The Sewing Box - Julie Fraser - E-Book
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The Sewing Box E-Book

Julie Fraser

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Beschreibung

James Mitchells Geduld hängt nicht oft am seidenen Faden. Immerhin hat er als Scheidungsanwalt für gewöhnlich Nerven wie Drahtseile. Doch in der unkonventionellen Pat Harvey – Brautmodendesignerin mit Leib und Seele – findet der zynische Staranwalt seine Meisterin – und beginnt kurzum eine Affäre mit ihr. Für Pat ist das Zusammensein mit dem Mann, der ihren Witwenstatus teilt, eine kurzweilige Flucht aus ihrem vollgepackten Alltag als alleinerziehende Mom. Dass James dabei ihre Gefühlswelt gehörig auf den Kopf stellt, könnte allerdings dafür sorgen, dass sie mehr als nur den Faden verliert …

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Beliebtheit




Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-55-7

Alle Rechte vorbehalten

Für meinen Mann D.

Du warst es, du bist es und du wirst es immer sein.

Inhalt

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Epilog

Danksagung

Triggerthemen:

Quellenverzeichnis

Triggerwarnung:

In diesem Buch werden bestimmte Themen angesprochen, die manche Leserinnen und Leser verstörend, provozierend oder beleidigend empfinden könnten. Eine genaue Auflistung dieser Inhalte ist am Ende des Buches zu finden.

1

James Mitchell hasste Überraschungen. Sowohl vor Gericht, wenn der gegnerische Anwalt mit einer Finte aufwartete, bei der er nicht klug genug gewesen war, um sie vorherzusehen, als auch in seinem Privatleben. Bereits als er das Navigationsprogramm seines Smartphones mit der Adresse in Queens gefüttert hatte, war er stutzig geworden.

Leila, seine Zwillingsschwester, brauchte ein Brautkleid, und da er sie sehr gut kannte, hatte er erwartet, dass sie ein solches nur in einer exklusiven New Yorker BrautmodenBoutique erstehen können würde. Was er nicht erwartet hatte, war, sich in einer Wohngegend wiederzufinden, bei der er sich fragen musste, ob er die richtige Adresse besaß, weil kein Haus davon den Anschein eines Brautmodenladens erweckte. Seine Schwester gab glücklicherweise Aufschluss, nachdem sie mit ihrem Mini Cooper hinter seiner BMWLimousine geparkt hatte und ihn hinter jenes Haus führte, das sein Navigationsgerät mit »Ziel erreicht« betitelt hatte.

Es war ein dreistöckiges Gebäude mit einer hübschen Veranda, weißer Holzvertäfelung an den oberen Etagen und einem kleinen Erkerfenster im Obergeschoss, das sich in die Optik der Siedlung einfügte.

»Ich weiß, es sieht unscheinbar aus«, gab Leila zu, während sie sich bei ihm einhakte und weiter um das Gebäude herumging, bis sie vor einer Kellertreppe standen. »Aber was Pat designt, ist der absolute Wahnsinn! Ich bin so happy, noch einen Termin bei ihr bekommen zu haben. Sie ist über Wochen ausgebucht!«

»Was du nicht sagst«, war seine nüchterne Entgegnung.

Er sollte aus dem Staunen aber nicht herauskommen.

Sie gingen die Treppe hinunter zu einer Kellertür, die bereits offen stand und einem einen Ausblick auf einen kleinen Vorraum gab, der als Garderobe fungieren sollte. Zumindest waren dort Kleiderhaken und Bügel angebracht, an denen sie ihre Wintermäntel aufhängen konnten.

Auch wenn der Vorraum nett hergerichtet war, mit einem großen Blumenarrangement in einer geschmackvollen Vase und Kerzen auf einem kleinen Beistelltischchen: Ein Keller blieb ein Keller.

Von dort aus konnte man durch eine durchsichtige Glastür, auf der in milchigen Lettern Sewing Box geschrieben stand – offenbar der Name des Ateliers –, den Kern des Ladens sehen.

Nähkästchen war eine treffende Beschreibung für seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort. Der Laden war winzig und vollgestopft: Weiße Kostbarkeiten, aufgereiht an Kleiderstangen, nebst einer Fülle an Accessoires. Die Augen seiner Schwester strahlten. Der Traum einer jeden Frau – wohin das Auge blickte, hingen weiße Kleider: kurz, lang, weit ausgestellt, schmal, schlicht, glänzend, rüschig, mit Spitze, Schleier, Federn, Stolen …

Hier waren sie wohl richtig, auch wenn er am liebsten wieder umgedreht hätte. Doch er hatte es Leila versprochen und was er versprach, das hielt er auch, vor allem, wenn es um seine Schwester ging.

Dieser Raum versuchte mit seiner Dekoration und Ausstattung zu verbergen, dass ihn kein Tageslicht erreichte und er alles andere als ein elitäres Brautmodenstudio war. Dabei war er aber so überfüllt mit diversen Kleidungsstücken und Zubehör, dass man eine gewisse klaustrophobische Anwandlung nicht unterdrücken konnte. Womöglich erging es aber auch nur ihm so. Seine Schwester drehte sich nämlich einmal im Kreis und betrachtete fasziniert die Auslage, bis eine Frau auf sie zuschritt.

»Leila, wie schön, dass du da bist! Wir haben telefoniert. Ich bin Pat.«

Das war ihre Verkäuferin?

Wo er sich also einen exklusiven Brautmodenladen in einer von New Yorks Topadressen ausgemalt hatte, mit klassischem, aber teurem Ambiente, Kristallkronleuchtern, Champagner, roten Teppichen und einer Verkäuferin im schwarzen Kostüm, erwartete ihn nun der nächste Schock des Tages: Pat, wahrscheinlich kurz für Patricia, war eine Brünette, die weder klein noch groß, weder dick noch dünn war, sofern man bei ihrer Kleidung überhaupt Rückschlüsse auf ihre Figur ziehen konnte. Sie hatte den gesunden Körperbau einer durchschnittlichen Frau, auch wenn an ihrer sonstigen Erscheinung nichts durchschnittlich war.

Pat war der himmelweite Unterschied zu der gediegenen BoutiqueBesitzerin, die ihm vorgeschwebt war. Sie trug eine bunte Haremshose unter einem Wickelshirt. Der Großteil ihrer Haare, von denen nur der Ansatz an der Stirn und ein paar nachlässige Strähnen zu sehen waren, war unter einem Tuch verborgen, das sie in ihrem Nacken zu einem Knoten geschlungen hatte, der – er mochte seinen Augen kaum trauen – von drei Bleistiften zusammengehalten wurde. Es hätten nur noch ein Schleier vor ihrem Gesicht und Schuhe mit Schnörkeln an der Spitze gefehlt, dann hätte sie wie Morgiane aus Ali Baba und die 40 Räuber ausgesehen. Doch als er ihre Schuhe betrachten wollte, stellte er fest, dass sie nicht einmal welche trug! Und das im Februar, der sich nicht unbedingt durch seine tropischen Temperaturen auszeichnete.

James rieb sich erschöpft über das Gesicht. Seine Schwester konnte nicht ernst meinen, was sie über diesen Laden herausgefunden zu haben glaubte. Nie und nimmer konnte diese Frau Brautkleider designen!

Pat richtete ihren aufmerksamen Blick auf ihn. Zugegeben, ihre Augen waren ein Blickfang, von einem dunklen Braun, wie geschmolzene Bitterschokolade, und mit den längsten Wimpern gesegnet, die er je an einer Frau gesehen hatte.

Oberhalb ihrer exzentrisch geschwungenen Oberlippe prangte ein winziges Muttermal. Sie hatte eine kleine Zahnlücke, die ihr Lächeln frech wirken ließ. Ihr Gesicht war nicht im herkömmlichen Sinne attraktiv, dafür war es zu eigenwillig, aber ihre Züge hatten etwas, das seine Aufmerksamkeit fesselte, auch wenn ihm diese Tatsache widerstrebte.

»Es ist für gewöhnlich nicht üblich, dass der Bräutigam seine Braut zum Kleiderkauf begleitet«, gab Pat zu bedenken, während sie ihm ihre Hand reichte.

Er schätzte einen kräftigen Handschlag und bekam ihn auch von ihr.

»Sie unterliegen einem Irrtum. Ich bin nicht der Bräutigam, sondern der Bruder der Braut.«

Erneut musterte sie ihn. »Stimmt, das hätte mir auffallen müssen.« Sie kniff ihre Augen zusammen, neigte leicht ihren Kopf und betrachtete eingehend sein Gesicht, was sie so intensiv tat, dass es ihm unangenehm war.

»Der Schwung deiner Augenbrauen, die Kontur deines Mundes … Wenn du lächelst, hast du wahrscheinlich Grübchen wie deine Schwester.«

Ihre vertraute Anrede per Du irritierte ihn, aber offenbar war dieser ganze Laden nur dazu angetan, ihn in maximale Irritation zu stürzen. Von daher gab er es auf, sich dagegen zu wehren.

»Das haben wir nicht oft«, kommentierte sie seine Aussage. »Normalerweise ist es ein ganzes Arsenal an Damen, das in unsere heiligen Hallen stürmt.«

»Glauben Sie mir, ich könnte mir auch etwas Schöneres vorstellen, als hier zu sein. Ich begleite meine Schwester nur, damit sie nicht Unsummen für ein Kleid ausgibt, das sie wahrscheinlich in fünf Jahren auf einem Scheiterhaufen verbrennen will.«

Pats Mundwinkel hoben sich zu einem ungläubigen Lächeln und Leila legte ihm beschwichtigend ihre Hand auf den Arm. »Mein Zwillingsbruder begleitet mich vor allem deshalb, weil ich ihm als Einzigem zutraue, mir ehrlich zu sagen, was mir steht und was nicht.«

»Verstehe«, antwortete Pat noch immer amüsiert und er schnaubte.

»Denkst du nicht, dass deine Schwester an ihrem großen Tag den Traum vom perfekten Kleid wahr machen sollte?«, fragte sie ihn daraufhin.

»Ich bin Scheidungsanwalt. Daher halte ich insbesondere die horrenden Kosten für eines dieser PrinzessinnenUngetüme für überflüssig.«

»Warst du schon immer so zynisch oder bist du das erst, seitdem du deine Berufswahl getroffen hast?«, erkundigte sie sich weiterhin freundlich, während sie die beiden in das Herz des Ladens führte. Sie stoppten an einer bequemen Ledercouch im Zentrum vor mehreren Umkleidekabinen und einer kleinen Schaubühne mit so vielen Spiegeln, dass man womöglich auch einen Pickel an seinem Allerwertesten damit erkennen konnte.

»Es hat bis zu meiner eigenen Scheidung gedauert. Aber danke der Nachfrage.«

Darüber schien sie nachzudenken. »Also hast du doch einmal an die Ehe geglaubt?«

Kein Gesprächsthema, dem er sich gerne zuwandte, daher antwortete er nicht. Schon gar nicht einer Frau, die ihr Geld damit verdiente, sich Ballkleider auszudenken und vielleicht eine Wunderlampe in einer Ecke ihres Ladens aufbewahrte, an der sie hin und wieder rieb, um ihren Dschinn zu befragen.

James hatte nicht an die Ehe geglaubt; er hatte an die Liebe geglaubt.

Was ein viel schwereres Vergehen gewesen war.

»Warum hat es nicht funktioniert?«, fragte Pat nach und störte sich offenbar nicht daran, dass er ihre erste Frage nicht beantwortet hatte. Überhaupt schien sie seine feindselige Art absolut nicht zu verunsichern.

Es hatte nicht funktioniert, weil seine Ex – eine gescheiterte Künstlerin – ihren Trost im Overstatement gesucht und gefunden hatte.

Und er hatte es nicht kommen sehen.

»Berufsrisiko«, gab er als Antwort. Sollte sie damit anfangen, was sie wollte.

»Mach dir nichts aus ihm, Pat. Er ist immer so«, schritt seine Schwester ein.

»Zum Glück scheint es nicht in der Familie zu liegen«, entgegnete Pat zwinkernd und wandte sich dann Leila zu.

Die nächste Stunde verbrachte er damit, sich durch ein paar Akten zu arbeiten und schnappte nur hin und wieder ein paar Gesprächsfetzen der beiden Damen über Schnitte hier und Stoffe da, Accessoires, Details, Makeup und Frisuren auf. Zwischenzeitlich zogen sie ab, um ein paar Kleider aus der Auslage herauszusuchen und sie in die Kabine zu tragen. Seine Schwester war von recht großer, schlanker Statur. Jedes Kleid, das sie anprobierte, stand ihr ausnehmend gut, schien aber nicht ihren Vorstellungen für ihr Brautkleid zu entsprechen. Auch wenn er zugeben musste, dass er dem ganzen Kleiderthema skeptisch gegenüberstand, fehlte bei jedem ausgewählten Stück tatsächlich ein gewisses Etwas, ohne dass er es hätte benennen können.

Doch er war ein Mann. Beim Thema Brautmoden enthielt er sich lieber eines Urteils, außer wenn er nach seiner Meinung gefragt wurde, die er dann auch mit wenigen Worten zusammenfasste: »Hübsch, aber zu teuer.«

»Zu viel Bling Bling.«

»Zu lange Schleppe.«

»Das kann nicht dein Ernst sein!«

So zog es sich eine Weile hin. Nach dem fünften Kleid wandte sich Pat wieder an Leila und sagte: »Wir wissen jetzt, welcher Schnitt es sein soll: Eine schöne DuchesseLinie, aber oben geschlossen. Du magst keinen Tüll, möchtest viel Spitze, wenig Glitzer oder anderen Pomp, aber vielleicht ein paar Perlen. Wie wäre es, wenn ich dir ein Kleid nach deinen Wünschen designe?«

»Wenn du der Meinung bist, dass wir ansonsten nichts Passendes finden …«

»Ich habe Kleider hier mit Elementen, die dir gefallen, die ich natürlich auch anpassen könnte. Aber ich habe nun einen Eindruck von deinen Maßen bekommen und eine Vorstellung davon gewonnen, was du willst. Und das ist doch recht individuell, allein, weil du größer bist als die Durchschnittsfrau. Lass mich eine Skizze machen und wir schauen, ob ich deinen Geschmack treffen kann.«

So begann sie zu zeichnen – sie war Linkshänderin – nachdem sie einen der Bleistifte aus dem Knoten ihrer Haare gelöst hatte.

James erinnerte sich daran, dass seine Exfrau, die Rechtshänderin war, ihm einmal erklärt hatte, dass Linkshänder besonders kreativ sein sollen. Warum er diese Information abgespeichert hatte, war ihm schleierhaft, zumal er deren Wahrheitsgehalt niemals überprüft hatte.

Mit geübten Bewegungen glitt Pats Hand über das Papier. Eine Strähne ihres Haares fiel ihr vor die Augen, ohne dass sie es zu bemerken schien. James wollte sich auf seine Arbeit konzentrieren, war aber völlig gefangen von den anmutigen Bewegungen, die sie vollführte, und Linie um Linie, Strich für Strich ein Kunstwerk zu Papier brachte, welches das Brautkleid seiner Schwester werden sollte. Als er in Leilas Augen sah, die bei jeder Nuance, die das Bild vervollständigte, mehr leuchteten, da wusste er, Pat traf genau ins Schwarze. Wahrscheinlich auch, was ihren Geldbeutel betraf. Denn ein eigens designtes Kleid würde mit Sicherheit Daddys Budget etwas … in die Höhe treiben.

»Pat, das ist wundervoll«, urteilte Leila, als sie die fertige Skizze betrachtete und über das ganze Gesicht strahlte. »So habe ich es mir vorgestellt.«

»Dann sollst du es genau so bekommen, oder was meinst du, James?«

Er hatte sich gerade wieder über eine Mandantenaussage über seinem Tablet gebeugt, nun überrascht, nach seiner Meinung gefragt zu werden.

»Was wird das kosten?«, war seine einzige Entgegnung.

Die Frage entlockte Pat erneut ein Schmunzeln. Überhaupt reagierte sie noch immer gelassen auf seine ruppige Art. Wiederum befremdlich, aber auch … faszinierend.

Sie schien ein paar Zahlen in ihrem Kopf zu überschlagen und kritzelte etwas auf das Papier vor sich. Bevor sie es ihm reichte, sagte sie: »Jetzt weiß ich, wo ich schon mal von dir gehört habe. James Mitchell, richtig? Hast du nicht diesen Schauspieler vertreten, diesen notorischen Fremdgänger, und dafür gesorgt, dass seine Exfrau eine lächerliche Abfindung bekommt?«

Ihre Stimme zierte keine Verurteilung. Es war eher eine Spur Neugierde, eine Nuance Spott, die er herauszuhören glaubte.

»Möglich.«

Er würde ihr nicht verraten, dass besagter Schauspieler homosexuell war und diese Ehe nur zum Schein geführt hatte. Und ebenso wenig, dass die zukünftige Exfrau die Fremdgängerin war, die auch noch die Verschwiegenheitserklärung über seine sexuelle Orientierung im Vollsuff bei einem Techtelmechtel verletzt hatte. Glücklicherweise war es nicht bis an die Presse gedrungen. Die Frau hatte mehr Glück als Verstand gehabt, was ihr vor Gericht dann auch abhandengekommen war, denn in James’ Vokabular kam nur dieses einzige Wort vor: gewinnen.

»Solange du nachts ruhig schlafen kannst«, meinte Pat leichthin und reichte ihm den Zettel mit ihrer Kalkulation. »Das ist eine grobe Schätzung. En detail muss ich es zum übernächsten Termin ausarbeiten, wenn ich weiß, was Stoffe und Co. kosten werden.«

Während er die Summe las, klappte ihm, dem knallharten Staranwalt, die Kinnlade herunter. »Meine Schwester ist doch nicht Herzogin Kate von England. Das ist nicht akzeptabel! Wie sieht es mit Ihrer Nachtruhe aus, wenn Sie hart arbeitenden Menschen solche Summen für ein Kleid aus der Tasche ziehen wollen, wohlwissend, dass diese Ehen in fünfzig Prozent der Fälle geschieden werden?«

»Wie viel kostet denn eine Stunde deiner wertvollen Zeit, Herr Anwalt? Schneidern ist ein akkurates Handwerk, das bezahlt werden will, ebenso wie wenn du einen Klempner für dein verstopftes Klo besorgst. Und ich nehme meine Arbeit sehr ernst. Mir ist wichtig, dass meine Bräute zufrieden sind. Auch was die Qualität der Stoffe und die kleinen Details angeht. Denn dann kommen sie auch zu mir, um sich ein Scheidungskleid oder das Brautkleid für die zweite Ehe auszusuchen«, entgegnete Pat keck. Ihr Tonfall war nicht rechtfertigend, sondern herausfordernd.

»Und wir Anwälte werden als Blutsauger beschimpft«, murmelte er und schaute mürrisch drein.

»Außerdem wirst du den Angetrauten deiner Schwester und dessen Absichten doch bestimmt überprüft haben. Ich schätze, ihre Chancen stehen sehr gut, dass sie eine glückliche Ehe führen werden«, wandte sie noch ein.

»Jetzt zitiert er bestimmt gleich wieder Schopenhauer: Heiraten heißt, das Mögliche tun, einander zum Ekel zu werden«, meinte Leila und verdrehte ihre Augen. Dann umarmte sie Pat kurz und fuhr fort: »Ich bin so verliebt, Pat. Ich kann dir gar nicht sagen, wie aufgeregt ich bin, dass Jonah und ich heiraten werden. Ich kann es mir schon genau vorstellen! Und jetzt, mit diesem Kleid …«

»Wo, sagtest du noch mal, habt ihr euch kennengelernt?«

»Wir kennen uns schon, seit wir Kinder waren. Er ist ein Freund von Jamie, dem alten Brummbär, und hat sich nie getraut etwas bei mir zu versuchen, wegen … Mein Bruder kann ziemlich gemein werden, wenn er etwas nicht billigt.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, meinte Pat und warf einen kurzen Blick in James’ Richtung.

Dass sich die beiden Frauen über ihn unterhielten als sei er nicht da, passte ihm nicht. »Ihr wisst schon, dass ich hier sitze, oder?«

»Austeilen konntest du schon immer gut, aber das mit dem Einstecken üben wir noch etwas, oder?«, sagte Leila und streckte ihm ihre Zunge heraus.

»Ich werde fürs Gewinnen bezahlt, Leila. Austeilen ist eine meiner leichtesten Übungen.«

Seine Schwester überging das. »Jedenfalls sind wir dann aufs College gekommen und Jonah hat sich endlich ein Herz gefasst und mir seine Gefühle gestanden. Gott sei Dank! Seitdem sind wir zusammen und na ja, mein Bruder konnte nichts dagegen tun. Über Silvester letztes Jahr haben wir eine kleine Reise in die Berge unternommen. Bei einer Schlittenfahrt, auf tausendachthundert Metern Höhe, umgeben von einer traumhaften Schneelandschaft im Sonnenschein, hat er mir dann den Antrag gemacht. Es war so romantisch, Pat!« Sie seufzte und betrachtete glücklich ihren Verlobungsring. »Jetzt ist es offiziell und James muss sich definitiv damit abfinden!«

»Eine wunderschöne Geschichte! Ich wünsche euch das Allerbeste.«

»Und wenn es doch nicht klappt, verkauft sie dir aber natürlich gerne auch dein Scheidungskleid. Können wir schon einen Rabatt vereinbaren? Drei zum Preis von einem?«, fragte er.

»Wusstest du nicht, dass man von zu viel Zynismus Sodbrennen bekommt? Vielleicht solltest du dich zügeln.«

»Ich rufe eben Daddy an und erzähle ihm vom Kleid«, rief seine Schwester fröhlich aus, sprang auf und ging aus dem Keller hinaus in den Garten hinter dem Haus.

»Er wird es ihr nicht abschlagen. Konnte er noch nie«, murmelte James und sammelte seine Papiere zusammen. Ein Blatt segelte dabei zu Boden. Pat bückte sich, hob es auf und reichte es ihm. James betrachtete ihre Hände, die während des Zeichnens bereits seine Aufmerksamkeit gefesselt hatten. Er sah ihnen an, dass es ihre Werkzeuge waren. Die rechte Fingerkuppe zierte ein Pflaster mit Kussmündern darauf. Pats Hände waren klein und feingliedrig, die Nägel unlackiert und kurz. Gepflegt. Sie trug keinen Schmuck.

Keinen Ehering.

Pat schien seinen Blick auf ihren Ringfinger bemerkt zu haben.

»Ich bin Witwe.« Sie sagte es in einem neutralen Tonfall; ihrem ausdrucksstarken Gesicht sah man keine Trauer oder Anzeichen des Verlustes an.

»Wie lange schon?«, fragte er nach, obwohl es ihn nichts anging.

»Beinahe vier Jahre.«

Er hasste es, wenn Menschen an diesem Punkt immer ihr Beileid kundtaten. Daher ließ er es bleiben und nickte nur, auch wenn er wusste, wie es war, seinen Ehepartner zu verlieren. Die Gefühle eines Menschen waren dessen eigene. Niemand, selbst jemand mit dem gleichen Schicksal, würde sie genauso empfinden wie man selbst, daher fand er es sinnlos, von Mitgefühl und Anteilnahme zu sprechen. Er wollte sich ihr in ihrem Status als Witwe nicht verbunden fühlen, schließlich kannte er die Geschichte dahinter nicht und wollte sie auch gar nicht kennen. Etwas an ihr berührte ihn jedoch. Wenn es dabei auch nur ein Sandkorn in einer riesigen Wüste war, das sich bewegte …

Wieder bemerkte er ihre intensive Musterung, die erneut von einem kleinen Lächeln begleitet wurde. Während ihrer gesamten Beratung war sie fröhlich gewesen, hatte eine Heiterkeit ausgestrahlt, die sogar bis zu ihm vorgedrungen war, obwohl er sich dem ganzen Prozess, so gut es ging, hatte entziehen wollen. Selbst während ihrer Schlagabtausche, bei denen er offen seine Meinung gesagt und sich unnachgiebig gegeben hatte – eben seine Eigenheit –, hatte sie stets gelassen reagiert und gut gekontert. Sie war eine würdige Gegnerin. Überraschend, so jemanden in einem Brautmodengeschäft und nicht vor Gericht zu treffen, aber er war niemand, der eine Herausforderung scheute, denn auch das gehörte zu seinem Job.

Seine Schwester kehrte zurück.

»Und, wie hat unser Vater auf seinen finanziellen Ruin reagiert?«, fragte James.

Leila machte eine trotzige Miene und entgegnete: »Du weißt sehr wohl, dass ich eine heftige Diskussion mit ihm darüber geführt habe, dass seine altbackene Vorstellung, die Hochzeit finanzieren zu müssen, nicht mehr zeitgemäß ist, und dass der einzige Konsens, den wir erreichen konnten, jener war, dass er eben das Kleid bezahlt.«

»Womit er in Anbetracht der Kosten den schlechteren Deal gemacht hat.«

Leila überging diesen Kommentar und wandte sich an Pat: »Wie geht es also weiter?«

»Beim nächsten Termin werde ich dich vermessen. Dann kommen die Nesselprobe und anschließend das Meisterstück. Lass uns kurz meinen Kalender checken und die Termine festlegen. Dann hast du deinen kleinen Fahrplan.«

Die beiden Frauen gingen zu Pats Laptop im Eingangsbereich und besprachen den Ablauf. Dann verabschiedeten sie sich voneinander. Leila war schon durch die Tür des Ladens verschwunden, als Pat ihm in den Weg trat.

»War nett, Sie kennenzulernen, James Mitchell«, sagte sie und reichte ihm erneut ihre Hand, die warm und kräftig die seine drückte. Dann beugte sie sich vor und küsste ihn auf die Wange.

***

Patricia Harvey liebte es, andere aus dem Konzept zu bringen. Gewöhnlichkeit glich Langeweile. Vorhersagbarkeit nahm dem Leben die Würze. Sie liebte es, weder gewöhnlich noch vorhersagbar zu sein. Auch den mürrischen Staranwalt hatte sie gehörig irritiert, sodass sie noch immer schmunzeln musste, während sie die Tür hinter ihm abschloss, da Leila ihre letzte Kundin des Tages gewesen war.

Bevor sie das Licht löschte, sah sie sich in ihrem Laden um. Die Kleider, die Leila anprobiert hatte, hatte sie schon wieder aufgeräumt. Um den Rest – ihren Skizzenblock, die Gläser und ein paar Stoffproben – würde sie sich morgen kümmern.

Ihre Boutique war ihr ganzer Stolz. Die Karriere ihres Mannes und sein finanzieller Background hatten es ihr ermöglicht, in Lehre bei einer Schneiderin zu gehen und ihr anschließendes Designstudium nach ihrem eigenen Zeitplan zu absolvieren. Und nun hatte sie all ihre Ersparnisse in ihren Traum investiert. Ein Startkapital, das sie ohne Darren und seine Eltern nie gehabt hätte, denn keine Bank der Welt hätte ihr ein Darlehen in erforderlicher Höhe gegeben. Das wusste sie. Dafür war sie zu unkonventionell, wo sie nicht mal ein Kostüm besaß, geschweige denn normale Jeans. Es war ein Wagnis, aber das war es wert gewesen.

Nie hätte sie sich träumen lassen, zur InBoutique für Brautmoden in New York zu avancieren. Sie hatte weder Ahnung von Betriebswirtschaft noch Marketing und hatte ihr verträumtes Hobby zu ihrem Beruf gemacht. Natürlich hatte sie einen PrinzessinnenTick. Den musste man auch haben, wenn man Brautkleider entwarf. Pat wusste aber, dass sie Leidenschaft und Hingabe hatte für das, was sie tat.

Ob das der Grund für ihren Erfolg war? Oder weil sie mit ihrer VintageMode den Nerv der Zeit traf?

Da sie alles selbst designte und schneiderte, konnte sie auch andere Wünsche – extravagante, ausgefallene, flippige Ideen – erfüllen, die es in einem 08/15Geschäft mit Kleidern von der Stange niemals geben würde. Unter anderem hatte sie sich damit auch einen Namen für Brautmoden gleichgeschlechtlicher Paare gemacht, die modisch abgestimmt zum Traualtar schreiten wollten. Oder sie verwirklichte für etwas molligere Kundinnen die Träume vom perfekten Kleid. Pat hatte schon Umstandsbrautmode, Jumpsuits und ein Kleid aus Lack und Leder kreiert und nahm jede Herausforderung, die die Kundinnen ihr stellten, mit Freuden an.

Ihr Mann Darren hatte ihr Talent immer unterstützt, aber während ihrer Ehe waren seine Karriere und sein soziales Engagement vorrangig gewesen, doch das hatte sie nicht gestört. Als dann noch Evan geboren worden war, war sie in ihrer Aufgabe als Mutter gefordert gewesen, hatte es aber trotzdem nicht aufgegeben, in der Nacht auf dem Sofa zu sitzen und Kleider zu skizzieren, die sie im Rahmen einer freiberuflichen Tätigkeit an das Label Juliet’s Dreams verkauft hatte. Auch so hatte sie sich verwirklichen können und das hätte ihr auch den Rest ihres Lebens Erfüllung geschenkt.

Dann war Darren bei einem Autounfall ums Leben gekommen und sie hatte ihren Alltag und den ihres Sohnes neu strukturieren müssen.

Ihr Mann hatte sie nicht mittellos hinterlassen. Er kam aus einer wohlhabenden Familie und als Anwalt hatte er für ihre Familie gut vorgesorgt. Ihre Zukunft und die ihres Sohnes würden Zeit ihres Lebens gesichert sein. Auch, weil ihre Schwiegereltern in die Bresche springen würden, sollte es doch finanzielle Engpässe geben.

Nach Darrens Tod war für sie klar gewesen, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Pat nahm dies wörtlich – sie arbeitete selbst und ständig, weswegen sie mittlerweile zwei ihrer guten Freundinnen zu Mitarbeiterinnen gemacht hatte. Doch sie liebte jede Stunde, die sie in ihrem Laden oder ihrem Atelier saß und mit den beiden Frauen zusammenarbeitete.

Das Geschäft lief gut, warf ihnen so viel Gewinn ab, dass sie auch etwas davon zur Seite legen konnte, um für Evans spätere Ausbildung zu sparen und ihr Haus in Ordnung zu halten.

Rein optisch war die Boutique nicht mit einem dieser SchickimickiLäden in der Innenstadt zu vergleichen. Es war ein Kellerraum, den sie zwar hergerichtet hatte, unter anderem mit tollem Licht – eine Deckeninstallation, die einen Großteil ihrer Finanzen verzehrt hatte –, aber es hatte sich gelohnt. Der Laden war nicht riesig, aber groß genug für die Zahl an Kundinnen, die sie annehmen konnte, um zu gewährleisten, diese Kleider im Zeitrahmen fertig zu stellen. Dies alles mit Hilfe ihrer Angestellten, ohne die es nicht mehr gehen würde und die sie nicht missen wollte.

James’ Scheidungsstatistik zum Trotz, fand sie, dass ihre Bräute eine gute Quote hatten. In ihrer Laufbahn hatte sie erst ein Scheidungskleid entworfen. Zugegeben, sie hatte bereits Bräute gehabt, die zum zweiten Mal heirateten, aber nicht alle hatten auch ihr erstes Kleid bei ihr gekauft, und manche davon teilten ihr Schicksal als Witwe.

Pat streifte durch die fünf Reihen mit Kleiderstangen, die verwinkelt angeordnet waren, um den verfügbaren Platz bestmöglich zu nutzen, und die ihre exquisiten Entwürfe trugen. Sie berührte die zarten Schleier und Brautjacken in einer anderen Ecke und betrachtete die glitzernden Diademe und Halsketten in ihrer Vitrine. Womöglich könnte sie in ein paar Jahren umziehen, in ein vom Tageslicht erleuchtetes Juwel, das ausreichend Platz für einen Laufsteg und mehr Kabinen bot. Außerdem würde es mehr als eine Sofaecke für die Beratung gestatten, in die man sich zurückziehen konnte. Vor allem aber ermöglichte ein Umzug sicherlich ein riesiges Atelier – den Ort ihrer Schöpfungen –, in dem sich die Kreativität maximal entfalten könnte.

Vorerst ein Traum.

Denn es war ihre Priorität, im Moment ihr Privatleben und ihren Beruf miteinander arrangieren zu können. Dafür war es unabdingbar, dass sie arbeitete, wo sie lebte und so eben nur eine Treppe nach oben gehen musste, so wie jetzt, die Kellertür in Richtung Küche öffnete, bevor sie das Licht nach unten löschte, und schon in ihrem Heim angekommen war.

»Hi Mom, da bist du ja.«

»Hi Schatz, du hast ja schon den Tisch gedeckt.«

»Ich hatte Hunger.«

Sie fuhr ihrem fünf Jahre alten Sohn Evan über den wuscheligen Schopf und betrachtete das wilde Durcheinander an Lebensmitteln, das er auf dem Tisch verteilt hatte, darunter auch ein paar Waffeln, von denen er sehr wohl wusste, dass er sie nicht zum Abendbrot bekam.

Sie setzte sich zu ihm an den Tisch, schnitt eine Paprika auf, schmierte ihm ein Brot und belegte sich anschließend selbst ein Sandwich. »Habt Collin und du beim Fußballtraining Spaß gehabt?«

»Klar«, antwortete Evan mit vollem Mund, sodass man das Wort eher erraten musste, und erzählte ihr von seinem heutigen Training und dass sie die Taktik für das Spiel am Sonntag besprochen hatten.

Nachdem er seine Portion verputzt hatte, schielte er auf die Waffeln. »Ich habe immer noch Hunger.«

»Möchtest du noch ein Brot oder ein paar Gurken?«

Ein Schmollmund war die Antwort. Pat öffnete die Waffelpackung und brach ihm eine halbe ab. »Unter der Bedingung, dass du noch zwei weitere Stücke Paprika isst.«

Murrend schnappte Evan sich die Waffel und aß sie mit zwei Bissen auf. An der Paprika knabberte er dann zehn Minuten lustlos herum.

Es war nicht einfach, alleinerziehende Mutter eines lebhaften Kindes zu sein und sie wusste, sie verwöhnte Evan. Es gab aber niemand anderen mehr, dem sie ihre Liebe schenken konnte oder wollte. Für eine Beziehung hatte sie keine Zeit.

Jede ihrer Kundinnen fragte Pat nach ihrer Liebesgeschichte, dem Kennenlernen, dem Antrag, den Plänen für die Feier, und lebte so ein Stück des Glücks mit diesen Frauen. Sie hatte nicht das Gefühl, ihr würde etwas fehlen. Evan war das wichtigste Element in ihrem Leben. Sie wollte ihm die Liebe und die Geborgenheit von gleich zwei Elternteilen schenken und war vielleicht aus diesem Grund manches Mal nachsichtiger als andere Eltern. Nicht dass sie auch mal aus der Haut fahren konnte und völlig verzweifelt war, weil er ihr den letzten Nerv raubte, aber er war ihr Goldstück, ihr Lebensinhalt. Alles, was sie tat, tat sie für ihn.

Bevor sie Mutter geworden war, hätte sie nie geglaubt, jemals so für einen Menschen zu empfinden. Ja, auch Darren hatte sie geliebt. Sehr sogar. Es war aber eine völlig andere Form der Liebe zwischen zwei gleichberechtigten Partnern gewesen. Das eigene Kind wiederum war ein Teil von einem selbst. Es war in einer Form abhängig von einem und doch strebte es mit jeder Kerze, die auf der Geburtstagstorte dazukam, nach Selbstständigkeit. Ihr Sohn entdeckte dabei immer wieder neue Fähigkeiten, die Pat nur staunen ließen, wie schnell ihr Kind groß wurde und es sich mehr und mehr von ihr abnabelte, bevor sie es in die Welt da draußen entließ. Er mochte erst fünf Jahre alt sein, aber manchmal gewann Pat den Eindruck, als flöge die Zeit seiner Kindheit nur so dahin.

Nach ihrem Abendessen vollzogen sie ihre übliche abendliche Routine bestehend aus Zähneputzen, den Schlafanzug anziehen, die letzten Dinge des Tages miteinander besprechen. Dabei fragte sie ihn, was gut und was mies gelaufen war, gab Ratschläge, spendete Trost oder lobte Evan für gelungene Projekte. Dann legte sie sich zu ihm ins Bett und erzählte ihm eine GuteNachtGeschichte. Wie so oft fragte er bei diesen Gelegenheiten nach einer Begebenheit aus dem Leben seines Vaters, auch aus dessen Kindheit und Jugend, in der Hoffnung, Parallelen zwischen sich und dem Mann zu finden, den er nie richtig gekannt hatte.

Nur zu gerne erfüllte sie ihm seinen Wunsch und gab eine Anekdote aus dem Wirken jenes Mannes preis, der so lange Teil ihres Lebens gewesen war, dass sie bei mancher dieser Geschichten aus seiner kindlichen Vergangenheit glaubte, selbst dabei gewesen zu sein. Und auch aus ihren Ehejahren und der Zeit vor Evans Geburt gab sie ihrem Sohn Einblicke in eine Person, die ihr eigenes Leben so vervollkommnet hatte.

Nicht selten schlief sie in Evans Bett ein und schlich sich erst nachts in ihr eigenes Schlafzimmer. Es waren die friedvollsten Stunden ihres Tages.

2

Es wurmte James, dass er ab und an über Patricia nachdachte. Ganz unvermittelt kam ihm ein Bild ihrer unmöglichen Erscheinung, ihrer Zahnlücke oder ihres Kusses auf seine Wange in den Sinn, wobei letzterer ihn wiederum vor den Kopf gestoßen und nicht ganz unbeteiligt hinterlassen hatte. Er fragte sich, ob er Sympathie für diese Frau empfand, der es offenbar großes Amüsement bereitet hatte, ihn bewusst oder unbewusst mit ihrer Art zu empören.

Was war Sympathie? War es Anziehung? Chemie?

Sie hatte Interesse in ihm geweckt, weil sie so anders war. Hatte er es gebilligt? Sie gebilligt?

Er kannte sich zu gut, um nicht den wahren Ursprung seiner Faszination an ihr zu erkennen: Sie war seiner Exfrau nicht ganz unähnlich.

Ein Grund mehr, jegliche Gedanken an sie zu meiden und ihr gegenüber Abneigung zu empfinden. Doch wie es aussah, hatte er aus den Fehlern seiner Vergangenheit nicht gelernt.

Sicherlich war seine Exfrau Antonella, was ihren Kleidungsstil betroffen hatte, nicht ganz so ausgefallen gewesen wie Pat. Und doch – gerade in einer ihrer Phasen, wie er es lange, bevor er ihre Krankheit dahinter erkannt hatte, genannt hatte – hatte es sein können, dass sie plötzlich ihren Stil geändert und nur noch Weiß getragen hatte; oder auch für eine Zeitlang komplett nackt durch die Wohnung gelaufen war.

Seine Frau war eine gescheiterte Künstlerin gewesen, die immer auf den großen Durchbruch gewartet hatte, der sich nie einstellen wollte.

Genau wie die Frau mit den Haremshosen hatte ihn Antonella zu Beginn ihres Kennenlernens durch ihre Andersartigkeit gereizt. Bereits bei ihrem ersten Aufeinandertreffen hatte sie ihn buchstäblich umgehauen. Die Pizzeria, die einem ihrer Cousins gehört hatte, war für einen schnellen Lunch lange James’ Lieblingsort gewesen. Er hatte zwischen zwei Vorlesungen seine Pasta im Stehen genossen, als sie ihm von hinten eine Cola übergeschüttet hatte. Als Entschuldigung hatte Antonella ihm ein Bild von einer erblühenden Blume auf eine Serviette gezeichnet und darunter ihre Nummer geschrieben.

Antonella hatte sich so grundlegend von den Studentinnen unterschieden, die er zu Beginn seiner Collegezeit gedated hatte, dass es nicht verwunderlich war, dass sie sein Interesse wecken musste. Sie war eine feurige Italienerin gewesen, nicht der Typ von Frau, der beim Sex das Licht ausschaltete und einen Mann suchte, der ihren teuren Lebensstil finanzierte. Seine Exfrau war wild gewesen, beinahe ungezähmt und übersprudelnd vor Energie. Erst viel später hatte er realisiert, dass sie dabei auch etwas Destruktives hatte, wie eine Supernova, die sich selbst verzehrte.

Ihre Gegensätze zu seiner eigenen Person hatten ebenfalls ihren Reiz für ihn ausgemacht. Er war ruhig und bedacht, stets kontrolliert und niemals aufbrausend. Das Dasein als Anwalt war ihm in die Wiege gelegt worden, aber er war stolz darauf, sich durch seine Leistungen und nicht durch seinen familiären Hintergrund einen Namen gemacht zu haben und dann Partner in einer angesehenen Kanzlei geworden zu sein. James blieb jedoch der Bengel aus reichem Hause, mit dem Silberlöffel im Mund geboren, seine Karriere schon am Tag seiner Geburt vorgezeichnet. Er war wohlerzogen, intelligent, hatte alle Vorteile auf seiner Seite, und damit den Weg bestritten, der ihm bestimmt war – ohne zu hadern.

Vielleicht war Antonella seine Art der Rebellion gewesen. Der einzige Punkt, bei dem er von der Marschroute abgewichen war.

Es hatte sich gerächt.

James hatte sie geliebt. Ihren Freigeist, ihre lebhafte Art, ihre Selbstständigkeit und ihre für ihn so unkonventionelle Familie, mit ihrer mamma als Matriarchin, die von Italien aus den Ton angab. Das hatte sie ihrer Tochter vererbt. Dabei hatte Antonella dennoch ihren Platz an seiner Seite und auch in seiner Familie gut angenommen und war auch lange Zeit nie offensichtlich ausgeschert, weil sie sich immer hatte entfalten können.

Doch wenn sie etwas getan hatte, dann tat sie es richtig.

Bei ihr hatte es nur Extreme gegeben.

In einer intensiven Schaffensphase war es vorgekommen, dass sie bisweilen nichts mehr zu sich genommen und sich tagelang in einem Raum verbarrikadiert hatte, um an einer Installation zu arbeiten.

Auch der Sex mit ihr war eine Grenzerfahrung gewesen. In ihren frühen Jahren hätte er ihr Liebesspiel als außergewöhnlich beschrieben. Sie war experimentierfreudig gewesen und offen, hatte ihn immer wieder überrascht, sodass er einige extrem lustvolle Momente und Praktiken mit ihr erlebt und erprobt hatte.

Jedoch konnten auch Abenteuer langweilig werden, wenn sie jeder sexuellen Erfahrung noch zu einer Steigerung verhelfen mussten, und es in einer wiederkehrenden Monotonie darum ging, etwas Neues und Aufregendes zu erleben. Er war an einen Punkt gekommen, an dem er sich eine »normale« Kopulation herbeigesehnt hatte, bei der er nicht eine Gratwanderung am Rande seines Ekels erdulden musste oder andere Personen anwesend waren. Vielleicht war er ein Langweiler geworden, aber er hatte in seinem Leben genug experimentiert, um seine Grenzen zu kennen und auch das, was ihm Lust bereitete – und was nicht.

Jedoch war seine Exfrau nicht nur mit ihrer Körperlichkeit freigiebig umgegangen. Auch Geld war ein Problem gewesen, denn Antonella hatte keinen guten Umgang damit gepflegt. Sie hatten Unsummen in eine ihrer Ausstellungen investiert, die niemanden interessiert hatte. James hatte ihre Frustration nach jedem Scheitern verstanden, wenn er auch nie hatte nachvollziehen können, warum sie ihre grenzenlose Energie nicht der Ausübung eines konventionellen Berufes zuführen konnte.

Doch 9 to 5 war nichts für sie gewesen. Stattdessen hatte sie sich in ein weiteres künstlerisches Projekt gestürzt, um sich neu zu erfinden, was niemals erfolgversprechend verlaufen war. Weil er sie geliebt hatte, hatte er sie unterstützt und sie bei jedem Fehlschlag getröstet und wieder aufgebaut. Womöglich war ihre berufliche Erfolglosigkeit für sie umso schwerer zu ertragen gewesen, wo er jeden Sprung auf der Karriereleiter scheinbar mühelos und ohne Hürden genommen hatte. Zuletzt hatte er das Gefühl gewonnen, dass sie ihn dafür gehasst hatte und sich von Mal zu Mal bei ihren Misserfolgen von ihm nicht mehr motivieren lassen konnte oder wollte. Für eine so selbstbewusste Frau wie Antonella musste insbesondere ihre zunehmende finanzielle Abhängigkeit von ihm unerträglich gewesen sein.

Ihre Misserfolge hatte seine Frau auf andere Weise zu kompensieren versucht.