Die letzte Seelenwandlerin - Rising Shadows - Anera Adams - E-Book

Die letzte Seelenwandlerin - Rising Shadows E-Book

Anera Adams

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Beschreibung

Eine Seelenwandlerin ohne Kräfte. Ein Engel, der keiner ist. Eine unausweichliche Bitte, die dich dein Leben kosten wird. Das Schicksal der Menschheit und der sieben Himmel auf den Schultern eines Mädchens. Bist du bereit für dein Schicksal, Eby? *** Hi. Mein Name ist Eby und ich sehe Geister… Deshalb habe ich den Großteil meines Lebens ohne Freunde zuhause verbracht und war bei unzähligen Ärzten, die mir nicht helfen konnten. Das klingt jetzt sehr melancholisch, ich weiß, aber eines Tages sind die Schatten verschwunden und ich konnte endlich beginnen, die Scherben meiner Seele aufzusammeln… Bis plötzlich ein geflügelter Kerl in mein Leben trat und alles ins Chaos stürzte. Jetzt sind die Geister zurück. Sie zwängen sich aus ihrer Zwischenwelt und gelangen als seelensaugende Dämonen auf die Erde. Klingt nicht so toll, oder? Ist es auch nicht. Doch was das Schlimmste ist: Sie jagen mich.

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Copyright 2023 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-71-7

Alle Rechte vorbehalten

Für alle Väter dieser Welt.

Ganz besonders für meinen.

Inhalt

Triggerwarnung:

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Danksagung

Triggerwarnung:

Fragst du dich, was über den Wolken auf Dich wartet?

Ich habe es erfahren und ich nehme Dich mit, wenn du möchtest. Doch bevor wir die Himmel betreten, solltest du wissen, hier ist nichts, wie du es vermutest.

Sei gewarnt. Meine Geschichte enthält potenzielle Inhalte, die dich triggern könnten. Eine ausführliche Aufstellung der im Buch angeschnittenen Themen findest du auf der letzten Seite.

Aber eines möchte ich gleich zu Beginn erwähnen:

Sollte der christliche Glaube in deinem Leben stark verwurzelt sein, könnte Dich dieses Buch aus der Bahn werfen.

Denn nur wenig ist so, wie es einst geschrieben wurde.

Ich erzähle Dir meine Geschichte, mit all ihrer Dunkelheit und ihren Wundern.

Ich zeige dir den Schattenregen und den Sternenglanz, die Abgründe und das Licht.

Aber nur, wenn Du bereit dafür bist.

Kapitel 1

Ebony Carls«, rief Mister Dogan meinen Namen.

Vor Schreck fuhr ich hoch, dabei fiel mein Kugelschreiber auf den vollgemalten Block, rollte über das Papier und schlug deutlich hörbar auf dem Boden auf. Ich verfolgte ihn mit meinen Augen, spürte, wie heiß meine Wangen wurden, und verbot mir, die Lippen peinlich berührt zusammenzuziehen, als ich langsam zu meinem Lehrer aufsah.

Er wischte sich gerade die immer triefende Nase am Hemdärmel ab und sah mich erwartungsvoll an.

Oh, Mist! Ich hatte mir Geschichte zwar als Wahlfach ausgesucht, aber leider hörte ich nie zu, was zu meiner Verteidigung an Mister Dogan lag. Seine monotone Stimmlage und das unbändige Feuer, mit dem er die eigentlich spannenden Geschichtsereignisse erzählte, ließen mich spätestens nach drei Minuten abschweifen. Er klang wie ein sehr altes Frettchen, dessen viel zu rote Nase ständig meine Aufmerksamkeit auf sich zog, wodurch seine Sätze ins Niemandsland verbannt wurden. Alles in allem war der Geschichtsunterricht einfach einschläfernd.

Trotzdem biss ich mir auf die Lippe, sah flüchtig über die Tafel, auf der Napoleons Geschichte stand, und blickte verzweifelt zurück zu Mister Dogan.

»Die Carls passt mal wieder nicht auf«, witzelte ein wasserstoffblondes Mädchen namens Nancy zwei Plätze weiter.

Das brachte alle Anwesenden zum Lachen, und mein Kopf wurde noch heißer. Mit einem tiefen Einatmen zwang ich mich, nicht zu ihr zu sehen. Irgendwann hatte ich gelernt, Anfeindungen nicht mehr an mich heranzulassen, was es jedoch nicht weniger schmerzhaft machte.

»Die kann sich nicht mal einen ordentlichen Rucksack leisten«, warf eine andere ein und beide kicherten.

»Tut mir leid, was haben Sie gefragt?«, wandte ich mich an den Lehrer, ohne den doofen Kommentar zu beachten. Ja, im Gegensatz zu den reichen Mädchen hier, hatte ich nichts. Es war ein Wunder, dass ich überhaupt aufs College gehen konnte. Ich besaß keine teuren Klamotten und trug nicht so viel Makeup wie sie. Allein das genügte, um sich über mich lustig zu machen. Innerlich zog ich die dickste Mauer nach oben, die ich hatte, um auch äußerlich ruhig zu wirken. Dennoch spürte ich, wie meine Wange zuckte.

Mister Dogan erhob sich von seinem Pult und zeigte mit dem Stab auf irgendein Ereignis von Napoleon. »Ich will wissen, wann er hier einmarschierte?«

Die Schrift war so klein und verschnörkelt, dass ich trotz zusammengekniffener Augen nichts erkennen konnte.

Wieder lachte der Vorlesungsraum und ich versank im Boden. Der Lehrer sah mich noch eine langgezogene Sekunde erwartungsvoll an, dann seufzte er und befragte jemand anderen.

Nach weiteren zwanzig Minuten ertönte endlich der erlösende Gong und ich hätte vor Erleichterung beinahe geweint. Mit einem tiefen Seufzer kramte ich meine Bücher zusammen, während die meisten Schüler bereits zur nächsten Vorlesung eilten. Für mich war es heute die letzte. Latein ließ ich mit Absicht ausfallen. Gerade überlegte ich mir sogar, dieses Fach komplett aus meinem College-Programm zu streichen. Was auch immer mich geritten hatte, Latein als Wahlfach zu nehmen, meinem alten Ich könnte ich dafür eine runterhauen. Ich war wegen Kunst hier, und die anderen Fächer hätte ich besser darauf abstimmen sollen.

Ausgelaugt verstaute ich meine Sachen in meinem alten Rucksack und schlurfte danach auf den Gang. Regelrechte Menschenmassen quetschten sich hindurch, rempelten mich an und rannten in andere Räume. Kurz blieb ich stehen und starrte einem Kerl hinterher, der sich für den harten Stoß gegen meine Schulter nicht einmal entschuldigt hatte. Daran würde ich mich trotz der zwei Monate, in denen ich bereits hier war, nie gewöhnen.

»Eby!«, rief eine weibliche Stimme hinter mir.

Ich fuhr herum und versuchte, den vertrauten blonden Schopf in der Masse zu erkennen. Als ich einen Arm sah, der wie eine Fahne wehte, schulterte ich den Rucksack höher und lief zu Nina.

»Da bist du ja.« Sie sprang auf mich zu und drückte mich viel zu fest.

Mit einem Japser versuchte ich, mich zu befreien. Zwecklos. Wenn man einmal in Ninas Armen war, gab es kein Entkommen. Wie bei einem Oktopus, dessen Tentakel seine Beute festnageln. Kein anderer Mensch der Welt umarmte so fest.

»Ah, ich freue mich so auf die Party morgen!« Freudestrahlend hüpfte sie auf und ab. Ihre blonden Locken sprangen dabei höher als sie selbst.

Mit Mühe unterdrückte ich ein Lachen.

»Das wird großartig!« Sie hörte auf, zu hüpften, dafür packte sie meine Schultern und schüttelte mich durch.

Ich verzog schmerzhaft das Gesicht.

»Himmel, weißt du schon, was du anziehen willst?«

»Seit wann freust du dich denn so sehr, auszugehen?«, neckte ich sie.

Nina war früher ein Bücherwurm, gepaart mit einem Informatik-Nerd gewesen, und ich liebte sie dafür. Sie kannte jeden Trick, um in Onlinespielen zu gewinnen, und ging liebend gern auf irgendwelche Treffen, auf denen sich Menschen wie ihre Lieblingsfiguren kleideten.

Von Anfang an waren wir beide anders als der Rest, weshalb wir schnell zueinander gefunden hatten. Weder waren wir beliebt noch wollten wir unbedingt dazugehören. Das hatte sich bei Nina jedoch geändert, als sie diesen Typen namens Chris in ihrer Kunstvorlesung wahrnahm. Sie begann kurze Röcke zu tragen, sich Strähnchen in die blonden Haare frisieren zu lassen, und tauschte ihre riesige Brille gegen Kontaktlinsen. Nur hatte sie die Kunst der Tussis noch nicht so drauf. Zu allem Überfluss begann sie auch noch, schrecklich zu stottern, wenn ein nackter Oberkörper in der Nähe war. Was meistens der Fall war, denn der Parkplatz war direkt hinter dem College-Footballfeld, wo liebend gerne trainierte Körper zur Schau gestellt wurden. Manchmal — so wie heute — hatte ich das Gefühl, sie wäre zu einer anderen Person geworden, während ich immer noch ich war.

»Na, seitdem ich weiß, dass Chris morgen auch kommen wird!« Sie schickte einen schmachtenden Blick zur Decke, als könnte sie seine Muskeln sehen. Bildeten sich da etwa Tränen der Sehnsucht in ihren Augen?

Ich musste schmunzeln, was mir sofort einen Schlag gegen den Oberarm einbrachte.

»Aua«, motzte ich.

Ninas Zeigefinger schwebte so dicht vor meinem Gesicht, dass ich zu schielen begann. »Du brauchst dich gar nicht lustig zu machen. Schließlich kommt Connor auch.« Sie verschränkte die Arme, zog eine Schnute und nickte entschlossen.

Seufzend drehte ich mich um und lief den Korridor entlang.

»He«, hörte ich von hinten. Nina hechtete neben mich und hakte sich bei mir unter. »Freust du dich nicht, mal ein paar Worte mit ihm zu reden?«

Ich blickte kurz meine Freundin an, die heute eine pinke Blumenbrosche in ihrem Haar trug. Sie sollte wirklich wieder zu ihrem alten Ich zurückkehren. Der Nerd-Look stand ihr besser, zumal sie wirklich hübsch war und das alles gar nicht nötig hatte. Zumindest sollte sie sich nicht wegen eines Jungen verändern, sondern nur, wenn sie es selbst wollte.

»Conner sieht gut aus«, sprach ich leise und Nina grinste von einem Ohr zum anderen.

»Oh ja, Conner ist heiß.«

»Das ist auch der Grund, warum er sich nicht für mich interessieren wird. Es gibt hundert Mädchen hier, die schöner sind.«

Bevor ich zu meinem Spint gehen konnte, packte mich Nina so grob am Arm, dass mir die Bücher aus den Armen fielen. Das Poltern ging im Lärm, der im Korridor herrschte, unter.

»Du bist verdammt heiß«, rief sie eine Spur zu laut. Einige männliche Studenten blieben neugierig stehen. »Du bist schlank, hast einen echt schönen Hintern. Außerdem die größten Rehaugen, die ich je gesehen habe, und lange braune Haare. Volle Lippen. Du bist die kleine Süße.« Nina zog eine Schnute und musterte mich von oben bis unten. »Kerle stehen auf sowas, glaub mir.«

Ich verdrehte die Augen, hob meine Bücher auf und versuchte, sie zu ignorieren. Als Tussifreundin war sie wirklich anstrengend. Wir kannten uns zwar erst, seitdem ich aufs College ging, aber so eine Verwandlung innerhalb weniger Wochen war schon erstaunlich.

»Beantwortest du mir jetzt meine Frage?«

»Was für eine Frage?«, gab ich zurück und hoffte, sie konnte mich hören, da mein Kopf halb im Spint hing, um das Kunstbuch herauszufischen.

Nina stellte sich direkt neben mich und schrie mir ins Ohr: »Na, was du anziehen willst? Wie wäre es mal mit einem Rock?«

Zähneknirschend und mit klingelnden Ohren zischte ich: »Das kannst du vergessen.«

»Komm schon«, säuselte sie. »Du kannst nicht immer mit zerrissenen Jeans, Chucks und Karo-Hemd rumlaufen. Das steht dir zwar super, aber wir gehen auf eine Party. Da muss etwas Ausgefallenes her.«

Ich schloss den Spint, ohne sie anzusehen. »Ich habe aber nichts anderes.«

»Was hältst du davon: Ich komme morgen vor der Party zu dir und bringe ein paar Sachen mit. Wir schauen, was dein Kleiderschrank so hergibt, und stellen dir was Tolles zusammen.«

»Ähm, also, das ist keine so gute Idee.«

Sie verschränkte provokativ die Arme vor der Brust. »Und warum nicht?«

Weil ich Pa eigentlich nichts von der Party erzählen wollte, wäre die ehrliche Antwort darauf gewesen. Er hatte sich mein gesamtes Leben nur Sorgen um mich gemacht. Die meiste Zeit davon war ich nie unter vielen Menschen. Weil dann immer das Eine passierte. Mein Plan war gewesen, ihm zu sagen, ich würde bei Nina übernachten, um mit ihr fleißig zu lernen. Was Mustertöchter eben so taten. Denn die wollte ich dieses Jahr sein. Ich wollte ihm keine Probleme mehr machen. Aber ich war noch nie auf einer Party, geschweige denn auf einer Collegeparty gewesen, und ich hatte viel, sehr viel davon gehört. Mein Drang, ein ganz normales Leben zu führen, war einfach zu groß, also antwortete ich seufzend: »Gut. So gegen sechs?«

Da war wieder ihr breites Grinsen. »Ja, gegen sechs klingt super.« Dann fiel ihr Gesichtsausdruck schlagartig in sich zusammen, als wäre ihr etwas eingefallen, was gar nicht gut war. Sie begann, an ihrer Lippe herumzukauen, und sah zu Boden.

»Oh weh, wenn du so schaust, ist etwas im Busch.«

Hastig sah sie mich an, dann wieder zu Boden, dann schien jeder Spint ihre Aufmerksamkeit anzuziehen. »Es gibt da noch was.«

Misstrauisch zog ich eine Braue in die Höhe. »Und es wird mir nicht gefallen, richtig?«

Sie nickte zögerlich. »Ganz und gar nicht.«

»Dann schieß mal los.«

Nina begann, sich die Hände zu reiben, aber sie brachte keinen Ton heraus.

»Nina!«

»Vielleicht, also wahrscheinlich oder ziemlich sicher, also …«

Ich drückte ihre Schulter. »Was ist ziemlich sicher?«

»Nun ja, also ziemlich sicher wird … wird Liam kommen.«

Meine Arme erschlafften und fielen einfach herunter. Mein Gesicht musste genauso entgeistert aussehen, wie ich mich gerade fühlte. Ich spürte Luft in meinem Mund, konnte ihn aber nicht schließen. Sofort begann mein Herz zu pochen. Kein aufregendes Pochen. Kein Freudiges. Nein. Es war kalt und steif. Tief und hart und tat unendlich weh. In diesen Momenten lief die Welt langsam an mir vorbei. Das Gerede der Studenten im Korridor wurde zu einer zähen Masse gedämpfter Geräusche. Jeder einzelne Schlag meines Herzens dröhnte in meinen Ohren. Nicht Liam. Bitte nicht. Warum musste ich für den schlimmsten Fehler meines Lebens immer noch bezahlen?

»Hör zu, Eby. Ich weiß, ihr habt irgendeine Vergangenheit und du willst ihn nicht sehen. Aber er ist nun mal im Football-Team und ziemlich beliebt. Du wirst ihn wahrscheinlich auf jeder Party treffen. Aber ich bin bei dir. Das wird schon gutgehen.«

Meine Kehle schnürte sich zu. Reichte es denn nicht schon, dass ich ihn jeden Tag hier sah? Warum musste er gerade morgen auf diese eine Party gehen? Was wenn er jedem erzählen würde … Wenn er …?

»Eby, das wird schon gutgehen.«

Ich schüttelte den Kopf und konnte endlich wieder Nina sehen. »Nichts davon wird gutgehen.«

Wütend knirschte ich mit den Zähnen. Ich hatte mich auf diese verdammte Collegeparty gefreut. Einmal ein normales Leben wie jedes andere Mädchen führen. Und dann holte mich wieder die Vergangenheit ein. Wir waren bereits einmal wegen dieses Arschlochs in eine andere Stadt gezogen, aber er klebte an mir wie alter Kaugummi. Nicht, dass er mich zurückwollen würde. Er tat bisher so, als wären wir uns noch nie im Leben begegnet. Aber ich wurde ihn einfach nicht los. Vermutlich könnte ich aus den USA wegziehen, und er wäre auch dann irgendwo in meiner Nähe. Gut, in den Dörfern, wo wir gelebt hatten, mussten alle Kinder, die aufs College gehen wollten, nach Sparkins. Trotzdem! Ach, verdammt!

»Komm schon, lass dir von deiner Vergangenheit doch nicht deine Zukunft versauen. Zeig diesem Idioten, wie unglaublich du bist.«

Mir musste keiner sagen, wie traurig gerade mein Gesichtsausdruck war. Ich fühlte mich schäbig, in mein altes Ich zurückversetzt und einfach nur ausgelaugt. Trotzdem hallte mir Ninas Spruch durch den Kopf. Es gab zwei Wege. Entweder ich würde wieder weinend in meinem Zimmer sitzen oder ich würde zur Party gehen und ihm zeigen, dass ich anders geworden war. Mutig entschied ich mich dafür, es ihm zu beweisen! Sollte er sehen, was er getan hatte und wie sehr ich an dieser Erniedrigung gewachsen war! Heute war ich stärker, kämpfte mich zurück ins Leben und hatte Freunde gefunden. Wenn ich es mir lange genug einredete, würde es vielleicht wahr werden.

Mit aller Kraft zwang ich die Traurigkeit aus meinem Gesicht und ersetzte sie durch Mut. »Wir werden zur Party gehen.« Meine kraftvolle Stimme überraschte mich selbst.

Nina hüpfte wieder. »Das ist mein Mädchen.« Freudestrahlend umarmte sie mich mal wieder viel zu fest. »Dann sehen wir uns morgen im Kunstkurs und danach bei dir.« Das war keine Frage. Es war eine Feststellung, die keine Widerworte zuließ.

Lächelnd nickte ich und Nina verabschiedete sich in die Informatikvorlesung. Kaum war sie weg, fiel mein freudiges Grinsen zusammen. Wenn ich allein daran dachte, das perfekte Gesicht von Liam zu sehen … Sein Zahnpasta-Lächeln und die blonden Haare. Er war für seinen hässlichen Charakter einfach viel zu schön. »Die Kleine ist verrückt«, hörte ich seine dreckige Stimme in meinem Kopf schwirren. »Vollkommen durchgeknallt.«

Ein Stich fuhr durch meinen Magen. Nach Luft schnappend, drückte ich die Hand dagegen und versuchte, ruhiger zu atmen. Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Erschöpft schloss ich die Augen für einen Moment. Liam würde keine Macht mehr über mich haben. Nie mehr!

Entschlossen schulterte ich erneut den Rucksack, stieß die Tür des Colleges auf und ging die Stufen hinunter zum Campus. Die Sonne brannte auf meinen Kopf nieder, und dafür, dass es eigentlich Herbst war, war es viel zu heiß. Draußen erkannte ich einige Studenten an den Tischen. Ein paar Fleißige lernten, andere machten es sich auf der Wiese mit einem Buch gemütlich. Wieder andere tranken Bier, fühlten sich cool und verstießen gegen die Regeln. Ich versuchte, sie alle zu ignorieren, ging mit Absicht unter den großen Bäumen die Allee entlang und hoffte, Liam würde heute nicht beim Football-Training sein. Vielleicht war er krank. Masern oder so. In dem Moment sah ich ihn schon. Er streifte sich das weiße Trikot vom Oberkörper, schmiss es in eine Ecke und die Mädels rasteten aus. Fehlte nur noch, dass BHs durch die Gegend flogen oder sie Schilder mit »ich will ein Kind von dir«, herausholten. Waren alle in dem Alter so? War nur ich anders?

Es war erschreckend, wie schnell sich der dünne Junge, den ich einmal kannte, verändert hatte. Seine Arme waren breit, und ich konnte ein deutliches Sixpack sehen. Er war ein richtiger Schrank geworden und hatte so gar nichts mehr von dem Jungen, in den ich einst verliebt gewesen war. Umso mehr bereute ich es, ihm meine Jungfräulichkeit geschenkt zu haben. Einen zu langen Augenblick blieb ich stehen und blickte meinen Exfreund an.

Was war denn mit mir los? Verwirrt schüttelte ich den Kopf, spürte, wie ich rot wurde, und hastete weiter. Einfach so tun, als hätte ich nie hingesehen. Einfach so tun. Entschlossen senkte ich den Blick.

»He, Ebylein«, rief mir jemand zu und ich zuckte zusammen. Diese Stimme. Diese Tonlage. Rauchig und dennoch irgendwie ekelhaft. Nur einer nannte mich so. All meine Nackenhaare stellten sich auf. Mir wurde eisig kalt. Zu allem Überfluss hob ich den Blick und erkannte Liam, der lässig auf mich zu schlenderte. In diesen Sekunden hörte ich auf, zu atmen. Mein Magen rebellierte, während ich einfach nur dastand. Uns trennte nur das Gitter. Dennoch ließ er einige Fuß Abstand, als würde ihn bereits diese geringfügige Nähe zu mir einengen. Feuchte Strähnen fielen ihm in die Stirn, während sein gesamter Oberkörper von Schweiß glänzte.

Egal, was er mir sagen wollte, es spielte keine Rolle. Einmal atmete ich tief ein, dann lief ich kopfschüttelnd weiter.

»He, komm schon.«

»Spar es dir!«, fauchte ich ihn an. Mein Blick war stur geradeaus gerichtet. Natürlich wusste ich auch so, dass er mir am Zaun folgte.

»Jetzt komm schon. Wir seh´n uns jeden Tag. Wollen wir uns nich´ vertragen?«

Ruckartig blieb ich stehen. »Vertragen? Du hast mein Leben zerstört und willst jetzt, dass wir uns vertragen?« Ich spie ihm die Wörter vor die Füße. Rau und hässlich, und sie passten so gar nicht zu mir. Daher überraschten sie mich. Die alte Eby hätte den Kopf eingezogen, hätte nicht einen Ton herausgebracht, während sie innerlich gestorben wäre. Auch jetzt spürte ich den körperlichen Drang, mich klein zu machen, zu fliehen, aber ich war stärker als das. Das musste ich einfach sein.

Liam zuckte mit seinen trainierten Armen. »Is´ ja auch komisch, wenn man Tote sehen kann.«

»Ich sehe keine …« Ich brach ab, sah in den Himmel, als könnte mir dort jemand helfen. Dann schüttelte ich mit geschlossenen Augen den Kopf. Wut raste durch meine Adern, während ich so sehr die Fäuste ballte, dass es schmerzte. »Du bist so ein dämliches Arschloch.« Mit diesen Worten ließ ich ihn stehen und war froh, dass er mir nicht weiter folgte.

Kapitel 2

Wütend stampfte ich zum Parkplatz, der wie immer völlig überfüllt war. Selbst die Bürgersteige und der Fußgängerweg waren voller Autos. Das College hatte eindeutig ein Platzproblem. Würden die reichen Eltern aufhören, ihren Kindern teure Autos zu schenken, mit denen sie hier protzen mussten, wäre eindeutig mehr Platz. Das Viertel der noblen Villen war zu Fuß nur fünfzehn Minuten entfernt. Die wohlhabenden Kids könnten mit Leichtigkeit laufen, aber das war nicht so cool.

Mein alter Seat stach zwischen den polierten Autos heraus, wie ein Farbfleck auf einem Gemälde. Das satte Rot wich langsam Rost. Obwohl sich die Farben ähnelten und ich hoffte, es würde nicht so auffallen, war es dennoch nicht zu übersehen. Die Beifahrertür ging schon lange nicht mehr zu, weshalb ich die glorreiche Idee hatte, sie innen mit einem Seil am Sitz festzubinden. Das hatte zur Folge, dass sie bei jeder Kurve leicht nach außen gedrückt wurde und mir seltsame Blicke oder Gehupe einbrachte. Zu allem Überfluss hatte ich letztes Jahr in einem Parkhaus eine Kurve zu eng genommen. Die dicke Delle, die sich dadurch überdeutlich am Radkasten abzeichnete, tat mir beinahe körperlich weh.

Ich seufzte bei dem Anblick von Horby. Er sah wirklich nicht mehr gut aus und irgendwie fühlte ich mich heute so, wie er wirkte. Alt, verbraucht und ganz schön traurig. Das Aufeinandertreffen mit Liam nahm mich mehr mit, als ich jemals zugeben würde, denn ich spürte auch jetzt noch mein pochendes Herz.

Entkräftet schmiss ich meine Tasche auf die Motorhaube und kramte herum. Nach einer Minute hatte ich immer noch nicht gefunden, wonach ich gesucht hatte. »Ach komm schon, du verdammter Schlüssel!« Wütend fummelte ich weiter, fand eine Wasserflasche, einige Bücher, gebrauchte Taschentücher, einen Schminkspiegel, geschmolzene Schokolade, aber keinen Schlüssel! Auch das noch. Was war das nur für ein Tag? Den Tränen nahe ließ ich den Kopf in den Nacken fallen und presste die Augen aufeinander.

Als ich ihn nach weiteren verzweifelten Minuten immer noch nicht fand, wurde ich richtig gereizt. Ich packte den Rucksack kurzerhand und drehte ihn um. Die Bücher polterten auf den Asphalt, der Schminkspiegel zerbrach, aber mein Autoschlüssel kam nicht zum Vorschein. Mist, hatte ich ihn etwa im Vorlesungsraum vergessen? Das wäre nichts neues. Ständig verlegte ich irgendwelche Dinge, die teilweise erst Monate später wieder auftauchten. Pa meinte immer, ich sollte froh sein, dass mir mein Kopf angewachsen war. Sonst würde ich auch ihn vergessen.

Mit einem tiefen Seufzer ließ ich mich auf den Hintern sinken. Neben mir der gesamte Inhalt meines Rucksackes. Ich musste wie eine Obdachlose wirken, die ihre letzten Schätze um sich scharrte.

Wenn ich mutig wäre, würde ich noch einmal am Football-Feld vorbeilaufen, in den Vorlesungsraum gehen und nach meinem Schlüssel suchen. Doch die eine Begegnung mit Liam war mehr, als ich an einem Tag ertragen konnte, und wenn ich ehrlich war, war mir gerade nicht schon wieder nach mutig sein.

»Kann ich dir behilflich sein?«

Misstrauisch fuhr ich herum und lugte über die Motorhaube. Dahinter erkannte ich schemenhaft einen Mann mit schwarzem Haar. Seine Haut war blass und er wirkte mit seinen schätzungsweise dreißig Jahren viel zu alt, um hier aufs College zu gehen. Ein Dozent konnte er auch nicht sein, da ich beinahe jeden Orientierungskurs mitgemacht hatte und ihn hatte ich noch nie gesehen. Aber falls er doch ein Dozent war, dann ein seltsamer. Seine Brust war viel zu athletisch und sein gesamtes Auftreten irgendwie eigenartig. Außerdem trug er ein hautenges schwarzes T-Shirt, das seine trainierten Arme extrem betonte, eine etwas weitere dunkle Jeans und schwarze Boots. Schwitzte er in diesen Dingern nicht?

Etwas in mir regte sich auf unangenehme Weise. Ein Druckgefühl in der Magengegend. Etwas tobte in seinen Augen, während mir unerklärlich war, warum ich scheinbar sein Gesicht nicht scharf sehen konnte.

Hastig schmiss ich meine Sachen zurück in den Rucksack und stand auf. »Nein, schon gut.« Gerade als ich mich umdrehen wollte, warf ich noch hinterher: »Aber danke.«

Jetzt einfach weg hier. Nach Hause waren es drei Meilen, und ich hatte überhaupt keine Lust zu laufen. Aber was blieb mir anderes übrig? Pa war im Büro, um an dem neuen mega Projekt der Firma zu arbeiten, und Nick, sein Freund, war mit Sicherheit im Café. Für dieses Jahr hatte ich mir vorgenommen, meinem Vater keinen Kummer mehr zu bereiten. Das begann damit, allein nach Hause zu kommen, wenn ich mal wieder den Schlüssel verlor. Was wirklich oft passierte. Aber ein Vorsatz war ein Vorsatz, also lief ich mit einem resignierten Schnaufen in den Wald.

Der Herbst hatte bereits einige Bäume gefärbt, und das Farbspiel löschte sofort den seltsamen Mann aus meinen Gedanken. Mein Blick glitt über die Laubbäume und die Sonnenstrahlen, die sich zwischen den Blättern hindurchzwängten, ließen helle Flecken auf den Boden tanzen.

Ich atmete tief ein und ließ den Duft des Waldes auf mich wirken. Vögel zwitscherten, Kinder spielten auf dem Spielplatz am Rande des Colleges. Alles in allem war es ein wunderschöner Ort. Warum hatte ich nicht früher beschlossen, einmal zu Fuß zu gehen? Wir lebten direkt am Waldrand, und von meinem Zimmer aus sah ich nur Bäume. Ich liebte diesen Anblick so sehr, dass ich oft versucht hatte, ihn zu malen. Aber wirklich hineingehen, wollte ich nie. Vielleicht, weil mir Wälder früher immer Angst eingejagt hatten? Weil die Gewissheit, dass sich hinter jedem Baum eine Gestalt verstecken könnte und alles wieder anfing, bleischwer auf meine Schultern drückte? Und vielleicht, weil eine Dreiviertelstunde zu laufen, nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte. Vor allem nicht, wenn man wie ich den Wecker fünfmal ausschaltete und dann zur Vorlesung hetzen musste, weil man viel zu spät dran war. Aber das hier war traumhaft schön und ein Paradies für alle Naturliebhaber. Hier konnte man sich einfach nicht unwohl fühlen.

Trotz des schönen Anblicks und der hohen Bäume, deren Kronen die Sonne immer wieder abschirmten, war es einfach viel zu heiß. Heute mussten mit Sicherheit 30° sein, und mein graues Shirt klebte an mir. Zwar schneite es hier äußerst selten und selbst im tiefen Winter kühlte es nicht unter fünf Grad ab, aber das hier, das war nicht normal. Gestern hatte ich im Radio gehört, dass es der heißeste November seit Wetteraufzeichnung war.

Mit Mühe kramte ich meine Wasserflasche heraus, stellte zu meinem Entsetzen fest, dass sie leer war, und lief dann erschöpft weiter.

Mit jedem Schritt hatte ich mehr das Gefühl, gegen eine Wand zu laufen. Mühselig schlurfte ich über den Waldboden. Einen Fuß vor den anderen. Durch die Hitze wurde mir langsam schwindlig, und mir fielen die Augen beim Gehen zu. Wieso war ich auf einmal so müde?

»Du hörst sie!«

Eine Stimme mitten im Nichts, die in meinen Ohren so dunkel klang. Dunkel und viel zu nah, als hätte mir jemand direkt ins Ohr geflüstert.

Hektisch fuhr ich herum, sah panisch hinter mich. Niemand war hier. Kein Hund, kein Spaziergänger, keine Kinder. Niemand. Ich meinte, nicht einmal mehr Vögel singen zu hören. Innerlich wollte ich schreien, aber etwas hielt mich zurück. Mir wurde eisig kalt. Mein Kiefer zitterte. Selbst meine Finger fühlten sich gefroren an. Ein Knacken, als wäre ein Ast gebrochen. Mit einem Kreischen wirbelte ich herum. Nichts … Die Ader an meinem Hals pochte wild. Ich fühlte mich allein. Schutzlos. »Wer … wer ist da?«, flüsterte ich.

Niemand antwortete mir.

Mein Herz donnerte gegen die Brust, die Kieselsteine unter meinen Solen knirschten auf einmal viel zu laut. Seit wann hörte ich Stimmen? Das war neu. Hatte ich eine neue Stufe des Wahnsinns erreicht? Was war heute nur mit mir los? Wahrscheinlich hatte ich mir diese Stimme nur eingebildet. Dass sie sich wie die des Mannes am Parkplatz anhörte, war definitiv nur Zufall. Alles nur Zufall. Mit zittrigen Fingern wischte ich mir über das feuchte Gesicht. Ich war sicherlich nur dehydriert. Das musste es sein.

Meine Beine waren weicher als Omas Schokopudding, gleichzeitig waren sie schwer wie ein Gesteinsbrocken. Die Kombination machte es beinahe unmöglich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dennoch lief ich zittrig weiter. Mit jedem Schritt hatte ich das Gefühl, mir würde jemand eine Hand auf die Schulter legen. Ständig blickte ich mich um, sah in die Schatten der Wälder. Bildete ich mir das ein oder hatte sich die Helligkeit des Tages verdunkelt? Es war, als würden sich die Äste nach mir strecken und die Sonne löschen, was vollkommen verrückt war!

»Sie rufen nach dir.« Geflüster in den Baumkronen und wieder diese Stimme, die schlagartig meine Beine stoppte. Ein eisiger Schauer kroch über meinen Rücken. Frostig, unnachgiebig und irgendwie mächtig. Die Stimmen wurden immer lauter, vereinten sich. Sie waren so penetrant in meinem Kopf, dass meine Zähne schmerzten. Ein widerliches Brennen kroch unter meine Schädeldecke. Schmerzverzerrt kniff ich die Augen zusammen, presste die Ballen auf meine Schläfen. Himmel, was war das denn?

»Hörst du sie nach dir rufen?«

Ach, verdammt. Ja, ich hörte sie rufen. Und es tat weh. Schwarze Punkte begannen, vor meinen Augen zu tanzen. Meine Beine gaben nach und wollten mich im Stich lassen. Mit aller Kraft hielt ich dagegen.

Moment mal. War das Liam, der sich einen Scherz erlaubte? Plötzlich wich die Angst der Wut. Dieser verdammte Mistkerl, wenn er, wenn er …

Ich fuhr herum, erhob den Zeigefinger und begann zu brüllen: »Wenn du denkst, du kannst …« Meine Wörter versiegten, als ich den unheimlichen Mann vom Parkplatz vor mir sah. Er blickte mich mit seltsam leeren und viel zu dunklen Augen an.

Sein Anblick trieb mich zwei Schritte zurück. Ich schluckte heftig, erkannte im Augenwinkel, dass der Mann seine Hand erhob. Nicht, um mich anzufassen — nein, er hielt mir etwas hin, aber ich wollte nicht hinuntersehen. Irgendwie hatte ich Angst, er würde eine Motorsäge auspacken und schreiend auf mich zu rennen. Aber da war das schwarze Lederband, das ich immer um den Hals trug — das erkannte ich, obwohl ich nicht gänzlich hinsah. Es war nicht viel mehr als ein abgetragenes Stück, das ich mehrmals herumbinden musste, aber es war für mich das Wichtigste auf der Welt. Das Einzige, was ich von meiner Mutter hatte.

»Du hast etwas verloren.« Der Mann hielt es höher. Zuerst starrte ich ihn fassungslos an, dann wieder das Band. Dann zu ihm. Bildete ich mir das nur ein, oder sahen seine Augen irgendwie eigenartig aus? Fast, als würde sich das Dunkelbraun darin wie ein Schokobrunnen ergießen. Mal glänzend, mal matt. Mal hellbraun, mal tiefschwarz. Absolut eigenartig, faszinierend und irgendwie gespenstisch. Gleichzeitig klang seine Stimme viel zu erotisch. Der tiefe, bassige Klang ließ jedes seiner Worte seltsam verrucht klingen.

»Da…danke.« Stotternd nahm ich das Band an mich und drückte es wie einen Schatz.

Er setzte ein seichtes Lächeln auf. »Nichts zu danken.« Dann sah er einmal an mir herab.

Wieso konnte ich mich denn nicht bewegen? Das wäre der Moment, in dem ich rennen sollte. Meine Beine zuckten bereits, aber irgendetwas hielt sie vom Sprint ab. Ich … ich konnte mich nicht umdrehen, nicht rückwärtsgehen, keinen Abstand zwischen uns bringen. Es war das Seltsamste, was ich jemals gefühlt hatte. Mein gesamter Körper schaltete sich in den Überlebensmodus, wollte rennen, schreien, treten, aber nichts davon geschah. Lediglich meine Augen hefteten sich an sein seltsames Gesicht, als könnte nur er mich davon abhalten, umzufallen. Dabei konnte ich mir absolut nicht erklären, wie ich auf so einen dummen Gedanken kommen konnte. Dennoch fühlte es sich nach Halt an, während er mir gleichzeitig eine riesige Angst einjagte. Sein gesamtes Erscheinungsbild wollte sich einfach nicht scharf stellen. Es wirkte fast, als würden sich seine Züge darum streiten, welches Antlitz sie mir zeigen wollten. Innerlich stauten sich Tränen an. Ich musste hier weg. Und zwar so schnell es ging! Als er mir endlich wieder in die Augen sah, musste ich schlucken.

»Schönen Tag noch, Ebony.« Das Lächeln, das er mir bei dem letzten Wort schenkte, war verführerisch, gefährlich und erinnerte mich an eine Raubkatze auf der Jagd.

Er … er kannte meinen Namen? Eine Gänsehaut, wie ich sie noch nie gehabt hatte, peitschte über meinen Körper. Ich japste nach Luft. Meine Finger verkrampften sich um das Band in meiner Hand. Was zur Hölle war hier los?

»Woher kennst du meinen N…«

Das konnte doch nicht? Verwirrt drehte ich mich im Kreis, musterte den Waldweg, sah mir jeden Baumstamm genauer an. Ich hatte nur einen Moment geblinzelt, und er war weg. Nur die Vögel sangen ihr fröhliches Lied und der seichte Wind spielte mit den Blättern. Als wollten die Geräusche mir zeigen, dass nie etwas passiert war. Von Schritten, Stimmen oder gar Fußauftritten war nichts zu hören. Ich war allein. Allein in einem großen Wald. Mir wurde noch kälter.

Moment mal, war … Schluckend sah ich auf meine Hand. Ja, ich hatte wirklich mein Lederband in der Hand. Es war also kein Traum. Um ganz sicherzugehen, fasste ich mir an den Hals. Es fehlte tatsächlich. Noch nie war es mir heruntergefallen. Nicht einmal, als ich mit Pa als Teenager im größten Spaß-Park des Landes gewesen war. Das hier konnte ich mir also nicht eingebildet haben. Der Gruselmann mit den seltsam faszinierenden Augen und dem Gesicht, das ich nicht wirklich erkennen konnte, hatte mir tatsächlich mein Lederband gegeben.

Die Haut an meinem Hals fühlte sich seltsam fremd unter meinen Fingerkuppen an. Meine Gänsehaut war wie Schleifpapier.

Zur Sicherheit blickte ich mich noch einmal im Wald um. Erst, als zwei Mütter fröhlich mit Kinderwagen an mir vorbeiliefen, begriff ich langsam, was passiert sein musste – und genau das durfte nicht wieder anfangen. Pa war so stolz, dass ich diese Phase überwunden hatte. Er hatte so viel Geld in meine Genesung gesteckt. So viel Leid und so viele Tränen. Ganz zu schweigen von seinem Leben, das durch meine Krankheit lange nicht mehr existiert hatte. Jetzt hatte er sich endlich wieder verliebt, konnte wieder normal arbeiten, ohne ständig auf mich aufpassen zu müssen, und hatte Hobbys. Wenn ich ihm sagen würde, dass ich auf einmal Stimmen hörte … Er würde sterben. Nicht körperlich, aber seelisch. Das konnte ich ihm nach all dem nicht antun. Mit großer Wahrscheinlichkeit waren da auch keine Stimmen. Es war bestimmt nur das Flüstern des Windes oder der unheimliche Mann, der mir hinterherrief. Gut möglich, dass ich mein Choker bereits am Parkplatz verloren hatte und er mir netterweise hinterherkam. Das war ja irgendwie freundlich und gleichzeitig unheimlich. Dann war er wohl der unheimlich freundliche Gruselmann, der meinen Namen kannte. Gut, das Letzte war wirklich furchteinflößend. Er war wahrscheinlich doch ein Dozent. Die kannten nun mal die Namen der Studenten.

Den Rest des Weges rannte ich dennoch so schnell, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter mir her, was mich mit meiner nicht vorhandenen Kondition beinahe in die Ohnmacht trieb. Trotzdem schaffte ich die letzte Meile in zehn Minuten. Was mich dazu trieb, hatte Augen wie ein Schokobrunnen.

Als ich endlich das einzige Haus in dieser Straße hinter dem Wald am Stadtrand erkannte, fiel ich vor Erschöpfung fast auf die Knie. Die Sonnenstrahlen hatten das magere Gras des Gartens gebleicht, und die beigefarbene Hauswand bräuchte dringend einen neuen Anstrich. Das verwitterte kleine Haus war das einzige, was Pa für das geringe Budget, das wir hatten, hatte ergattern können. Natürlich lag es nicht wie die teuren Villen oder Wohnungen im Stadtkern. Wir konnten nicht zu Fuß zum Einkaufen gehen, nicht in die Bar nebenan oder in das schicke Café eine Straße weiter. Natürlich konnten wir auch nicht nach einer durchzechten Partynacht nach Hause laufen, was bei mir generell noch nie der Fall gewesen war. Aber in diesem Moment waren mir die kleinen Makel egal.

Nach Luft ringend, drückte ich die einfache Holztür auf, schloss sie mit pochendem Herzen und sackte im Inneren auf den Boden.

Kapitel 3

Was machst du denn da unten?«, fragte Nick lachend und deutete mit der Zeitung in der Hand auf mich.

Oh, Mist! Das fehlte mir heute noch. Der Freund meines Vaters sah mich zusammengekauert vor der Haustür. Schweißüberlaufen, mit panischen Augen.

»Ich, ähm …« Ertappt presste ich die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. »Ich hatte einen anstrengenden Tag?« Mit diesem Satz zog ich eine seltsame Schnute und straffte die Stirn.

Nick lachte und sah dabei so gepflegt wie immer aus. Die kupferfarbenen Haare hatte er zu einem Dutt zusammengebunden, und der fein säuberlich gestutzte Vollbart war an den Seiten frisch rasiert. Seine bernsteinfarbenen Augen passten perfekt in das Bild eines schönen Mannes. Mit seinen 35 Jahren war er sage und schreibe 15 Jahre jünger als Pa. Trotzdem waren sie das perfekte Paar.

»Na komm, ich habe frischen Kaffee aufgesetzt.« Dieser Satz entlockte mir ein breites Grinsen. Nick arbeitete im Laly´s, dem besten Café der Stadt mit sündhaft leckerem Gebäck. Und er konnte Kaffee machen. Bei Gott, dieses Getränk war wie Magie, wenn er es zubereitete. Er bot mir die Hand an, und ehe ich sie richtig hatte, zog er mich in die Höhe.

»Arbeitest du heute gar nicht?«, fragte ich ihn, während ich mich an den Küchentisch setzte und einen dampfenden Kaffee eingeschenkt bekam.

Nick lächelte leicht. »Nein, Lisa wollte heute die Schicht haben. Sie braucht dringend Geld. Ihr Auto ist kaputt, weißt du noch?«

Ich nickte. »Ja, stimmt. Das hast du gestern erzählt.«

Nick setzte sich mir gegenüber hin. Es war ein kleiner Tisch für vier Personen. Unsere Küche war auch nicht viel größer, aber seitdem er hier wohnte, sah es hier deutlich gemütlicher aus. Zumindest besaßen wir endlich Vorhänge, einige Dekoartikel und immer frische Blumen. Erstaunlich, was die Liebe mit zwei Menschen machen konnte. Wenn ich früher versucht hatte, etwas Farbe in das Haus zu bringen, wurde ich in mein Zimmer verbannt. Ein wenig eifersüchtig war ich schon. Nick schaffte das, was ich nie geschafft hatte. Aber ich gönnte Pa das Glück nach all dem, was er mit mir hatte durchstehen müssen.

Und da fragte ich mich das erste Mal, ob Nick von meiner Vergangenheit wusste. Plötzlich war da der Druck auf meinen Schultern. Nick wohnte erst seit einem Jahr bei uns, und durch die Abendschichten im Café sahen wir uns nur selten. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht einmal, ob wir jemals allein gewesen waren.

Hastig nahm ich die Tasse und nippte daran. Ich sollte wirklich irgendetwas sagen, da die Stimmung langsam unangenehm wurde. Beiläufig schluckte ich, blickte hilfesuchend über die Einrichtung und hoffte, mir würde irgendetwas auffallen, das mir als Gesprächsthema dienen konnte. Leider war mein Gehirn wie leergefegt. Da war nur der seltsame Mann im Wald, und von dem würde ich Nick sicher nicht erzählen.

Als der Freund meines Vaters meinen Blick suchte und mich verwirrt ansah, begann mein Kiefer zu zucken. Ich würde ihm so gerne einmal standhalten, aber ich hatte es noch nie geschafft. Nicht einmal, als er ein wenig geerbt hatte und mir damit das College finanzieren konnte. Es reichte zwar nicht für viel mehr, aber ich war ihm unendlich dankbar dafür. Er hatte mir meinen Traum bezahlt, tat es noch heute. Das hätte er nicht tun müssen, schließlich war das sein Geld, und damit hätte er sich ein schöneres Haus in einer netteren Gegend mit Pa mieten können. Eigentlich hätte ich ihm in diesem Moment um den Hals fallen sollen, ihm hunderte Male danken, aber irgendetwas hatte er an sich, was mich kleinlaut vor ihm werden ließ, und so hatte ich nur ein kleines Danke hauchen können. Das bereute ich bis heute, und ich wünschte, ich wäre offener zu ihm, doch seine Augen … Irgendwie wirkten sie immer so leer.

Die Küche kam mir in diesem Moment noch viel kleiner vor. Meine Brust verengte sich. Er wusste mit Sicherheit, was mit mir los war. Pa hatte mir zwar versprochen, niemanden davon zu erzählen, aber galt das auch für die Liebe seines Lebens? Bestimmt nicht. Und genau das löste ein so beklemmendes Gefühl in mir aus, dass ich mir am liebsten den schmerzenden Magen gehalten hätte. Es war bereits einmal schiefgegangen. Das schaffte ich nicht ein zweites Mal, was auch der Grund war, warum ich es nicht einmal Nina erzählen würde. Vertrauen war selten gut, denn Menschen konnten sich ändern. Sie konnten von der nettesten Person zum Dämon werden. Liam hatte es bewiesen. Damals hatte ich ihm so sehr vertraut, dass ich ihm alles erzählt hatte. Zuerst hatte er mir das Gefühl gegeben, mich zu verstehen, mir beizustehen. Doch dann änderte sich alles - und ich würde nicht zulassen, dass mir so etwas noch einmal passieren würde. Das würde ich schlichtweg nicht überleben.

»Alles in Ordnung?«

Ich sah flüchtig in Nicks perfektes Gesicht, dann schob ich den Kaffee zurück auf die Untertasse. »Ja, ich bin nur in Gedanken beim College. Ich muss wirklich viel lernen. Wärst du böse?« Ich zeigte auf meinen Rucksack, dann deutete ich mit dem Kopf Richtung Treppe.

Er senkte das Kinn, und allein diese Geste wirkte erhaben. Wie perfekt konnte ein Mensch sein? Kurz erhaschte ich sein deprimiertes Lächeln, was jedoch sofort wieder verschwunden war. Es musste ihn ermüden, immer wieder einen Versuch zu starten, sich mit mir anzufreunden und dann doch wieder abgewiesen zu werden. Und, bei allen Göttern, ich hasste mich dafür, aber es ging einfach nicht.

Damit die Stille nicht noch peinlicher wurde, packte ich meinen Rucksack und hastete die Treppe hinauf. Zum Glück hatte sie Pa vor Kurzem mit Teppich überzogen, sonst hätte das glatte Holz noch irgendwann Tote gefordert.

Die alte Tür knarrte beim Öffnen. Erschöpft schmiss ich den Rucksack auf den Boden und fiel rückwärts in mein Himmelbett. Es gab nach, quietschte, aber es fühlte sich wie Freiheit an.

Was war das nur für ein verrückter Tag? Zuerst die Gewissheit, dass Liam auf der morgigen Party sein würde. Er war mein persönlicher Albtraum, der sich auch noch mit mir vertragen wollte, nach alldem, was er mir angetan hatte. Und dann der Mann mit meiner Kette. Die Kälte, die sich seitdem in meinen Knochen eingenistet hatte, spürte ich immer noch. Warum passierte so etwas immer mir?

Eine Ewigkeit starrte ich die weiße Decke über mir an. In dieser Zeit hatte ich das Gefühl, überhaupt nicht zu blinzeln, während ich den Kopf langsam drehte und mir die wirren Zeichnungen ansah, die an den Wänden verewigt waren. Als wir frisch hierhergezogen waren, hatte ich sie gemalt. Meinem alten Ich reichte es jedoch nicht, nur Blöcke und Staffeleien vollzumalen. Ich musste etwas Größeres verewigen, und so zeichnete ich mein komplettes Zimmer mit Bleistift voll. Viele Blasen und kaputte Stifte später konnte ich mein Kunstwerk bewundern. Noch vor einiger Zeit war ich stolz auf die schwarz-weiße Kunst gewesen und hatte sie als das Beste betrachtet, was ich jemals gemalt hatte. Es wirkte abstrakt, wie sich die einzelnen Äste der kahlen Bäume um den Mond wanden. Heute sah ich es mit anderen Augen. Das gesamte Bild wirkte traurig, dunkel und leer, dabei hatte ich direkt vor meiner Haustür den schönsten Wald, der so farbenfroh war — und solange ich nicht durch ihn hindurch laufen musste, war er wunderschön. Doch ich hatte mich dazu entschieden, all die Farbe und die Schönheit beiseitezulassen und dieses graue Ungetüm voll Hoffnungslosigkeit zu zeichnen. Heute war mir klar, dass mein Innerstes damals so ausgesehen hatte. Da war so viel Schmerz, so viel mehr Dunkelheit in mir, und das, obwohl ich meine inneren Dämonen zu dieser Zeit eigentlich schon besiegt hatte. Dennoch, die Farben und das Leuchten der Welt kamen nicht mehr bei mir an. Selbst heute tat ich mich schwer, das Licht zu sehen, und das hier, das war meine Seele. Verewigt auf den einst weißen Wänden.

Mit einem Seufzer streifte mein Blick das einzige Fenster in meinem Zimmer. Draußen wurde es langsam dunkel und mein Handy vibrierte. Stöhnend rollte ich mich auf die Seite, las Nina und öffnete ihre Nachricht.

Chris hat heute nach meiner Nummer gefragt!!!

Ich schmunzelte glücklich. Sie war so verliebt in ihn, und dass er sie scheinbar auch mochte, freute mich mehr als alles andere für sie. Das erste Mal unterdrückte ich meinen Beschützerinstinkt, denn auch ich sollte ihm eine Chance geben. Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte ich mich samt Handy wieder auf den Rücken und tippte:

Wie ist das passiert?

Nina tippt …

Nach der Informatikvorlesung bin ich womöglich irgendwie gegen seinen Spint gerannt. Total aus Versehen. Da hat er mich gefragt. Süß, oder? Jetzt texten wir.

Bei der Vorstellung musste ich grinsen.

Ich: Und, was schreibt ihr so?

Bisher nur Small-Talk, aber das ändert sich bestimmt bald.

Ich: Das freut mich für dich, wirklich.

Kurz stoppten meine Finger, da sie gerade dabei waren, Nina von dem Erlebnis im Wald zu erzählen. Mit niemanden darüber reden zu können, machte mich wahnsinnig. Vielleicht sollte ich lernen, anderen wenigstens etwas zu vertrauen, und Nina hatte bisher nichts getan, um an ihr zu zweifeln. Ich wurde im Wald von einem unheimlichen Mann verfolgt.

Keine Sekunde später: Warte, du wurdest WAS?

Unten ging die Haustür auf. Wahrscheinlich war Pa von der Arbeit nach Hause gekommen. Das alte Haus war so hellhörig, dass ich sogar hörte, wie er sich seine Schuhe auszog und Nick küsste.

Hallo??!!

Oh, ich hatte vollkommen vergessen, Nina zu antworten. Schnell tippte ich: Ich habe nur mein Choker verloren. Er ist mir durch den Wald gefolgt und hat es mir gebracht. Alles halb so wild.

War es halb so wild oder spielte ich schlimme Dinge nur wieder herunter? Nun ja, es war ja nichts passiert, oder? Also halb so wild.

Nina: Das ist ja scheiße gruselig.

Mit einem beklemmenden Lächeln las ich ihre letzte Nachricht, legte das Handy dann aber wieder weg. Ja, ein wenig gruselig war es schon, aber ich wollte nicht weiter darüber nachdenken. Der Tag heute hatte mir alles abverlangt und ich war unendlich müde.

Als mein Handy abermals vibrierte, sah ich flüchtig auf das Display. Doch das, was ich da las, ließ mich sofort quiekend aufs Bett springen.

Unbekannt: Wir brauchen dich.

Heilige, was war das denn?

Panisch entsperrte ich mein Handy, scrollte, aber da war nicht mehr. Nur: Wir brauchen dich. Was war das denn für ein krankes Spiel?

Wer zum Henker bist du?

Unbekannt: Witzig, dass du das sagst.

Oh, Gott. Was ging denn hier vor? Nahm dieser verdammte Tag denn kein Ende? Mein Herz begann wieder zu pochen. Diesmal noch heftiger als noch im Wald. Mir wurde eisig kalt und das kleine Zimmer engte mich plötzlich ein. Das schwarz-weiße Ungetüm an den Wänden schien sich zu biegen, und selbst der hellbraune Schreibtisch wirkte, als würde er auf mich zukommen.

Meine Finger wurden so schmierig, dass mir das Handy aus der Hand glitt und auf die Matratze fiel. Panisch robbte ich zurück, krallte mir ein Kissen und schob es vor mich. Da vibrierte es erneut. Vorsichtig, als würde mir Gift ins Gesicht spritzen, schielte ich nach vorn.

Eine Nachricht von Unbekannt.

Wir brauchen dich.

Jetzt reichte es aber! Entschlossen krallte ich mir mein Handy, tippte: Lass mich in Ruhe! und schmiss es wieder auf mein Bett. Welcher kranke Idiot erlaubte sich jetzt schon wieder einen Spaß mit mir? Ich hatte immer noch Liam in Verdacht. Nur er wäre in der Lage, mich so fertigzumachen. Er kannte meine Ängste und hatte sie schon einmal gegen mich verwendet.

Unbekannt: Hörst du die Stimmen, Ebony?

Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. Genau dasselbe hatte mich der unheimliche Mann im Wald gefragt. Zumindest meinte ich das, denn ich hatte die Frage gehört, bevor er aufgetaucht war. Woher hatte er meine Nummer? Meine Finger zitterten und kalter Schweiß rann mir in den Nacken.

Mein Handy vibrierte abermals, und am liebsten hätte ich es aus dem Fenster geworfen. Mein Herz pochte so laut, dass ich das Rauschen in meinen Ohren hören konnte. Wie ein Fremdkörper lag das aufleuchtende Display neben meinen angewinkelten Beinen. Nicht hinsehen. Schau einfach nicht darauf. Panisch presste ich meine Lider zusammen, wollte nichts davon wissen. Ich drückte die Finger so fest ins Kissen, dass es schmerzte. Als es einige Sekunden später nicht noch einmal eine Nachricht anzeigte, schielte ich vorsichtig auf das Display, das sich langsam verdunkelte. Bevor das Licht ganz erlosch, erhaschte ich noch die Push-Mitteilung.

Unbekannt: Ich bin nicht Gott.

Heilige Scheiße. Diese Worte hatte ich nicht gesprochen. Ich hatte sie gedacht! Mir schnürte sich die Kehle zu. Langsam krallten sich meine Finger in die Bettdecke, als könnte ich mich an ihr festhalten. Der unheimliche Mann war irgendein Perverser! Ich musste Pa davon erzählen. Bevor ich mein Vorhaben in die Tat umsetzten konnte, klopfte es an der Tür. Fiepend robbte ich noch tiefer in mein Bett, hob schützend meine Bettdecke. Mein Herz blieb stehen, aber es war nur Pa, der reinkam.

»Hallo, Kleines.« Ohne Vorwarnung schaltete er das große Licht in meinem Zimmer an und ich blinzelte geblendet.

Murrend schob ich das Kissen vor mich. »Was soll denn das?«

Ich hörte ein Lachen.

»Ich wollte nur sehen, wie es dir geht«, sagte er mit einem Lächeln und setzte sich zu mir aufs Bett.

Wie es mir ging? Ziemlich miserabel. Dieser Tag nahm einfach kein Ende. Sofort drang mir der Gruselmann wieder ins Gedächtnis. Ich musste Pa davon erzählen! Das hatte nichts mit meinen Anfällen als Kind zu tun. Das war real! Und ich konnte es beweisen.

Hektisch packte ich mein Handy, brauchte mehrere Versuche, um mit meinem glitschigen Daumen die Tastensperre zu entsperren und starrte auf meinen Nachrichtenverlauf. Als ich das sah, begann meine Unterlippe zu zittern. Dann mein gesamter Kiefer. Ich schluckte und selbst das tat weh. Die Nachrichten der unbekannten Nummer waren weg. Jede einzelne, als hätte es sie nie gegeben.

Dann gackerte ich vollkommen unangebracht los. Ich war verrückt! Pa sollte mich wieder zu dem Schamanen schicken. Der hatte mir zwar die Seele aus dem Körper geräuchert, aber danach hatte ich lange Zeit keine Schatten mehr gesehen. Und jetzt? Gott, es war alles noch so viel schlimmer als damals. Jetzt hörte ich Stimmen und bekam Nachrichten von irgendwelchen Wesen, die gar nicht existierten. Ich hatte den Verstand verloren. Mal wieder. Mir liefen heiße Tränen über die Wange, während ich traurig weiter lachte. Ich schüttelte den Kopf und starrte auf meine nassen Hände. Es hörte nicht auf. Es würde niemals aufhören!

»Schatz, was ist denn passiert?«

Ich sah nicht auf; konnte es einfach nicht. Was hatte ich mir für dieses Jahr vorgenommen? Genau. Stark sein. Die alte Eby hinter mir lassen. All die Schatten und die schlechten Erinnerungen weit von mir zu schieben und endlich zu leben. Wirklich zu leben. Und was war? Nach zwei Monaten College brach meine Seele wieder ein und ich wurde schwach. Davon konnte ich Pa nichts erzählen. Das durfte ich einfach nicht. Es war mein Geist, der zerstört war. Nicht seiner.

Als ich ihn immer noch nicht ansah, schob er seine Hände unter mein Kinn und zwang mich so, ihn anzusehen. Mit von Tränen verschleiertem Blick sah ich in braune Augen, die dieselbe Farbe wie meine hatten. Im Laufe der Jahre wurden sie von tiefen Falten umrahmt. Am schlimmsten waren aber die Furchen auf der Stirn. Denn die hatte er nur wegen mir. Ich sah in jeder einzelnen Einkerbung die Tränen, die er wegen mir vergossen hatte. Die Trauer und all den Schmerz, weil kein Arzt mir hatte helfen können. Den Zwiespalt, mich in eine Physiatrie zu stecken. Die dutzenden Heilpraktiker, Schamanen und Geisterjäger und all das Geld. All das musste er allein durchstehen. Mutter war seit meiner Geburt nicht mehr hier, sie hat uns einfach alleingelassen und ist abgehauen. In diesen Jahren war er gealtert.

Blinzelnd führte mich mein Blick über das dünne Gesicht meines Vaters. Über die Nase mit dem leichten Höcker und die dunklen Augenbrauen. Er trug das Haar wieder etwas länger und der Dreitagebart ließ ihn jünger wirken. Trotzdem nahm sein trauriger Gesichtsausdruck ein wenig seiner Frische, die er seit Nick wieder hatte.

Ich würde mich abgrundtief hassen, wenn ich Pa jetzt erzählte, dass ich wieder in der Schattenwelt war, wie der Schamane es nannte. Und dass jetzt alles noch schlimmer war als damals. Wir hatten kaum Geld, und einen weiteren Heil-Arzt konnten wir uns einfach nicht leisten. Mit einem tiefen Ein- und Ausatmen verdrängte ich alle Gedanken an heute. Mit aller Kraft kramte ich mein letztes Stück Selbstachtung nach oben, hörte auf, an meiner Unterlippe herumzunagen, und sah Pa in die Augen. Auch wenn ich so dringend jemanden bräuchte, dem ich all das anvertrauen konnte, Pa war der letzte, der es wissen sollte, also suchte ich nach etwas, was meinen Gefühlsausbruch erklären könnte. »Liam ist auf dem College.«

Pas Unterkiefer klappte nach unten. »Der Liam?«

Ich nickte und spürte, wie er seine Hände an meinem Hals zu Fäusten ballte. Wenn jemand meinen Ex mehr hasste als ich, dann war es mein Vater.

Pa stemmte sich auf die Beine, lief im Kreis und schlug die Arme über dem Kopf zusammen. »Dieser verdammte … Wenn er dir nur einmal zu nahe kommt.«

Auch ich trieb mich auf die Beine, obwohl mich jeder Muskel vor Erschöpfung anschrie. Mein Körper fühlte sich schwer an und meine Tränen machten mich unendlich müde. Trotzdem versuchte ich, einen von Pas wirren Armen zu fassen zu bekommen. Als ich ihn hatte, stoppte er und sein Gesichtsausdruck wurde etwas weicher.

»Wenn er mir zu nahe kommt, packe ich das Pfefferspray aus, das du mir gegeben hast.« Mit einer Kopfbewegung deutete ich zu meinem Rucksack.

Pa lachte leise, und es klang verzweifelter, als vermutlich beabsichtigt. Er senkte den Kopf gegen meinen. »Ich will nur nicht, dass ich dich verliere.«

Ich schloss die Augen, genoss einen Moment die Wärme seiner Stirn, dann sah ich zu ihm auf. »Du wirst mich nicht verlieren. Es hat mich heute nur etwas aus der Bahn geworfen.«

Er nickte. »Verständlich. Er hat auch unser gesamtes Leben zerstört. Du warst damals auf dem Weg der Besserung.«

Wie sich diese Worte anhörten. Sie waren wie eine Ohrfeige. Genauso wie die Zeit damals. Wobei die mehr einer gebrochenen Nase und einem tiefen Schlag in die Magengegend glich. Und das jede Stunde mindestens einmal. Pa nahm mich von der Schule, als ich sieben war, da meine Anfälle urplötzlich begannen und immer schlimmer wurden. Einige Male war ich einfach zusammengebrochen, war stundenlang bewusstlos gewesen. Er sagte mir, dass ich ununterbrochen geschrien hatte, wenn ich in diesem Zustand gewesen war. Ja, ich hatte viel hinter mir. Eine verrückte Kindheit und ein noch verrückteres Leben. Dass ich letztes Jahr meinen Schulabschluss nachholen konnte und aufs College gehen durfte, hätte ich nie gedacht. Das würde ich mir auch niemals nehmen lassen. Ich würde diese Dämonen besiegen. Koste es, was es wolle.

»Zum Glück geht es mir heute wieder gut«, log ich und hoffte, er würde es mir abkaufen.

Scheinbar tat er es. Oder er war einfach müde. Seit Wochen musste er die Urlaubsvertretung im Büro übernehmen und kam erst spät nach Hause. Tiefe Augenringe und ein schläfriger Blick waren nur ein Zeugnis davon.

»Leg dich zu Nick, Pa. Ich komme zurecht.«

Er lächelte mich mit schmalen Lippen an, die ich definitiv nicht von ihm haben konnte. Meine vollen mussten wohl von meiner Mutter stammen. »Schlaf gut, Kleines.«

Ich zog einen Mundwinkel nach oben. »Du auch, Pa.«

Mein Vater strich mir ein letztes Mal über das Haar, dann zog er die Tür hinter sich ins Schloss, und ich war wieder allein. Nicht ganz allein! Ich sprang auf mein Bett, entsperrte den Bildschirm und stieß einen enttäuschten Seufzer aus, als ich wirklich keine Nachricht darauf sah. Dann war es hiermit offiziell. Ebony Carls war wieder verrückt. Oder hatte nie damit aufgehört.

Müde schloss ich mein Handy am Ladekabel an, machte das Licht aus und fiel erschöpft in den Schlaf.

Ebony.

Irgendjemand rief meinen Namen. Ich zuckte, drehte den Kopf.

Ebony. Wir brauchen dich. Du kannst es verhindern.

Die Stimmen. So leise wie Geflüster. So laut wie eine Motorsäge. Sie zupften an meinem Bewusstsein. Mein Kiefer krampfte.

Komm zu uns.

Die Matratze sackte ein. Meine Finger zuckten. Wach auf, Ebony. Wach auf!

Ich wälzte mich.

Ebony, Ebony. Von links, von rechts. Ebony. Ganz nah an meinem Ohr, dann wieder weit weg. Mein Herz raste. Ebony!!

Nach Luft japsend sprang ich in die Senkrechte. Schweiß rann mir die Schläfe herunter. Panisch sah ich mich in meinem Zimmer um. Ach verflucht, es war einfach viel zu dunkel! Mit einer Hand fummelte ich hektisch nach dem Schalter meiner Nachttischlampe. Meine Ohren rauschten, mein Kopf dröhnte. Verdammt, wo war der Lichtschalter?

Ich verfiel in Panik, dachte, jemand wäre in meinem Zimmer. Nein, ich fühlte es. Spürte irgendeine Anwesenheit. Jemand war hier! Mit einem Ruck strich ich mit beiden Armen auf meinem Nachttisch herum. Irgendetwas fiel auf den Boden. Es polterte, und ich bekam immer weniger Luft. Komm schon, komm schon! Als ich ihn endlich fand, fuhr ich schweißgebadet in meinem Zimmer herum. Vollkommen leer. Niemand saß auf meinem Bett, niemand redete mit mir. Keine Schatten, kein Mann. Einfach niemand.

Ausgelaugt zog ich meine Beine an mich, umklammerte sie und legte meine heiße Stirn darauf ab. Schweiß perlte von ihr und meine bebende Brust schlug gegen meine Oberschenkel.

Es hatte wieder begonnen. Schlimmer, als es jemals gewesen war. Und ich konnte niemandem davon erzählen.

Kapitel 4

Das letzte Mal hatte ich um fünf Uhr morgens auf die Uhr gesehen. Feuchte Strähnen klebten an meiner Stirn, und obwohl meine Augen brannten, war an Schlafen nicht mehr zu denken. Wahrscheinlich würde ich nie wieder schlafen können.

Die Helligkeit des Weckers zeigte mir jetzt sechs Uhr an. Unten hörte ich, wie Pa aus dem Haus ging. Auch ich trieb mich aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer. Das Weiß der Fliesen stach in meinen Augen, als würde ich direkt in die Sonne blicken.

Vielleicht hatte ich diese Nacht zwei Stunden geschlafen. Möglicherweise auch weniger. Mein Arm fiel beinahe herunter, als ich den Duschvorhang zur Seite schob. Ich stellte das Wasser an und wimmerte bei der bitterkalten Nässe, die über meinen Rücken perlte. Aber ich drehte den Regler nicht auf Heiß. Nach kurzer Zeit war es nur Kälte, die ich fühlte. Sie klärte meinen Kopf und tat auf unerklärliche Weise gut.

Nach kurzer Zeit hatte ich mein Haar gewaschen, mich eingecremt und stand jetzt in Unterwäsche vor dem Spiegel. Einige Zeit blickte ich mir selbst in die müden Augen. Dicke Ringe zeichneten sich deutlich auf meiner blassen Haut ab, mein langes Haar hing strubbelig von meinem Kopf. Die meisten Strähnen waren noch nass und sahen jetzt wie schwarz, statt haselnussbraun aus. Wenn ich mich so sah, würde ich mich nicht auf achtzehn Jahre schätzen.

Müde zog ich die erstbeste Jeans heraus, streifte mir ein schwarzes Oberteil über und schlüpfte in meine roten Chucks. Bevor meine Mähne ganz trocken war, band ich sie zu einem hohen Zopf. Zuallerletzt überschminkte ich meine Augenringe. Ich wollte schließlich keine Menschen mit meinem Aussehen verschrecken. Dass ich wusste, wie ich heute wirklich aussah, reichte völlig.

Als ich fertig war, sah ich für einen Moment aus dem Fenster. Heute war unglaublich schönes Wetter. Am Himmel erkannte ich nicht eine Wolke, und ich spürte jetzt schon die Hitze, die das Glas abgab. Es würde heute also genauso heiß wie gestern werden.

Mein Handy klingelte, riss mich damit aus meinen Beobachtungen, und mir kroch wieder dieser eisige Schauer über den Rücken. Ganz tief in meinem Inneren war mir klar, dass es nur der Wecker war, der sieben Uhr anzeigte. Trotzdem blieb ein ekelhaftes Gefühl an mir haften. Langsam nahm ich ihn in die Hand, um ihn auszuschalten. Keine Nachrichten waren auf dem Display zu sehen. Nicht eine einzige. Ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein oder weinen sollte. Es war ein Mischmasch der Gefühle, der mir alles abverlangte. Zu wissen, dass man verrückt war, war kein schönes Gefühl.

Schluckend packte ich es in meinen Rucksack und lief die knarrende Treppe hinunter. Hoffentlich verlief dieser Tag anders als der letzte. Noch so einen würde ich nicht überleben.

Unten angekommen, schwebte ich wie ein Geist zum Schlüsselbrett, wollte mir meinen schnappen, und … fasste ins Leere. Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen, dann fiel es mir wieder ein. Natürlich. Ich hatte ihn gestern im Vorlesungsraum vergessen. Seufzend fuhr ich mir durch die Haare. Großartig. Warum war ich so?

»Komm, ich fahre dich.«

Nick stand hinter mir und klimperte mit seinem Autoschlüssel. Na toll. Ihm war also klar, dass ich meinen mal wieder verlegt hatte. Trotzdem sagte er nichts, sondern lächelte mich an.

Schniefend sprach ich: »Schon gut, ich kann laufen.«

Er ignorierte meinen Einwand und antwortete mir dafür mit einem Zwinkern. »Na komm. Du wirst noch zu spät kommen.« Nick ließ mir keine Zeit, noch einmal etwas dagegen zu sagen, denn er lief an mir vorbei, öffnete die Haustür und wenig später hörte ich das Piepen der entriegelten Wagentüren.

Nick hatte Recht. Zu laufen, war eine denkbar schlechte Idee. Auch wenn ich die Nacht kaum geschlafen hatte, war ich spät dran. Und die Angst, dem Gruselmann noch einmal im Wald zu begegnen, löste jetzt schon eine Gänsehaut in mir aus, also nickte ich und folgte Nick zu seinem SUV. Das Auto war genauso gepflegt wie der Freund meines Vaters. Es glänzte in dunklen Silbertönen, und ich sah nicht einen Fleck auf dem Lack oder den Felgen. Genauso wie innen, wo es trotz des halben Jahrs, in dem Nick ihn hatte, immer noch nach Neuwagen roch. Die Ledersitze schimmerten tiefschwarz und der Motor begann zu schnurren, als er den Schlüssel umdrehte.

»Welche Vorlesungen hast du heute?«, versuchte er, mit mir ins Gespräch zu kommen, und fuhr aus der Einfahrt.

Einige Zeit blickte ich die vorbeiziehenden Häuser an. Sobald wir unsere verlassene Straße verließen und durch die noblere Gegend fuhren, war ein Haus schöner als das andere. »Kunst«, antwortete ich knapp. Himmel, konnte ich nicht einmal netter zu ihm sein? Er war immer freundlich zu mir, warum konnte ich das nicht zu ihm sein?

»Ich habe früher Kunst geliebt«, fuhr Nick unbeirrt fort. »Es gab eine Zeit, in der ich viel gemalt habe.«

Mit gerunzelter Stirn sah ich ihn an. »Du hast gemalt?«