Furchtlose Liebe - Alexandra Bracken - E-Book
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Furchtlose Liebe E-Book

Alexandra Bracken

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Beschreibung

Teil 2 der fesselnden Trilogie um das Mädchen, das Gedanken lesen kann.

Ruby ist eine der wenigen, die das Virus überlebt haben. Dafür ist ihr eine Gabe geblieben, die sie verflucht: Sie kann Gedanken lesen und manipulieren. Das macht sie für viele sehr wertvoll. Die berüchtigte Children’s League will sie im Kampf gegen die Regierung einsetzen. Als Ruby entdeckt, dass ihr Freund Liam erneut in großer Gefahr ist, begibt sie sich auf eine gefährliche Mission, die auch der Children’s League nicht gefallen wird. Denn niemals könnte sie ertragen, dass sie den einzigen Menschen, den sie liebt, verlieren könnte ...

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Buch

Nachdem Ruby das Virus überstanden hat, behält sie eine Gabe zurück, die sie sich selbst niemals gewünscht hätte. Sie kann Gedanken lesen und manipulieren. Deshalb hat sie schon ihre Eltern verloren, viele Freunde und zuletzt sogar ihre große Liebe Liam. Jetzt muss sie für die Children’s League arbeiten, die versucht, Kinder mit übersinnlichen Kräften vor der Regierung zu schützen. Dort erfährt sie auch von einer Studie, an der die Regierung arbeitet. Sie soll aufdecken, woher der Virus überhaupt kommt. Ausgerechnet Liams Bruder Cole sollte diese Informationen für die Children’s League sichern. Doch aus Versehen gelangen sie in Liams Hände. Ruby hatte gehofft, dass Liam in Sicherheit ist, aber nun muss sie mit ansehen, wie er sich in viel größerer Gefahr befindet als je zuvor. Doch wie soll sie an ihn herankommen, wenn er sie nicht einmal erkennen wird? Schließlich hat sie dafür gesorgt, dass er sich nicht mehr an sie erinnern kann. Ruby begibt sich auf eine gefährliche Mission, bei der sie sich einerseits vor den Häschern der Regierung in Acht nehmen und andererseits die Children’s League auf Abstand halten muss. Denn wenn diese herausfinden, dass Liam die Informationen hat, die sie suchen, werden sie nicht lange zögern und alles tun, um diese so schnell wie möglich sicherzustellen, egal, was mit Liam dabei passiert …

Weitere Informationen zu Alexandra Brackensowie zu lieferbaren Titeln der Autorinfinden Sie am Ende des Buches.

Alexandra Bracken

Furchtlose Liebe

Die Überlebenden

Roman

Band 2

Aus dem amerikanischen Englischvon Marie-Luise Bezzenberger

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel»Never Fade« bei Hyperion,an imprint of Disney Book Group, New York.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung März 2015Copyright © der Originalausgabe 2013 by Alexandra BrackenCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: Joana Kruse / Arcangel Images; FinePic®, MünchenRedaktion: Kerstin von DobschützNG · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-14448-7www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

In Erinnerung an meinen Dad,dessen Liebe und dessen unverzagter Mutmich bis heute jeden Tag inspirieren

Prolog

Zum ersten Mal tauchte der Traum während meiner zweiten Woche in Thurmond auf, und dann schaute er mindestens zweimal im Monat vorbei. Es ist wohl logisch, dass er dort geboren wurde, hinter dem summenden Elektrozaun des Lagers. Alles an diesem Ort ließ einen verkümmern, bis nur noch das Schlimmste in einem übrig war, und es war gleich, wie viele Jahre vergingen – zwei, drei, sechs. In jener grünen Uniform, in denselben monotonen Abläufen erstarrt, stotterte und stoppte die Zeit wie ein verendendes Auto. Ich wusste, dass ich älter wurde, erhaschte in den Metalloberflächen der Tische im Speisesaal kurze Blicke auf mein sich wandelndes Gesicht, doch es fühlte sich gar nicht so an. Wer ich war und wer ich gewesen war, das hatte plötzlich nichts mehr miteinander zu tun, und ich war irgendwo in der Mitte gestrandet. Ich fragte mich, ob ich überhaupt noch Ruby war. Im Lager hatte ich außerhalb meiner Hütte keinen Namen. Ich war eine Nummer: 3285. Ich war eine Datei, auf einem Server oder irgendwo in einem grauen Aktenschrank eingeschlossen. Die Menschen, die mich vor dem Lager gekannt hatten, kannten mich nicht mehr.

Es begann immer mit demselben Donner, derselben Lärmexplosion. Ich war alt – krumm und gebeugt –, und mir tat alles weh. Ich stand mitten auf einer belebten Straße. Vielleicht hätte es irgendwo in Virginia sein können, wo ich herkam, aber ich war so lange nicht mehr daheim gewesen, dass ich es nicht mit Sicherheit sagen konnte.

Autos kamen zu beiden Seiten an mir vorbei, fuhren in entgegengesetzte Richtungen eine dunkle Straße hinunter. Manchmal hörte ich das Donnergrollen eines herannahenden Gewitters, dann wieder Autohupen, die näher kamen, lauter, lauter, lauter. Manchmal hörte ich auch überhaupt nichts.

Abgesehen davon jedoch war der Traum immer gleich.

Zwei identische schwarze Wagen hielten mit kreischenden Bremsen an, als sie mich erreichten, und dann rollten sie in die Gegenrichtung davon, sobald ich aufsah. Alles bewegte sich rückwärts. Der Regen löste sich von dem klebrigen schwarzen Asphalt und schwebte in vollkommenen, funkelnden Tropfen wieder in die Luft empor. Die Sonne wanderte rückwärts über den Himmel, folgte dem Mond. Und mit jedem ihrer Zyklen spürte ich, wie sich mein uralter, buckliger Rücken Wirbel um Wirbel streckte, bis ich wieder aufrecht stand. Als ich die Hände vor die Augen hob, verschwanden die Falten und die blauvioletten Adern, als würde das Alter von mir abschmelzen.

Und dann wurden diese Hände immer kleiner und kleiner und kleiner. Ich sah die Straße aus einem anderen Blickwinkel; meine Kleider schienen mich fast zu verschlucken. Alle Geräusche waren ohrenbetäubend laut, greller und verwirrender. Die Zeit jagte immer schneller rückwärts, riss mich von den Beinen, donnerte durch meinen Kopf.

Früher habe ich davon geträumt, die Zeit zurückzudrehen, mir die Dinge zurückzuholen, die ich verloren hatte, und den Menschen, der ich einmal gewesen war.

Aber jetzt nicht mehr.

1. Kapitel

Mein gebeugter Arm hakte sich um den Hals des Mannes, schloss sich immer enger um seine Kehle, während die Gummisohlen seiner Stiefel auf den Boden trommelten. Seine Fingernägel bohrten sich in den schwarzen Stoff meines Hemdes und meiner Handschuhe, rissen verzweifelt daran. Sein Gehirn bekam keinen Sauerstoff mehr, doch das verhinderte das Aufblitzen seiner Gedanken nicht. Ich sah alles. Seine Erinnerungen und Gedanken brannten glühend heiß hinter meinen Augen, doch ich ließ nicht los, nicht einmal, als der Verstand des Wachmanns in Todesangst ein Bild von ihm selbst heraufbeschwor, wie er mit offenen Augen an die Decke des Flurs starrte. Vielleicht tot?

Doch ich würde ihn nicht töten. Der Soldat war fast zwei Köpfe größer als ich, und ein Arm von ihm war so dick wie eins meiner Beine. Ich hatte ihn nur deshalb überrumpeln können, weil er mit dem Rücken zu mir dagestanden hatte.

Ausbilder Johnson nannte diesen Griff die Halsklemme, und er hatte mir noch ein ganzes Sammelsurium andere beigebracht. Den Dosenöffner, das Kruzifix, den Genickhebel, den Doppelnelson, den Drehgriff, den Polizeigriff und den Rückenbrecher, um nur ein paar zu nennen. Alles Methoden, mit denen ich, ein Mädchen mit eins fünfundsechzig, jemanden in Schach halten konnte, der mir körperlich überlegen war.

Inzwischen halluzinierte der Mann halb. In seinen Kopf zu schlüpfen war leicht und schmerzlos; sämtliche Erinnerungen und Gedanken, die an die Oberfläche seines Bewusstseins stiegen, waren schwarz verfärbt. Die Farbe lief durch sie hindurch wie ein Tintenklecks auf nassem Papier. Und erst dann, als ich ihn am Haken hatte, ließ ich seinen Hals los.

Das war wahrscheinlich nicht das gewesen, was er erwartet hatte, als er aus dem verstecken Nebeneingang des Ladens getreten war, um eine zu rauchen.

Der Frost in der Luft von Pennsylvania hatte die Wangen des Mannes unter den hellen Bartstoppeln knallrot gefärbt. Ich blies hinter meiner Skimaske einen einzigen heißen Atemstoß aus und räusperte mich, war mir der zehn Augenpaare, die auf mir ruhten, voll bewusst. Meine Finger zitterten, als sie über die Haut des Mannes glitten; er roch nach abgestandenem Rauch und dem Pfefferminzkaugummi, mit dem er seine eklige Angewohnheit zu verbergen suchte. Ich beugte mich vor und drückte die Finger gegen seinen Hals.

»Aufwachen«, flüsterte ich.

Der Mann öffnete mit Gewalt die Augen, sie waren groß und kindlich. Irgendetwas in meinem Bauch krampfte sich zusammen.

Rasch blickte ich über die Schulter zu dem Einsatzteam hinter mir, das all dies schweigend beobachtete, die Gesichter hinter den Masken unsichtbar.

»Wo ist der Gefangene Nr. 27?«, fragte ich.

Wir befanden uns außerhalb des Überwachungsbereichs der Kameras – das war wohl der Grund, weshalb sich dieser Soldat hier getraut hatte, sich ein paarmal außer der Reihe hinauszuschleichen und Pause zu machen –, doch ich war sehr darauf erpicht, diesen Teil hinter mich zu bringen.

»Mach schon, verdammt noch mal!«, knurrte Vida mit zusammengebissenen Zähnen neben mir.

Die Hitzewelle in meinem Rücken ließ meine Hände zittern, als der Teamführer von hinten zu mir trat. Das hier tat nicht mehr so weh wie früher. Es machte mich nicht völlig fertig, wand meinen Verstand nicht mehr zu Knoten aus Schmerz. Doch es machte mich empfänglich für starke Gefühle jedes Menschen in meiner Nähe – auch für den Abscheu dieses Mannes. Für seinen schwarzen, schwarzen Hass.

Robs dunkles Haar tauchte am äußersten Rand meines Blickfelds auf. Der Befehl, ohne mich vorzurücken, lag ihm auf den Lippen. Von den drei Einsätzen, die ich unter seinem Kommando mitgemacht hatte, hatte ich nur einen zu Ende bringen können.

»Wo ist der Gefangene Nr. 27?«, fragte ich noch einmal und versetzte dem Verstand des Mannes einen kleinen Stups mit meinem.

»Der Gefangene Nr. 27.« Sein dicker Schnurbart zuckte, als er die Worte wiederholte. Das Grau darin ließ ihn sehr viel älter wirken, als er in Wirklichkeit war. In der Einsatzakte, die wir vom Hauptquartier bekommen hatten, waren auch Kurzinfos zu sämtlichen Soldaten gewesen, die in diesem Bunker Dienst taten, einschließlich diesem hier – Max Brommel. Einundvierzig, ursprünglich aus Cody, Wyoming. War wegen eines Programmiererjobs nach Pittsburgh, Pennsylvania, gezogen, hatte den verloren, als es mit der Wirtschaft bergab ging. Eine nette Frau, gegenwärtig arbeitslos. Zwei Kinder.

Beide tot.

Ein Sturm aus düsterten Bildern durchtoste sämtliche dunklen Winkel und Ritzen seines Verstandes. Ich sah ein Dutzend weitere Männer aus einem Kastenwagen springen, alle in denselben leichten Tarnuniformen, und noch mehr kamen aus den Humvees, die das größere Fahrzeug vorn und hinten blockierten – voller Krimineller, mutmaßlicher Terroristen und, wenn die Info, die die Children’s League bekommen hatte, zutraf, einem unserer Top-Agenten.

Plötzlich vollkommen gefasst sah ich zu, wie dieselben Soldaten ein … zwei … nein, drei Männer von der Ladefläche des Lasters führten. Das waren keine Psi Special Forces oder FBI-Agenten, keine Leute vom CIA und definitiv kein SWAT- oder SEAL-Team, die wahrscheinlich alle unseren kleinen Trupp mit einem einzigen Schlag hätten plattmachen können. Nein, die hier gehörten zur Nationalgarde, sie waren wegen der schlimmen Zustände wieder in den aktiven Dienst einberufen worden. Wenigstens was das anging, waren unsere Informationen korrekt gewesen

Die Soldaten hatten den Gefangenen Kapuzen über die Köpfe gezogen und sie dann mit Gewalt die Stufen des verlassenen Ladens hinunterbugsiert, zur silbernen Schiebetür des darunter liegenden Bunkers.

Nachdem ein großer Teil von Washington, D.C., durch Angreifer zerstört worden war, bei denen es sich laut Präsident Gray um eine Gruppe gestörter Psi-Jugendlicher handelte, hatte er dafür gesorgt, dass überall an der Ostküste diese sogenannten Mini-Festungen errichtet wurden, für den Fall, dass es noch einmal zu einem Notstand dieser Größenordnung kam. Manche waren unter Hotels eingebaut worden, andere in Berghänge hinein, und andere, so wie dieser hier, waren vor aller Augen mitten in Kleinstädten versteckt, unter Geschäften oder Behörden. Sie waren zu Grays Schutz gedacht, für den Schutz seines Kabinetts und wichtiger Militärs. Und anscheinend dazu, Personen einzusperren, die eine »Hochrisiko-Bedrohung für die nationale Sicherheit« darstellten.

Einschließlich unseres Gefangenen Nr. 27, dem allem Anschein nach eine Spezialbehandlung zuteilwurde.

Seine Zelle befand sich am Ende eines langen Korridors, zwei Stockwerke tiefer. Ein einsamer Raum mit niedriger, dunkler Decke. Die Wände schienen um mich herum herabzutropfen, doch die Erinnerung blieb stabil. Sie hatten ihm die Kapuze nicht abgenommen, dafür aber seine Füße an den Metallstuhl in der Mitte der Zelle gefesselt, im Lichtkreis einer nackten Glühbirne.

Ich zog mich aus dem Verstand des Mannes zurück, löste sowohl meinen physischen als auch meinen mentalen Klammergriff. Er rutschte an dem Graffito an der Wand des aufgegebenen Waschsalons hinunter, noch immer im Nebel seines eigenen Hirns gefangen. Die Erinnerungen an mein Gesicht und an die Männer in der Gasse hinter uns zu entfernen war, als fische man Steine vom Grund eines klaren, flachen Teichs.

»Zwei Stock tiefer, Raum 4B«, verkündete ich und wandte mich zu Rob um. Wir hatten eine ungefähre Vorstellung vom Bauplan des Bunkers, wussten jedoch keine genaueren Details. Blind waren wir nicht, aber wir schossen in Sachen Präzision auch nicht gerade den Vogel ab. Der wesentliche Grundriss der Bunker war allerdings immer fast derselbe. Eine Treppe oder ein Fahrstuhl führte an einem Ende des Gebäudes hinunter, und auf jedem Stock ging von dort ein langer Flur ab.

Rob hob eine behandschuhte Hand und würgte den Rest meiner Anweisungen ab, dann winkte er dem Team hinter ihm. Ich gab ihm den Code aus dem Gedächtnis des Soldaten: 689999*, trat zur Seite und zog Vida mit. Mit einem Knurren stieß sie mich weg, gegen den nächsten Soldaten.

Hinter seinem Nachtsichtgerät konnte ich Robs Augen nicht sehen, während das grüne Licht blinkte, doch das brauchte ich auch nicht, um seine Gedanken zu lesen. Er hatte nicht um uns gebeten und hatte uns ganz sicher nicht dabeihaben wollen, da doch er – ein ehemaliger Army-Ranger, wie er uns so gern erinnerte – dies hier mit ein paar von seinen Männern mit Leichtigkeit hätte erledigen können. Am meisten, glaube ich, ärgerte es ihn, dass er hier überhaupt aktiv werden musste. Eigentlich war man bei der League draußen, wenn man erwischt wurde. Niemand kam einen holen.

Wenn Alban diesen Agenten wiederhaben wollte, dann hatte er einen guten Grund dafür.

Die Uhr tickte in dem Moment los, als die Tür aufglitt. Fünfzehn Minuten, um reinzukommen, uns den Gefangenen Nr. 27 zu schnappen, und dann nichts wie raus und weg. Aber wer konnte sagen, ob wir überhaupt so viel Zeit hatten? Rob schätzte doch lediglich, wie lang es dauern würde, bis Verstärkung eintraf, wenn der Alarm ausgelöst worden war.

Die Tür führte in ein Treppenhaus am hinteren Ende des Bunkers. Die Treppe wand sich Stück für Stück abwärts in die Finsternis; nur einige wenige Lampen entlang der Metallstufen wiesen uns den Weg. Ich hörte, wie einer der Männer das Kabel der Überwachungskamera kappte, die hoch über uns angebracht war, fühlte, wie Vidas Hand mich vorwärtsschubste, doch es dauerte eine Weile – zu lange –, bis meine Augen sich an die Düsternis anpassten. Spuren von den Chemikalien des Waschsalons hingen in der recycelten Luft und brannten mir in der Lunge.

Dann setzten wir uns in Bewegung. Rasch und so leise, wie eine Gruppe in schweren Stiefeln eben eine Treppe hinunterzupoltern vermag.

Das Blut hämmerte in meinen Ohren, als Vida und ich den ersten Treppenabsatz erreichten. Sechs Monate Training, das war nicht lange, aber lange genug, um mich zu lehren, den vertrauten Konzentrationspanzer enger um mein Innerstes zu ziehen.

Etwas Hartes krachte gegen meinen Rücken, dann etwas noch Härteres – eine Schulter, ein Gewehr, dann noch eins und noch eins, bis die Stöße einen so stetigen Rhythmus annahmen, dass ich mich gegen die Tür drücken musste, die vom Treppenabsatz in den Bunker führte, um ihnen zu entgehen. Vida gab einen scharfen Laut von sich, als der Letzte des Teams an uns vorbeirannte. Nur Rob blieb stehen. »Gebt uns Deckung, bis wir durch sind, dann behaltet den Eingang im Auge. Genau da. Bleibt auf jedem Fall auf eurem Posten.«

»Wir sollten doch …«, setzte Vida an.

Ich trat vor sie, schnitt ihr das Wort ab. Nein, das hier war nicht das, was die Einsatzparameter vorgegeben hatten, aber es war besser für uns. Es gab keinen Grund, warum eine von uns beiden in den Bunker hinabsteigen und sich möglicherweise umbringen lassen sollte. Und sie wusste genau – das war uns immer wieder eingehämmert worden –, dass Rob heute Nacht der Teamführer war. Und die allererste Regel, die einzige, die zählte, wenn man zu den Augenblicken zwischen den verängstigten Herzschlägen kam, war, man folgt immer dem Anführer, selbst im Angesicht von Feuer oder Tod oder Gefangennahme, immer.

Vida war hinter mir, nahe genug, dass ich ihren heißen Atem durch die schwarze Strickmaske fühlten konnte. Nahe genug, dass die Wut, die sie erfüllte, die kalte Luft von Philadelphia durchdrang. Vida strahlte ständig eine Art blutgierigen Eifer aus, noch mehr sogar, wenn Cate uns bei einem Einsatz anführte. Die freudige Erregung, sich unserer Betreuerin gegenüber zu beweisen, ließ sie stets vergessen, was sie im Training gelernt hatte. Für sie war das hier ein Spiel, eine Herausforderung, um mit ihrer Treffsicherheit anzugeben, mit ihrer Nahkampfausbildung, ihren ausgefeilten Fähigkeiten als Blaue. Für mich war so etwas eine weitere erstklassige Gelegenheit, mich umbringen zu lassen. Mit siebzehn mochte Vida ja die perfekte Schülerin sein, das Vorbild, an dem die League den Rest ihrer Jungfreaks maß, aber das Einzige, was sie nie in den Griff hatte kriegen können, war ihr eigener Adrenalinhaushalt.

»Fass mich ja nicht noch mal an, Schlampe«, fauchte Vida wütend. Sie machte Anstalten zurückzutreten, um den anderen die Treppe hinunterzufolgen. »Bist du etwa so ein Scheißfeigling, dass du dir das einfach so gefallen lässt? Dir ist es egal, dass er uns gerade voll gedisst hat? Du …«

Der Treppenschacht hob sich unter meinen Füßen, als würde er tief Atem holen, nur um ihn dann wieder hervorbersten zu lassen. Der Schock schien selbst die Zeit zu verlangsamen – ich hing in der Luft, wurde so hart gegen die Tür geschleudert, dass ich zu spüren glaubte, wie sie sich unter meinem Schädel eindellte. Vida krachte auf den Boden, hielt sich schützend die Arme über den Kopf, und erst dann erreichte uns das Krachen der Handgranate, die unten den Eingang aufsprengte.

Die qualmgeschwängerte Hitze war so dicht, dass sie mich mit einem Würgegriff packte, die Orientierungslosigkeit jedoch war viel schlimmer. Meine Augenlider fühlten sich an, als wären sie wundgescheuert, als ich sie zwang, sich zu öffnen. Ein rotes Licht pulsierte durch die Finsternis, drängte sich durch die Zementstaubwolken. Dieses gedämpfte Dröhnen in meinen Ohren – das war nicht mein Herzschlag. Das war der Alarm.

Warum hatten sie eine Granate benutzt, obwohl sie doch wussten, dass der Code für die Tür unten derselbe sein würde wie für die Außentür? Es waren keine Schüsse gefallen – wir waren nahe genug dran, dass wir gehört hätten, wie das Team zurückfeuerte. Jetzt wussten alle, dass wir hier waren – das ergab doch für ein Profiteam überhaupt keinen Sinn.

Ich riss mir die Maske vom Gesicht und tastete wild nach meinem rechten Ohr. Ein scharfer, stechender Schmerz, und das Headset löste sich, zerfiel in Stücke. Ich drückte die behandschuhte Hand gegen das Ohr, während ich taumelnd auf die Füße kam und blinzelnd eine Übelkeitswoge nach der anderen niederkämpfte. Doch als ich mich zu Vida umdrehte, um sie die Treppe hinaufzuschleifen, hinaus in die eisige Nacht, war sie verschwunden.

Zwei angstvolle Herzschläge lang hielt ich durch das klaffende Loch in dem Treppenabsatz Ausschau nach ihrem Leichnam und sah zu, wie das Team unten durch die Tür strömte. Ich lehnte mich an die Wand und gab mir alle Mühe, auf den Beinen zu bleiben.

»Vida!« Ich spürte, wie das Wort aus meiner Kehle kam, doch es ging in dem Pulsieren in meinen Ohren unter. »Vida!«

Die Tür auf meinen Treppenabsatz war verbogen, eingedellt, versengt – doch anscheinend funktionierte sie noch. Sie ächzte und glitt langsam auf, nur um auf halbem Weg mit einem grässlichen Knirschen stecken zu bleiben. Wieder drückte ich mich rücklings gegen die Wand, stieg zwei der geborstenen Stufen hinauf. Die Dunkelheit nahm mich von Neuem in ihre schützende Deckung auf, gerade als der erste Soldat sich durch die Öffnung quetschte; seine Pistole fuchtelte suchend in dem beengten Raum herum. Leise holte ich tief Luft und kauerte mich hin. Ich musste dreimal blinzeln, bis ich wieder klar sehen konnte, und als es so weit war, drängten sich bereits Soldaten durch die Tür, sprangen über das zackige Loch im Boden und hasteten die Treppe hinunter. Ich sah vier vorbeieilen, dann fünf, dann sechs, vom Rauch verschluckt. Eine Serie merkwürdiger surrender Knallgeräusche folgte ihnen, und erst als ich aufstand und mir mit dem Arm übers Gesicht wischte, wurde mir klar, dass dort unten Schüsse fielen.

Vida war fort, das Team steckte jetzt tief in einem selbst fabrizierten Wespennest, und der Gefangene Nr. 27 …

Verdammt noch mal, dachte ich und stieg wieder auf den Treppenabsatz hinunter. Diese Bunker waren stets mit über zwanzig oder dreißig Soldaten bemannt; sie waren zu klein, um mehr darin unterzubringen, nicht einmal vorübergehend. Doch nur weil der Korridor jetzt leer war, hieß das noch lange nicht, dass die Schießerei dort unten alle abgelenkt hatte. Wenn ich geschnappt wurde, war’s das. Ich wäre erledigt, tot, auf die eine oder andere Weise.

Aber da war dieser Mann, den ich gesehen hatte, der mit der Kapuze über dem Kopf.

Ich empfand der Children’s League gegenüber keine besondere Loyalität. Zwischen uns gab es eine Übereinkunft, eine merkwürdige verbale Abmachung, ebenso geschäftsmäßig wie blutig. Außerhalb meines eigenen Teams gab es keinen Menschen, aus dem ich mir etwas machte. Und ganz sicher gab es niemanden, der sich mehr um mich scherte, als absolut nötig war, damit ich am Leben blieb und verfügbar war, um wie ein Virus auf ihre Ziele losgelassen zu werden.

Meine Füße rührten sich nicht, noch nicht. Irgendetwas war an jener Szene, die wieder und wieder in meinem Kopf ablief. Die Art und Weise, wie sie ihm die Hände gefesselt, wie sie den Gefangenen Nr. 27 in die unbekannte Finsternis des Bunkers hinabgeführt hatten. Es war das Schimmern der Gewehre, die Unwahrscheinlichkeit des Entkommens. Unvermittelt fühlte ich, wie Verzweiflung in mir aufstieg, sich in meinem ganzen Körper ausbreitete.

Ich wusste, wie es sich anfühlte, gefangen zu sein. Zu spüren, wie die Zeit stockte, weil man jeden Tag ein bisschen mehr Hoffnung verlor, dass sich etwas ändern, dass jemand kommen und einem helfen würde.

Und ich dachte, wenn einer von uns nur an ihn herankäme, ihm zeigen könnte, dass wir da waren, ehe der Einsatz scheiterte, dann wäre es den Versuch wert.

Doch es gab keinen sicheren Weg dort hinunter, und die Schießerei unter mir tobte so wüst, wie es nur mit automatischen Waffen möglich ist. Der Gefangene Nr. 27 würde wissen, dass jemand hier war – und dass sie nicht zu ihm durchkamen. Ich musste mich dieses Mitgefühls entledigen, ich musste aufhören zu denken, dass diese Erwachsenen irgendwelches Mitleid verdienten, vor allem Agenten der League. Für mich stanken selbst die frischen Rekruten nach Blut.

Wenn ich hierblieb, genau da, wo Rob mich hinbeordert hatte, würde ich Vida vielleicht nie finden. Aber wenn ich meinen Posten verließ und ihm nicht gehorchte, würde er wütend sein.

Vielleicht wollte er ja, dass du bei der Explosion da stehst, wisperte eine kleine Stimme ganz hinten in meinem Kopf. Vielleicht hat er ja gehofft …

Nein. Das würde ich jetzt nicht denken. Vida war meine Aufgabe. Nicht Rob, nicht der Gefangene Nr. 27. Die verdammte Vida, die Viper. Wenn ich hier raus war, wenn ich Vida gefunden hatte, wenn wir wohlbehalten wieder im Hauptquartier waren, dann würde ich die Situation im Kopf noch einmal durchspielen. Nicht jetzt.

In meinen Ohren hämmerte es noch immer, zu laut, als dass ich die schweren Schritte hätte hören können, die von dem Posten im Waschsalon herbeikamen. Wir krachten im wahrsten Sinne des Wortes zusammen, gerade als meine Hand die Eingangstür berührte.

Der Soldat war jung. Wäre ich nur nach dem Äußeren gegangen, hätte ich gedacht, er sei bloß ein paar Jahre älter als ich. Ryan Davidson, meldete mein Gehirn, das mit allen möglichen unnützen Informationen aus der Einsatzakte aufwartete. In Texas geboren und aufgewachsen. Nationalgardist, seit sein College dichtgemacht hatte. Hauptfach Kunstgeschichte.

Die Lebensgeschichte von jemandem schwarz auf weiß vor sich zu haben war eine Sache. Dem Betreffenden von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen, in Fleisch und Blut, war etwas ganz anderes. Den heiße Gestank seines Atems zu spüren und den Puls in seinem Hals zucken zu sehen.

»Hey!« Er griff nach der Pistole an seiner Seite, doch ich trat nach seiner Hand, sodass die Waffe über den Treppenabsatz schlidderte und die Stufen hinabkullerte. Wir hechteten beide hinterher.

Mein Kinn knallte gegen das silberne Metall, und der Aufprall erschütterte tatsächlich mein Gehirn. Eine grelle Sekunde lang sah ich nur makelloses Weiß vor meinen Augen aufblitzen. Und dann verwandelte sich alles in leuchtende Farben. Der Schmerz kam als Nächstes; als der Soldat mich niederriss und ich auf dem Boden landete, gruben sich meine Zähne in meine Unterlippe, und diese platzte auf. Blut sprühte durch den Treppenschacht.

Der Mann drückte mich mit seinem ganzen Gewicht zu Boden. Als ich fühlte, wie er sich herumdrehte, war mir sofort klar, dass er nach seinem Funkgerät tastete. Ich konnte eine knisternde Frauenstimme hören, hörte sie »Sofort Statusmeldung« und »Ich komme rauf« sagen. Und die Erkenntnis, wie absolut ich geliefert sein würde, wenn eins von diesen beiden Dingen tatsächlich geschah, versetzte mich in jenen Zustand, den Ausbilder Johnson gern als kontrollierte Panik bezeichnete.

Panik, weil die Situation anscheinend rasch eskalierte.

Kontrolliert, weil ich in dieser Situation das Raubtier war.

Meine Hand war unter meiner Brust eingeklemmt, die andere steckte zwischen meinem Rücken und seinem Bauch. Das war die Hand, für die ich mich entschied. So gut ich konnte, ballte ich seine Uniform zusammen und suchte nach nackter Haut. Die umherstreifenden Finger meines Gehirns griffen nach seinem Kopf und drängten sich hinein, einer nach dem anderen. Sie kämpften sich durch die Erinnerung an mein erschrockenes Gesicht hinter der Tür hindurch, durch dunkelblaue Bilder von Frauen, die auf schwach beleuchteten Bühnen tanzten, eine Wiese, ein anderer Mann, dessen Faust auf ihn zukam …

Dann war das Gewicht fort, und Luft strömte wieder in meine Lunge, kalt und muffig. Ich rollte mich auf Hände und Knie hoch, japste nach mehr. Die Gestalt, die über mir stand, hatte den Mann die Treppe hinuntergeschleudert wie ein zerknülltes Stück Papier.

»Los! Wir müssen …« Die Worte hörten sich an, als würden sie unter Wasser übertragen. Wären die grellvioletten Haarsträhnen nicht gewesen, die unter der Skimaske hervorragten, hätte ich Vida wahrscheinlich nicht erkannt. Hemd und Hose aus dunklem Stoff waren zerrissen, und sie schien irgendwie zu hinken, doch sie war am Leben, und sie war hier, mehr oder weniger in einem Stück. Ich hörte ihre Stimme durch das gedämpfte Dröhnen in meinen Ohren.

»Herrgott, bist du langsam!«, schrie sie mich an. »Los jetzt!«

Sie wollte die Treppe hinunterrennen, doch ich packte sie am Kragen ihrer Kevlarweste und zerrte sie zurück. »Wir gehen raus und überwachen von da aus den Eingang. Funktioniert dein Headset noch?«

»Da unten kämpfen sie noch!«, rief sie. »Die brauchen uns! Er hat gesagt, wir sollen unseren Posten …«

»Dann betrachte das jetzt eben als Befehl von mir!«

Und das musste sie tun, denn so lief das nun einmal. Das war ihr an mir, an alldem hier am meisten verhasst – dass meine Stimme den Aussachlag gab. Dass ich hier bestimmen konnte.

Sie spuckte mir vor die Füße, doch ich spürte, wie sie mir die Stufen hinauffolgte und dabei vor sich hinfluchte. Mir kam der Gedanke, dass sie mit Leichtigkeit ihr Messer ziehen und es mir ins Rückgrat rammen könnte.

Der Soldat, den ich draußen antraf, hatte eindeutig nicht mit mir gerechnet. Ich hob die Hand, griff nach der ihren, um sie wegzubeordern, doch das Knallen von Vidas Pistole, die über meine Schulter feuerte, ließ mich viel schneller zurückschnellen, weg von dem Soldaten, als das Blut, das aus seinem Hals spritzte.

»Fang bloß nicht mit diesem Scheiß an!«, knurrte Vida, nahm die Pistole, die irgendwie immer noch an meiner Seite hing und drückte sie mir in die Hand. »Los!«

Meine Finger schlossen sich um den vertrauten Gegenstand. Es war eine typische Dienstwaffe, eine schwarze SIG Sauer P229 DAK, die sich nach Monaten des Übens – wie man damit schoss, sie reinigte und zusammensetzte – für meine Hände immer noch zu groß anfühlte.

Wir stürzten in die Nacht hinaus; abermals versuchte ich, Vida zurückzuhalten, ehe sie blind in eine unbekannte Situation hineinrannte, doch sie schüttelte meine Hand heftig ab. Wir rannten die schmale Gasse hinauf. Ich erreichte die Ecke gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie drei Soldaten, angesengt und blutend, zwei Gestalten mit Kapuzen über dem Kopf aus einem Loch zerrten, das aussah, als wäre es nicht mehr als ein großer Gully. Dieser Zugang war definitiv nicht in der Einsatzakte verzeichnet gewesen, die wir bekommen hatten.

Nr. 27? Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Die Gefangenen, die sie da in den Kastenwagen luden, waren Männer, ungefähr gleich groß, aber möglich war es. Und diese Möglichkeit war gerade im Begriff, für alle Zeiten in einem Kastenwagen davongekarrt zu werden.

Vida drückte die Hand ans Ohr und presste die Lippen zusammen, sodass sie weiß wurden. »Rob sagt, wir sollen wieder reinkommen. Er braucht Verstärkung.«

Sie wandte sich bereits um, als ich sie abermals packte. Vielleicht zum allerersten Mal war ich ein winziges bisschen schneller.

»Unser Auftrag ist der Gefangene Nr. 27«, flüsterte ich und versuchte, das Ganze so zu formulieren, dass sich ein Bezug zu ihrer hirnrissigen Gefolgschaftstreue der Organisation gegenüber ergab. »Und ich glaube, das da ist er. Deswegen hat Alban uns hergeschickt, und wenn er uns durch die Lappen geht, ist der ganze Einsatz zum Teufel.«

»Der …«, begehrte Vida auf, dann verbiss sie sich, was immer ihr auf den Lippen lag. »Ich geh nicht mit dir unter, wenn du uns hier versenkst. Nur damit du’s weißt.«

»Das ist dann ganz allein meine Schuld«, versicherte ich. »Da bleibt nichts an dir hängen.« Kein Minuspunkt in ihrer makellosen Einsatzbilanz, keine Beeinträchtigung des Vertrauens, das Alban und Cate in sie setzten. Sie konnte bei dieser Geschichte nur gewinnen – entweder erntete sie den »Ruhm« für einen erfolgreichen Einsatz, oder sie durfte zusehen, wie ich bestraft und gedemütigt wurde.

Ich hielt den Blick auf die Szene vor uns gerichtet. Es waren drei Soldaten – mit Waffeneinsatz machbar, damit sie jedoch wirklich nützlich wären, müsste ich nahe genug heran, um sie zu berühren. Das war die einzige, ätzende Grenze meiner Fähigkeiten, die ich noch immer nicht hatte durchbrechen können, ganz gleich, wie viele Übungen die League mir aufzwang.

Die unsichtbaren Finger, die in meinem Schädel hausten, klopften ungeduldig, als widere es sie an, dass sie nicht mehr auf eigene Faust ausbrechen konnten.

Ich starrte den nächsten Soldaten an, versuchte, mir vorzustellen, wie sich die langen Schlangenfinger über den Boden ausstreckten, nach seinen unbewachten Gedanken griffen. Clancy konnte das, dachte ich. Er brauchte andere Menschen nicht zu berühren, um sich ihres Verstandes zu bemächtigen.

Ich schluckte einen Aufschrei hilfloser Wut hinunter. Wir brauchten etwas anderes, eine Ablenkung, etwas, das …

Vida war kräftig gebaut, mit breitem Rücken und muskulösen Gliedmaßen, die selbst ihre gefährlichsten Handlungen leicht und anmutig aussehen ließen. Ich sah, wie sie die Pistole hob und zielte.

»Kräfte!«, zischte ich. »Vida, nicht schießen; das hören die anderen doch!«

Sie schaute mich an, als sähe sie gerade mein wirres Hirn aus meinen Nasenlöchern quellen. Die Männer abzuknallen war eine schnelle Lösung, das war uns beiden klar, doch wenn sie sie verfehlte und einen der Gefangenen traf, oder wenn die Soldaten anfingen zurückzuschießen …

Vida stieß beide Hände in die Luft hinaus. Die drei Nationalgardisten wurden mit solcher Genauigkeit und solcher Wucht erfasst, dass sie den halben Block hinuntergeschleudert wurden, gegen die dort geparkten Autos. Es war nämlich nicht genug, dass Vida die Schnellste oder die Stärkste oder die Treffsicherste von uns allen war – sie musste auch noch am meisten Kontrolle über ihre Fähigkeiten haben.

Ich ließ zu, dass der fühlende Teil meines Gehirns sich abschaltete. Das Wertvollste, was mir die League beigebracht hatte, war, sich aller Angst zu entledigen und sie durch etwas zu ersetzen, das unendlich viel kälter war. Nennt es Ruhe, nennt es Konzentration, nennt es innere Taubheit – es stellte sich ein, auch wenn das Blut in meinen Ohren sang, als ich auf die Gefangenen zurannte.

Sie rochen nach Erbrochenem, nach Blut und Fäkalien. So ganz anders als die sauberen, ordentlichen Linien des Bunkers und dem Bleichegestank dort drin. Mir drehte sich der Magen um.

Der Gefangene, der mir am nächsten war, kauerte neben dem Gully, die gefesselten Arme über dem Kopf. Sein Hemd hing ihm in Fetzen von den Schultern, bildete einen Rahmen für Striemen und Brandmale und blaue Flecken, die seinen Rücken eher wie eine Platte voll rohem Fleisch aussehen ließen als wie menschliche Haut.

Der Mann drehte sich nach dem Geräusch meiner Schritte um, hob das Gesicht aus den schützenden Armen. Ich riss ihm die Kapuze vom Kopf. Eigentlich hatten mir tröstende Worte auf der Zunge gelegen, doch sein Anblick hatte meinen Mund von meinem Gehirn abgekoppelt. Blaue Augen blinzelten mich unter einem wirren blonden Haarschopf hervor an, doch ich konnte nichts tun, nichts sagen, als er sich weiter ins blassgelbe Licht der Straßenlaterne beugte.

»Mach schon, du Idiotin!«, brüllte Vida. »Warum dauert das denn so lange?«

Ich spürte, wie jedes einzelne Quäntchen Blut auf einen Schlag aus meinem Körper wich, als hätte mich ein Schuss mitten durchs Herz getroffen. Und plötzlich war mir alles klar – ich begriff, warum Cate sich ursprünglich so sehr bemüht hatte, mich für einen anderen Einsatz einteilen zu lassen, warum man mich angewiesen hatte, den Bunker nicht zu betreten, warum ich keine Informationen über den Gefangenen bekommen hatte. Keinen Namen, keine Beschreibung und ganz bestimmt keinerlei Vorwarnung.

Weil das Gesicht, dass ich jetzt vor mir sah, zwar schmaler war, verhärmt und zerschunden, doch es war ein Gesicht, das ich kannte … eins, das ich … das ich …

Nicht das, dachte ich und fühlte, wie die Welt seitlich unter meinen Füßen wegrutschte. Nicht er.

Als er meine Reaktion sah, stand er langsam auf; ein Gaunerlächeln kämpfte sich an der Schmerzgrimasse vorbei. Mühsam kam er auf die Beine und taumelte auf mich zu; er sah aus, dachte ich, als wäre er hin- und hergerissen zwischen Erleichterung und Dringlichkeit. Doch der Südstaaten-Singsang seines Akzents war so warm wie eh und je, auch wenn seine Stimme tiefer war, rauer, als er endlich etwas sagte.

»Seh ich … so klasse aus, wie ich mich fühle?«

Und ich schwöre – ich schwöre es! –, ich spürte, wie die Zeit unter mir davonglitt.

2. Kapitel

So findet man die Children’s League: gar nicht.

Man fragt nicht herum, weil keine lebende Seele in Los Angeles jemals die Existenz der Organisation dort zugeben und Präsident Gray einen Anlass geben würde, aktiv zu werden. Die Federal Coalition war schon schädlich genug fürs Geschäft. Die Menschen, die einem den Weg zur League verraten könnten, würden damit nur gegen einen Preis herausrücken, der für die meisten zu hoch wäre. Es gab keine Politik der offenen Tür, keine Laufkundschaft; der Dauerbefehl lautete, jeden zu beseitigen, der einen Agenten auch nur schief ansah.

Man wurde von der League gefunden. Wenn man wertvoll genug war, holten sie einen. Wenn man kämpfen würde. Das war das Erste, was ich erfuhr, als ich auf dem Weg dorthin neben Cate saß – oder zumindest war es der erste richtige Gedanke, der sich in meinem Kopf verfestigte, als unser Geländewagen den Freeway hinunterraste, geradewegs ins Herz der Stadt.

Ihre Hauptoperationsbasis – von allen HQ genannt – war zwei Stockwerke tief unter einer Plastikflaschenfabrik begraben, die noch halbwegs in Betrieb war und ihren Teil zu dem braunen Dunst beitrug, der sich hartnäckig über dem Lagerhausviertel der Innenstadt von Los Angeles hielt. Viele der Agenten und leitenden Mitglieder der League »arbeiteten« auf dem Papier für P&C Bottling, Inc.

Ich hielt die Hände im Schoß zu Fäusten geballt. In Thurmond hatten wir wenigstens den Himmel sehen können. Ich hatte durch den Elektrozaun hindurch die Bäume gesehen. Jetzt würde ich nicht einmal mehr das haben – bis die League beschloss, dass ich nach oben steigen durfte.

»Die Fabrik gehört Peter Hinderson. Wahrscheinlich lernst du ihn irgendwann kennen, er hat die League von Anfang an nach Kräften unterstützt.« Cate strich sich das Haar wieder zum Pferdeschwanz zurück, als der Wagen in ein Gebäude einbog, das aussah wie ein weiteres Parkhaus. Das war diese Stadt– verblassende Farbe in Sonnenuntergangstönen und Beton.

»Sie haben das HQ mit seiner Hilfe gebaut. Es liegt genau unter seiner Fabrik, wenn also Satelliten nach uns suchen, lässt sich die Wärmesignatur von unserem Belüftungssystem ganz leicht erklären.«

Es hörte sich an, als wäre sie so ungeheuer stolz darauf, und mir war das ehrlich gesagt vollkommen egal. Der Flug von Maryland aus hatte mit der Übelkeit durchs Autofahren und dem unerbittlichen Benzingestank der Stadt darum gewetteifert, was mir die meisten, furchtbarsten Kopfschmerzen bescheren würde. Alles an mir sehnte sich schmerzhaft nach der süßen, klaren Luft von Virginia.

Die anderen Agenten kletterten aus ihren Autos; ihr Gerede erstarb augenblicklich, als sie uns sahen. Während des ganzen Fluges hatte ich gespürt, wie sie mich angestarrt hatten. Anscheinend hatten sie keinerlei weiterer Unterhaltung bedurft; zu versuchen herauszubekommen, warum ich wichtig genug war, dass Cate eine solche Suchaktion nach mir angeleiert hatte, reichte vollkommen. Sie ließen Worte über mich hinwegsegeln wie Spielzeugboote auf einem Teich – Spion, Flüchtling, Rot. Alles falsch.

Wir blieben zurück, als die anderen auf den silbernen Fahrstuhl am anderen Ende des Parkhauses zustrebten; ihre Schritte hallten auf dem gestrichenen Beton. Cate ließ sehr deutlich erkennen, dass sie Zeit brauchte, um unsere Sachen aus dem Kofferraum zu holen; jede Bewegung war quälend langsam, perfekt choreografiert, um ihnen einen Vorsprung zu lassen. Ich presste Liams Lederjacke an die Brust, bis wir an der Reihe waren.

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