Die letzte Seelenwandlerin - Dark Kingdom - Anera Adams - E-Book

Die letzte Seelenwandlerin - Dark Kingdom E-Book

Anera Adams

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Beschreibung

Flieg, kleiner Phönix. Denn was unsterblich sein soll, muss die Asche der Vergangenheit zurücklassen. Flieg, kleiner Phönix und kehre noch stärker wieder

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Copyright 2024 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Coverdesign: Jaqueline Kropmanns

ISBN: 978-3-910615-53-3

Alle Rechte vorbehalten

Baby, tanz’ mit mir durch die Nacht.

Tanz’ mit mir, bis wir heller als die Sterne leuchten.

Willst du weglaufen?

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38 Luc

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Danksagung

Triggerwarnung:

Triggerwarnung:

Die Welt ist nicht schwarz und weiß. Weder sie noch die Engel, ja nicht einmal Gott.

Alles ist getaucht in verschiedenste Grautöne. Doch du allein bestimmst, mit wie vielen Schattierungen du leben möchtest.

In diesem Buch kannst du vieles finden, oder vielleicht auch verlieren. Es wird dich über Dinge nachdenken lassen, die im direkten Zusammenhang mit dem Tod und dem „was danach kommt“ stehen. Christliche Elemente wurden aufgegriffen und ein völlig neues Bild von Himmel und Hölle geschaffen. Diese und weitere angeschnittene Triggerthemen findest du auf der letzten Seite.

Durchbrich die Wolken und lass dich in diese Geschichte fallen.

Aber denke immer daran: Nicht alles ist böse, nur weil es uns so gelehrt wurde. Und nicht alles ist gut, nur weil es auf den ersten Blick so scheint.

Vorwort

Mein kleiner Phönix, was hast du nicht bereits alles hinter dir? Lange Zeit dachtest du, krank zu sein. Wie töricht von den Engeln, dich in diesem Glauben zu lassen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich dir deutlich früher gezeigt, wozu du fähig bist. Wobei ich gestehen muss, dass mir dein entsetzter Gesichtsausdruck damals, als ich dir dein Lederband wieder gegeben habe, sehr gefallen hat.

Alles hast du verloren. Dein bisheriges Leben, deinen Vater, deine vertraute Welt. Du warst so verängstigt und brauchtest Halt. Das änderte sich auch nicht, als du die Himmel entdeckt hast und ausgebildet wurdest. Und trotz deiner Gabe hattest du immer das Gefühl, nicht genug zu sein – dabei bist du das wahre Licht.

Alles, was dir blieb, war, dir die Liebe der anderen mit Verzweiflung zu erkaufen. Rückschlag für Rückschlag, Lüge um Lüge. Sie schickten dich zu den Seraphim und beinahe hättest du mit deinem Leben bezahlt.

Eigentlich wollte ich mein Erscheinen auf dem Fest der verstorbenen Engel noch etwas in die Länge ziehen. Doch dein verzweifelter Blick hat meine Pläne zunichtegemacht. Dir einen Teil meiner Seele zu schenken, bevor ich meine Gefallenen zurückbekam, hätte keine Option sein dürfen. Aber ich ertrug dein Leiden nicht länger. Und auch nicht deine Rufe, die du so ahnungslos in meine Richtung gesandt hast. Ich hörte dich, ich spürte dich. Immer.

Und nun ist der Krieg angekommen. Ein Blutbad aus fehlgeleiteten Seelen und Dunkelheit. Du kämpfst noch immer. Wirst du jemals aufhören?

Du wächst und gedeihst aus Erniedrigung und Hass. So traurig und bewundernswert zugleich. Du bist mir so ähnlich. Ich sehe mich in dir. Schon so viele Male. Und wieder denke ich an mein Bein, das sich zwischen deine drängte, an deinen Mund, an dein heiseres Stöhnen. Und an den Moment, in dem ich dich töten musste.

Kapitel 1

Die Welt um mich verschwamm; wurde zu einer zähen, grauen Masse, die mich immer tiefer in ihre Umarmung zog. Ich fiel, bis ich von undurchdringlicher Schwärze umhüllt wurde. Mein Körper fühlte sich federleicht an, während der Wind mich wie eine Marionette hin- und her schleuderte.

Obwohl ich dem Abgrund so nah war, spürte ich keine Angst, erkannte keine klaren Konturen - ließ mich einfach nur fallen.

Das Einzige, was ich jetzt noch deutlich vor mir sah, waren Lucifers faszinierende Augen, die mich fast ehrfürchtig betrachtet hatten. Und dann hallte seine Stimme in tausendfachem Echo in meinem Kopf wider. Flieg, kleiner Phönix.

Flieg.

Flieg!

Aber ich flog nicht – ich fiel.

Ich konnte nicht verstehen, warum gerade dieser Augenblick in meiner Erinnerung so präsent war, warum ich noch immer seine Berührungen auf meiner Haut prickeln spürte. Er hatte sich an mich geschmiegt, hatte meinen Hals mit seinem Atem geküsst. Und dann hatte er mich getötet. In einer einzigen, kaum wahrnehmbaren Bewegung hatte er meine Seele aus mir herausgerissen. Jetzt war sie alles, was übrig war. Es gab keinen Hass mehr, keine Angst. Nur dieses Stück meiner Selbst, das in einen leeren Raum gezogen wurde, und dann verblasste auch meine letzte Erinnerung.

Schließlich landeten meine Füße auf etwas Hartem und Unnachgiebigem, doch das schwerelose Gefühl in mir blieb. Verwirrt drehte ich mich um und erkannte schemenhafte, helle Wände, die sich in scheinbarer Unendlichkeit verloren. Sie umgaben mich von allen Seiten, und ich war allein. Kein Mensch, keine Seele, nicht einmal ein Möbelstück, teilten den Raum mit mir. Und auch keine Geräusche drangen an meine Ohren.

»Hallo?«, rief ich in die erdrückende Stille.

Vorsichtig wagte ich den ersten Schritt, spürte, dass der Boden nicht unter mir nachgab, also lief ich langsam weiter. Mein Blick glitt durch den leeren Raum, der in diffusem Licht verschwamm. Was immer das hier für ein Ort war, ich fühlte mich allein und verstand nicht, wieso ich hier war. Alles schien wie weggefegt, obwohl ich spüren konnte, dass etwas an meiner Erinnerung zupfte. Schwach, kaum wahrnehmbar und es verschwand immer mehr, aber da war etwas.

Misstrauisch ging ich weiter, ließ meinen Blick schweifen, bis ich meinte, Stimmen zu hören. Keinen Augenblick später tauchte direkt vor mir eine Tür auf, als wäre sie erst jetzt sichtbar geworden.

Stutzend blieb ich stehen und starrte das helle Holz an. Sie war in diesem seltsamen Licht kaum zu erkennen, dafür hörte ich die verschiedenen Stimmlagen dahinter nun deutlicher.

Da war ein Beben auf der anderen Seite. Kreischen und Johlen. Ächzen und ein Klicken. Menschen schrien und meine Brust zog sich zusammen. Irgendetwas stimmte hier nicht, ich konnte es deutlich fühlen – obwohl ich nicht zuordnen konnte, warum.

Unwillkürlich wich ich zwei Schritt zurück, sah hastig hinter mich und erkannte nur diesen leeren Raum. Aber da war keine andere Tür mehr, kein Ausgang.

Zähneknirschend blickte ich nach vorne, sah den winzigen, offenstehenden Spalt. Wenn ich nicht für immer in diesem Nichts gefangen sein wollte, musste ich durch sie hindurchtreten, aber was würde mich dahinter erwarten? So, wie es sich anhörte, nichts Gutes. Dieses Klicken erinnerte mich an etwas. Die Schreie und das Beben, aber an was?

Meine Lunge schien zu brennen, während ich stockend einatmete, die zurückgelegten Schritte vorwärts lief und meine Hand auf den Durchgang legte, jedoch nicht dagegen drückte. Doch scheinbar reichte diese flüchtige Berührung, um mich hindurchzuziehen. Ich rechnete damit, in einem weiteren, kargen Raum zu landen, doch dieser hier war nicht leer.

Ich riss die Augen auf, taumelte einen Schritt rückwärts und prallte gegen einen Körper. Sofort hob ich die Hände. »Tut mir leid.« Doch der Mann, gegen den ich gestoßen war, beachtete mich nicht, und keine Sekunde später war er zwischen den anderen verschwunden.

Hastig ließ ich meinen Blick schweifen. Mein Gott, es waren so viele. Eingepfercht, dicht an dicht. Eine so große Masse, dass ich vor lauter Köpfen das Ende nicht erahnen konnte. Wie ein Meer aus Schädeln, das ineinander verschmolz. Und sie schrien, kreischten, drängten sich zu einem Ort und schoben mich damit immer weiter, während ein unnachgiebiger Sog an uns zerrte und zwei Reihen bilden wollte. Die zwei Reihen der Wiege des Lebens. Himmel und Hölle. Aber die Seelen kämpften, sie stemmten sich dagegen und bahnten sich ihren Weg zu einem Ziel, das ich noch nicht sehen konnte.

Schluckend stellte ich mich auf die Zehenspitzen und linste über die Schultern der Menschen vor mir. Der Ort, an dem ich mich befand, glich einer riesigen Glaskugel, die jemand schüttelte. Der Boden bebte, ich meinte Glas brechen zu hören. Und dann sah ich ihn: Den Riss, den ich bisher nur vom vierten Himmel kannte; der so aussah, als würde man einen Diamanten vor den Augen drehen. Doch hier im Inneren sah er größer aus. Wulstiger und so viel zerstörerischer. Er zog sich von der Decke bis weit unter den Boden. Stücke waren herausgebrochen und plötzlich waren all meine Erinnerungen zurück: Die Zwischenwelt, die aufgebrochen war, die Dämonen, die den vierten Himmel angegriffen hatten, Ash, der sein Leben für meines gegeben hatte und Lucifer, dessen Kraft ich jetzt in mir trug.

Panisch sah ich auf meine Hände hinab, drehte sie vor meinen Augen, versuchte mit aller Macht, meine Magie nach oben zu zwingen, doch da war nichts. Nicht ein Funken, kein Licht. Dafür wurde ich immer heftiger angerempelt, mühelos über den Untergrund geschoben und die dröhnende Lautstärke klingelte in meinen Ohren.

Der Boden bebte heftiger, die Luft war stickig und schwül. Verdammt, was tat ich hier? Genau jetzt sollte ich in meinem Körper sein und mit Lucifers Macht die Seelen wandeln. Stattdessen war ich hier in der Zwischenwelt. Ohne Körper und ohne jede Magie.

Tränen der Verzweiflung stiegen mir in die Augen und ich senkte hilflos die Arme. Kurz vor meinem Tod hatte mich Lucifer so angeblickt, als würde er mich nie wiedersehen, und genau das ließ meinen Körper versteinern. Wenn er mich wirklich umgebracht hatte, dann

Verdammt. Heftig massierte ich mir die Schläfen, versuchte, klar denken zu können, und blickte dabei verzweifelt zu dem Riss, der immer näher kam. Er war gewaltig und so offenstehend, dass die Seelen sich nicht einmal mehr hinaus zwängen müssten. Sie sprangen einfach – und sie jubelten. Die Seelen jubelten!

»Endlich sind wir frei«, hörte ich irgendjemanden rufen.

Das konnten sie doch nicht ernst meinen. Sie waren nicht frei, sondern würden sich in Dämonen verwandeln, die Menschen töteten, vielleicht sogar jene, die sie liebten.

Entschlossen zwängte ich mich durch die Menge, spürte den Sog an meinem Körper und die Welt, die mich nach draußen ziehen wollte, doch ich würde nicht als eines dieser Dinger zurückkehren!

»Hey!«, rief ich den Seelen zu, die kurz davor waren, aus dem Riss zu springen. Während eine Handvoll weiterging, blickten zwei zu mir herüber.

»Was willst du, Mädchen?«

Beschwichtigend hob ich die Arme, überbrückte die letzten Meter und musste all mein Gleichgewicht benutzen, um von dem Beben nicht in die Knie zu gehen. »Wenn ihr jetzt aus der Zwischenwelt springt, dann werden eure Seelen zu Dämonen, die die Menschen töten. Das wollt ihr doch nicht, oder?«

Einen Moment herrschte Stille, die nur durchbrochen wurde von dem Knirschen und Brechen der Wand. Dann lachten so viele Seelen gleichzeitig los, dass ich verwirrt die Arme senkte.

»Dämonen, ja klar«, witzelte einer.

»Und Seelen. Von was redet die denn da?«

Mit zusammengekniffenen Augen drehte ich mich zu einem Mann mittleren Alters um. Er war kleiner als ich, dafür hatte er einen runden Bauch und einen zerzausten Bart. Lächelnd wanderte sein Blick über mein Gesicht, dann verschränkte er abweisend die Arme. »Irgendjemand hat uns hier alle eingesperrt, und jetzt bekommen wir endlich die Möglichkeit zu fliehen, und du redest hier was von Dämonen?«

»Ich rede hier nicht was von Dämonen, ihr werdet zu Dämonen! Ihr seid tot, falls euch das noch nicht aufgefallen ist.«

Der Mann lachte lauthals gen Decke, hielt sich dabei den runden Bauch. »Tot. Na sicher.« Mit diesem Satz schob er mich zur Seite und sprang.

Mein Gott, sie wussten nicht, dass sie tot waren? Verdattert stand ich da, starrte den Riss an, der immer größer wurde. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er so weit aufgebrochen war, dass die Zwischenwelt komplett in sich zusammenfallen würde. Über mir, unter und auch neben mir knackte es. Das Bersten ertönte von allen Seiten, und ich wusste nicht einmal, wo sich die Wiege des Lebens befand. Vielleicht war sie weit hinter dem Meer an Menschen. Selbst wenn ich sie fand, sie könnte mir kaum helfen, wenn sie es nicht geschafft hatte, den Riss zu bändigen oder die Meute unter Kontrolle zu bekommen.

Mist! Was sollte ich denn jetzt tun? Ohne meinen Körper hatte ich offensichtlich keine Macht. Ich war tot, ebenso wie alle anderen hier.

Lucifers Worte hallten erneut durch meinen Geist. Flieg, kleiner Phönix. Was zum Henker meinte er denn damit? Um fliegen zu können, bräuchte ich Flügel, die ich nicht besaß. Oder wollte er, dass ich aus dem Riss sprang? Andererseits müsste ich doch jetzt, durch Lucifers Magie, unsterblich sein. Musste ich erst sterben, um danach als Unsterbliche aufzuerstehen? Aber wie sollte das funktionieren, wenn ich hier gefangen war? Der Höllenfürst würde sich schlecht abstechen lassen, um einen kurzen Abstecher zu mir in die Zwischenwelt zu machen, wobei mir Silver erzählt hatte, dass reine Himmelswesen diesen Schritt immer übersprangen. Selbst, wenn er sich töten lassen würde, würde er nicht hier landen, um mich herauszuholen. Meine Gedanken kreisten immer weiter und machten mich wahnsinnig. Was wollte Lucifer von mir? Er hätte sich wirklich klarer ausdrücken können.

Die Seelen jubelten und langsam packte mich die Wut. Sie vermischte sich so hart mit meiner Verzweiflung, dass sich meine Hände selbstständig zu Fäusten ballten. Dort draußen starben Engel, Geborene, Menschen und das alles, weil die Seelen hier hinaussprangen. Sollten sie von mir denken, was sie wollten, aber wenn ich keine Magie hatte, dann könnte ich wenigstens Nick und dem vierten Himmel etwas Zeit verschaffen. Tot hin oder her.

»Ihr hört mir jetzt alle ganz genau zu!«, schrie ich in die Menge. Dutzende Augenpaare waren schlagartig auf mich gerichtet, während andere mich ignorierten und sich weiter zum Riss drängten. »Ich weiß, dass ist nicht schön, aber ihr seid tot. Das bin ich auch.« Ich breitete meine Arme aus und zeigte in alle Richtungen. »Ihr seid in der Zwischenwelt, die Vorstufe des Himmels oder der Hölle. Ihr habt alle keinen Körper mehr und wenn ihr jetzt da rausspringt, wird sich eure Seele in etwas Böses verwandeln. Ihr werdet die töten, die ihr auf der Erde geliebt habt, statt in den Himmel aufzusteigen und eure Familien zu sehen. Wollt ihr das?«

Wieder herrschte Stille, die dann von leisem Gemurmel abgelöst wurde. Manche sahen sich an, tuschelten miteinander, andere ignorierten mich. Aber wenn ich nur bei ein paar von ihnen Zweifel ausgelöst hatte, dann musste ich dort ansetzen.

»Bitte, springt nicht.«

»Wir sind schon so lange hier eingesperrt!«, brüllte mich jemand an, dessen Stimme ich nicht ausfindig machen konnte.

»Wir sind nicht tot«, mischte sich ein anderer ein und dann sprangen wieder einige aus dem Riss.

Mein Kiefer begann zu beben. Es brachte nichts. Sie wollten nicht verstehen. Aber sie müssten doch sehen, dass hinter dem Riss nichts als Sterne waren. Wie konnten sie es nicht sehen?

Verzweiflung packte mich und ich war kurz davor zu brüllen. Da draußen starben die Engel, die ich lieben gelernt hatte, und ich konnte nichts tun. Ich konnte nicht zurück zum vierten Himmel, nicht Ash retten, nicht Nina, nicht Nick. Nicht einmal Silver. Sie hatten alles für mich gegeben und im Endeffekt konnte ich ihnen nichts zurückgeben. Ich hatte sie enttäuscht. Jeden Einzelnen von ihnen.

Mein Kopf war gesenkt, als ich mich langsam durch die Menge wagte. Jeder Schritt fühlte sich schwer an, bis ich endlich vor dem Riss stand. Durch die flimmernde Wand konnte ich verschwommen ein paar Engel erkennen. Wo bei meinem ersten Besuch des Risses einige wenige davor patrouillierten, war die Anzahl jetzt geradezu bescheiden. Auf Anhieb erkannte ich zwei von ihnen, die auf die herunterfallenden Dämonen einstachen. Warum konnte ich das alles sehen, die Seelen jedoch nicht? Es wirkte, als würden sie sich nicht einmal an ihr Leben vor ihrem Tod erinnern. Aber ich konnte es, wusste genau, was passiert war und was passieren würde, wenn ich es nicht aufhalten könnte.

Aber egal wie sehr ich darüber nachdachte, es änderte nichts. Die Seelen hörten nicht auf mich.

Mein Blick glitt nach unten, und ich müsste nur drei Schritte weiter gehen und würde fallen. Flieg, kleiner Phönix. Für einen Moment schloss ich die Augen, suchte nach der Verbindung, durch die ich Lucifer bisher hören konnte, doch da war nichts. Ich konnte nicht einmal die Mauer ertasten, die mir sonst gezeigt hatte, dass er sich verschlossen hatte. Dabei wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass er mir sagen würde, was ich tun sollte. Aber vielleicht hatte er das schon längst getan, und ich hätte nur besser zuhören müssen. Es war eine 50/50 Chance. Entweder würde ich springen und zu einem dieser Dinger werden, oder aber ich würde zurück in meinen Körper können, weil ich kein Mensch mehr war.

Vorsichtig lief ich einen weiteren Schritt nach vorne, sah die Sterne und die Nacht unter mir und hoffte so sehr, ich würde nicht die falsche Entscheidung treffen.

»Bitte mach‘ Platz«, erklang auf einmal eine vertraute Stimme, die mich erstarren ließ. Sie fuhr über meinen Rücken, löste eine Gänsehaut aus, während mir sofort Tränen in die Augen traten. Sie verfingen sich in meinen Wimpern und so stand ich da, starrte blinzelnd in den Nachthimmel, war unfähig, mich zu bewegen.

Erst nach einigen Sekunden wagte ich mich langsam umzudrehen. Ich wollte es, wollte sichergehen, dass die Stimme wirklich zu der Person gehörte, die ich vermutete. Gleichzeitig umhüllte mich die Angst, dass es nicht so war, und dieses Gefühl war so viel schlimmer, denn mein Herz wünschte es sich mehr als alles andere.

Doch als ich aufsah, das Gesicht erkannte, klappte mein Mund auf. Vor mir war ein Mann, dessen Sorgenfalten ich früher oft zählen konnte. Die warmen Augen hatte er noch immer und das leichte Lächeln auf seinen Lippen, das jetzt einem unergründlichen Gesichtsausdruck gewichen war.

»Pa?«

Kapitel 2

Meine Tränen verschleierten seinen Anblick, und obwohl ich keinen Körper hatte, zitterte ich am gesamten Leib.

Vor mir stand mein Vater, der mich mit einem skeptischen Blick musterte.

Mit einem Schluchzen warf ich mich in seine Arme; drückte ihn so fest ich nur konnte.

»Es tut mir so leid«, wisperte ich, drückte ihn fester, wollte ihm so viele Dinge sagen, mich für noch mehr entschuldigen, doch ich weinte nur heftiger, bis selbst das Atmen schmerzte.

»Was tut dir leid?«

Vorsichtig löste ich mich von ihm und sah ihm in die vertrauten Augen. Mein Kiefer bebte, mein Hals fühlte sich staubtrocken an, und eigentlich war ich mir sicher, nicht reden zu können. »Dass ich dich nicht retten konnte, dass ich dir so viele Sorgen bereitet habe, dass du so lange kein Leben wegen mir hattest. Einfach alles.«

Nun schwand sein skeptischer Blick und wich Verwunderung. »Vor was retten? Und von was redest du denn da?«

Meine Unterlippe zitterte, als sein verwirrter Blick auf mir ruhte und mir klar wurde, dass er keine Ahnung von seinem Leben hatte; nicht von seinem Leben mit Nick und nicht von mir. »Du … du erinnerst dich nicht?«

Pa zog die Brauen zusammen und bedachte mich mit seinem misstrauischen Seitenblick.

Mein geisterhaftes Herz schlug schmerzhaft gegen nicht vorhandene Rippen. Dieser Schmerz, er zog bis in meine Finger und das erste Mal wurde mir bewusst, dass eine Seele sehr wohl leiden konnte. Ganz ohne Körper.

»Ich bin von der Arbeit nach Hause gefahren und dann ist dieses Mädchen aus der Tür gerannt«, sagte er endlich und sah mich eindringlicher an. »Sie sah dir ähnlich.«

Er konnte sich also auch nur an die letzten Augenblicke seines Lebens erinnern. Trotzdem gab ich die Hoffnung nicht auf und versuchte etwas anderes: »Erinnerst du dich an Nick?«

Kurz zuckte sein Auge bei dem Namen, doch dann schüttelte er schnell den Kopf.

Meine Tränen stiegen immer weiter an, und als ich die warme Flüssigkeit spürte, die mir über die Wangen lief, senkte ich das Kinn.

Pa wirkte nicht wie er selbst, wusste nichts mehr von seinem Leben auf der Erde, nichts mehr von mir. War das gut oder war es schlecht? Vielleicht wäre es sogar besser für ihn. Trotzdem tat es so verdammt weh, den wichtigsten Menschen in seinem Leben vor sich zu sehen, und das Einzige, was er wusste, war, wie ich kurz vor seinem Tod auf ihn zu gerannt war. Ich hätte ihm so gerne erzählt, was aus mir geworden war; wie sehr ich gekämpft hatte, damit die Zwischenwelt nicht aufbricht, dass ich umgeben von Engeln war, dass es den Himmel wirklich gab und er dorthin könnte. So viele Dinge lagen mir auf der Zunge, doch meine Tränen ließ sie pelzig werden, während sich mein Hals vor lauter Schluchzen zuschnürte.

Mit jeder Sekunde wurde mir kälter. Vor Trauer, vor Angst. Dennoch blickte ich zu Pa auf. Erst jetzt fiel mir auf, dass er mich die ganze Zeit über beobachtet haben musste, denn sein Blick ruhte noch immer auf mir. Doch dieses Mal sah es so aus, als würde er etwas in mir suchen. Auf mir. Sein Blick fuhr mein Gesicht ab, heftete sich an meine Augen, bis er über meine Haare glitt, über die er früher immer gestrichen hatte, wenn es mir nicht gut ging. »Wieso erinnere ich mich an dein Gesicht?«

Ein Wimmern entwich mir. Sofort presste ich mir die Hand vor den Mund, um es zu ersticken, doch es half nichts.

»Alles in Ordnung?«

Ich nickte noch hastiger, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. »Ja, es ist nur, ic…«, schluchzend würgte ich die Worte ab, wusste selbst nicht, was ich sagen sollte, dafür peitschte ein Donner durch die Zwischenwelt, und das Splittern wurde immer lauter. Ich fuhr herum, erkannte, wie der Riss noch einmal angewachsen war und überlegte tatsächlich, ob ich hier bei Pa bleiben konnte. Bereits einmal hatte ich ihn allein gelassen. Jetzt bekam ich die Chance, es besser zu machen, bei ihm zu sein, aber das würde bedeuten, alle anderen im Stich zu lassen.

Ihn zu sehen brach mir das Herz, gleichzeitig war es viel zu früh, um ihn jetzt schon gehen zu lassen. Er war der beste Vater der Welt, aber es ging nicht. Um all das hier zu retten, musste ich meine eigenen Bedürfnisse hintenanstellen. Mal wieder. Ich … ich musste das in Ordnung bringen, damit Pa aufsteigen konnte. Wenn es jemand verdient hatte, dann er. Wo auch immer die Wiege des Lebens war, er sollte sie sehen, er sollte in den wirklichen Himmel kommen.

Mit bebendem Kiefer blickte ich zu ihm auf. Alles in mir schrie danach, ihn nicht allein zu lassen, aber ich musste es ein zweites Mal tun. Ich presste die Lider zusammen, atmete tief ein, dann umfasste ich seine Schultern. »Du musst mir jetzt ganz genau zuhören in Ordnung?«

Er verengte zweifelnd die Augen.

»Das klingt jetzt vielleicht verrückt, aber du darfst unter keinen Umständen aus dem Riss springen, tust du mir diesen Gefallen?«

»Aber die Menschen sagen, dass sie hier eingesperrt wurden. Sie sagen, das ist unser Auswe…«

»Nein«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Das ist euer Untergang. Bitte, du musst es nicht verstehen, aber bitte, bitte vertrau mir.«

Er wich einen Schritt zurück, blickte zu lange zu dem Riss, dann flüchtig in mein Gesicht, bevor er die Seelen, die hinaussprangen, beobachtete. Sofort trat ich in sein Sichtfeld und drückte noch einmal seine Schulter. »Pa, bitte. Versprich es mir.«

Ich stand direkt vor ihm, rüttelte an ihm, doch seine Augen hingen an dem Riss, der immer weiter klaffte. Der Boden bebte mittlerweile so stark, dass ich kaum einen festen Stand behalten konnte. Wenn ich mich nicht beeilte, dann würde die Zwischenwelt in sich zusammenfallen. Mir lief die Zeit davon!

»Pa!«, schrie ich ihn so laut an, dass ich einige Seelen giftend zu uns umdrehten, aber das war mir egal, denn mein Vater sah mich endlich an, und das erste Mal erkannte ich deutlich, dass er mich wirklich anblickte. Dieses Mal war es kein flüchtiger Blick, sondern seine ganze Seele. »Bitte Pa, bitte. Lauf so weit nach hinten, wie du kannst und springe, egal was passieren sollte, niemals aus dem Riss. Versprichst du mir das?«

Als er dann endlich nickte, hätte ich am liebsten vor Erleichterung gejubelt. Dann zog ich ihn noch einmal in meine Arme. »Ich hab‘ dich so sehr lieb.«

Er schluckte. Kein normales Schlucken; es klang hart und voller Vorahnungen. Aber ich konnte hier nicht bleiben, ich musste zurück, ich musste es einfach versuchen.

Mit einem Lächeln auf den Lippen und Tränen in den Augen sah ich ein letztes Mal in sein Gesicht, zwang meine Seele, jeden Zentimeter davon in Erinnerung zu behalten. »Ich hab‘ dich lieb. Vergiss das bitte nie.«

Es zerriss mir das Herz, als ich mich umdrehte und direkt auf den Riss zulief.

Wenige Momente später lag die zerstörte Wand mahnend vor mir. Die Worte Lucifers rauschten durch meinen Kopf, wiederholten sich.

Ich versuchte, die Seelen, die neben mir hinaussprangen, für den Moment aus meinen Gedanken zu verbannen. Meine Beine kribbelten, meine Hände zitterten und dennoch überbrückte ich den letzten Schritt.

Unter mir waren nur die Sterne. Verschwommen konnte ich die Himmelshöfe darunter erkennen, und hoffte so sehr, dass ich mir jetzt nicht freiwillig das Leben nehmen würde. Lucifers Deal mit Michael bestand schließlich nur daraus, mir die Kräfte zu geben. Das hatte er getan. Mich zurück zu den Lebenden zu bringen, war definitiv kein Teil davon. Ich musste einfach hoffen, dass er mich nicht absichtlich in meinen Tod hatte rennen lassen. Es gab kein Zurück mehr. Keine andere Wahl. Also schloss ich die Augen, breitete die Arme aus und ließ mich vornüberfallen.

Der Wind zerrte an meinem Körper, warf mich hin und her. Neben mir erkannte ich die Seelen, die sich allmählich in schwarzen Rauch verwandelten, hörte ihr Gekreische und bevor ich die Himmelshöfe in ihrer ganzen Pracht erkennen konnte, fing mich ein Wirbel auf.

Die Dunkelheit wurde in den verschiedenen Lichtern erstickt, und die Geräusche, die eben noch laut in meinem Kopf waren, wichen dem Sirren des Strudels, das jetzt beinahe beruhigend war.

Ich wehrte mich nicht, wand mich nicht, machte mich nicht einmal klein und dennoch wurde ich nicht nach außen gedrückt. Hatte eine Seele überhaupt ein Gewicht? Meinen Körper hätte es bereits dicht an die Außenwand getrieben, ich hätte mich verbrannt, wäre vielleicht sogar herausgefallen. Doch hier passierte nichts davon – und dann wurde alles dunkel.

Meine Finger zuckten über einen Boden. Der Untergrund war warm, so anders als eben noch. Der Geruch, der hier vorherrschte, kam mir vertraut vor, hatte nichts mehr von der Abgestandenheit.

Meine Lider flatterten. Zuerst nur leicht, dann immer heftiger und plötzlich drang Licht an meine Augen. Mein Atmen ging in ein heftiges Keuchen über, und ich drückte die rechte Hand fest gegen meinen Magen. Alles drehte sich, und ich konnte die Helligkeit des Wirbels noch so deutlich sehen, dass es mir unmöglich war, etwas von meiner Umgebung zu erkennen. Überall waren die bunten Lichtfetzen, verschleierten sogar die Umrisse meiner Hände, die ich mir jetzt keuchend vor die Augen hielt.

Was war das gerade? Da war ein Wirbel. Er hatte mich aufgefangen. Ich hatte es gesehen. Doch jetzt fühlte sich alles so anders an, als wäre das nur eine Erinnerung, bei der ich mich fragte, ob sie tatsächlich echt gewesen war. Dafür tobte meine Macht kribbelnd unter meinen Handflächen. Viel gewaltiger, viel stärker. Noch nie hatte ich eine derartige Kraft in ihnen gespürt, und selbst mein eigentlich menschlicher Körper fühlte sich anders an.

Es dauerte, bis sich die Lichtfetzen auflösten und ich etwas von dem Raum erkennen konnte. An den Wänden hingen riesige Kunstwerke, der Boden war aus schwarzem Stein und ein Seitenblick nach rechts verriet mir, dass es wirklich ein Bett war, das ich in Lucifers Loft erkennen konnte, bevor er mich getötet hatte.

Es war still um mich herum. Der Boden vibrierte leicht.

Zittrig hievte ich mich auf die Beine. Jeder verdammte Knochen tat mir weh. Mit knackenden Wirbeln drückte ich den Rücken durch, bis mir schwindelig wurde. Trotz der Übelkeit in meinem Magen, drehte ich mich das erste Mal nach links, riss die Augen auf und taumelte zwei Schritt rückwärts.

Auf einem Stuhl saß der langhaarige Krieger, der mit Lucifer gesprochen hatte, als dieser mich an seinen Hof gebracht hatte.

Er hob den Arm und winkte mir affektiert zu. »Hi.«

»Ähm, hi«, antwortete ich stockend. Sofort glitt mein Blick zum Boden, auf dem ich gelegen hatte, dann zu ihm. »Wie lange sitzt du da schon und hast mich beobachtet?«

»Ach, ich hab‘s nicht so mit der menschlichen Zeitrechnung, aber vielleicht zwei Minuten.«

»Zwei Minuten?«

»Ja«, antwortete er mit einem Schulterzucken. »Du warst nicht so lange weg.«

»Aber ich war in der Zwischenwelt, und es hat sich wie eine Ewigkeit angefühlt.«

Er klopfte sich zweimal auf die Knie, dann stemmte er sich auf die Beine. »Das ist normal. Die Zwischenwelt hat keine Zeit. Dort fühlt sich alles wie eine Ewigkeit an.« Der Krieger überbrückte die kurze Distanz zwischen uns. »Und fühlst du dich anders?«

»Ob ich mich anders fühle?«

Er nickte. »Klar, jetzt, als unsterbliche Gefährtin vom Boss.«

Und das war der Moment, in dem mein Kartenhaus zusammenbrach. Was auch immer dieses Sterben-Wiederauferstehen mit mir angestellt hatte, meine Erinnerung kehrte zurück und als sie da war, begann meine Brust zu beben. Im Moment spielte es keine Rolle, wie ich mich fühlte; ich musste sofort zum vierten Himmel und helfen, musste die Menschen retten und alle, die mir etwas bedeuteten.

Mit verkrampftem Kiefer blickte ich in die strahlend goldenen Augen des Engels. »Wo ist er?«

Er zuckte lässig mit den Schultern. »Sag du‘s mir. Du spürst ihn doch.«

So wie er das sagte, klang es nach einem Kinderspiel, aber das war es nicht, denn ich fühlte nichts von Lucifer. »Und wie soll das gehen?«

»Keine Ahnung, ich war noch nie die Gefährtin von jemandem.« Er zog eine Schnute, während er überflüssigerweise mit der Hand über seinen sehr männlichen Körper fuhr.

Ich seufzte abgehetzt. »Wir haben gerade wirklich keine Zeit für Spielchen.«

»Das ist ja auch Lucs Aufgabe. Ich würde es niemals wagen, die Gefährtin vom Boss anzufas-, ah! Aua.« Er rieb sich übertrieben den Oberarm, der einen Fausthieb von mir abbekommen hatte. »Autsch. Du bist ja richtig brutal!«

Okay, das reichte jetzt. Verzweifelt atmete ich ein, ignorierte den Engel, schloss für einen Moment die Augen und suchte nach der Verbindung. Bisher war sie nie von mir ausgegangen, und ich hatte absolut keine Ahnung, wie ich ihn über weite Entfernung hin erreichen sollte. Immerhin konnte ich ihn schlecht anrufen. Trotzdem meinte ich, Wärme zu spüren. Etwas … Vertrautes. Vorsichtig wagte ich mich weiter vor, schickte meine Seele auf Reisen, um die zweite Hälfte zu suchen. Allein dieses Gefühl war so befremdlich, dass es mich alle Mühe kostete, nicht in dieser Wärme, dieser Verbindung zu ertrinken. Es fühlte sich so hoffnungsvoll und so … wunderschön an.

Meine geschlossenen Lider zitterten, während ich mir hart auf die Innenseite der Wange biss, um mich aus dem Kokon zu befreien. Und dann meinte ich, ihn Anweisungen brüllen zu hören, meinte spüren zu können, wie seine Muskeln unter Schwerthieben tanzten. Auf verquere Weise hörte ich sogar seinen Herzschlag, das Pulsieren seiner Adern und das Blut, das durch ihn rauschte. Durch ihn und durch mich. Und dann versuchte ich es. »Kannst du mich hören?«

»Das hat aber gedauert«, kam es in meinen Gedanken zurück.

»Hättest du mir gesagt, was ich zu tun habe, wäre es schneller gegangen«, keifte ich ihn an und hörte ihn durch unsere Gedankenverbindung lachen. Als er sonst nichts mehr sagte, rief ich ihm zu: »Ich muss sofort zum vierten Himmel.«

»Na dann komm mal rüber. Du sollst schließlich nicht die Dämonen zu meinem Himmel locken. Und hier warten alle auf den Ehrengast.«

Ehrengast… Was für ein Mistkerl.

»Das hab‘ ich gehört.«

Ich verdrehte die Augen. In was war ich hier eigentlich hineingeraten? »Würdest du bitte einen Wirbel öffnen?« Bevor ich den Satz in Gedanken zu Ende sprechen konnte, tauchte eine flimmernde Wand vor mir auf.

Lucifers Krieger stellte sich neben mich, blickte mich von oben herab an und grinste. »Ihr versteht euch gut, was?«

»Ja«, antwortete ich ihm ironisch. »Fast so gut, wie mit dir.«

Dann sprangen wir beide gleichzeitig hinein.

Kapitel 3

Der Wirbel gab uns auf der Terrasse des vierten Himmels frei. Die Lichter erloschen allmählich, bis nur noch die Dunkelheit blieb. Eigentlich hätte schon längst die Sonne aufgehen müssen.

Dafür drang sofort das Ziehen in meine Brust, der abgestandene Geruch nach verfaultem Fleisch und der Nebel, der jedes Licht abschirmte.

Und ein kurzer Blick in den Himmel zeigte mir, wie riesig der Riss mittlerweile klaffte. So gewaltig, dass er sogar durch den Rauch schimmerte.

»Dann leg mal los.« Trotz der Dunkelheit meinte ich, Lucifers Krieger neben mir zwinkern zu sehen. »Ich will ja keine Hektik auslösen, aber du solltest dich etwas beeilen.«

Sein Blick glitt abermals unheilvoll über den undurchdringlichen Nebel. Er zog sein Schwert, und in dieser Zeit erlaubte ich mir, mich kurz zu orientieren.

Ich sah über die Terrasse, hörte das Kreischen der Dämonen, die Schreie der kämpfenden Krieger, die von überall her kamen. Hastig drehte ich mich weiter, und dann sah ich die offenstehenden Tore zu Nicks Palast. Kaum Helligkeit strahlte zu uns herüber, und jeder, der wollte, konnte ins Innere gelangen. Mir stockte der Atem und mir wurde schwindlig.

»Ich weiß nicht wie!«, rief ich über das Gegröle hinweg.

Bevor ich zu Lucifers Krieger herumfahren konnte, spürte ich, wie ebendieser mich an den Schultern packte und nach vorne warf. »Probier‘s einfach«, war das Letzte, was ich von ihm hörte, dann war ich allein in den Schatten.

Stumm verfluchte ich ihn, ließ aber nicht zu, mich zu stark über ihn zu ärgern, denn ich hatte gerade viel wichtigere Probleme!

Ich musste mich konzentrieren, doch die Stille, die vom Palast ausging, ließ mein Herz zu laut schlagen. Wieso hörte ich nichts im Inneren? Waren sie etwa alle …? Nein! Vehement schüttelte ich den Kopf, atmete tief ein, schloss die Augen und zog meine Mauer nach oben, so wie ich es von Ash gelernt hatte. Sie stand in Sekundenschnelle und war so dick, wie ich sie nie zuvor gespürt hatte. So uneinnehmbar wie die sicherste Festung. Ich konnte jeden einzelnen Stein ertasten, jede Verbindung, die sie zusammenhielt und es fühlte sich mächtig an.

Das Zerren in meiner Seele hörte schlagartig auf, und das allererste Mal konnte ich durch die Schatten blicken, als wären sie nur ein seichter Schleier. Gehörte das etwa zu der neuen Magie, die ich von Lucifer bekommen hatte? Zu meiner neu gewonnenen Unsterblichkeit? Es war beinahe nebensächlich, denn das, was ich auf dem Boden sah, ließ mich zwei Schritt zurücktaumeln. Überall waren tote Engel. So viele, dass ich nicht wagte, sie zu zählen. Gefallene Krieger mit schwarzen und weißen Schwingen.

Mit einem traurigen Schnauben schloss ich meinen offenstehenden Mund, und dann erkannte ich sie: Dutzende Männer und Frauen mit schwarzen Flügeln, die ihre Klingen in die Wesen rammten. Lucifers Armee. Sie waren um mich herum, kämpften, schrien von allen Seiten.

Ich wirbelte herum, konnte nirgendwo Ash, Silver oder all die anderen von Nicks Hof erkennen. Dafür die Dämonen, die hier so zahlreich waren, dass ich sie niemals hätte zählen können. Ihr Kreischen ließ die Dunkelheit erzittern und bescherte mir eine eisige Gänsehaut. Mein Mund wurde staubtrocken und ich wich unwillkürlich zurück. Egal wie viel Macht ich jetzt in mir hatte, gegen die würde ich niemals ankommen. Niemals!

Meine Angst ließ meine Magie unangenehm pulsieren. Und dann sah ich es zum ersten Mal: Licht. In meinen Händen war … Licht! Es strömte aus meinen Handflächen, wirbelte aus meinen Fingern, und je schneller mein Herz schlug, desto heller durchfeuchtete ein Lichtstrahl die Terrasse, bis er so gleißend wurde, dass ich hektisch die Lider zusammenkniff.

Dann wurde alles still.

Die Dämonen verstummten, das Klirren der Schwerter erstarb, und ich meinte, selbst meinen hektischen Atem in dieser allumfassenden Lautlosigkeit nicht mehr wahrnehmen zu können.

Vorsichtig blinzelte ich und bei Gott, ich wünschte, ich hätte es nicht getan.

Die riesigen, weißen Augen aller Dämonen waren jetzt auf mich gerichtet. Nicht ein Paar, nicht fünf, Dutzende!

In den kurzen Sekunden, in denen ich die Lider zusammengepresst hatte, hatten sie von Lucifers Kriegern abgelassen, um mich zu fixieren. Mich, die einzige Person, die ihnen wirklich gefährlich werden konnte. Ich erkannte an ihren gefletschten Zähnen, dass es nur noch ein paar Sekunden dauern würde, bis sie auf mich hechten würden, und mein Herz sank in meinen Kniekehlen. Blanker, kalter Schweiß perlte mir in den Nacken, und ich hörte nur noch ein Rauschen in meinen Ohren. Scheiße.

Mit rasselndem Atmen drehte ich mich im Kreis. Sie waren überall! Sie zeigten mir ihre langen Reißzähne, und dann … kreischten sie. Diese plötzliche Lautstärke war so heftig, dass meine Augäpfel vibrierten und ich ihre geballte Kraft auf meinen jetzt erhobenen Händen spürte. Sie drang tief in mich ein, prallte gegen meine Mauer, und ich meinte, ich würde nur durch das Gejohle über den Boden geschoben werden. Und obwohl ich das Licht jetzt deutlich vor mir sehen konnte, ich es endlich hatte, schien sich kein einziger Dämon zu wandeln. Dafür liefen sie auf mich zu. Langsam, ganz und gar auf der Jagd. Nach … mir.

Panisch riss ich die Augen auf, ging zwangsläufig zwei Schritt rückwärts, spürte mein schwer schlagendes Herz bis in die Fingerspitzen. »Äh, Lucifer?«

»Mhm?«

»Die werden gleich alle auf mich springen.«

»Könnte man so sagen, ja.«

Zähneknirschend ging ich noch einen Schritt zurück, schob schützend beide Arme vor mich. »Sagst du mir, wie ich deine Magie benutzen kann? Das Licht scheint ihnen nicht so viel auszumachen.«

Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir. Ich wirbelte herum und schob meinen anderen Arm hinter mich. Sofort kreischten die Schattenwesen, und ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten. Aber ich konnte nicht, und so drehte ich mich jetzt im Kreis mit zu beiden Seiten erhobenen Armen.

»Du weißt, wie es geht. Vertraue deiner Magie. Nur sie kann dir zeigen, wie es funktioniert«, hörte ich ihn in meinem Kopf sagen.

Meine Arme wogen schwerer und meine Ohren klingelten mittlerweile so sehr, dass ich seine Stimme nur verwaschen hören konnte. Dennoch tat ich, was er sagte, und schloss für einen Moment die Augen. Vertrauen … Das Licht rauschte in mir, brodelte und funkelte. Hinter meinen geschlossenen Lidern sah ich das Sternenlicht, und all die Geistergesänge um mich herum wurden leiser. Und dann öffnete ich meine Augen, fixierte einen Dämon vor mir und richtete mein Licht nur auf ihn. Vertrauen.

Meine Magie peitschte vor, wurde zu einem Strahl aus Sternen und schoss auf meinen Gegenüber zu. Der Dämon kreischte, ich roch verbranntes Fleisch, und als das Licht schwächer wurde, erkannte ich einen verkohlten Körper auf dem Boden. Er war … tot. Ich hatte ihn … umgebracht. Mein Mund öffnete sich und die Welt wurde leise. Mörderin!

»Das war etwas zu viel.« Lucifers Worte in meinem Kopf, die meine Schockstarre nicht lösen konnte.

Mein Blick bannte sich auf den Rußfleck am Boden und die Zeit lief langsamer an mir vorbei. Die Schreie, die Kämpfe, die aufgenommen wurden, ich hörte sie kaum.

Ich war so irritiert, dass ich für eine Sekunde vergaß, die Helligkeit in meiner anderen Hand aufrecht zu erhalten. Im gleichen Moment spürte ich einen Luftzug, wirbelte herum, sah die Klaue, die mir gleich mein Gesicht zerfetzen würde!

Bevor sie mich erwischen konnte, blitzte ein Schwert auf, dass den gesamten Arm des Wesens in einem Hieb abtrennte. Der Dämon kreischte in einer Lautstärke, die mir die Zähne schmerzen ließ, doch ich hob sofort meinen Arm, zwang mein Licht hervor und konnte seine verkrümmte, einarmige Statur durch die strahlende Helligkeit nur schemenhaft erkennen.

»Danke«, schrie ich Lucifer über das Kreischen hinweg an.

Er zwinkerte mir mit diesem diabolischen Grinsen zu. »Stets zu Diensten.«

Wie konnte er so gelassen wirken, wenn hier gerade die Welt unterging? Hektisch sah ich zu ihm auf, zu seinem Langschwert, dann positionierte er sich neben mir. Rechts von mir stellte sich der Krieger auf, mit dem ich hierhergekommen war und dann meinte ich, schwarze Schwingen hinter all den Dämonen ausmachen zu können. »Du kesselst sie ein?«

Lucifers unergründlicher Gesichtsausdruck fand für einen Moment meinen. »War der Deal, zu helfen, oder nicht?« Dann war da dieses Lächeln, bevor er den Blick abwandte, sich mit mir in meinem Licht bewegte und die Schattengestalten zu durchleuchten schien. »Fang mit den Vordersten an. Meine Krieger drängen sie nah an dein Licht.«

»Ich kann das nicht«, protestierte ich. »Du hast doch gerade gesehen, was passiert ist. Ich töte sie.«

»Du brauchst nur etwas Übung.«

Mein Herz pochte vor Angst, das Blut rauschte durch mich hindurch und als ich über all die Dämonen blickte, schluckte ich heftig. Das waren zu viele. Nicht mit all der Kraft der Welt würde ich gegen diese Anzahl ankommen. Ihre Schatten waren überall.

Obwohl ich nicht ansatzweise dafür bereit war, meine Versagensangst mich lähmte, nickte ich Lucifer zu. Es blieb nichts anderes übrig. Entweder versuchte ich es oder wir gaben hier und jetzt auf. Letzteres kam nicht in Frage.

Er fing meinen Blick auf, stellte sich dann mit seinem Krieger hinter mich, um die Dämonen in meinem Rücken in Schach zu halten. Damit gaben sie mir die Möglichkeit, mich mit beiden Armen auf das zu konzentrieren, was vor mir lag. Dutzende Dämonen, die alle die Zähne fletschten, gegen meine Barriere aus Licht schlugen, sich verbrannten, grölten. Es müsste sie schmerzen, dennoch drückten sie immer weiter gegen die Helligkeit. Waren sie wirklich so versessen darauf, mich tot zu sehen, dass sie ihr eigenes Leben dafür gaben? Allein aus der Hoffnung, ich würde irgendwann vor Schwäche versagen? Ich wusste es nicht, aber eins wurde mir klar: Sie würden mit allem, was sie hatten, gegen mich ankämpfen und erst aufhören, wenn mein Licht erloschen war. Ich oder sie. Eine Alternative gab es nicht mehr.

Mutig pumpte ich Luft in meine Lunge, verstärkte die Magie in meinen Händen und dann drückte ich mit aller Kraft gegen die ersten zwei Schattenwesen.

Meine Kraft schlug gegen ihre Mauern, und ich riss die ersten Stücke heraus. Sofort spürte ich ihren Schmerz, alle ihre Ängste, sah Bilder ihres eigentlichen Ichs vor mir.

Mein Kiefer bebte vor Anspannung, als ich tiefer grub, nach etwas Schönem in ihnen suchte. Ash hatte mir gesagt, dass ich die hellen Seiten einer Seele finden musste, um sie wandeln zu können, also wühlte ich weiter. Da musste doch irgendetwas sein!

Mit gefletschten Zähnen drückte ich fester zu, bis ihre Dämonengestalt wich und sie nur noch zwei Menschen waren, die mich mit panischem Blick anstarrten. Meine Magie tat ihnen weh, das fühlte ich mit einem heißen Brennen in mir. Aber, verdammt, was sollte ich denn jetzt machen? Ihre Seelen lagen in meinen Händen, mein Licht umtoste sie, dennoch, sie stiegen nicht auf! Einer der beiden schrie nach seinen Lieben. Tränen rollten ihm über die Wangen, er zitterte, und genau da setzte ich an.

Ich hielt seine Erinnerung fest und spürte sofort, wie sich sie unter meinen Händen verfestigte. »Ihr müsst zurück«, schrie ich den beiden über die Lautstärke hinweg entgegen und wusste dabei nicht, ob sie mich ohne Körper überhaupt hören konnten, doch sie nickten.

Okay, das war der Punkt, den ich nicht gelernt hatte. Trotzdem schaffte ich es nicht, Lucifer, der hinter mir gegen die Dämonen kämpfte, um Hilfe zu bitten. Meine gesamte Aufmerksamkeit hing wie ein Magnet an den zwei Seelen, und ich hatte das Gefühl, würde ich einen Moment wegsehen, würde ich sie damit töten.

Aber ich würde es schaffen. Ich musste nur mehr Vertrauen in mich haben. In mich und in Lucifers Magie. Er würde mich nicht allein lassen, das versuchte ich mir einzureden. Er war hier mit mir, und irgendwie würden wir das gemeinsam durchstehen, ganz gleich, wie stark gerade die Welt um uns herum zerbrach. Wir würden siegen. Dieser Gedanke schenkte mir in all meiner Hoffnungslosigkeit, all den Schatten um mich herum, ein wenig Trost. Vertrauen, ich musste in mich vertrauen.

Das allererste Mal ließ ich mein Licht etwas lockerer, hielt ihre Seelen aber weiterhin fest an Ort und Stelle, und hoffte, die Magie würde etwas übernehmen, was ich noch nicht verstand. Schick die Seelen zurück! Komm schon. Meine Magie umwirbelte die zwei Männer, schwang sich um ihre Körper, erhellten ihre Statur, und ich hätte schwören können, spüren zu können, wie sie sich in die Lüfte erheben wollten, aber es passierte nichts!

»Lockere deinen Griff«, rief mir Lucifer zu.

Für einen Moment sah ich die beiden hoffnungslos an, dann ließ ich die Umklammerung an ihren Seelen ganz langsam los, hielt das Licht, das sie noch immer umwaberte, aber fester umklammert. Und dann geschah es. Meine Magie drang vollends in ihre Körper, erhellte sie von innen, hob sie an und trug sie in den Himmel. Wie zwei hell erleuchtete Sterne flogen sich durch die Nacht.

Mit offenstehendem Mund folgte ich ihrem Weg, bis ich sie nicht mehr erkennen konnte.

»Gut gemacht.« Obwohl es nur seine Stimme in meinem Kopf war, fuhr sie über meinen Körper und löste eine vereinnahmende Gänsehaut aus. Die Verbindung zu Lucifer war so greifbar, dass ich über sie fahren könnte und sobald ich einen winzigen Moment abgelenkt war, spürte ich den Drang, ihm näher zu sein. Alles davon war grauenhaft.

»Das können wir später nachholen.«

»Musst du wirklich ständig meine Gedanken lesen?«

»Du machst es mir schwer, es nicht zu tun. Du schreist sie mir regelrecht entgegen.«

Mit einem Schnauben ignorierte ich ihn und konzentrierte mich auf die nächsten Dämonen. Wenn die Zwischenwelt noch nicht vollständig aufgebrochen war, dann spätestens in einigen Minuten, so sehr, wie der Boden mittlerweile bebte. Ich hörte das Donnern von allen Seiten, sah, wie sich der Nebel weiter verdichtete, also ließ ich meine Kraft gewähren und wandelte die nächsten.

Mir tat alles weh, und ich war mir sicher, wenn ich einen weiteren Dämon wandeln würde, würde ich in Ohnmacht fallen.

Die Schattengestalten auf Nicks Hof waren nicht einmal annähernd besiegt. Vielleicht hatte ich bisher vierzig gewandelt, möglicherweise etwas weniger, aber ich schaffte keinen einzigen mehr. Trotzdem blickte ich über die Wesen vor mir, erkannte Lucifers Krieger, die sie weiter zu mir drängten, deutlicher und auch der Teufel, der jeden Angriff auf mich abgewehrt hatte, wirkte mittlerweile etwas abgekämpft.

Egal wie sehr wir kämpften, es wurden nicht weniger! Sobald ich drei gewandelt hatte, schlugen mindestens fünf weitere auf dem Hof auf. Ständig hatte der Teufel Anweisungen gebrüllt, hatte seinen Männern und Frauen befohlen, gegen die zu kämpfen, die aufgeschlagen waren, und war nicht einen Moment von meiner Seite gewichen.

Hastig wagte ich einen Blick über seine Krieger, die trotz der immensen Menge zu wenige waren. Wir brauchten mehr, aber vor allem brauchten wir die Erzengel.

»Wo sind Uriels und Michaels Krieger?«, brüllte ich ihm in Gedanken entgegen, drückte mein Licht weiter gegen die, die vor mir standen und meine Magie anfauchten. Meine Kraft, die langsam schwand, denn meine Arme zitterten so stark, dass es zu flackern begann. Trotzdem umfasste ich die Seelen der nächsten Dämonen, hielt sie im eisernen Griff fest und erkannte im Augenwinkel, wie rasend schnell Lucifer kämpfte. Immer, wenn ein Dämon angriff, verwandelte er sich in diesen schwarzen Nebel, war plötzlich hinter ihm. Keiner seiner ausgeführten Schläge fuhr ins Leere und jeder seiner Schwerthiebe war präzise. Es war beinahe Magie, wie er sich bewegte. Kraftvoll, schnell wie eine Raubkatze und zu jeder Zeit tödlich. Er schwächte sie mit seinen Angriffen so sehr, dass ich es leichter hatte, sie zu wandeln. Dabei war ich mir sicher, dass er schneller wäre, wenn er sie töten würde, statt sie immer wieder zu verletzten, doch das tat er nicht. Er wollte, dass sie zurückkonnten.

Als ich ein Ächzen hörte, drehte ich mich hastig zu ihm um. Eine Klaue hatte ihn am Oberarm getroffen. Ich rümpfte die Nase und schlug dem Dämon mein Licht entgegen. Er kreischte, taumelte zurück und andere nahmen seinen Platz ein. Meine andere Hand schob ich hinter mich und spürte sofort, wie die Dämonen dagegen schlugen.

Mein Atem ging in ein Rasseln über, und mit jeder Sekunde bekam ich weniger Luft. Mir war so unglaublich heiß und Schweiß bedeckte meinen Körper. »Alles in Ordnung?«, fragte ich Lucifer abgekämpft.

Gemächlich drehte er sich zu mir um, als wäre all das hier nichts. Die Dämonen, der Untergang der Welt, sein Arm, der eindeutig getroffen worden war, aber nicht blutete – alles nichts.

»Ich habe sie schon sehr lange nicht mehr gesehen«, beantwortete er meine Frage zu den Erzengeln und ignorierte dabei die zweite.

Ich blickte ihn stutzend an. Nick würde niemals untätig herumsitzen, während andere seinen Kampf kämpften. Das lag nicht in seinem Blut. Wenn er nicht hier war, war er dann … »Sind sie alle …?« Ich schaffte es nicht, diesen Satz zu Ende zu sprechen.

Die Sekunden, in denen Lucifer mich unbeeindruckt musterte, kamen mir endlos vor, bis er endlich den Kopf schüttelte.

Der Teufel trat näher in mein Licht und blickte zu Nicks Palast. »Ich kann sie spüren. Sie verstecken sich.« Als sein Blick kurz meinen streifte, sog ich scharf die Luft ein. »Die Abmachung war zu helfen. Nicht alles allein zu machen. Du erinnerst dich sicher?«

»Sie würden sich niemals feige verstecken!«

Bei diesem Satz drehte er sich mir vollends zu. Meine Arme zitterten mittlerweile so stark, dass einer nach unten sackte. Bevor er gegen meine Hüfte schlagen konnte, umklammerte Lucifer mein Handgelenk, zwang sie wieder nach oben und zerrte mich gegen seine Brust.

»Würden sie wirklich nicht?«, knurrte er voller Hass, und das Beben, das seine Stimme auslöste, vibrierte in meinem Brustkorb nach. So wie er diesen einen Satz ausgesprochen hatte, war ich mir nicht mehr sicher.

Trotzdem entriss ich ihm meine Hand und ging zwei Schritt rückwärts, als der lauteste Donner durch den Nachthimmel fuhr, den ich jemals gehört hatte. Hektisch sah ich hinauf und das, was ich dort erkannte, ließ mich taumeln. Die Zwischenwelt, der Riss … er klaffte so weit, dass ich nichts anderes mehr wahrnehmen konnte. Da waren keine Sterne mehr, kein Mond, selbst der Nebel schien sich nur für diesen Anblick aufzulösen.

Panisch sah ich zu Lucifer, der langsam den Kopf vom Himmel senkte und mich mit tiefschwarzen Augen ansah.

»Bring mich rauf.«

»Es ist längst zu spät.«

»Ist es nicht«, hielt ich dagegen. »Sie ist noch nicht vollständig aufgebrochen. Wir können es noch verhindern.«

Er kam mir ganz nah. »Wir hätten es verhindern können, wenn die Erzengel hier wären. Es braucht ein bisschen mehr als eine Wandlerin, um den Riss zu schließen. Aber so«, sein Blick brannte sich auf den Grund meiner Seele. So tief und vereinnahmend, dass ich wahrhaftig dachte, es wäre vorbei. Dann zeigte er auf seine Armee. »Ich habe bereits zu viele meiner Krieger verloren, weil sich andere nicht an ihre Abmachung halten - und es wird kein Einziger mehr dazukommen.«

Ich begann zu schlucken und konnte ihm keines seiner Worte glauben. Nick würde sich niemals verstecken. Und auch nicht Silver. Erstrecht nicht Silver. Bei Michael war ich mir nicht sicher. Trotzdem hatte ich keinen einzigen des vierten Himmels hier draußen gesehen; und auch nicht Michaels flammendes Schwert, das uns gute Dienste hätte leisten können. »Dann lass uns rein gehen und sie rausholen!«

Die tiefschwarzen Augen blickten tief in meine und die Verbindung brachte mich beinahe um. Es war schlimm genug gegen die Dämonen, die immer zahlreicher hier aufschlugen, zu kämpfen. Gleichzeitig gegen den Teil in mir anzukommen, der mich erdrückte, kostete mich meine letzte Kraft. Trotzdem hielt ich seinem Blick stand, hörte, wie seine Krieger gegen die Dämonen kämpfen, spürte, wie die Schattenwesen gegen mein Licht sprangen und das Beben bei jedem Aufschlag bis in meine Schädeldecke pochte.

»Ich werde nicht bei Engeln um Hilfe betteln, die meine in Anspruch genommen haben.«

Verdammt, ich verstand ihn. Ich verstand jedes seiner Worte, denn er hatte recht. Lucifer war bereits über die bloße Vereinbarung hinausgegangen und dennoch war niemand außer uns hier. Aber all das, es spielte doch keine Rolle, wenn die Welt unterging.

»Bitte, bitte geh jetzt nicht. Gib das hier nicht auf.«

Sein Blick traf auf meinen. Flüchtig, nichtssagend, denn jetzt sah er über seine Krieger. Kurz meinte ich, seinen Kiefer bei dem Anblick zucken zu sehen. »Um den Riss zu schließen, müssen wir da rauf«, er zeigte mit dem Finger in den Himmel. »Wir brauchen mehr Krieger, um die Dämonen direkt vor dem Riss zurückzudrängen und mehr, sehr viel mehr Erzengel, um ihn zu schließen. Allein schaffen wir das nicht.«

»Du bist nicht allein, Luc«, hörte ich auf einmal eine vertraute Stimme, wirbelte herum und erkannte Nick, der so zerstört aussah, dass es mir das Herz zerriss. Neben ihm lief Silver, aber Ash konnte ich nicht entdecken.

Sofort reckte ich den beiden mein Licht entgegen, sodass sie, ohne angegriffen zu werden, zu uns kommen konnten. Nick sah mir einen Moment in die Augen und in diesem kurzen Moment musste ich ihn fragen: »Wo sind die anderen, wo ist Michael?«

»Das besprechen wir später.«

Dieser Satz ließ mich stutzen, doch er wandte den Blick ab, sah zu Lucifer. »Lass es uns zu Ende bringen.«

»Wird es ausreichen?«, warf ich ein, und Nicks Augen hefteten sich an meine.

»Wir werden es versuchen müssen.«

Kapitel 4

Lucifer hatte einen Wirbel erschaffen, dessen Ausgang sich unmittelbar vor dem Riss befand.

Der Sog zerrte an meinem Körper, drängte darauf, mich mit sich zu reißen, und allein Lucifers Magie hinderte ihn daran.

Mit behutsamem Blick sah ich zu ihm auf. Er stand direkt neben mir, bewegte seine Finger in einem harmonischen Rhythmus, doch ich sah sie leicht zitterten. Er erschuf diese Wirbel, und sie gehorchten ihm, jedoch schien es ihn sehr anzustrengen, sie ständig in der Schwebe zu halten.

Vertrauen. Dieses Wort hallte erneut in meinem Inneren wider. Jetzt musste ich nicht nur mir selbst, sondern auch ihm vertrauen.

»Halte dich von den Außenwänden fern«, wies er mich streng an. Sein Gesicht und sein gesamtes Wesen schienen von klirrendem Frost umgeben zu sein. »Bewege dich höchstens einen Schritt vorwärts, nicht zurück und niemals seitwärts.«

Mit einem nervösen Schlucken nickte ich, und dann tauchte der Teufel in einen weiteren Wirbel und verschwand.

Mein Herz hämmerte in meiner Brust, während das unaufhörliche Rauschen mich umtoste. Es war noch ohrenbetäubender als im Inneren. Die Wände bebten, die Magie lehnte sich rebellisch auf, das Universum und die Zeit schienen sich gegen mich zu verschwören. Gegen Lucifer, gegen alles. Hoffentlich würde er lange genug standhalten.

Ich setzte behutsam einen Schritt nach vorne, um das gesamte Ausmaß der Katastrophe zu überblicken. Dies hier war nicht mehr bloß ein Riss. Es war alles und gleichzeitig nichts. Der Anfang und das Ende.

Dutzende Seelen sprangen heraus, verwandelten sich in Dämonen, fielen und wirbelten durch die Luft wie finstere Schatten. Sie alle würden auf der Erde landen.

Immer wieder erkannte ich weiße und schwarze Flügelpaare und das Blitzen von Waffen.

»Lenke deine Magie auf den Riss.«

Das hätte Lucifer mir nicht sagen müssen, ich war schon dabei, meine Hände zu erheben. Ich schickte all meine Magie hinein, alles, was ich noch hatte, und die Mauer wurde zu Stahl, breitete sich immer weiter aus. Die Helligkeit raubte mir die Sicht. Ich konzentrierte mich einzig und allein auf mich, fühlte tief in mich hinein, hörte auf das Licht, das durch mich peitschte.

Wie eine gigantische, halbkreisförmige Mauer breitete sich meine Lichtbarriere aus und drängte gegen den Spalt. Ich spürte, wie sie die Seelen zurückdrängte, sie über den Boden schob und forttrieb.

»Schließt ihn!«, zischte ich Lucifer mit zusammengebissenen Zähnen an.

»Halte deine Magie weiter aufrecht. Wir brauchen noch einen Erzengel.« Seine Stimme klang blechern.

»Und wo sind sie alle?«, brüllte ich zurück und bemerkte erst jetzt, dass ich die Worte ausgesprochen hatte. Ich hoffte, er konnte mich durch den tosenden Lärm, den ohrenbetäubenden Donner und das Geschrei hören. Wo auch immer er war. Ich zumindest verstand meine Worte kaum, da mein Licht zu sirren begann. Es knisterte unter meinen Handflächen und war so viel lauter als der Wirbel. Und obwohl ich gerade keine Dämonen wandelte, spürte ich überdeutlich, wie die Seelen in der Zwischenwelt gegen mein Licht ankämpften, wie sie dagegen drücken und mit jeder Sekunde, die verstrich, weiter vorankamen.

»Ich kann sie nicht mehr lange aufhalten!«, schrie ich ihm in Gedanken an. »Es sind viel zu viele!« Meine Zähne knirschten und jeder Muskel in meinen Armen begann zu brennen. Auf welchen Erzengel wir auch immer warteten, er sollte sich verdammt nochmal beeilen.

»Ich weiß.«

Zwei Wörter, die meine Knie weich werden ließen. Eine widerliche Hoffnungslosigkeit machte sich in mir breit und meine Mauer bröckelte. Mein Licht flackerte, erlosch für eine Sekunde, bevor ich es zähneknirschend nach oben zwang. In diesen wenigen Sekunden konnte ich die riesige Engelsschar erkennen, die ihre Schwerter in die herunterfallenden Dämonen rammte. Da waren so viele schwarze Schwingen, so viele weiß leuchtende Augen, so viele Krieger, die keine Chance hatten.

Kurz erhaschte ich einen Blick auf Silver und Nick, die Flügel an Flügel gegen die Schattenwesen kämpften; wie sie immer wieder getroffen wurden. Wo verdammt war Michael? Wenn ein Erzengel fehlte, wie konnte er jetzt nicht hier sein? Er war der Mächtigste von ihnen, der Anführer der Himmelschar, verdammt! Wir brauchten ihn!

»Lucifer, kannst du Michael rufen?«

»Was meinst du, wie oft ich das schon versucht habe«, kam es abgehetzt in meinen Gedanken zurück. Er knurrte, als er wohl von einem Dämon getroffen wurde, aber ich konnte ihn nirgendwo entdecken. Das Einzige, was ich sah, waren Schatten, die durch meine Helligkeit flogen, sie durchbrachen und mir einen brennenden Stich schenkten.

Ich biss die Zähne so stark zusammen, dass es schmerzte, legte aber all meine Kraft in mein Licht. Aus dem Flackern wurde ein heller Strahl, der nicht mehr so hell glomm, wie zuvor. Mit jeder Sekunde, die verstrich, wich meine Helligkeit, meine Arme zitterten heftiger und mein Atem ging in ein Keuchen über.

Trotzdem hielt ich dagegen, drückte fester und spürte, wie einige Seelen erneut nach hinten geschoben wurden. Dann schienen sich alle zu vereinen und stießen so hart gegen mich, dass ich nun die war, die einige Zentimeter nach hinten geschoben wurde.

Nein, nein, nein! Kein Schritt zurück. Niemals zurück!

Plötzlich erkannte ich die flimmernden Lichter des Wirbels nicht nur hinter mir, sondern neben mir! Als würden die Seelen gemeinsam immer einen Schritt weiter vorangehen, prallte ihre geballte Kraft gegen mich; immer und immer wieder.

Mittlerweile war das Sirren des Wirbels deutlich und der Ausgang des Strudels rückte immer weiter in die Ferne. Meine Magie peitschte um mich, brandete orientierungslos hinaus. Traf ich überhaupt noch mein Ziel? Meine Empfindungen stumpften immer weiter ab, und der verdammte Sog zerrte an mir.

Irgendwie konnte ich die Seelen spüren, irgendwie auch nicht mehr. Das Einzige, was ich deutlich wahrnehmen konnte, war, wie mein Atem rasselte, mir der Schweiß von der Stirn perlte, ich meine Arme kaum noch erhoben halten konnte und wie dieser Gestank in meine Nase drang. Ich schaffte es einfach nicht mehr. Wie sollte ich denn allein gegen Tausende tote Seelen ankommen können? »Lucifer… Ich kann nicht mehr…«

Meine Beine wurden weicher, meine Muskeln brannten so sehr, dass ich Sterne vor meinen Augen tanzen sah.

Und dann … wurde ich in die Außenwand gedrückt und spürte einen Schmerz, der meinen gesamten Körper durchzog, von meiner Wirbelsäule über meinen Kopf bis hinunter in meinen kleinen Zeh.

Mein Licht erlosch, jede Zelle meiner Magie verblasste, und so stand ich da. Regungslos, die Lichter des Wirbels verschwammen zu einer undeutlichen Masse, meine Lider flatterten. Benommen fühlte ich, wie mein Kopf zur Seite fiel.

Was … was war passiert?

Meine Beine sackten unter mir weg, ich landete hart auf den Knien.

Verschwommen konnte ich einen Blick auf meinen linken Arm erhaschen, der schlaff an meiner Seite hing, als gehöre er nicht zu mir. Es drang kein Funken Helligkeit aus ihm hervor. Stattdessen wurde mein Körper Zentimeter für Zentimeter weiter in den Strudel aus Lichtern gezogen.

Das Sirren des sich auflehnenden Wirbels vermengte sich mit den Kriegsrufen und dem Höllengeschrei der Dämonen.

Ich spürte vage, wie jemand an der Gedankenverbindung rüttelte, doch selbst das Öffnen selbiger gelang mir nicht mehr.

»Steh auf.«

Mit flatternden Lidern drehte ich mich auf den Rücken und erkannte das markante Gesicht über mir; konnte schemenhaft seine dunklen Augen erhaschen, die mir mittlerweile viel zu vertraut waren. 

Er umklammerte meinen Arm, zerrte mich aus dem Sog heraus und hievte mich auf die Beine. Wacklig stand ich, klammerte mich an seinen schwarzen Frack, während sich alles drehte, und er mich Schritt für Schritt zurück zum Ausgang dirigierte. 

»Es wird gleich besser«, meinte ich ihn sagen zu hören. Alles schien so weit weg und gleichzeitig so nah. Ganz so, als wüsste meine Seele, was gerade geschah, während mein Körper in Watte gepackt im Bett lag.

Als ich allmählich das Gefühl hatte, stehen zu können, drückte ich mich von ihm weg. Jeder Knochen, jede Hautzelle, jede Faser meines Körpers brannte. Es tat so verdammt weh. 

Benommen sah ich zu Lucifer auf. »Wie kann ich noch leben?«