubehalten, ist eine Sache der Entscheidung, die es einem Wesen auch in schweren und schwierigen Lebenssituationen ermöglicht, seine Ur-Natur zu erkennen.

Verfügt ein Mensch bereits über eine tiefe Einsicht in das Wesen der Welt, kann er sich glücklich schätzen. Er hat einen Schatz tief in seinem Inneren. Dies ist für ihn Motivation und Antrieb. Jede Lebenssituation kann nun zu einem Ansporn werden, seine spirituelle Einsicht weiter zu vertiefen und auszubauen. Es gibt hier keinen Endpunkt, an dem alles erreicht wäre.

Es ist das Bemühen und die Absicht der Zen-Meister, Menschen in die spirituelle Erfahrung zu führen. Möge diese von Sabine Hübner kommentierte vorliegende Kōan-Sammlung des Shōyōroku den Lesern Freude, Inspiration und geistige Nahrung sein.

Mögen alle Wesen glücklich sein!

OM AHUM!

Norbert Emmendörfer

Hinführung zum Text

Der Name dieses Buches, «Der Göttervogel Garuda», ist einem der Kōan-Geschichten entnommen, die in diesem Buch behandelt werden. Der Garuda ist ein mythologisches Wesen, halb Mensch, halb Vogel, in der hinduistisch-buddhistischen Welt und in deren Sagen, Legenden und Traditionen. [→ 1] In seiner körperlichen Erscheinung finden die Menschen sich in ihm wieder, als König und Gott der Vögel jedoch ist er das überragende und ewige Ur-Wesen des Weltalls und wird auch als Buddha verehrt. In der Vogel-Erscheinung mit den gewaltigen Flügeln steht der Garuda sinnbildlich für das Absolute, das allem Dasein zugrunde liegt, es trägt und in allen Bereichen der Welt zugleich zu Hause ist – im Himmel, auf der Erde und in der Tiefe des Meeres, wo der Göttervogel die Schlangen als Ausdruck des Bösen verschlingt. Er steht sinnbildlich für den ewigen Urgrund aller Dinge und Wesen des gesamten Universums. Hierbei geht es also um unser aller SEIN. Die mythologische Gestalt des Garuda wird nicht durchgehend in diesem Buch behandelt, wohl aber das, wofür er im spirituellen Sinn steht. [→ 2]

Die Kōan-Sammlung Shōyōroku[→ 3] , «Niederschrift aus der Klause des Gleichmuts», was sich auf den Namen der Einsiedelei – «Klause des Gleichmuts» – bezieht, in welcher der chinesische Zen-Meister Hongzhi Zhengjue [→ 4] die hundert Kōan zusammengestellt hat. Hongzhi war ein Sōtō-Meister, der sich übrigens in freundschaftlichem und positivem Stil mit der Rinzai-Schule auseinandergesetzt hat. Gerade aus dem Shōyōroku des Hongzhi Zhengjue geht deutlich hervor, worauf auch Sōtō-Meister großen Wert gelegt haben, nämlich mithilfe der Kōan die Zen-Schüler zur Erleuchtung zu führen. Die Kōan-Sammlung Shōyōroku ist wie auch die anderen Kōan-Sammlungen der Sōtō-Schule einer der Beweise hierfür. Mit dieser Tatsache werden alle Streitereien darüber, welche Zen-Schule «besser» sei, Sōtō oder Rinzai, sinnlos. Beide Schulen haben wundervolle Übungen und Techniken, welche die Zen-Praxis der Schüler erleichtert und wirkungsvoller macht. Das Ziel ist immer, dass die Menschen auf ihrem WEG zur Erfahrung ihrer eigenen Wesensnatur, nämlich der Buddha-Natur, die auch das Wesen der Welt ist, geführt werden.

Schließlich gibt es immer wieder in jeder Schule fähige Meister und fähige Schüler. Auch in unserer «Zen-Schule des Westlichen Himmels» wird mit Kōan gearbeitet. Die Kommentare zu den Kōan in diesem Buch wurden den Schülern als Teishō vorgetragen. Sie sind also direkt ein Gruß an die Welt von dem Zendō, aus dem sie stammen.

Einige der Teishō wurden überwiegend für anwesende Zen-Lehrer gegeben, denn auch sie, ebenso wie alle Zen-Meister, sind weiterhin und über ihr irdisches Leben hinaus auf dem WEG des immer tieferen Erwachens.

Die Zusammenstellung des Shōyōroku beinhaltet in ihrem chinesischen Original außer den eigentlichen Kōan zu jeder dieser Begebenheiten auch einen kurzen Kommentar und ein Gedicht. Es werden in der hier vorliegenden Arbeit aber nur die eigentlichen Kōan des Shōyōroku selbst behandelt, weil weitere ausführliche Kommentare den Rahmen der hundert Kōan-Auslegungen sprengen würden.

Mögen die Dharma-Darlegungen allen Menschen, die diese Arbeit in den Händen halten, Beistand und Hilfe für ihr Leben, aber auch Rückenstärkung für Zen-Schüler auf dem Kōan-Schulungsweg sein!

Sabine Hübner

1 • Der Buddha besteigt das Podium

Eines Tages bestieg der Welt-Erhabene das Podium. Mañjuśrī schlug mit dem Hammer auf den Holzklotz und sagte: «Seht klar den Dharma des Dharma-Königs! Der Dharma des Dharma-Königs ist genau dies!»

Daraufhin stieg der Welt-Erhabene wieder vom Podium herab.

In alter Zeit stieg ein Meister auf das Podium, eine hölzerne Erhöhung im Vortragssaal, um vor der Schülerversammlung eine Dharma-Unterweisung, also ein Teishō, zu geben.

Yamada-Rōshi, Willigis Jäger-Rōshis ausbildender Zen-Meister, berichtet in seinem Hekiganroku folgende Gepflogenheit früherer Jahrhunderte und Jahrtausende: Zur Zeit des Śākyamuni Buddha und auch später noch war es üblich, dass ein auf dem Erleuchtungsweg weit entwickelter Schüler oder Assistent, auf jeden Fall ein erleuchteter Mönch, das Teishō ankündigte, indem er drei Mal auf einen Holzklotz schlug und rief: «Ehrwürdige Mönche, die ihr hier versammelt seid, achtet jetzt gut auf das Erste Prinzip!»

Ein solcher Holzklotz begegnet uns immer wieder in vielen alten Zen-Geschichten und Kōan-Texten. Er ist ähnlich dem Schlagbrett in unserem Zendō, dem Han, und hat auch eine ähnliche Funktion. Er hämmert den Schülern ein, aufzupassen, dass ihnen nicht dieser jetzige kostbare Augenblick entgeht.

Die Worte, die den ehrwürdigen Mönchen eingehämmert wurden, sind von gleicher Bedeutung wie die des Mañjuśrī in unserem Kōan. Genau dies hier, genau dies jetzt! Hier ist das Erste Prinzip erfahrbar, hier der Dharma-König! Jeder Augenblick gibt dem Menschen, wo und in welcher Situation auch immer er sich gerade befindet, die Chance dazu. Die Worte des Mañjuśrī, die unser Kōan uns mitteilt, wurden aber üblicherweise erst nach Beendigung des Teishō gesagt und nicht am Anfang! Gab es also bei Buddhas Dharma-Unterweisung nur das Schlusswort, und das, ehe er überhaupt ein Wort gesagt hatte? Wir kommen noch darauf zurück, was es mit dieser Begebenheit auf sich hatte.

Liebe Schüler, was ist das Erste Prinzip? Es ist die Basis, es ist der Urgrund für alles Entstehende und für den immer wieder stattfindenden Vorgang des Entstehens im Universum. Das Erste Prinzip ist aber auch der Urgrund für den ständig stattfindenden Vorgang des Vergehens aller Dinge im Universum.

Das Erste Prinzip ist also die Basis, ist der grundlose Urgrund für alles, was geschieht. Dieser Urgrund benötigt keine weitere Bedingung, keinen Grund. Darum ist das Erste Prinzip der grundlose Urgrund. Das Erste Prinzip ist auch der Urgrund dessen, dass wir hier sitzen und lauschen.

Unser Text, den wir vor jedem Teishō rezitieren, weist uns ebenfalls genau hierauf hin: Jetzt können wir den Dharma erfahren und nicht erst in hunderttausend Jahren. [→ 5]

Wenn dann der erleuchtete Mönch, in unserer Kōan-Geschichte Mañjuśrī, die Unterweisung des Meisters mit seinen oben zitierten Worten angekündigt hatte, folgte nun die Dharma-Lehre.

Nach Beendigung des Teishō wiederholte sich das Zeremoniell mit dem Hammerschlag, und der ehrwürdige Mönch rief seinen Dharma-Brüdern zu: «Seht klar den Dharma des Dharma-Königs! Der Dharma des Dharma-Königs ist genau dies!»

Nun verstehen wir die Geschichte etwas klarer: Śākyamunis Dharma-Unterweisung wurde üblicherweise vorweg mit einer Ermahnung an die Mönche angekündigt und am Schluss mit einer entsprechenden Ermahnung bestätigt, mit etwa der Bedeutung: «Ehrwürdige Schüler, passt auf, passt auf, passt auf, dass ihr es mitbekommt!»

Der Bodhisattva Mañjuśrī steht für Erleuchtung und Gelehrsamkeit. Ein erleuchteter Gelehrter lebt nicht mit Texten, Worten und Buchstaben im Kopf, sondern hat auf seinem Weg des Erwachens eben genau das Erwachen in die Wirklichkeit der Welt erfahren, das, worüber Worte nur zu sprechen versuchen, es aber nicht können.

So lebt in jedem Menschen, der diesen Stand erreicht hat, der Bodhisattva Mañjuśrī. Wir können also sagen, dass als der Buddha auf das Podium gestiegen war und dort saß, immer Mañjuśrī den Mönchen die Worte zurief: «Seht klar den Dharma des Dharma-Königs! Der Dharma des Dharma-Königs ist genau dies!»

Wer ist der Dharma-König? In der Kōan-Geschichte ist der Dharma-König Śākyamuni Buddha, der schweigend auf seinem Platz sitzt. Mañjuśrī weist die Versammlung der Schüler darauf hin: «Seht! Seht!»

Der Dharma-König ist aber auch und vor allem das uns Menschen immanent befindliche Buddha-Wesen, eben unsere Basis, unser eigener Urgrund, der wir sind. So weist Mañjuśrī die Mönche auch auf sich selber, nämlich sie selber, nämlich den eigenen Urgrund der Mönche, hin.

Als der Bodhisattva sein Wort gesprochen hat, steigt der Welt-Erhabene vom Podium herab. Das Teishō ist beendet.

Was bedeutet das? Hatte der Buddha nichts gesagt? Worin bestand dann sein Lehrvortrag? Was trug er vor? Warum rief der Bodhisattva den Zuhörern das Schlusswort und nicht das Anfangswort zu? Hat Mañjuśrī sich nur vertan? Hat er die Texte verwechselt?

Nein, und das ist ganz überdeutlich! Die Sache findet ganz einfach nur so statt: Der Welt-Erhabene betritt das Podium und setzt sich auf seinen Platz, um Teishō zu geben. So sitzt er still – und schweigt. Er sagt nichts.

Dies ist seine Dharma-Unterweisung.

Das wortlose Wort der Ewigkeit lässt sich sehen.

Dies ist das Erste Prinzip.

Dieser Augenblick ist vollkommen. Ihm fehlt nichts.

Ihm muss nichts hinzugefügt werden.

Dieser Augenblick ist das absolute Sein.

Der Anblick des Meisters ist der Anblick der Wesensnatur.

Der Anblick selbst ist die Wesensnatur. Alles Weitere wäre zu viel.

Die Mönche schauen auf den Buddha, ihren Meister. Sie sind in seinen Anblick versunken.

Dieses wunderbare Erlebnis bietet sich uns allen unser ganzes Leben lang ohne Unterbrechung dar. Wir alle bestehen selbst aus unserer Wesensnatur, aus dem Sein. Unser Sein ist vollkommene Wahrnehmung. Wir bestehen also aus der vollkommenen Wahrnehmung. Sie ist unser Wesen. Wozu sollten wir immer wieder auf mehr warten? Warum auf etwas anderes warten, auf etwas anderes schielen, etwas anderes wollen, als auf das zu achten, was jetzt gerade ist? Warum uns ungeduldig auf etwas anderes versteifen, das doch schnell kommen soll? Warum nicht einfach immer wieder nur still wahrnehmen? Wahr-nehmen? Dasjenige wahrnehmen, was jetzt eben gerade in dieser aktuellen Sekunde kommt? Mit dem Greifen in unseren inneren Speicher, wo das alte, schimmelnde Zeug aus längst vergangenen Jahren vor sich hin stinkt, nehmen wir ja doch nur un-wahr und nicht wahr. Also versinken wir stattdessen doch lieber immer wieder still in diesen jetzigen Augenblick und nehmen wahr! Überlassen wir uns doch ruhig diesem aktuellen Jetzt!

Überlassen wir uns der Wahr-Nehmung einer ziehenden Wolke! Überlassen wir uns der Wahr-Nehmung des Rauschens eines Heizkörpers! Nehmen wir still den Anblick eines kleinen Kindes wahr! Nehmen wir in tiefer Stille den eigenen Atem wahr! Überlassen wir uns dem eigenen Herzschlag!

Nehmen wir aber auch den Hammerschlag zutiefst wahr! Jetzt und peng! Der Hammerschlag ist ein prachtvolles Dharma-Tor!

Es liegt an uns selbst, ob wir unserem inneren Wesen, das vollkommene Wahrnehmung ist, eine Chance bieten, oder ob wir diese reine Wahrnehmung fast totschlagen mit Unsinn aller Art, nur um ja nicht unserer Wahren Natur begegnen zu müssen.

Nicht das Wesen der Welt enthält uns etwas vor, nicht Gott enthält sich uns vor, und nicht der Welt-Erhabene hat vielleicht geflunkert mit seiner Dharma-Lehre. Es liegt an uns selbst: Was ist unsere Priorität? Eine kleine Gier auf etwas Nettes zu naschen? Eine größere Gier auf ein neues Auto, ein besseres als das des Nachbarn? Eine schwelende Wut auf einen gehässigen Mitmenschen, die uns immer wieder den Seelenfrieden raubt? Eine Eifersucht, ein Neid, weil uns scheinbar etwas weggenommen und jemand anders gegeben wurde? Eine dumme und täuschende Idee, an der wir uns festgebissen hatten, die nun all unser Handeln bestimmt, obwohl uns dies gar nicht glücklich macht?

Oder ist unsere Priorität einfach nur der jetzige Augenblick, wie er sich uns eben darbietet, und mehr nicht?

In diesem Augenblick liegt doch der ganze Himmel, die Seligkeit, das Sein. Wir können jeden Tag immer wieder neu dieses wundervolle Jetzt erfahren, das uns direkt den Himmel auf Erden zeigt.

Als der Bodhisattva Mañjuśrī den Welt-Erhabenen auf dem Podium sitzen sieht, schlägt er mit dem Hammer auf den Holzklotz und sagt zu der Versammlung der Mönche: «Seht klar den Dharma des Dharma-Königs! Der Dharma des Dharma-Königs ist genau dies!»

Ja, kann man denn auch den Hammerschlag sehen? Auf jeden Fall sieht das Dharma-Auge den Hammerschlag! Ist der Hammerschlag der Dharma-König? Selbstverständlich ist er das! Oder ist Śākyamuni der Hammerschlag? Selbstverständlich! Ist die tiefe Stille des Welt-Erhabenen ein Hammerschlag? Unbedingt! Das Dharma-Ohr sieht immer und ewig und ohne Unterbrechung die tiefe Stille des Hammerschlags!

Mañjuśrī hat den richtigen Augenblick erkannt! Der richtige Augenblick ist genau dieser. In diesem Augenblick schlägt er mit dem Hammer und sagt: «Der Dharma des Dharma-Königs ist genau dies!»

Mit dem Dharma-Auge hören alle Mönche, und mit dem Dharma-Ohr sehen sie den Dharma des Dharma-Königs! Dies ist die vollkommene Wahrnehmung, die nicht einmal physische Augen und Ohren benötigt.

Die Augen und die Ohren unseres Körpers sind nur der Weg, der Einstieg zur vollkommenen Wahrnehmung.

Die Unterweisung ist gegeben, und der Welt-Erhabene tritt vom Podium ab.

Was ist aber mit uns? Bestehen auch wir aus vollkommener Wahrnehmung? Selbstverständlich bestehen auch wir aus dieser vollkommenen Wahrnehmung! Sie ist unsere Identität!

Nur – merken sollten wir es noch.

Dorthin aber führt wiederum unsere ständige Übung in den jetzigen Augenblick. Mit jedem Augenblick der Übung kommen wir dem Erwachen zu uns selbst ein Stück näher.

Das aber ist nicht «näher woandershin», sondern «näher hierher».

Nur hier bei uns selbst können wir den ersehnten Schatz heben und nirgendwo anders.7"

2 • Bodhidharmas «Vollkommen leer»

Kaiser Wudi aus der Liang-Dynastie fragte den Großmeister Bodhidharma: «Was ist der höchste Sinn der Heiligen Wahrheit?»

Bodhidharma sagte: «Weit und leer, keine Heiligkeit.»

Der Kaiser sagte: «Wer bist du der da Uns gegenüber?»

Bodhidharma sagte: «Ich weiß es nicht.»

Der Kaiser war ihm nicht gewachsen.

Schließlich überquerte Bodhidharma den Yangtse und kam in das Königreich We.

Später fragte der Kaiser den Edlen Baoji nach seiner Meinung. Baoji sagte: «Weiß Eure Majestät nicht, wer dieser Mann ist?»

Der Kaiser sagte: «Ich weiß es nicht.»

Baoji sagte: «Er ist der Mahāsattva Avalokiteśvara, der das Siegel des Buddha-Geistes übermittelt.»

Da reute es den Kaiser, und er wollte Bodhidharma durch einen Boten zurückholen.

Baoji sagte: «Es hat keinen Sinn, dass Eure Majestät ihn durch einen Boten zurückzuholen versucht. Selbst wenn alle Leute im Land ihm nachliefen, würde er nicht umkehren.»

Bodhidharma war der achtundzwanzigste und letzte indische Zen-Meister in der Dharma-Linie des Śākyamuni Buddha, auf die sich auch alle Zen-Linien gründen. Sein Meister, der Ehrwürdige Prajñādhara, bei dem Bodhidharma noch lange blieb, nachdem er bereits durch Prajñādhara bestätigt worden war, sandte seinen hervorragenden Schüler und Dharma-Nachfolger, Bodhidharma, nach China, um dort den Buddha-Dharma zu lehren.

So fuhr Bodhidharma eines Tages in einem kleinen Schiffchen über das Meer von Indien nach China und wurde dort der neunundzwanzigste Patriarch in der Linie von Śākyamuni und Mahākāśyapa, und er wurde der erste Zen-Patriarch in China.

Als Erstes machte er dem Kaiser Wudi, der in Nanking residierte, seinen Höflichkeitsbesuch. Es heißt sogar, der Kaiser habe diesen heiligen und erleuchteten Mönch aus Indien zu sich eingeladen, ohne allerdings dessen wahre Geistesgröße zu kennen. Er war sehr neugierig auf diesen Mann, von dessen Existenz er durch Hörensagen wusste. Von der Begebenheit um das Treffen zwischen den beiden Männern handelt unsere Kōan-Geschichte.

Bodhidharma kniet oder steht dem Kaiser gegenüber, der ihn fragt: «Was ist der Sinn der Heiligen Wahrheit?»

Bodhidharma antwortet: «Weit und leer, keine Heiligkeit.»

Der Kaiser versteht es nicht. Es heißt, der Kaiser ist ihm nicht gewachsen.

In einer anderen Übersetzung heißt es: «Der Kaiser konnte sich nicht in ihn finden.»

In dem gleichen Gespräch spielt sich sogar noch mehr ab. Der Kaiser hatte schon vor Bodhidharmas Erscheinen in China den Buddhismus in seinem Reich verbreitet. Er hatte Klöster und Tempel gebaut und in diesem Zusammenhang viele gute Werke getan. Er war ein guter Herrscher.

Der Kaiser fragte seinen Gast, den Bodhidharma: «Welche Verdienste habe ich mit meinen edlen Taten erworben?»

Bodhidharma antwortete: «Keine Verdienste.»

Nun, das war für den Kaiser einfach zu viel. Er fühlte sich brüskiert und fragte grimmig: «Wer ist das da Uns gegenüber?»

Bodhidharma sagte schlicht: «Ich weiß es nicht.»

Damit zeigte Bodhidharma dem Kaiser die vollständige Lehre, den vollständigen Dharma des Buddha. Der Kaiser begriff jedoch nichts. Da selbst die tiefgründigsten und wahrsten Worte nicht die grundlegende Wirklichkeit zeigen oder sagen können, begriff er nichts, denn er hing noch an Worten fest. Obwohl er ein braver Buddhist war, der Klöster gebaut und gefördert hatte, war er spirituell nicht entwickelt. Seine Religiosität beschränkte sich auf äußere Taten.

Einem Menschen, der für die Erfahrung reif gewesen wäre, hätte Bodhidharma auch sagen können: «Was gibt es heute Mittag zu essen?» oder: «O, ist das eine Hitze heute Mittag!» Jedes Wort wäre recht gewesen. Oder es hätte auch überhaupt keine Worte gebraucht, um diesen Menschen zu erleuchten.

Beim Kaiser Wudi war aber jedes noch so wahre Wort nutzlos.

So geht es den meisten Menschen, die auf zwei Beinen auf diesem schönen Planeten herumlaufen. Sie kriegen nichts mit, ob sie nun Bettler oder Kaiser sind. Einige Bettler sind allerdings leicht im Vorteil.

Liebe Leute, wenn ich jemanden von euch frage: «Wer bist du?», was könnte derjenige antworten?

«Ich bin Stefan»? Das genügt nicht, das ist ja nur der Name, nicht die Identität!

«Ich bin ein Elektrotechniker»? Das ist nur der Beruf, aber nicht die wahre Identität!

«Ich bin ein Ehemann»? Das ist nur der Familienstand, aber nicht das Wahre Wesen.

«Ich bin Ehefrau»? Das ist ebenfalls ein Familienstand und nicht die unveränderliche Wirklichkeit.

Ja, was dann?

«Ich bin Deutscher»? Nein, das ist nur die Nationalität. Die ist austauschbar.

«Ich bin Bürger»? – «Ich bin Nachbar»? – «Ich bin ein Helfer, ein Retter»? – «… ein Dharma-Lehrer»? – «ein Godō»? Nein, alles das sind nur Rollen, die wir spielen, mit denen wir uns umkleiden.

Aber – was sind wir nun wirklich? Buddhas? Engel? Heilige? Biester? Quäler? Nein, nein! Das sind Rollen, das sind Masken. Rollen und Masken sind austauschbar und können darum nicht unsere wahre Identität sein. Aber was dann? Was oder wer sind wir?

Was sind wir, wenn wir eine Amnesie erleiden? Wir wachen morgens auf und wissen nicht mehr, wer und wo wir sind! Was ist dann? Wo ist dann unsere Identität geblieben? Solche Erlebnisse gibt es öfter. Manche solcher Menschen geraten dann in Verzweiflung, weil sie glauben, sie hätten keine Identität mehr. Einige von ihnen glauben zu wissen, wer sie sind, weil es in ihrem Pass steht. Na, was für ein Unsinn das ist! Wenn sie einen neuen Pass bekommen, wer sind sie dann? Welche Identität ist dann ihre eigene? Ich würde sagen, diese Fakten sind doch austauschbar! Während Schauspieler sich in ihre Rolle vertiefen, glauben sie, was sie darstellen. Sie spielen vorübergehend, sie wären jemand anders.

In Wirklichkeit sind wir also nicht die Rollen, die wir spielen. Wir sind auch nicht die Masken, die wir der Welt von uns zeigen. Bodhidharma wusste, dass seine wahre Identität nichts ist, was einem rationalen oder einem auswendig gelernten Wissen unterliegen kann – und auch keiner Rolle und keiner Maske. Und so sagte er auf die Frage des Kaisers schlicht: «Ich weiß es nicht.»

Der Kaiser seinerseits glaubte ja von sich selbst, er sei Kaiser. Und so hatte er erwartet, dass Bodhidharma sagen würde, er sei ein Untertan, ein Besucher, ein Reisender, ein Gelehrter, ein Brahmane, ein Prinz, was wirklich sein Stand gewesen sein soll, ein Hindu, ein Buddhist – oder sonst etwas, was der Kaiser in seinem Gehirn erwartet oder vermutet haben mochte. Vielleicht glaubte er auch, sein Gegenüber mit den wilden roten Haaren und dem dicken roten Bart, den großen, runden Augen sei ein Verrückter. Wer weiß!

Bodhidharma wusste es jedenfalls nicht. Was wusste er? Nun, eben nichts, aber – er kannte sich! Er kannte sein Wahres Wesen! Er war sich selbst urvertraut. Und damit kannte er die Welt. Diese Erfahrung ist ein Zustand und keine Annahme, aber dieser Zustand ist nicht beschreiblich oder auch nur aussprechbar. Es ist ein Seinszustand. Es ist Welt-Sein.

Nicht der Erkennende, nicht der Erfahrende kannte oder erfuhr etwas, sondern – niemand war da, der etwas kannte oder erfuhr. Es gab nur das Kennen, es gab nur das Erfahren. Keine Person war da, keine Rolle, keine Maske. Wie hätte Bodhidharma diese Tatsache, die ja nicht einmal mit einer Handlung oder einer Sache zu tun hat, dem Kaiser gegenüber mit menschlichen Worten ausdrücken können?

Bodhidharma bemerkte, dass der Kaiser, wie es heißt, ungehalten war und «sich nicht in ihn finden» konnte. So ging Bodhidharma einfach fort und kehrte nie mehr zu dem Kaiser Wudi aus der Liang-Dynastie zurück.

Er überquerte den Yangtse, reiste in den Norden Chinas und ließ sich im Shaolin-Kloster nieder.

Der Kaiser blieb verwirrt und verärgert zurück. Er bekam die Sache nicht klar: Was für ein Mann im Mönchsgewand hatte ihn da aufgesucht?

Nach einiger Zeit fragte der Kaiser den Edlen Baoji am Hof nach seiner Meinung über diesen merkwürdigen Mönch namens Bodhidharma. Baoji antwortete: «Weiß Eure Majestät denn nicht, wer dieser Mann ist?»

Der Kaiser sagte: «Ich weiß es nicht.»

Baoji sagte: «Er ist der Mahāsattva Avalokiteśvara, der das Siegel des Buddha-Geistes übermittelt.»

Da bereute der Kaiser bitter, dass er den großen Weisen aus Indien so kalt und unhöflich hatte abfahren lassen, und er wollte Bodhidharma sofort durch einen Boten zu sich zurückrufen.

Baoji sagte ihm jedoch: «Es hat keinen Sinn, dass Eure Majestät ihn durch einen Boten zurückzuholen versucht. Selbst wenn alle Leute im Land ihm nachliefen, er würde nie wieder umkehren.»

Der Kaiser blieb in Traurigkeit zurück.

Ja, so manches Fehlverhalten wird ein Leben lang bereut.

Seit dem ersten Nachfolger des Buddha, dem Ehrwürdigen Mahākāśyapa, wurde jeder weitere Nachfolger in dieser Linie durch seinen Meister ausgebildet und als Linienführer eingesetzt. Es ist also sehr wichtig, dass jeder Meister in einer solchen Linie spirituell tief erfahren sein muss, um auch einen erleuchteten Nachfolger heranziehen zu können, um diesem, wie es heißt, eines Tages den Dharma auf die Schultern zu legen.

Als Bodhidharma nach China kam, war er der Linienführer nach seinem eigenen indischen Meister, Prajñādhara, dem 27. Patriarchen in der Linie des Śākyamuni Buddha. So antwortete der gebildete Edle Baoji dem Kaiser auf dessen Frage nach Bodhidharmas Identität: «Dieser Mann trägt den Buddha-Geist in der Dharma-Linie des Welterhabenen weiter.» Wörtlich soll er gesagt haben: «Er ist der Mahāsattva Avalokiteśvara, der das Siegel des Buddha-Geistes übermittelt.»

Das Siegel in diesem Zusammenhang ist wie ein Stempel im Geist eines solchen Menschen. Gemeint ist damit, seine Erleuchtung ist unwiderruflich und unabänderlich sicher, stabil und nie wieder aufzuheben. Er ist nicht mehr den Bedingtheiten unterworfen. Er ist und ist und ist. Sein spiritueller Zustand ist so in ihn hineingeprägt wie eine Tätowierung in die Haut, nur dass eine Tätowierung eben von außen gegeben wird, die Erkenntnis des eigenen Wesens und des Wesens der Welt aber nur von innen kommen kann. Niemand kann einem solchermaßen beschaffenen Menschen seinen Zustand wieder wegnehmen.

Nur die Bestätigung eines Schülers durch seinen Meister kommt – wenn auch nur scheinbar – von außen.

Hierzu herrscht – vor allem in den westlichen Ländern – ein ungeheuer großer Irrtum: Hier glauben die Zen-Leute, ein einmal erfahrenes kleines Satori sei bereits die große Erleuchtung. Ich würde sagen, dies ist eine kleine, oft winzige, vielleicht ja trotzdem auch echte Erleuchtungserfahrung. Sie ist nicht sehr erheblich. Wenn eine Zen-Schülerin sagt, sie hätte zum ersten Mal in ihrem Leben einen Butterkeks gegessen, kann ein Zen-Meister diese Erfahrung ja möglicherweise als echt erkennen und anerkennen. Es ist aber wahrscheinlich kein überzeugendes Satori. Nach einer einmaligen und kleinen Erleuchtungserfahrung ist auf jeden Fall der Mensch noch nicht tief greifend gewandelt, hat noch nicht seinen irdischen Bewusstseinsspeicher aufgeräumt, vor allem, wenn nicht eine gründliche Psychotherapie dem Zen-Weg voran ging. Oft ist ja eine kleine Erleuchtungserfahrung vorhanden, aber lediglich mit ihr allein werden meistens die alten psychischen Probleme nur immer weiter vor sich her geschoben. Es ist selbst bei einigen Zen-Meistern ein Missverständnis, dass auch mit einem kleinwinzigen Satori alle psychischen Schwierigkeiten auf immer aufgehoben seien, der Mensch glückselig und nun ein Erleuchteter sei. Alle Neurosen seien auf immer verschwunden, und nie wieder würden den Armen Traurigkeiten oder gar Depressionen plagen. Ja, man glaubt hier im Westen sogar, dass Psychosen mit einem kleinen Satori restlos verschwinden. Vor allem hätte der solcherart «erleuchtete» Mensch ab jetzt einen guten Charakter. Dazu muss ich sagen, dass stattdessen vorhandene Psychosen und ähnlich schwere Störungen zugleich mit einem Satori, vor allem einem gewaltsam forcierten Satori, in ungeheure Größen anwachsen oder auch zum ersten Mal ausbrechen können. Ebenso empfindet derjenige sich selbst, nämlich sein Ich, ebenso überwältigend groß wie seine geistigen Störungen. Er meint, alle anderen Menschen zu überragen. Einige solcher Personen glauben, ein Buddha oder ein Christuswesen geworden zu sein. Das nennt man dann eine Ich-Inflation.

Besser und viel sicherer ist es auf jeden Fall, was auch der Buddha dringend empfohlen hatte, nämlich rechtzeitig seine «alten psychischen Sachen» erfolgreich aufzuarbeiten und erst dann mit spirituellen Übungen zu beginnen.

Wenn ein weitgehend psychisch und geistig Gesunder eine überzeugende Erleuchtungserfahrung macht, wird das ein wundervoller Schritt auf seinem Weg und in Richtung des genannten Siegels sein. Diese Erfahrung braucht wie jede echte Erleuchtungserfahrung Jahre der Ausreifung, damit die Früchte der Erfahrung reifen können. Ohne das wäre alles andere für die Katz.

Ein in Wahrheit tief erleuchteter Mensch sagt in aller Demut auf die Frage, wer er ist: «Ich weiß es nicht.»

Manchmal sagt er auch, was in seinem Pass steht, oder er nennt seinen Namen – aber solches sagt er nur in dem Wissen, dass er nicht weiß, wer er ist, dass er nur durch Erfahrung kennt, wer oder was er ist. Er weiß, dass er nicht jemand Bestimmtes und auch nicht jemand Unbestimmtes ist. Er weiß, dass er nur ist. Nur das Sein, das er ist, bleibt übrig. Und das ist nicht etwas, und das ist nicht jemand.

In welchem glückseligen Zustand befindet sich dieser Mensch! In welcher Freude spielt er seine Rollen in der Erfahrung dessen, dass er nicht weiß, wer er ist, auch wenn er sich genau kennt!

3 • Ein indischer König lädt den Patriarchen ein

Ein König im Osten Indiens lud den 27. Patriarchen, Prajñādhara, zu einem buddhistischen Festessen ein. Da fragte ihn der König: «Warum rezitierst du keine Sūtras?»

«Mein Einatem verweilt weder in der Welt der Subjekte noch in der Welt des Bewusstseins. Mein Ausatem verirrt sich nicht in der Welt der Objekte. Trotzdem rezitiere ich unentwegt Millionen und Abermillionen Schriftrollen von Sūtras», antwortete Prajñādhara.

Prajñādhara (sanskr.; jap. Hannyatara) war der 27. Patriarch in der indischen Linie der Meister nach Śākyamuni Buddha. Insgesamt gab es 28 Patriarchen in Indien. Der 28. Patriarch, Bodhidharma, war zugleich der 1. Zen-Patriarch in China. Bodhidharma war der Schüler und Nachfolger des 27. indischen Patriarchen Prajñādhara, von dem die Begebenheit in unserem heutigen Kōan handelt. Nachdem Bodhidharma ein Mann mit sehr tiefer Einsicht in das Wesen der Welt war – alle seine Handlungsweisen und alle seine Worte, die wir kennen, zeugen davon –, können wir davon ausgehen, dass auch sein Lehrer, Prajñādhara, von starkem Geist war. Lehrer und Schüler waren einander ebenbürtig. Diese Geschichte, die wir hier haben, zeugt von der Kraft des Prajñādhara.

Ein König im Osten Indiens, heißt es hier, also ein Mahārāja, lud den Patriarchen Prajñādhara zu einem buddhistischen Festessen ein. Um welches Fest es sich handelt, wird nicht berichtet. Während des Festessens fragte der Mahārāja den Patriarchen: «Warum rezitierst du keine Sūtras?»

Sūtras sind die Lehrreden des Buddha, die immer wieder und wieder wörtlich auswendig rezitiert wurden und so nicht in Vergessenheit gerieten, ehe sie später, als der Buddha schon hinübergegangen war, durch Ānanda aufgeschrieben wurden. Ānanda hatte ein hervorragendes, wie man das heutzutage nennt, fotografisches Gedächtnis. Alle Mönchsgenerationen seit Śākyamuni Buddha rezitierten und rezitieren die Sūtras. In den verschiedenen buddhistischen Schulen werden teilweise unterschiedliche Sūtras bevorzugt und rezitiert, entsprechend dem, welche der Sūtras dem Verständnis und Selbstverständnis der jeweiligen Schule entspricht.

Auch wir rezitieren Sūtras, wie es im Zen üblich ist. Neben den im Zen traditionellerweise üblichen Sūtras rezitieren wir in unserem Zendō auch noch einige Texte aus dem Theravāda und dem Tibetischen Buddhismus. Ich habe auch nichts dagegen, hin und wieder Texte aus weiteren spirituellen Richtungen zu rezitieren, wenn sie die Zen-Übung und die Einsicht der Übenden vertiefen.

Es ist also auf der ganzen Welt in den Zendōs üblich, Sūtras zu rezitieren.

Anscheinend tut dies der 27. Patriarch, Prajñādhara, nicht. Der König fragt ihn: «Warum rezitierst du denn keine Sūtras?» Er wundert sich.

Zwar ist ein Sūtra nicht unbedingt immer intellektuell zu verstehen, aber umso eher kann es ungeprüft und ungefiltert durch die Glaubenssätze, die uns in unserer Kindheit durch die Erziehung unserer Autoritäten mitgegeben wurden, und ungestört durch die womöglich verbogene Ratio in die Tiefe unseres Wesens dringen.

Immer wieder und wieder sagen wir zum Beispiel im Herz-Sūtra: «Form ist Leere – Leere ist Form.»

Die Ratio kann uns das nicht erklären. Wie könnte eine Form, ein kompaktes Ding, das vielleicht noch vollgestopft mit anderen Dingen ist, leer sein? Denn die menschliche Ratio ist nicht der reine Geist.

Da fragt sich die doch oft so unwissende Ratio: Wie könnte Etwas – Nichts sein?

Wie kann Etwas zugleich Nichts sein?

Wir verstehen es nicht. Wie kann ein Ding kein Ding sein?

Und doch ist es so.

Sūtra-Texte solcher Art – und das sind fast alle, die wir rezitieren – sind mit dem Verstand nicht auszuloten. Es ist unmöglich.

Und doch – in unserer Tiefe wohnt der innere Meister, die Wesensnatur.

Unsere Wahre Natur, ebendieser innere Meister, erkennt sich selbst in den Worten der Sūtras wieder. Dieses eigene innere Wesen erkennt: «Sie sprechen von mir» – und: «Sie sprechen die Wahrheit.» Das ist dasselbe.

Viele Zen-Schüler haben zu mir schon etwa so gesagt: «Ich weiß, dass es so ist, dass alle Dinge leer sind, dass alle Dinge eins sind – und ungetrennt von mir selber. Ich verstehe es bloß nicht. Dass es aber doch so ist, das ist mir trotzdem klar.»

Das sagen auch Menschen, die noch gar kein bewusstes Satori erfahren haben! Sie wissen es trotzdem, so wie das ganze Universum Bescheid weiß! Welches Selbstvertrauen wir deswegen haben könnten – und welch staunende Liebe zu unseren Mitwesen!

Ja, das innere Wesen weiß Bescheid. Es zweifelt nicht. Nur der menschliche Intellekt, der sich für so herrlich hält, wenn er mit dem Ego verklebt ist, zweifelt ohne Ende an der Wahrheit, die doch ganz schlicht und einfach zu sehen ist. Wenn daher ein Sūtra bei der Rezitation für den menschlichen Verstand unverständlich bleibt, der Wesensnatur aber völlig klar ist, kommt es direkt und auf geradem Wege in das innere Wesen und wirkt dort langsam und sicher. Es ist darum auch gar nicht notwendig, über die gesprochenen Worte und Sätze nachzudenken, sondern sie einfach nur zu sprechen, so wie wir auch atmen oder wie wir das «Mu» strömen lassen, nämlich unter Ausschluss der Ratio, die immer alles verstehen will, aber nicht kann. Weil sie nicht verstehen kann, bastelt sie sich Unsinn aller Art zurecht und hält diesen Unsinn für Weisheit. Es ist bedenklich.

Die beste spirituelle Übung ist daher die nichtgegenständliche, also das Zazen, weil wir hierbei eben nicht über ein Objekt nachdenken können und somit auch nicht auf der dualistischen Ebene hängen bleiben müssen. Würden wir das trotzdem versuchen, wäre es kein Zazen. So soll auch die verbal ausgesprochene Wahrheit der Sūtras nicht intellektuell und philosophisch durchgekaut, sondern vor allen Dingen erfahren werden!

Die Hinführung dafür ist eben die Sūtra-Rezitation.

Wurde schließlich vom Schüler authentisch erfahren: «Form ist Leere – Leere ist Form», so mag er meinetwegen dieses Wort nachträglich auch intellektuell behandeln, ohne Schaden zu erleiden.

Ich habe von einem Zen-Meister gehört, der zusammen mit seiner Schülergruppe Zen-Texte und Kōan intellektuell, nämlich in Gespräch und Diskussion, behandelt, nachdem er ihnen vorher die Lösung gesagt hat! Das ist sehr tollkühn von ihm, denn so ist nicht unbedingt die Gewähr gegeben, dass die Schüler Selbstwesensschau von allein erreichen. Die Erleuchtung wird in den Sand gesetzt, allermindestens aber erheblich erschwert.

Während meiner eigenen Kōan-Arbeit wollte ich im Dokusan gern immer wieder einmal auch selber ein Kōan erklären, nachdem ich meinem Meister die gewünschte Antwort gegeben hatte. Er sagte dazu: «Mich interessiert nicht, ob du es erklären kannst oder nicht. Ich rede, und du hörst mir nur zu!», und gab mir die Belehrungen seinerseits. Ich sollte nur zuhören. Natürlich war das keine Nahrung für den Intellekt. Nichts, worüber sich raffiniert und gerissen diskutieren ließe.

Möglicherweise war die Sache in dem Kloster des 27. Patriarchen auf ähnliche Weise wie eben geschildert eingerissen und entgleist. So könnte es gewesen sein: Die Mönche behandelten die alten buddhistischen Texte, die Lehrreden des Buddha, intellektuell und diskutierten miteinander darüber. Vielleicht stritten sie sogar, und es gab Kämpfchen und Kriegchen. Es gibt in einer buddhistischen Richtung im Studium sogar Noten für das «Disputieren». Ob dieses aber wohl zur Selbstwesensschau führt? Führt es zu einem spirituellen Leben? Oder führt es möglicherweise eher zur Aufgeregtheit des Geistes und gar zu Rechthaberei und Rivalität? Es sollte mich freuen, wenn dem nicht so wäre, ich bin aber etwas misstrauisch gegenüber dem intellektuellen Kämpfen um geistige Dinge.

Aus einem solchen Anlass hat Prajñādhara vielleicht die Sūtra-Rezitationen – unter Umständen auch nur für eine Weile – eingestellt. Es gibt noch einige Meister, die – aus ähnlichen Gründen wie den eben genannten – nicht rezitieren lassen. In Japan soll es einen alten Zen-Meister geben, bei dem nur gesessen und niemals gesprochen wird.

Es gilt, meine ich, einen förderlichen Mittelweg zu finden und nicht ein Extrem zu praktizieren.

Was meinen aber nun der königliche Gastgeber des Prajñādhara und der Meister selbst? Rezitiert Prajñādhara wirklich keine Sūtras mit seinen Mönchen?

Liebe Schüler, die ganze Sache verhält sich vollkommen anders, als sie scheint: Alle Dinge sind leer, und die Lebewesen sind leer! Der König und der Meister – auch sie sind leer! Und sie wissen es! Gibt es nun keine Sūtra-Rezitation beim ehrwürdigen Prajñādhara? O doch, es gibt Sūtra-Rezitation!

Aber es ist niemand da, der rezitiert. Nirgendwo ist eine Person, die etwas tut.

Nirgendwo ist ein handelndes Ich.

Es ist niemand da, der rezitiert.

Einfach keiner da.

Wenn in Prajñādharas Zendō rezitiert wird, ist da niemand, der rezitiert, sondern nur Rezitieren findet statt!

Eine prachtvolle Rezitation füllt die Halle.

Eine vollkommen leere Rezitation füllt die leere Halle, die doch immer nur leer bleibt.

Nur Sūtra-Rezitation findet statt, absolut leere Rezitation.

Wenn ihr auf der Straße in tiefer Versunkenheit geht, geht in Wirklichkeit nicht ihr! Es ist ja niemand da, der geht! Nein, da alle Wesen und auch ihr völlig leer seid, gibt es da nur Gehen, aber niemanden, der geht.

Wir alle sind aus Nichts gebildet.

Wir alle bestehen aus Nichts.

Wenn wir reden, ja scheinbar reden, ist in Wirklichkeit niemand da, der redet, nur Reden findet statt.

Es gibt also auch niemanden, der schläft, nur Schlafen gibt es.

Niemand ist da, der in einem Buch liest, nur Lesen ist da.

Ist auch kein Buch da? Ja, ja, ein Buch ist da, aber es besteht ebenfalls aus Nichts. Das Buch ist ein Nicht-Buch, ein Kein-Buch. Nur in diesem Sinn ist es ein Buch.

Hier spricht niemand, nur Sprechen findet statt. Viele Schüler machen die erstaunliche Erfahrung, dass sie mitten in ihrem Sprechen entdecken, dass da überhaupt kein Ich mehr ist, das spricht, und doch hören sie das Sprechen, das aus ihrem Mund kommt; und sie fragen verblüfft: «Wer spricht da? Wer spricht da?»

Niemand da, nur Sprechen. Sprechen spricht.

Alle Dinge sind leer, sogar Rezitation ist leer, der Meister ist leer, die Mönche sind leer, die Sūtras sind leer.

Die Straße ist leer, niemand geht dort, aber Gehen findet statt – und das Gehen ist vollständig leer. Kennt ihr die Erfahrung?

Und wiederum – das Reden ist leer, niemand da, der redet, nur das vollkommen leere Reden findet statt. Kennt ihr die Erfahrung?

Schlafen ist auch leer, es ist niemand da, der schläft, aber Schlaf findet statt, ganz und gar leerer Schlaf.

Prajñādharas Meditationshalle ist leer, die Sūtras sind leer, die Mönche sind leer, und Prajñādhara ist leer. Niemand ist da, und doch findet Rezitation statt!

Ja, wenn alles leer ist, gibt es dann die Wesen und Dinge nicht?

Ich sage es mal so: Ja, es gibt sie, aber sie bestehen aus vollkommenem Nichts.

Zu leugnen, dass es die Welt gäbe, ist nicht die ganze Wirklichkeit. Ja, es gibt sie, und manchmal stoßen wir uns den Kopf an den scharfen Ecken und Kanten der Welt. Und doch ist die Welt aus Nichts gebildet. Sie ist eine Nicht-Welt, und diese Nicht-Welt ist ganz real, nämlich wirklich. Schein ist nur, die Welt irrtümlich für eine Welt vieler voneinander unabhängig existierender kompakter Dinge und Lebewesen zu halten. Diese eingebildete Welt, die wir, die Menschheit, kollektiv für die reale Welt halten, gibt es so nicht.

Kürzlich habe ich den Titel eines Buches von Hans-Peter Dürr gelesen, der lautet: «Es gibt keine Materie.» Das ist absolut stimmig! Es lässt sich inzwischen sogar naturwissenschaftlich nachweisen. Trotzdem ist der Buchtitel allein eine noch unvollständige Aussage, aber das weiß der Autor auch: Alle Dinge, die da sind, sind aus Nichts, aus dem göttlichen Nichts, gebildet, sind aus dem unausgeformten Bewusstsein gebildet, sind aus Geist gebildet. Und so gibt es sie und gibt es sie nicht. Beides stimmt, nur eines von beidem allein wäre die unvollständige Sicht und die unvollständige darüber gemachte Aussage.

Wie es sich aber auch mit Prajñādhara verhält – gesprochen hat er, wie wir gleich sehen können, ja doch. Was hat er getan? Er hat gelebt. Er hat gegessen, getrunken und geschlafen. Er ist spazieren gegangen. Er hat seine Schüler unterwiesen. Er hat seinen Gästen liebenswürdig Tee angeboten. Er hat seine Blumen gegossen. Er hat bei allem, was gerade stattfand, ruhig und tief geatmet. So hat er die Buddha-Natur ausgedrückt. Das war seine Sprache! Das war seine Rezitation.

Er sagt auf die Frage, warum er denn keine Sūtras rezitiere: «Mein Einatem verweilt weder in der Welt der Subjekte noch in der Welt des denkenden Bewusstseins. Mein Ausatem verirrt sich nicht in die Welt der Objekte. Trotzdem rezitiere ich unentwegt Millionen und Abermillionen Schriftrollen von Sūtras.»

Einatem und Ausatem – ohne sie ist keine Rezitation.

Ein- und Ausatem rezitieren die Sūtras!

Er hat sich dabei nicht festgehängt. Und die Sūtras sind geströmt.

Der Atem ist das Leben. Das Leben rezitiert!

Jedes Einatmen ist Rezitation, jedes Ausatmen ist Rezitation.

Dies sind die Abermillionen Sūtra-Rollen der Welt.

Prajñādhara ist nicht Jemand, und so ist niemand da, der Sūtras rezitiert.

Ein starker, ruhiger Atem – welch eine prachtvolle Sūtra-Rezitation, ohne sich entweder in die Form noch in die Leerheit zu verirren!

Prajñādhara erklärt, dass sein Atem sich eben gerade nicht an nur einer unvollständigen Sicht der Welt verliert. Er sagt damit: «Ich lebe zugleich in beiden Welten, der Welt der Form und der Wesenswelt der Leerheit, und ich hänge nicht an einer der beiden Erfahrens-Ebenen der Welt fest. Ich hänge nicht am Bedingten, und ich hänge nicht am Unbedingten. Ich hänge nicht am Sein, und ich hänge nicht am Nicht-Sein. Ich hänge nicht am reinen Bewusstsein und nicht an den Objekten. So hänge ich auch nicht an den Sūtras.

Und doch – und gerade deshalb – rezitiere ich unentwegt Millionen und Abermillionen Schriftrollen von Sūtras.»

Ja, dies geschieht, ohne dass ein Ich in Erscheinung tritt. Bekommt ihr es mit? Kein Ich!

Der Patriarch rezitiert Abermillionen Schriftrollen von Sūtras! Wie macht er das? So macht er das! Ob der König das wohl verstanden hat? Der Patriarch verirrt sich nicht in der Sūtra-Rezitation, o nein, er steckt nicht fest in der Erscheinungsform der Dinge, da er die Leerheit der Wesensnatur in allen Dingen erfährt. Die Wesensnatur wiederum spielt Rezitation in Millionen und Abermillionen Worten, Lauten und Klängen.

Ihr kennt das Wort aus dem Lied auf Zazen:

Als Form, die Nicht-Form ist, sind wir nie irgendwo anders,

ob wir kommen oder gehen.

Als Gedanke, der Nicht-Gedanke ist,

sind selbst Gesang und Tanz die Stimme des Dharma.

Jedes Wort, jedes Lied, jeder Gedanke, jeder Tanz – sind die Stimme des Dharma, sind Gottes Wort.

Und da die Wahre Natur im ganzen Universum absolut und nirgendwo nicht absolut ist, singt und tanzt jedes Wort, jedes Lied, jeder Gedanke und jeder Laut immer nur die Sūtras.

Noch einmal: Was sind Sūtras?

Sūtras sind Buddhas Lehren, sind die Lehren der Buddha-Natur, sind die kosmischen Lehren des Universums, das unverrückbare Naturgesetz der Wahren Natur des Weltalls. Sūtras in diesem hohen Sinn sind Vogelgesang, das Brausen eines Orkans, das Gelächter der Kinder drüben im Hof, das Quietschen der Tür und der Bretter und das Meeresrauschen.

Ob wir es wollen oder nicht – in jedem Augenblick rezitieren wir zehntausend Sūtras.

Ob du es willst oder nicht, in jedem Augenblick schwimmst du im Weltmeer des Geistes wie der Fisch im Wasser.

In jedem Augenblick rezitierst du die Sūtras der Welt. Von keinem einzigen der Abermillionen Sūtras bist du getrennt, denn du und die Welt sind ein Einziges Sein.

Alle Schmerzen der Welt sind deine Schmerzen.

Alle Freuden sind deine Freuden.

Alle Taten der Welt sind deine Taten, alle Lieder deine Lieder, und so sind auch alle Sūtras deine Sūtras.

O, nicht nur die Sūtras des Śākyamuni Buddha sind deine Sūtras, die deinem Wahren Wesen, deiner Wahren Natur entspringen – sondern jeder Ton, jeder Klang und jede Melodie, jedes Rauschen, Klopfen und Donnern, jede Bewegung der Welt, ja, des ganzen Universums aus allen Zeiten sind deine Sūtras.

Der 27. Patriarch muss nicht extra sein Sūtra-Heft aufschlagen, um zu rezitieren. Warum so kompliziert? Er lacht und spricht, er geht und arbeitet, isst und tanzt, schläft und badet und unterhält sich mit seinen Mitmenschen. In jeder seiner Handlungen öffnet sich sogleich ein Dharma-Tor, rezitiert der Dharma sich selbst. Ganz ohne Festhängen, ganz ohne Anhaften, in völliger Leichtigkeit und Freiheit, so rezitieren sich die Sūtras des Lebens selbst vom Jetzt zum Jetzt.

Und so kann der Patriarch Prajñādhara zum König sagen: «Mein Ein- und mein Ausatem verirren sich nicht in der Erscheinungswelt der Dinge, und sie verweilen auch nicht im Nichts – trotzdem rezitiere ich unentwegt Millionen und Abermillionen Schriftrollen von Sūtras.»

Eigentlich müsste Prajñādhara nicht sagen «trotzdem», sondern «eben darum»! Er müsste sagen: «Mein Ein- und mein Ausatem verirren sich nicht in der Erscheinungswelt der Dinge, und sie verweilen auch nicht im Nichts – und eben darum rezitiere ich unentwegt Millionen und Abermillionen Schriftrollen von Sūtras.»

Denn gerade weil er nicht auf der Spitze einer Nadel steckt und weil er sich nicht auf nur einer der beiden Erfahrensebenen des Seins verstrickt hat, ist er frei in allen Welten, zu kommen und zu gehen, wie und wo es ihm beliebt, und nur so, nur so, kann er unentwegt, von ewigem Nu zu ewigem Nu, die Sūtra-Rollen der Welt rezitieren.

Und all das geschieht ich-los?

Ja, all das geschieht in geheimnisvoller und tiefer Ich-losigkeit.

Niemand da.

Wie könnt nun ihr die kosmischen Sūtra-Rollen rezitieren? Bitte, schaut in die Rollen des 27. Patriarchen – und rezitiert! So rezitiert der 27. Patriarch ich-los aus eurem Mund die Sūtras der Welt.

4 • Der Buddha weist zum Boden

Als der Buddha mit seinen Schülern spazieren ging, wies er mit der Hand zum Boden und sagte: «Es wäre gut, hier einen Tempel zu errichten.»

Darauf nahm Taishakuten [→ 6] einen Grashalm, steckte ihn in den Boden und sagte: «Der Tempel ist errichtet.»

Der Buddha lächelte.

Möglicherweise hat der Buddha mit dem, was hier «Tempel» genannt wird, einen Stūpa gemeint. Ein Stūpa oder eine Pagode wurde und wird immer noch einem großen Menschen, einem Heiligen, einem Bodhisattva oder Buddha gewidmet. Der Stūpa wurde manchmal auch als Grabmal über die sterblichen Überreste gesetzt. Vielleicht aber hat der Buddha auch einen großen Tempel gemeint, in den Menschen hineingehen und Andachten verrichten können.

Wie die Sache sich auch immer verhielt, Śākyamuni war in dieser Geschichte mit seinen Schülern und weiteren Anhängern, einschließlich des altvedischen Gottes Indra, auf einer Wanderung, die ihm ausnehmend gut gefiel. Der Buddha schien aufgeräumt zu sein. An einer bestimmten Stelle wies er mit der Hand zum Boden und sagte:

«Es wäre gut, hier einen Tempel zu errichten.»

Das ist ein großartiger Satz. Er macht aufmerksam: «Passt auf! Seid an gerade dieser Stelle wachsam! In diesem Augenblick und an diesem Ort kann die Erleuchtung euch überfallen wie der plötzliche Tod.»

Im Kōan Nr. 85 in diesem Buch, «Der Lehrer der Nation und die fugenlose Pagode», fordert der Lehrer der Nation den Kaiser auf: «Bau mir eine fugenlose Pagode!» Der Kaiser versteht fälschlicherweise darunter ein Gebäude aus Stein. Aber was, fragt er, hat «fugenlos» zu bedeuten? Diese Geschichte erinnert an das Wort des Buddha, der sagt: «Es wäre gut, hier einen Tempel zu errichten.»

Es geht nicht um einen Tempel oder eine Pagode oder einen Stūpa aus Stein und Gold, sondern es geht um die Letzte Wirklichkeit. Sicherlich – die Letzte Wirklichkeit zeigt sich so oder so oder so. Sie zeigt sich auch in Stein und Gold.

Die Letzte Wirklichkeit, nämlich Geist an sich, zeigt sich taghell und unmissverständlich in den Dingen, die uns ständig begegnen, und in den Dingen, die wir also erfahren und die wir selber tun. Wir erfahren den Geist, der die Unendlichkeit ist, auch in den Dingen, die wir fühlen, träumen und sinnlich wahrnehmen. Selbst in den Gedanken begegnet uns diese einzige wahre Wirklichkeit ganz ebenso wie in allem anderen. In den veränderlichen Dingen wie Teller und Tasse und Stuhl erfahren wir das Unveränderliche, das Veränderung erst ermöglicht, ohne etwas zu tun oder sich selbst zu verändern. So bleibt alles in der Tiefe ewig und still.

Bei den Gedanken ist für viele Menschen nur die Gefahr gegeben, dass sie den Denkvorgang, also das Denken an sich, mit den Gedankeninhalten verwechseln – und diese mit der Realität, wofür Denken und Worte nur stehen. Während der Beschäftigung mit den Gedankeninhalten können wir aber Satori nicht so leicht erfahren, vor allem, wenn wir dann auch noch emotional darauf einsteigen und uns an den eigenen Gedankeninhalten aufreiben. Das Denken an sich wäre eigentlich gar kein Hindernis für Erleuchtung. Das wird es erst, wenn wir uns damit identifizieren.

Wenn wir ein Ding auf unserem Weg zutiefst annehmen, mit ihm Eins werden – dies ist nämlich keine Identifizierung im vorigen Sinn – und wenn wir es so durchdringen, dass wir anhand eines solchen Erlebnisses unser Selbstwesen schauen, errichten wir an genau dieser Stelle einen Tempel.

Das geschieht am sichersten, wenn wir die Erfahrung des Einsseins nicht gedanklich, gar rational, wieder auflösen.

Śākyamuni Buddha ist mit seinen Schülern und weiteren Anhängern auf Wanderschaft. Auch der Götterkönig Indra begleitet ihn in dieser Geschichte. An einer bestimmten Stelle auf ihrem Weg deutet der Buddha auf den Boden und sagt:

«Es wäre gut, hier einen Tempel zu errichten.»

Wie machst du das? Tu, was du sowieso tust, nur: Tu es ! Mit dem, was du tust, baust du einen Tempel! In der Bibel steht, unser Körper sei ein Tempel des Heiligen Geistes. Damit ist nicht ein frommes Getue gemeint, das wir zu vollziehen hätten, sondern eine Handlung aus einem fugenlosen Guss!

Nimm sorgsam und gesammelt die Teetasse in beide Hände – und trink! So baust du an genau dem Ort einen Tempel.

Geh aufmerksam und freundlich mit dir selbst Schritt für Schritt Kinhin: Jeder Schritt errichtet einen Tempel. Aus deinen Füßen entspringen Tempel über Tempel!

Es heißt, Gott Śiva tanzt, und jedem seiner Schritte entspringen Welten. Das ist dasselbe.

Decke liebevoll und achtsam den Frühstückstisch, Handgriff für Handgriff – der Frühstückstisch wird zu einem Tempel.

In dem Tempel vollziehst du das heilige Opfer, das du selber bist. Da ist dann kein Unterschied mehr zwischen dir, dem Priester, zwischen dir, dem Opfer, und zwischen dir, dem Tempel selbst.

Du bist der Urheber für all deine Handlungen. Sei ein fugenloser, rein im Licht des Erkennens leuchtender Tempel.

Als der Buddha sagt: «Es wäre gut, hier einen Tempel zu errichten», nimmt Taishakuten, der Herrscher der Götter, einen Grashalm, steckt ihn in den Boden und sagt: «Der Tempel ist errichtet.»

Der Buddha lächelt. Das ist die Bestätigung.

Taishakuten ist der «Herrscher der Götter». Im alten Indien der Veden ist er der höchste Gott unter allen Göttern. Sein Sanskrit-Name lautet «Śākhādevendra-Indra». Hauptsächlich ist er als «Indra» bekannt. Indra antwortet dem Buddha sofort und ohne zu zögern, als dieser sagt: «Es wäre gut, hier einen Tempel zu errichten.» Wir können daran sehen, dass zwischen Gott, einem Himmelswesen und uns kein prinzipieller Unterschied besteht. Wir alle können Tempel errichten, wo immer wir wollen.

Wie hat Taishakuten den Tempel errichtet? Er pflanzte einen Grashalm in den Boden. Er vollzog hiermit eine fugenlose Tat, eine Tat aus einem Guss, in welcher sich die Wesensnatur manifestierte. Der Tempel stand. Der Buddha lächelte.

Im Judentum heißt es, mit einer vollständigen Tat schafft der Mensch einen Engel. Beendet aber der Mensch seine Tat nicht, sondern bricht seine Handlung zu früh ab, wird auch der Engel nicht vollständig. Er behält eine unvollständige Gestalt: Vielleicht fehlt ihm ein Arm oder ein Flügel. Vielleicht hat er kein Gesicht oder bleibt gar nur halb. So tritt die unvollständige Engelgestalt immer wieder vor ihren Menschen hin und sagt: «Vollende mich, sonst finde ich keine Ruhe!» Unsere Taten sollten abgerundet, vollständig und aus einem Guss sein. Wir sollten vollständige Engel schaffen – oder auch fugenlose Tempel. Unsere Taten sollten kein Stückwerk bleiben. Schaffen wir keine unglücklichen Engelgestalten und keine unfertigen Tempel! Dies würde uns selbst sehr unglücklich machen.

Errichten wir mit großer Achtsamkeit vollständige Tempel – immer wieder nur jetzt sofort hier an diesem Ort!

Sag dir ab und zu selber: «Es ist gut, hier einen Tempel zu errichten!», und dann sammle all deine Aufmerksamkeit in Eins und tu die vollständige Tat! Auf diese Art wirst du nie mehr das Opfer anderer oder der «Umstände» sein, sondern der Urheber deines Lebens und der Verantwortliche für alles, was dir geschieht. Du bist dann ein wahrer Schüler des Buddha und ein Bodhisattva. Wo auch immer du auftauchst, stehen die Tempel deiner Handlungen aus einem Guss, in denen sich die Unendlichkeit rein und kristallklar leuchtend offenbart.

5 • Seigens «Reispreis»

Ein Mönch fragte Seigen [→ 7] : «Was ist das Wesen des Buddhismus?»

Seigen antwortete: «Was kostet der Reis in Roryo [→ 8] ?»

Da kommt so ein Zen-Schüler zu seinem Meister und fragt ihn sehnsüchtig nach seinem eigenen tiefsten Wesen, das ihm selbst noch so unbekannt ist. Er sehnt sich nach der Erkenntnis seiner eigenen Tiefe, nach Erkenntnis dessen, was die Welt zusammenhält, nach Erkenntnis des Urgrundes aller Gründe. Er sehnt sich nach seinem ewigen Zuhause. Schließlich hat er sich der Schulung durch seinen Meister überlassen, weil er die Erleuchtung erreichen will. Er will in allererster Linie sich selbst finden. Vielleicht kann der Meister ihm ja auf die Sprünge helfen. Vielleicht kann der Meister ihm das Geheimnis sagen, ihm einen Tipp geben, ihm eine Ekstase machen, ihm eine wirkungsvolle Übung geben oder ihm ganz einfach nur erzählen, was das Wesen der Welt ist, das Buddha-Wesen, die Wesensnatur. Vielleicht kann sein Meister ja etwas für ihn tun, um Gottes Willen! Viele Menschen auf der Erde setzen für dieses Ziel, das Selbstwesen zu erfahren, viele Jahre ihres Lebens oder sogar ihr ganzes Leben ein, so vielleicht auch dieser Mönch. Es ist ihm auch fast zu wünschen.

Der Mönch meint vielleicht, das Wesen des Buddhismus sei außerweltlich oder überweltlich, metaphysisch, transzendent und herausgehoben aus allem Profanen. Ganz sicher, so meint er wohl, habe das Wesen des Buddhismus nichts mit den alltäglichen Angelegenheiten zu tun. Das Wesen des Buddhismus ist schließlich das Heiligste des Heiligen. Es ist hocherhaben und sehr zu verehren. Es ist das Wesen