Fake a smile - Julie Fraser - E-Book

Fake a smile E-Book

Julie Fraser

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Beschreibung

Charlotte Hunter. Professorin, Feministin und erfolgreiche Sexualtherapeutin. Immerwährende beste Freundin wider Willen. Bis sie auf ihn trifft … Luca Ricardo. Starfotograf, mit Kreativitätsblockade. Umschwärmter Junggeselle, ohne Interesse etwas daran zu ändern. Bis sie vor seine Kameralinse stolpert ...

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76698 Ubstadt-Weiher

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Für meine Mama

Inhalt

Vorwort

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

Epilog

Danksagung

Quellenverzeichnis

Vorwort

Keine meiner Protagonist*innen haben mich bisher vor eine größere Herausforderung gestellt als Charlie und Luca.

Ich wollte ein Buch über eine Feministin schreiben. Vor jeder meiner Romance-Geschichten stelle ich mir die Frage: Welches Gegenüber braucht meine Hauptfigur?

Welchen Mann braucht also eine Feministin? Da sind wir schon beim Knackpunkt. Braucht überhaupt irgendeine Frau einen Mann?

Bei meiner Recherche zu Fake a smile musste ich mich damit auseinandersetzen, ob ich selbst überhaupt eine emanzipierte Frau bin. Oder nicht. Ich habe sehr viel über mich, meine Denkweisen, Fehlannahmen und internalisierte Misogynie gelernt.

Dieses Buch ist kein Ratgeber. Es hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich spiele darin mit Klischees. Meine Protagonistin bin nicht ich. Und meine Protagonistin ist auch nicht du. Sie ist eine fiktive Person mit ihrer eigenen kleinen Welt(anschauung), ihren Problemen und ihren Entscheidungen. Du musst nicht verstehen oder nachvollziehen, was sie tut. Und doch hoffe ich, dass du etwas bei der Lektüre dieses Werkes mitnimmst.

Und wenn es am Ende nur das eine ist: Wir Frauen sind wundervoll. Supportet euch, damit es die ganze Welt erfährt!

Jetzt lasse ich noch meine Protagonistin Charlotte für die Content Notes zu Wort kommen:

Liebe Lesende,

ihr wisst es noch nicht. Aber ich bin Sexualtherapeutin. Das heißt, in diesem Buch werdet ihr von sexuellen Übergriffen, Missbrauch und auch Pädophilie lesen. Ihr werdet von Menschen lesen, die psychisch oder körperlich erkrankt sind (u. a. Krebs) und die ich behandele.

Ich spreche auch über Masturbation und Geschlechtsverkehr. Das sind immerhin meine Herzensthemen. Ob ich auch Sex haben werde? Wäre schön. Immerhin habe ich eine lange Flaute hinter mir.

Aber das ... müsst ihr schon selbst herausfinden :-)

Worauf ich hinaus will: Seid aufmerksam beim Lesen und passt auf euch auf, wenn es Themen gibt, bei denen ihr sensibel seid. Und wenn ihr reden wollt, dann kommt zu mir. Ich habe immer ein offenes Ohr.

Eure Charlotte

Prolog

Carlos knuffte seine Kollegin in die Seite, die dabei war, den Servierwagen für den Flug vorzubereiten. Als Flugbegleiter einer großen amerikanischen Airline erkannte er einen Prominenten, wenn er einen sah. Außerdem konnte die Maschine nur für einen wichtigen Passagier so lange verzögert worden sein.

Die Limousine war über das Rollfeld gerast und vor dem Flieger zum Halten gekommen. Während der Chauffeur die Tür für ihn öffnete, fiel Carlos zunächst das hellbraune Haar auf, das zuerst aus dem Auto lugte.

Woher kannte er den Namen nur?

Luca Ricardo?

Hatte er nicht schon einmal von dieser Person gehört?

Ricardo schloss seinen schwarzen Mantel, um gegen den kräftigen Septembersturm gewappnet zu sein, der draußen wütete, und stemmte seine stattliche Gestalt gegen die ungemütliche Naturgewalt. Noch hatte es nicht zu regnen begonnen, aber der Wind würde ausreichen, um ihnen einen unangenehmen Flug zu bescheren.

Er verabschiedete sich von seinem Fahrer und stieg die Stufen zur Maschine empor. Seine Haltung zeugte von Selbstvertrauen – breite Schultern, gerader Rücken, elegantes Äußeres.

Ricardo hatte Stil.

Das Erste, was Carlos an seinem markanten Gesicht auffiel, war die feine Narbe unter seiner rechten Augenbraue. Ricardo kniff seine eisblauen Augen zusammen, als der Wind ihm beim Hinaufgehen der Treppe ordentlich ins Gesicht pfiff.

»Willkommen an Bord, Mr. Ricardo. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Flug«, begrüßte er ihn und machte Platz, damit er einsteigen konnte.

Ricardo warf ihm ein freundliches Lächeln zu und entblößte dabei seine geraden weißen Zähne, die Carlos womöglich aus einem Werbespot für Zahnpasta kannte. War er Schauspieler?

Carlos Kollegin nahm ihrem Fluggast den Mantel ab und geleitete ihn zu seinem Platz – First Class verstand sich. Er bedankte sich, und Carlos Kollegin kehrte zu ihren Pflichten zurück.

Nachdem sie abgehoben und die Mindestflughöhe erreicht hatten, konnte Carlos nicht umhin, sich persönlich um ihren Ehrengast zu kümmern, wobei ihm weiterhin schleierhaft war, wieso er ihm bekannt vorkam.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Mr. Ricardo? Champagner, einen Cocktail?« Leicht beugte er sich in die Nische.

»Nur ein Wasser bitte.« Den Blick hielt Ricardo auf sein Tablet gerichtet. Seine Stimme war angenehm und tief. Womöglich war er ein Opernstar?

Carlos tat wie geheißen und holte ihm sein Getränk. Auf seinem Rückweg wurde er Zeuge, wie Ricardos Sitznachbarin ihn ansprach. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie so direkt anspreche, aber ich frage mich die ganze Zeit, woher ich Sie kenne«, sagte sie.

Carlos stellte währenddessen das Getränk auf dem Tisch ab. Ricardo griff danach und brachte damit die Eiswürfel zum Klirren. Nur einen kurzen Augenblick huschte ein entnervter Ausdruck über sein Gesicht, doch dann antwortete er so freundlich, dass Carlos sich sicher geirrt haben musste.

»Ich bin Fotograf.« Sein Tonfall blieb knapp. Er führte das Wasser zum Mund und trank. Seine Sitznachbarin starrte ihn an, als würde sein hebender und senkender Adamsapfel eine hypnotisierende Wirkung ausüben. Ricardo tat so, als bemerkte er es nicht. Als sich seine Sitznachbarin bewusst zu werden schien, was sie tat, blinzelte sie kurz und sah rasch aus dem Fenster.

Carlos kehrte zu seinen Pflichten zurück.

Bei seinem zweiten Rundgang sammelte er leere Getränkebehälter ein und erkundigte sich nach weiteren Wünschen seiner Fluggäste. Dabei passierte er abermals ihren speziellen Gast, der weiterhin etwas auf seinem Tablet las. Seine Sitznachbarin blätterte in der Vogue. Bei einer gelungenen Modefotografie schaute sie schlagartig neben sich, dann wieder in die Zeitschrift und anschließend zu Ricardo. Ihre Augen schienen Ping-Pong zu spielen.

»Ich wusste, dass ich Ihren Namen schon einmal gehört habe! Mein Gott, Sie arbeiten doch für die Vogue!« Ihre Worte überschlugen sich fast. Carlos vermutete, sie war im gesamten Flieger zu hören. Mehrere Köpfe wandten sich zu ihnen um. »Das ist eines Ihrer Bilder hier! Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich liebe Ihre Fotografien.« Rote Flecken waren auf ihre Wangen getreten, und sie strahlte. Ricardo quittierte dieses Kompliment mit einem undefinierbaren Lächeln, das so gekonnt war, als täte er es unbewusst. Er blickte hinunter auf sein Tablet, bevor er unverbindlich antwortete: »Vielen Dank.«

Carlos unterdrückte ein Schmunzeln, während er mitbekam, wie ihr Ehrengast von der Dame um ein Autogramm in ihre Zeitschrift gebeten wurde. Vielleicht würde Carlos ihn beim Aussteigen ebenfalls um eines bitten.

1

Ich bin so ehrgeizig, wie nur je eine Vertreterin meines Geschlechts war, ist oder sein wird.

Margaret Cavendish 1623 - 1673

Charlie: Hat da einer von mir gesprochen?

Professor Doktor Charlotte Hunter war das für Männer, was das Klischee des besten Freundes in den Augen der Frauen war. Irrelevant in Bezug auf die eigenen Interessen, aber der »beste Freund« schlechthin, als jemand, bei dem sie sich entspannen und sie selbst sein konnten, weil sie nicht darauf achten mussten, ihr Gegenüber zu beeindrucken.

Charlotte schien etwas an sich zu haben, das alle Männer in dem Glauben ließ, absolut nicht begehrenswert und eine von ihnen zu sein. Schwer nachvollziehbar. Charlotte wusste nicht einmal, seit wann dem so war. Sie erinnerte sich aber an keine Zeit zurück, in der sie nicht einen Mann als Kumpel gehabt hatte. Vom Kindergarten angefangen: Dennis – der Sandkastenfreund.

Nach eigenen Maßstäben hielt sie sich für charakterlich und optisch zumutbar.

Etwas hatte sie offenbar an sich, dass Männer sich gerne mit ihr umgaben, oder nicht? Scheinbar beschränkte sich das nur auf ein Zusammensein auf eine unerotische Art und Weise.

Entgegen der allgemeinen Annahme, es seien die »Inneren Werte«, auf die es ankam, war sie sich bewusst, dass für den Großteil ein anderes Credo galt: Alles, was zählte, waren Titten und Ärsche.

Da sie bei beidem von Mutter Natur nicht den Löwenanteil abbekommen hatte, war es durchaus verständlich, aus körperlicher Sicht gesehen nicht interessant genug zu sein.

Sie entsprach dabei mit ihrer hochgewachsenen Statur nicht mehr dem viel geliebten Schema einer Disney-Prinzessin, war weder süß noch knuffig. In Sachen Napoleon-Komplex gab es auch heute noch viele Männer, die nicht damit zurechtkamen, wenn ihre Partnerin größer war als sie selbst.

Charlotte schätzte ihre haselnussbraunen Augen, und sie hatte einen frischen Teint, um den viele sie gerade in der kalten Jahreszeit beneideten. Ihr Haar war von einem so dunklen Braun, dass es außerhalb direkter Sonneneinstrahlung schwarz anmutete. Es war leicht gewellt, wohingegen man andere Kurven an ihrem Körper vergeblich suchte.

Als emanzipierte Frau legte sie jedoch Wert darauf, dass ein potenzieller Partner sie vorrangig ihres Charakters wegen schätzte, wenngleich sie um die Wichtigkeit von körperlicher Anziehung wusste. Körperlichkeit war schließlich eines ihrer Steckenpferde.

Mit der ihr eigenen Wissbegierde hatte sie sich früh selbst erforscht und entdeckt. Sie hatte sich Bücher über die weibliche Sexualität besorgt, um zu lernen – Lesen war seit jeher die beste Methode, ihren Wissensdurst zu stillen – ihre Quellen waren allerdings schnell erschöpft. Außerdem war sie zu dem Standpunkt gelangt, Empfindungen zwar recherchieren, ›Erfahrung‹ aber nur am eigenen Leib sammeln zu können. Abhilfe war nötig gewesen. Freundinnen hatte sie nie gehabt und ihre Mutter … so offen sie gegenüber Sex war, so unaufgeklärt entließ sie ihre Tochter in das Leben einer jungen Frau.

Sie hatten nicht darüber gesprochen, was körperliche Zuneigung, Zärtlichkeit und Vertrauen in einer Partnerschaft war. Consent? Verhütung? Keine Themen, denen ihre Mom jemals Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

Nie hatten sie sich ausgetauscht, wie man seinen eigenen Körper erkundete, dass es okay war, sich zu berühren, um herauszufinden, was einem gefiel, – und das einem Partner oder einer Partnerin gegenüber zu kommunizieren.

Weil Charlotte vermeiden wollte, dass andere Frauen in die gleiche Situation kamen wie sie, hatte sie im Rahmen ihrer Tätigkeit als Sexualtherapeutin einige Bücher zu diesen Themen verfasst. Sie fand es furchtbar, dass die Geschlechtlichkeit der Frau so tabuisiert wurde, und hatte es sich auf die Fahne geschrieben, Aufklärung zu leisten. In der Historie gab es viele einschneidende Ereignisse, die das Frauenbild bis in die Gegenwart prägten. Dabei sah Charlie nicht nur in der Kirche einen Quell der weiblichen Unterjochung, wo es Frauen bei den Katholiken beispielsweise verwehrt blieb, höhere Ämter zu bekleiden. Weiblichkeit war einst im Mittelalter mit etwas Unreinem und Bösem gleichgesetzt worden und hatte seinen Gipfel in der Hexenverfolgung gefunden. Charlotte kämpfte darum, dass man sich an andere Vorbilder hielt. Matriarchalische Kulturen, die in der Frau das Göttliche gesehen hatten, einen Schoß der stetigen Wiedergeburt, der Erneuerung und der Inspiration, – das waren die Stellungen, in denen sie Frauen sehen wollte.

Und es beginnt in den eigenen Köpfen.

Es war egal, ob man einen Doktortitel hatte oder eine Schar Kinder hütete. Jede Frau sollte dazu fähig sein, das zu tun, was ihr Erfüllung schenkte. Jeder Mensch sollte so arbeiten und leben können, wie er oder sie selbst es für richtig hielt, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Vollzeit, Teilzeit, mit Kindern oder ohne. Mit behaarten Beinen oder glatt rasiert. Verheiratet, verpartnert oder solo. Dass man Nein sagen durfte, wenn man nein meinte, und man Respekt entgegengebracht bekam für eigene Meinungen und Ansichten. Jede Frau konnte emanzipiert sein, ob sie dabei Hausfrau, Mechanikerin oder CEO war. Charlie wollte das Vertrauen in die eigene Intuition gestärkt wissen. Frauen sollten sich darauf besinnen, auf dieses Bauchgefühl zu hören, sich davon leiten lassen, selbst wenn sie sich damit unpässlich und unbequem verhielten. Sie wollte weg von den braven Mädchen von nebenan, die zu allem Ja und Amen sagten und zur Bescheidenheit erzogen wurden.

Diese Aufgabe motivierte sie.

Als junge Frau hatte sie in ihrem eigenen Pragmatismus entschieden, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, – vor allem, was ihren Körper anging. Es musste doch einen Grund geben, warum alle Welt um das Thema Sex so einen Wirbel machte. Sie hatte sich Lehrstunden beschafft, mit einem Mann, der in der Band der aktuellen Flamme ihrer Mutter gearbeitet hatte. Nachdem ihre Mom Wind davon bekommen hatte, hatte sie zu ihr gesagt: »Wer alt genug für Sex ist, ist auch alt genug für sich selbst zu sorgen.«

Ihre Mom hatte Charlie mit siebzehn Jahren vor die Tür gesetzt. Seitdem hatten sie keinen Kontakt mehr. Über das Jugendamt und mithilfe verschiedener Anträge hatte man ihr aufgrund ihrer entsprechenden Reife ihre Geschäftsfähigkeit zugewiesen und eine Wohnung für sie besorgt, sodass sie nicht in eine Pflegefamilie musste.

Dass ihre Mutter seit dem Moment von Charlottes Geburt mit ihr überfordert gewesen war, war ihrer Tochter früh klar geworden. Mit Charlies ›Vergehen‹ hatte sie einen Vorwand, um ihr ungewolltes Kind loszuwerden, wo sich die beiden Frauen in ihrem Wesen so wenig glichen wie ein Kuckuckskind seinen Geschwistern im fremden Nest.

Charlotte hatte all ihre Sorgen und Probleme mit sich allein ausgemacht und war vielleicht deshalb zu einer Meisterin der Selbsthilfe und Psychoanalyse, inklusive Seelsorgerin für alle mutiert. Ihr Talent hatte sie zum Beruf erkoren. Nützlich dafür war ihre ausgeprägte Menschenkenntnis, die sie bis jetzt nie im Stich gelassen hatte.

Ihre Mom war selbst ein Kind gewesen, als sie Charlotte geboren hatte. Ihr Faible für jüngere Männer hatte sie nicht aufgegeben. Ein Kind hatte nicht in ihre Lebensphilosophie gepasst.

Anstatt mit Gleichaltrigen zusammen zu sein, hatte Charlotte in Hinterräumen einer schlechten Rockband zugehört, weil der Sänger zufällig die neue Liebe ihrer Mutter gewesen war, oder in einer Garage einem jungen Mann dabei zugesehen, wie er sein Motorrad repariert hatte. So hatte sie einiges gelernt: Motorradfahren, Autos reparieren oder klauen, Konversation betreiben, fluchen, und dass eine schlechte Band, auch wenn sie übte, nicht unbedingt zu einer guten Band wurde.

Diese Männer hatte sie gemocht. Und das hatte auf Gegenseitigkeit beruht. Charlie war behandelt worden wie eine kleine Schwester, ein Kumpel oder eben die Tochter der Frau, mit der man schlief.

»Nur eine coole Mom kann eine so coole Tochter haben wie dich.«

Charlotte hatte in Bars gesessen und dem Barkeeper interessiert dabei zugesehen, wie er Ratschläge fürs Leben erteilt hatte, wenn ihre Mom für kurze Zeit dort untergekommen war und gekellnert hatte. Oder sie hatte sich mit einem Buch in eine Ecke verzogen und sich Fremdsprachen beigebracht, während ihre Mutter in einem Club die Nacht zum Tag gemacht hatte.

Die Intelligenz ihrer Tochter war für ihre Mom schwer zu handhaben gewesen.

»Warum sitzt du schon wieder mit einem Buch in deinem Zimmer? Das wirkliche Leben spielt sich woanders ab. Komm, wir gehen aus!«

Dass Charlie sich weder für ihr Outfit oder ihr Aussehen noch die nächste Party interessiert hatte, war ihrer Mutter immer sauer aufgestoßen.

»Wie kann ein so junger Mensch schon so eine Couchpotato sein? Und nimm diese scheußliche Brille ab, damit siehst du ja aus wie eine Eule! Würdest du dich mal ansehnlicher herrichten, könnte man sich auch mit dir sehen lassen!«

Ihre Mom hatte es nicht mitbekommen, dass Charlie zwei Klassen übersprungen hatte. Durch ihren Lebensstil hatte sie ihre hochbegabte Tochter früh zur Selbstständigkeit erzogen. Die Männer, die als platonische Freunde Charlottes Wegbegleiter gewesen waren, hatten sie in ihrem Leben mehr geprägt als ihre Erzeugerin. So hatte einer mit ihr die englischen Klassiker gelesen und analysiert. Ein anderer hatte ihr Selbstverteidigung beigebracht, und ein weiterer Mann, der HIV-positiv gewesen war, hatte ihr eine Lektion in Sachen Safer Sex, One-Night-Stands und Gefühle erteilt – der Grundstein für ihre Tätigkeit als Sexualtherapeutin.

Nachdem ihre Mom Charlotte an jenem unangenehmen Abend aufgefordert hatte auszuziehen, hatte diese sich bereits mit einem Stipendium an der Georgetown University in Washington für Psychologie eingeschrieben.

Anstatt mit Freunden auf Partys zu gehen, hatte sie sich, dort angekommen, in Bücher geflüchtet, weil sie dankbar gewesen war, sich vor niemandem mehr für ihren Wissensdrang rechtfertigen zu müssen. Sie war die jüngste Absolventin gewesen, die die Uni jemals hervorgebracht hatte. Bis zum Ende ihrer Studienzeit hatte sie auf dem Campus gelebt.

Auf der Schule war sie schon die Jüngste und ein Nerd gewesen. An einer Universität mit vielen begabten Köpfen war es indes so, dass sie mit dieser Besonderheit das erste Mal wirkliche Zugehörigkeit gefunden hatte.

Für ihre intelligenten männlichen Kollegen war sie wie eine Gleichgestellte, mit der man sich fachlich maß. Konfrontationen hatten sie nur angestachelt, das Beste aus sich herauszuholen. Das körperliche Interesse an ihr hatte nie mehr an Fahrt aufgenommen, aber sie erfuhr Akzeptanz für ihr Können und war beliebt.

Wenn bis heute jede Frau behauptete, sie würde Männer nicht verstehen, stellte es Charlotte vor keine Probleme. Außer, wenn es um Sex ging. Sie war und blieb die beste Freundin. Und mit der schlief man nicht.

Charlotte sehnte sich unermesslich nach ein wenig Zärtlichkeit. Da gab es das Problem in rein praktischer Hinsicht, da sie, umgeben von so vielen Männern in ihrem Freundeskreis, niemand nur annähernd für einen Single hielt. Und wenn es dann doch zu Annäherungsversuchen kam, konnte Charlotte es ihrem Kandidaten niemals verdeutlichen, warum sie ihre Jungs, die sie, sofern sie unter sich waren, liebevoll ›Die Klöten‹ nannte, nicht aufgeben würde. Damit waren Eifersüchteleien vorprogrammiert. Und für Charlie nicht tolerierbar. Die Wahl zwischen tiefer Freundschaft versus Partnerschaft würde immer zugunsten ihrer Freunde ausfallen, wenn ein Lover so dreist war, diese Entscheidung einzufordern. Lebenspartner gingen, echte Freundschaften konnten ein Leben lang bestehen. Das wusste sie, immerhin hatte sie nicht nur ihre Mom aufmerksam beobachtet.

Wenn die unwahrscheinlichste aller Varianten aufkam, dass jemand sie sowohl gerne kennenlernen wollte als auch Charlie sich ernsthaft für ihn erwärmte, dann lief es nach Schema F ab:

Spätestens kurz vor dem Liebesspiel kam er: der emotionale Ausbruch männlicherseits.

Der Fluch von Charlottes Dasein.

Sie definierte sich über ihre Arbeit und ihr Helfersyndrom.

Charlotte war Psychologin durch und durch. Niemals würde sie jemandem ihre Hilfe verwehren, der sie darum bat. So machte sie ihre Hose zu, legte ihre Bluse wieder an … und ließ die Männer reden. Eine Partnerschaft damit zustande zu bringen war nicht möglich, da sie ab diesem Moment mehr Therapeutin denn Geliebte war.

Charlie widmete all ihre angestaute Liebe und Energie ihrer Arbeit und ihren Patienten, was das Geheimnis ihres Erfolges war und die schnelle Entwicklung ihrer Karriere samt Studium erklärte.

Außerdem tat sie so, als gäbe es da nicht einen leeren Platz in ihrem Inneren und tröstete sich damit, keine gebrochenen Herzen, Flirts oder zum Scheitern verurteilte Beziehung überwinden zu müssen. Sie konnte ungezwungen mit ihren Freunden zusammen sein, ohne dass ihr ein Kerl im Genick saß. Mit ihnen konnte sie lachen, Probleme wälzen und diskutieren, obgleich es im Regelfall nicht ihre eigenen waren.

Der gute Draht zu Männern war ihr bei Frauen definitiv abhandengekommen. Das weibliche Geschlecht war ihr gegenüber reserviert, und Charlotte hatte gelernt, sich im Gespräch zurückzuhalten, weil sie polarisierte – im Falle ihrer Geschlechtsgenossinnen auf die Seite der Ablehnung. So etwas wie eine beste Freundin kannte sie nicht, wo schon ihre Mutter keine wirkliche Bindung zu ihr hatte aufbauen können.

Charlie fand Frauen im Gegenzug wunderbar. Umso mehr kränkte es sie, dass sie keinen Zugang zu ihnen fand. Frauen waren empathisch, fürsorglich und Teamplayer. Nur in Konflikten scheiterten sie häufig. Vor allem in Konflikten mit anderen Geschlechtsgenossinnen.

Charlotte präferierte dahingehend eher die Konfliktlösungen von Männern. Als Psychologin war sie der Ansicht, dass es half, konkret zu sein und seinem Gegenüber im Zweifel lieber eins auf die Nase zu geben, verbal oder buchstäblich.

Nicht nur Frauen, sondern ebenso Kinder versetzten Charlotte in Unbehagen, außer in ihrer Funktion als Therapeutin.

Sie hatte eingesehen, sich einen Partner und eine eigene Familie zu wünschen, aber in ihrem unbeholfenen Umgang mit Kindern sah sie sich zuletzt darin bestätigt, dass sie nicht der mütterliche Typ zu sein schien. Sie bemaß ihren Selbstwert zwar weder an ihrer Reproduktivität, noch an ihrem Beziehungsstatus und hatte zudem nicht das Gefühl, nicht ausgefüllt zu sein – im Gegenteil, wenn sie so einen Blick auf ihren Terminplaner warf. Aber vielleicht fehlte ihr doch etwas?

Charlotte hatte über die Option einer Samenspende nachgedacht. Sie hatte gleichwohl am eigenen Leib erfahren, was es hieß, Kind eines alleinerziehenden Elternteils zu sein, und war lange zu dem Schluss gekommen, Nachwuchs bloß in einer intakten Beziehung in Erwägung zu ziehen. Aber empfand sie das noch immer so?

Aus ihren Sitzungen wusste sie, dass ein unerfüllter Kinderwunsch mit zunehmendem Alter für Frauen problematisch werden konnte, und hatte sich dem Thema offen gestellt. Fakt war, sie verfügte im Kontakt mit Kindern über keinen großen Erfahrungsschatz. Außerdem kam sie logisch und nüchtern betrachtet damit klar kinderlos zu sein. Ihre Emotionen hatte sie dabei gut im Griff.

Oder?

Das war zumindest das gedankliche Konstrukt, das Charlotte an diesem Abend von sich aufrechtzuerhalten suchte. Dieses Bild rekapitulierte sie zum millionsten Mal, während sie ihre Maisonettewohnung mit Blick über Washington auf Vordermann brachte.

Nachdem sie einen leitenden Posten in einer psychosomatischen Rehaklinik angenommen hatte, hatte sie dieses Juwel im schönen Georgetown aufgetan.

Sie liebte das Stadtviertel. Manch einer fand es elitär, sie dahingegen schätzte die Straßen mit Kopfsteinpflaster, an denen, wie an einer Perlschnur, die hübschen Häuser aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert aufgereiht waren. Es gab entzückende Parks, in denen sie im Schatten uralter knorriger Bäume flanieren konnte oder sich auf einer Bank mit einem Buch in der Hand niederließ, um zu schmökern.

Ihre Wohnung selbst wirkte großräumig, dank der verwinkelten Anlage und war doch für eine Person zu handhaben. Einer ihrer Lieblingsorte war die riesige Dachterrasse, die oft Schauplatz für die Übertragung von sportlichen Großereignissen war. Mit Beamer und Leinwand ausgestattet, lud sie zu solchen Gelegenheiten ihre Freunde zu sich ein. Einer von ihnen hatte ihr aus Paletten eine Couchlandschaft gebaut, die für alle Platz bot. In einer lauen Sommernacht lag sie bisweilen dort und schaute sich den Sternenhimmel an.

Vom Eingangsbereich aus, in dem sie gerade war, hatte man einen schönen Blick auf diese Terrasse und in das Wohn- und Esszimmer, die den Großteil der Quadratmeter ihres Domizils einnahmen.

An diesem Tag würde sie sich den Blick dorthin lieber sparen.

Da Charlotte in ihrem Beruf aufging und rund um die Uhr für ihre Patienten zur Verfügung stand, kam das eigene Leben zu kurz, sodass sie einmal in der Woche eine Komplettsanierung ihrer Wohnung veranschlagen könnte.

Charlotte strich sich eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht und bückte sich, um in ihrem Putzeimer den Lappen auszuwringen. Sie checkte ihre Armbanduhr und stellte fest, dass es weit nach Mitternacht war.

Welcher vernünftige Mensch putzte nachts seine Bude?

Charlie rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn. Vielleicht wäre es an der Zeit den Geiz zu vergessen und eine Reinigungskraft zu engagieren, überlegte sie, während sie das Chaos in ihrer Wohnung überblickte.

Sie hatte ein Faible für Dekorationsartikel, neu wie antik und bewahrte zudem sämtliche Dankeskarten oder Bildprojekte auf, die ihr ihre Patienten zum Geschenk gemacht hatten, weil sie sich nicht davon trennen konnte. Jedes dieser Stehrümchen erzählte eine Geschichte, – eine bedeutsame. Es wäre blanker Hohn vor ihrer Leistung als Psychologin sie wie Abfall zu entsorgen.

In ihrem allgemeinen Chaos sorgte ihre Sammlernatur dafür, dass ihre Wohnung einer Mischung aus Rumpelkammer, Antiquitätenladen und Dekorationsfachgeschäft glich. Staub zu wischen war die reinste Hölle.

Kreuz und quer lagen zudem ihre Klamotten auf der Couch gestapelt. All die fein säuberlichen Hosenanzüge, die sie mit Vorliebe in ihrer Praxis trug, daneben den Rentier-Schlafanzug, den sie gerne anzog, weil er so weich war und ihr das Karomuster darauf gefiel.

Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich alle möglichen Notizen, die sie sich zu diesem oder jenem Patienten gemacht hatte, und die Küche war nicht weit davon entfernt vom Gesundheitsamt für kontaminiert erklärt zu werden.

Hatte sie die Verpackung vom Chinesen nicht entsorgt, die seit knapp fünf Tagen in ihrer Spüle vor sich hingammelte? Urgh.

Am liebsten hätte sie sich einen Feuerwehrschlauch genommen und alles querbeet mit Wasser bespritzt, – eher kontraproduktiv.

So klatschte sie den Lappen mit einem lauten Platsch auf den Boden und wienerte.

Nachdem sie den gröbsten Dreck beseitigt hatte, sammelte sie ihre Kleider ein und legte sie ordentlich zusammen. Dabei entschied sie spontan, ihren Kleiderschrank auszuwischen, wenn sie schon putzte. Da sich ohnehin der Großteil ihrer Bekleidung in der Wohnung verteilte und nicht im Schrank befand, war das Ausräumen eine Kleinigkeit.

Während sie ihrem Unterwäschefach auf den Leib rückte, entdeckte sie ein kleines Schächtelchen.

Eine Packung Kondome.

Und sie war seit zwei Jahren abgelaufen.

Ich bin nicht nur eine Pottsau, die ihre Wohnung versiffen lässt … Ich bin eine untervögelte Pottsau.

Zumal sie realisierte, dass das Haltbarkeitsdatum bei Weitem lange nach dem Herstellungszeitpunkt datiert wurde.

Mit der Kondompackung in der Hand ließ sich Charlie langsam auf die Bettkante sinken. Sie betrachtete das Tütchen wie eine tickende Zeitbombe.

War diese Packung Kondome sinnbildlich für ihre sexuelle Blütezeit zu werten?

War die Zeit ihrer Vagina abgelaufen, wie die Pariser in der Schachtel?

Ihre unfreiwillige Abstinenz war lange kein Problem, aber durfte sie noch sexualtherapeutische Ratschläge erteilen, wenn sie, was die Praxis anging, nicht mehr up to date war?

Sie seufzte einmal tief und ließ ihren Schrank Schrank sein.

Es gab Momente im Leben einer Frau, da half nur heiße Schokolade! Mit ebenjener in der Hand nahm sie auf der Couch Platz.

Charlie ließ ihren Blick über die Fotocollagen an der Wand gegenüber schweifen, die sie zusammen mit ihren Freunden zeigten, dann über ihren Schreibtisch, der aufgeräumt kaum besser aussah als zuvor.

Ihre Unordentlichkeit war ein eindeutiges Indiz dafür, dass sie in einer Krise steckte.

Dabei hatte sie sich mit allen Mitteln davon abhalten wollen, selbst ein Fall für den eigenen Berufsstand zu werden. Sie hatte alles versucht, um nicht dem Bild gerecht zu werden, das so viele Menschen von Psychologen zu haben schienen.

Das Wort schrullig und Schlimmeres geisterte ihr durch den Kopf.

Stopp!

Mit Wucht stellte sie die Tasse auf dem Tisch ab, sodass der Kakao darin fast überschwappte.

Ich hab alles im Griff!

Charlotte würde nicht so tief sinken, ihrem Leben den Sinn abzusprechen, nur weil sie keinen Partner und keinen Sex hatte und sie im Chaos versank. Das Problem war: Sie hatte sich selbst in diese Rolle hineinmanövriert. Es war in Ordnung, Single zu sein, und es sagte nichts über ihren Wert als Mensch aus!

Aber … sie vermisste etwas. Und dabei ging es nicht ausschließlich um Sex.

Sie dehnte ihren Nacken und ließ ihren Kopf kreisen, um die Gedanken darin gerade zu rücken.

Charlotte war erfolgreich in ihrem Job, hatte tolle Freunde und würde sich eine neue Packung Kondome kaufen.

Basta!

So geeicht ging sie ihre Notizen für die Patienten am kommenden Tag durch und schrieb sich ein Post-it mit ihrer To-do-Liste für die anstehende Woche.

Als sie diese Erinnerungen in guter Position an ihren Spiegel an der Garderobe gepinnt hatte, schaltete sie ihre Playlist auf Spotify ein und kehrte an ihre Aufräumarbeit zurück, begleitet von Disturbeds Are you ready.

Ich bin verdammt ready!

Und ein Wischmopp eignete sich meisterhaft als Mikrofon. Nur headbangen sollte sie mit dem nassen Mopp besser nicht.

Der dreistündige Rundumschlag hatte ihr Innerstes annähernd ins Lot gerückt, stellte sie erleichtert fest, während sie aus dem Fenster blickte. Charlie beobachtete die Sonne, die ihre Strahlen aussandte und sich über die Dächer der Stadt erhob, um sie in goldenes Licht zu tauchen. Die Fenster gegenüber reflektierten die Lichtquelle, und die schillernden Widerscheine wanderten mit dem aufsteigenden Stand der Sonne über die Häuserfassaden, wie der Sucher eines Spotlights.

Sie gestattete sich, eine Weile zuzusehen und für ein Augenblinzeln wollte sich ein friedliches Gefühl bei ihr einstellen, bis sie in ihr Schlafzimmer trat, auf ihr Bett blickte und dort in drohender Position die Kondome liegen sah.

Tick-tack-tick-tack.

Mit einer schnellen Bewegung ließ sie dieselben in einer Mülltüte verschwinden und sprang unter die Dusche mit dem Gedanken, dass es mit Sicherheit Menschen gab, denen es wesentlich beschissener ging als ihr.

2

Frauen begnügen sich nicht mehr mit der Hälfte des Himmels,

sie wollen die Hälfte der Welt.

Alice Schwarzer 1942

Charlie: Wenn die Hälfte nur mal reicht.

Ich wusste doch, dass ich ihren Namen schon einmal gehört habe.

Wenn Luca jedes Mal einen Dollar dafür bekommen hätte, sobald jemand diesen Satz sagte, dann hätte er sein Bankkonto um ein Paar Stellen vor dem Komma bereichern können.

Dabei war das Letzte, an das er jetzt denken wollte, seine Arbeit und sein Ruhm.

Er streckte seine langen Beine vor sich aus und schnallte sich an, da sie im Landeanflug auf den Washington Dulles International Airport waren.

Früher hatte er sich darüber amüsiert, dass die Menschen ihn überall vor der Kamera vermuteten und er sich hauptsächlich dahinter aufhielt. Eine Ex-Freundin hatte vor langer Zeit zu ihm gesagt, er hätte den falschen Beruf eingeschlagen und sich besser für eine Modezeitschrift ausgezogen. Das war vor den Tagen gewesen, bevor er einer der berühmtesten und angesehensten Fotografen der Modewelt war.

Der Verlust seiner ›Virtuosität‹, der ihn seit Kurzem heimsuchte, hatte ihn auf den Boden der Tatsachen zurückgeführt. Nicht, dass er subjektiv abgehoben war. Er hielt den Kontakt zu seinen Freunden beständig und stellte sich nicht wie jene Koryphäe dar, als welche ihn gute oder schlechte Käseblätter bereits tituliert hatten. Wie viel ein solches Geschreibsel wert war, hatte er nach seiner kürzlichen Ausstellung erfahren.

Nichts.

Die Modefotografie war das, womit er seine Brötchen verdiente, was aber nicht seiner wirklichen Leidenschaft entsprach. Schönheit gab es auf so vielfältige Weise …

In jungen Jahren hatte er sich blenden lassen vom äußeren Schein. Als gut aussehendem Mann waren ihm Frauenherzen zugeflogen, ohne dass er sich darum hätte bemühen müssen. Eine Zeit lang war es spannend gewesen, mit den Modehäschen ins Bett zu hüpfen. Mehr als eine Diva war mit ihm liiert gewesen, und er hatte lernen müssen, dass der optische Eindruck nichts über das Innenleben preisgab.

Er hatte Frauen abgelichtet, die in ihrem Inneren verwahrlosten Monstern glichen. Die verzehrt wurden durch die ihnen auferlegten Schönheitsideale und gegeißelt durch die Modeindustrie. Luca hatte gelernt, sie zu bedauern. Wäre er ein Maler, seine Zeichnung dieser Frauen wären wie zwei Seiten einer Münze: Die strahlende Schönheit und die mutilierende Fratze.

Dieses Leben hatte ihn ermüdet.

In seinem neu erwachten Idealismus hatte er sich der Landschaftsfotografie gewidmet, wie einst in seinen Teenagerjahren. Das Ergebnis war durchgefallen. Die scharfzüngigen Spitzen der Kritiker hatten ihn getroffen. Darunter gelitten hatte allen voran seine Kreativität.

Die Sache mit der Landschaftsfotografie würde man als Ausrutscher werten, wenn es eine einmalige Angelegenheit blieb. Seine nächste Kollektion musste daher ein Erfolg werden, sonst wäre die Blütezeit seiner Karriere womöglich vorüber.

Warum aber sollte er sich neue Projekte überlegen, wenn alles, woran die Welt interessiert war, in einer Modezeitschrift abgedruckt werden konnte?

Sein fehlender Enthusiasmus sorgte dafür, dass ihm seine Schaffenskraft ebenso in der Modefotografie entglitt. Lucas Sinn für Schönheit und Ästhetik, einst sein Markenzeichen, glich nunmehr einem billigen Nachdruck eines vormals berühmten Meisterwerkes.

Da sich dies über Wochen hielt, hatte er sich eine Auszeit verordnet, um die Route seines Lebens zu überdenken und neu zu planen. Es würde kein Navigationsgerät geben, das diesen Job für ihn übernahm.

Er war sicher, es täte ihm gut, in seiner alten Heimat und bei seinen Freunden zu sein.

Back to the roots.

Fernab von Chefredakteuren, Haute Couture und Primadonnen, die darauf warteten, das nächste Aushängeschild von Victoria‘s Secret zu werden.

Seine Sitznachbarin, deren Versuche der Gesprächsaufnahme er spätestens, nachdem sie die Vogue auf ihrem Klapptisch positioniert hatte, abgeblockt hatte, schenkte ihm ein schüchternes Lächeln. Sie konnte nichts dafür, dass er diesem ganzen Promi-Kram überdrüssig war, und so gab er sich einen Ruck. Sein angeborener Charme war eine Eigenschaft, auf die er zählen konnte. Deshalb hob er kurz seine Mundwinkel, da sie nie die Möglichkeit bekommen würde, herauszufinden, dass sich sein sexuelles Verlangen mit all seiner Schaffenskraft verabschiedet hatte.

Der Schein musste indes gewahrt werden, und über die letzten Wochen war er ein Meister darin geworden; schließlich hatte er von den Besten gelernt, immerhin zählten sich einige der hochkarätigsten Topmodels zu seinen Freunden.

Nachdem er aus dem Flugzeug gestiegen war, stellte er erleichtert fest, dass der kalte Wind ihm nicht bis nach Washington gefolgt war, im Gegensatz zu seinen trüben Gedanken.

Er begab sich zur Gepäckausgabe, schnappte sich seinen Koffer vom Band, und ihm wurde leichter ums Herz, als er seinen alten Kumpel Clive am Ankunftsterminal erblickte.

Luca schritt auf ihn zu und klopfte seinem ältesten Freund herzlich auf die Schulter.

»Wird aber auch Zeit, dass man dich Jetsetter mal wieder zu Gesicht bekommt.« Clive erwiderte Lucas Geste. »Na, was macht der nervöse Fotofinger so?«

Wenn Clive nur wüsste ...

»Der gönnt sich jetzt für ein paar Tage Erholung.« Dass er dabei Clives Blick auswich, war hoffentlich nicht allzu offensichtlich. »Was machen die Jungs?« Sein Tonfall wurde leichter, als hätte sich ein Knoten um seine Kehle gelöst. Interessiert lauschte er Clives Ausführungen, und sie begaben sich zum Parkhaus. Sein bester Freund unterrichtete ihn über all die Neuigkeiten und Geschehnisse, die sich ereignet hatten in diesen herrlich normalen Alltagen ohne Kritiker, Gönner, Auftraggeber und Speichellecker. Vieles hatte sich geändert, und doch war es so, als wäre Luca nicht fort gewesen.

»Wir haben uns gedacht, dass so eine kleine Willkommensparty das Beste ist, um dich wieder zu rehabilitieren.« Clive wackelte mit den Augenbrauen.

Ein Schmunzeln zupfte an Lucas Mundwinkeln, und er erinnerte sich melancholisch an all die kleineren und größeren Partys und Zusammenkünfte aus seiner Jugendzeit, die feuchtfröhlich und zwanglos mit die besten Zeiten seines Lebens gewesen waren. »Ich hoffe doch, ihr habt heute nicht wieder einen Trip à la ›Hangover‹ mit mir vor ...«, meinte er augenzwinkernd, und seine Gedanken schweiften zum Junggesellenabschied seines Freundes zurück, bei dem eine Casinotour und eine Fahrt in einer Stretch-Limousine nur zwei Bestandteile eines denkwürdigen Abends gewesen waren.

»Denk dran, ich stehe in der Öffentlichkeit als ein respektabler Fotograf.« Dabei richtete er seine imaginäre Krawatte und Clive lachte.

»Wir wollten es gemächlich angehen und dachten uns, dass wir deinen Ruf im Auge behalten müssen.«

Sie betraten das Parkhaus, und Clive fütterten den Parkautomaten. »Heute Abend spielen die Yankees.«

Mehr Erklärung brauchte es nicht. Es wäre ein Männerabend wie in guten alten Zeiten mit Sport, Pizza und Bier. Als hätte sich eine Schlinge von seinem Hals gelöst, hatte Luca das Gefühl, das erste Mal seit Wochen frei durchatmen zu können. Sein verkümmertes Innenleben, das nach echten Werten lechzte, anstatt nach Oberflächlichkeiten, konnte frische Energie tanken.

»Sind alle dabei?« Luca wuchtete seinen Koffer in Clives Wagen.

»Es hat nicht lange gedauert die Zusagen zu bekommen, nachdem ich sagte, dass du wieder im Lande bist. Ach, und ich habe Charlie eingeladen, aber einer mehr oder weniger wird nicht auffallen.« Clive klappte den Kofferraumdeckel zu.

Luca nickte und ließ sich entspannt auf den Beifahrersitz fallen.

Sein Erholungsurlaub konnte beginnen.

***

Sie fuhren zu Clive nach Hause, und peu à peu trudelten seine Kumpels ein und begrüßten ihn überschwänglich, bis die Truppe aus sieben Mann komplett war. Clive, Finn und Gabriel kannte er aus der Schulzeit und den Rest von diversen Vereinen. Das waren Menschen, die ihn länger begleiteten als sein Agent und denen er mehr vertraute als seinem Steuerberater, dem alten Gauner.

»Schauen wir das Spiel heute Abend?« Finn kreuzte seinen rechten Unterschenkel über dem linken Oberschenkel und verschränkte entspannt die Arme hinter dem Kopf.

»Klar, ich habe ein Heidengeld auf die Yankees gesetzt«, sagte Luca und gruppierte sich mit dem Rest um den Couchtisch, während Clive ihnen vier große Pizzen orderte.

»Wer bringt das restliche Bier mit?« Gabriel deutete auf das Sixpack auf dem Tisch.

»Charlie. Wird sicher gleich da sein. Ist nur auf der Arbeit aufgehalten worden.« Clive schaute auf seine Uhr und stellte ein paar Nüsse auf den Tisch.

Entspannt lehnte sich Luca zurück und hörte seinen Freunden zu, während sie von ihrem Alltag plauderten. Hin und wieder trank er von seinem Bier und ließ sich berieseln. Die Spannung war aus seinen Schultern gewichen, und er lachte innerhalb der letzten zwanzig Minuten häufiger als während des gesamten letzten Monats. Hier war sein Platz, hier gehörte er hin. Es scherte keinen, ob er sich einen Tag nicht rasierte, von welchem Designer sein Anzug war und wie viel er für seinen nächsten Schnappschuss kassierte. Viel früher schon hätte er aus New York abhauen sollen.

Mehr als einmal fiel bei den Gesprächen Charlies Name, der offenbar durch gemeinsame Sportevents zur Männergruppe dazugestoßen war. Der Typ schien ein echter Problemlöser zu sein, sowohl was Beziehungen als auch was Autos anging.

»Wohnst du im Hotel?« Clive setzte sich zu ihnen, ebenfalls ein Bier in der Hand.

Luca nahm einen Schluck. »Ich habe mir ein kleines Apartment gemietet, da ich nicht weiß, wie lange ich bleiben werde.«

Er hätte bei seinen Eltern unterkommen können. Vor allem seine Mutter ertrug er aber nur in wohldosierten Portionen, und mehr als eine Woche unter ihren Fittichen zu verbringen, wäre selbst ihm zu viel.

Seine Eltern waren Innenarchitekten und gestalteten alle paar Wochen ihr eigenes Zuhause um. Wenn es seine Mutter packen würde und er zugegen war, konnte es ihm passieren, dass er sich mit Farbtabellen, Stoffmustern und einigen übereifrigen Malern würde auseinandersetzen müssen, worauf er keine Lust hatte. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen, aber bei der Entstehung war er lieber nicht dabei. Außerdem fand er die Perfektion der Einrichtung seines Elternhauses unentspannt. Dort wäre es ein Unding, wenn er, wie hier bei seinem Kumpel Clive, die Füße auf den Couchtisch legen oder die Pizza auf dem Sofa verspeisen würde. Er wollte bei seinen Eltern vorbeischauen und sich zum Essen einladen. Das obligatorische Sonntagsdinner seiner Mom war ein absoluter Gaumenschmaus. Vielleicht würde er mit ihnen über seinen Job reden, aber nur, wenn er verzweifelt war.

Als es an der Tür läutete, erbot sich Luca zu öffnen, in der Annahme, es sei ihr Essen, das geliefert wurde.

Vor ihm stand eine Frau.

Groß und dunkelhaarig war sie, mit eindrucksvollen haselnussbraunen Augen, die ihn klar und offen musterten. Sie hatte ein Sixpack Bier unter den linken Arm geklemmt und einen Fanschal der Red Sox umgelegt, auf den er schon aus Prinzip mit einem Naserümpfen reagierte.

»Du musst Luca sein.« Forsch hielt sie ihm ihre Hand hin. »Ich bin Charlie.«

Er brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass der vermeintlich viel gelobte Charlie keinen Schwanz besaß.

Luca blinzelte mehrmals. »Angenehm«, erwiderte er dann langsam und reichte ihr seine Hand. Hoffentlich war ihr seine Verwirrung entgangen.

Charlie nahm das zweite Sixpack Bier, das sie mitgebracht hatte, vom Boden auf und ging hinein.

Sie trug einen schwarzen Hosenanzug und darunter eine weiße Bluse. Die Kleidung war zweckmäßig, nicht figurbetont und kaum als modisch zu bezeichnen. Accessoires wie Schmuck suchte man bei ihr vergeblich. Ihr dunkles Haar war in einem praktischen Pferdeschwanz zusammengebunden, der bei ihren Bewegungen hin und her wippte.

Ihre Schuhe zog sie aus, und ihr Jackett fand Platz an der Garderobe. Sie bewegte sich, als sei sie hier zu Hause. Den Schal behielt sie an und trat dann um die Ecke, aus der der laute Fernseher zu hören war.

Luca folgte ihr ins Wohnzimmer nach, wo sie die versammelte Runde begrüßte und die Sixpacks auf dem Tisch abstellte. Er versuchte herauszufinden, mit welchem seiner Kumpels sie liiert war, aber mit keinem von ihnen tauschte sie eine intimere Zärtlichkeit als ein Schulterklopfen.

Mit dem nächsten Türläuten kam die Pizza. Mit den Schachteln in der Hand kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Charlie nippte schon an einem Bier und fachsimpelte über das gestrige Baseballspiel. Sie hatte ihre Füße in schwarzen Socken auf den Couchtisch gestellt und gestikulierte mit einer Hand wild umher, um einen vergeigten Spielzug vom Vortag auseinanderzunehmen.

Das heutige Spiel begann, und so nahm Luca Platz und konzentrierte sich auf den Sport. Hin und wieder schaute er irritiert zu der Frau in dieser Runde, die sich ein Pizzadreieck nach dem anderen in den Mund schob und mit einem Schluck Bier nachspülte. Über die letzten zehn Jahre war er nur Ladys begegnet, die ihm innerhalb von zwei Sekunden die Kalorienzahl eines solchen Stückes hätten herunterbeten können. Dessen ungeachtet aß Charlie noch die andere Hälfte der Pizza und bewegte sich den gesamten Abend nicht annähernd in Richtung Bad.

Das Spiel geriet zur Nebensache. Sprachlos hörte er ihr dabei zu, wie sie Feinheiten eines BMW E-Autos mit seinen Kumpels besprach und sich nicht daran störte, wie Gabriel von seinem sexuellen Abenteuer mit einer Reitlehrerin berichtete. Ihre Schimpftiraden bei Fehlentscheidungen des Schiedsrichters waren obszön. Etwas, das er beim Blick in diese großen unschuldigen Augen niemals vermutet hätte.

In der Pause ging ihr Biervorrat zur Neige, und er bot an, da er der Einzige noch fahrtaugliche war, zum nächsten Supermarkt zu fahren, um Nachschub zu beschaffen.

»Bring mir noch eine Packung Chips mit?«, bat Charlie, während sie sich eine Handvoll Nüsse in den Mund schob, sodass Luca zweimal nachfragen musste, um sich sicher zu sein, sich nicht verhört zu haben.

Clive begleitete ihn in den Flur, um ihm seine Autoschlüssel zu übergeben.

»Mit wem von euch ist Charlie zusammen?«, fragte Luca ihn interessiert, als er die Schlüssel entgegennahm.

Sein Kumpel hielt inne und sah ihn an, als sei ihm ein Horn auf der Stirn gewachsen. »Mit keinem.«

Luca blinzelte. Einem von ihnen beiden entging hier etwas. Luca war sich sicher, dass er es nicht war. Seinem Freund schienen gleichwohl keine Ungereimtheiten aufzufallen. Er hatte verwirrt eine Augenbraue gehoben und sah Luca fragend an.

»Vor zwei Jahren saß sie in unserem Eishockeyblock und seitdem hängt sie mit uns ab. Sie ist einfach … eine von den Jungs«, schloss er schulterzuckend und schien unbedarft zu sein, ob der Tatsache, dass ihr Geschlechtssymbol nicht ein Pfeil schräg nach oben war.

»Sie hat aber keinen Penis, oder?«, fragte Luca nach, weil er sich mittlerweile mit nichts mehr sicher war.

»Davon gehe ich aus, habe mich aber noch nicht davon überzeugen lassen. Ich kann ja im Vatikan nachfragen, ob sie noch diesen Stuhl mit Loch im Boden haben, mit dem man früher das Geschlecht bei den Päpsten überprüft hat.« Sein Freund lachte. Wahrscheinlich über mich. Kopfschüttelnd und noch immer grinsend wandte sich Clive zum Wohnzimmer um.

Man wird ja wohl noch fragen dürfen, oder?

***

Nachdem er vom Einkauf zurückgekehrt war, hatte Luca in dem Wissen, dass Charlie mit keinem seiner Freunde liiert war, die Muße, sie eingehender zu betrachten.

Es war sein Job zu beobachten – das Licht, den Winkel, die optimale Perspektive zu finden und im richtigen Moment abzudrücken. Luca war geschult darin, das Augenmaß walten zu lassen. Die Bewertungen, die er dabei vornahm, liefen grob in zwei Kategorien ab: gut oder schlecht. Die nächste Frage, die sich dann stellte, war: Wie konnte er schlecht in gut verwandeln?

Womöglich durch den Wechsel seiner Position, seines Objektives, durch die Anpassung des Lichts oder seiner Kamerahaltung?

Ansonsten blieb seine Beobachtung meistens wertfrei. Er überließ es lieber den Betrachtern, sich ein Urteil zu bilden.

Früher hatte er sich von Schönheit locken lassen und war auf Trugbilder hereingefallen.

Ebenmaß war eine mathematische Rechnung, die etwas mit Proportionen und Symmetrie zu tun hatte. Gewürzt wurde dies mit den gesellschaftlichen Definitionen davon, was als ästhetisch galt. So zeugten Bilder und Skulpturen aus verschiedenen Epochen der Kunstgeschichte davon, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der zum Beispiel füllige Frauen mit verhältnismäßig kleinen Brüsten dem Schönheitsideal entsprochen hatten. Es gab unzählige Beispiele wie die adipöse Venus von Willendorf, Die Geburt der VenusvonBoticelli aus der Frührenaissance oder Bilder aus der Zeit des Barock, in denen Frauen mit Rundungen das Nonplusultra weiblicher Schönheit darstellten.

Auch heute existieren Kulturen in der Welt, in denen eine ausgeprägte Leibesfülle als Maß für Gesundheit galt und daher als Ideal anzustreben war. Nicht wie in der westlichen Kultur, die einen schlanken Körperbau und große weibliche Attribute als das Ideal vorgab.

Im Gesicht war es vornehmlich die Spiegelbildlichkeit, die über Attraktivität entschied.

Luca hatte im Zuge seines Berufes viele schöne Frauen abgelichtet. Und er hatte im Rahmen dieser Begegnungen mehr als eine davon mit in sein Bett genommen, weil körperliche Anziehung ein mächtiger Motivator war. Rückblickend verblassten all diese attraktiven Frauen in seiner Erinnerung, weil sie in ihrer hübschen Erscheinung doch zu einem geworden waren: eintönig.

So war er weiterhin Frauen begegnet, die ihn womöglich optisch angesprochen hatten, mit denen er aber niemals mehr einen Abend bei einem gemeinsamen Dinner hatte verbringen wollen.

Dazu kam, dass die Antriebe der Frauen, die ihm hatten nahekommen wollen, Berechnung, Kontakte, Geld, Ansehen und möglicherweise sein Aussehen gewesen waren. Er glaubte nicht, dass nur eine von ihnen an seiner Person interessiert gewesen war. Luca hatte mehr als einmal die Probe aufs Exempel gemacht und seine Lektion gelernt.

Charlie wiederum stellte für ihn eine Herausforderung dar, da sie diesen Kontakten so diametral gegenüberstand wie ein Wasserglas einem Flächenbrand.

Ihr Gesicht war die reine Symmetrie. Das kannte er. Sie hatte klassische und ebenmäßige Züge, ihre etwas zu großen Augen waren ihr auffälligstes Merkmal. Charlies Teint würde vor der Kamera makellos wirken, denn sie war eine jener Frauen, deren Haut es ihr dankte, dass sie auf Make-up zu verzichten schien. Das war Neuland für ihn, wo er es gewohnt war, die Fotoretusche seines Bildbearbeitungsprogrammes den ein oder anderen Makel unreiner Haut ausbügeln zu lassen, den die vielen Schichten an Schminke nicht kaschieren konnten.

Nur, was tat sie hier?

Wenn sie mit keinem seiner Freunde zusammen war … sollte er Clive Glauben schenken, dass diese Männer ihre Kumpels waren? Glaubte sie, ein Kerl zu sein? Oder biederte Charlie sich mit ihren Verhaltensweisen an? Hatte sie es so nötig männliche Anerkennung zu erhalten?

Auch solche Frauen kannte er.

Er mochte sie nicht.

Charlie musste seinen Blick bemerkt haben, denn sie sah zu ihm auf. Ihre großen Augen waren wie Spiegel, klar und offen. Luca sah keine Berechnung darin, so viel Mühe er sich auch gab.

»Ich fürchte, deinen Wetteinsatz wirst du verlieren.« Ihre Stimme klang einen Hauch schadenfroh, und sie deutete auf den Punktestand auf dem Flachbildschirm. Dabei wackelte sie ein wenig mit den fransigen Enden ihres Schals.

Lucas Erwiderung war ein Achselzucken. Dem Spiel schenkte er seit geraumer Zeit keine Beachtung mehr, denn die Frau in ihrer Mitte bündelte sie, da sie ein Rätsel für ihn darstellte.

Das Gespräch mit seinen Kumpels plätscherte vor sich hin, ohne dass er sich beteiligte. Wo er sich vorgenommen hatte, sich zu entspannen, sorgte Charlies Anwesenheit dafür, dass er alles andere als ruhig war. Lucas Blick huschte immer wieder zu ihr, und sein Bein wippte auf und ab, sodass er sich ermahnte, es bleiben zu lassen.

Nach Spielende verkündete Charlie: »Ich muss los, hab morgen einen harten Tag. Bis bald.«

Dann stellte sie ihre leere Bierflasche auf den Tisch und verteilte ein paar tröstende Worte an jene, die ihre Spielwetten verloren hatten, bevor sie sich ihren Schal um den Hals schwang und aus dem Raum marschierte.

»Soll ich dir ein Taxi rufen?«, rief Clive ihr nach.

Ihre Stimme klang gedämpft aus dem Flur. »Nein, ich gehe zu Fuß.«

»Pass auf die Handtaschendiebe auf«, sagte Finn und grinste.

»Da ich keine Handtasche habe, wird das kein Problem sein. Außerdem kennst du meinen rechten Haken«, war ihre Retoure.

Alle lachten. Es schien ein Insider zu sein, in den Luca nicht eingeweiht war.

Sie war keine Minute verschwunden, da klingelte es an der Tür.

Luca, der auf dem Weg in die Küche gewesen war, öffnete und sah Charlie erneut vor sich stehen.

»Ich habe meine Jacke vergessen.« Sie lächelte schief und deutete auf die Garderobe hinter ihm.

Er wandte sich um, nahm das Jackett ab und hielt es hoch, um ihr hineinzuhelfen. Charlies rechte Augenbraue zuckte erstaunt nach oben, und sie legte ihren Kopf leicht schräg, dann ließ sie aber ihre Arme hineingleiten.