Im Herzen so nah - Paige Toon - E-Book
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Im Herzen so nah E-Book

Paige Toon

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Beschreibung

Was passiert, wenn du den Richtigen zur falschen Zeit triffst? Als Nell und Van sich im Kindesalter kennenlernen, werden die beiden beste Freunde. Doch schon bald trennt das Schicksal die beiden voneinander. Als sie sich mit fünfzehn Jahren wiedersehen, ist die starke Verbindung zwischen ihnen sofort wieder da. Und auch ein paar Gefühle, die neu für sie sind, und die sie zuerst nicht einordnen können. Warum kribbelt es plötzlich zwischen ihnen? Irgendwann führen beide ihr eigenes Leben, doch vergessen können sie ihre gemeinsame Zeit nicht. Was passiert, wenn sie sich wiedersehen? Werden sie glücklich sein? Das Leben stellt Nell und Van immer wieder auf die Probe und vor große Entscheidungen. »Eines Tages wirst du zurückschauen und verstehen, warum all das geschah.«

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Paige Toon

Im Herzen so nah

Roman

Aus dem Englischen von Andrea Fischer

FISCHER E-Books

In Erinnerung an Pascale Honore

Prolog: Vierzig

»Ach, Spätzchen«, murmele ich und streiche meinem Sohn die Haare aus der Stirn. Er kämpft mit den Tränen.

Luke ist immer noch mein Spätzchen, auch wenn er jetzt fast fünfzehn Jahre alt ist.

»Ich fasse es nicht, dass ich den ganzen Sommer zu Hause rumhängen muss«, bringt er mit erstickter Stimme hervor. »Und jetzt verpasse ich auch noch Angies Party«, fügt er hinzu.

Ich nehme an, dass ihn das noch mehr ärgert als der gebrochene Knöchel.

»Wahrscheinlich ist sie bald mit Jake zusammen, und das war’s dann für mich«, vermutet er verbittert.

Ich beuge mich vor und drücke seine Schulter. »Angela Rakesmith himmelt dich an, als würde dir die Sonne aus dem Hintern scheinen«, sage ich. »Bei ihr brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen.«

Luke muss grinsen, doch kurz darauf verzieht er vor Schmerz das Gesicht.

»Brauchst du noch eine Schmerztablette?«, frage ich besorgt und habe den Finger schon fast auf der Taste, um die Krankenschwester zu rufen.

Er schüttelt den Kopf. »Nee, davon wird mir schlecht.«

»Tut mir leid, dass du die Party verpasst«, sage ich und meine es auch so. Luke hatte sich so darauf gefreut. »Ich weiß, wie blöd das ist. Aber wenn du wieder in der Schule bist, kümmern sich alle um dich! Und die Mädels werden sich bestimmt darum reißen, auf deinem Gips unterschreiben zu dürfen. Da wird Angie vor Eifersucht an die Decke gehen.«

Lukes Unterlippe bebt, er schluckt, doch es gelingt ihm nicht, die Tränen des Schmerzes und der Enttäuschung zurückzuhalten.

»Ich hatte in diesem Sommer so viel vor! Wieso bin ich überhaupt auf das dämliche Surfbrett gestiegen?« Er schlägt mit der flachen Hand aufs Bett.

»Es hätte viel schlimmer kommen können.« Bei dem Gedanken, was alles hätte passieren können, läuft mir ein Schauer über den Rücken.

Luke verdreht die Augen. »Es kann immer schlimmer kommen. Das macht es auch nicht besser, Mum.«

»Ich weiß, dass dir jetzt alles sinnlos erscheint, aber eines Tages …« Mir wird ganz komisch, als ich neu ansetze: »In fünf Jahren guckst du vielleicht zurück und verstehst, warum es so kommen musste.«

»Nein, tu ich nicht«, erwidert er mürrisch. »In fünf Jahren werde ich nur denken, wie bescheuert es von mir war, Jensen zu fragen, ob er mit uns surfen will.«

Ich verdrehe die Augen zur Decke. Zum Unfall ist es nur gekommen, weil Luke seinem Freund Jensen helfen wollte, der in eine Rippströmung geraten war. Auf dem Rückweg ans Ufer wurden beide gegen die Felsen geschleudert. Jensen schlug mit der Stirn dagegen, seine Augenbraue musste mit drei Stichen genäht werden, sonst blieb er aber unverletzt. Mein Sohn hatte nicht so viel Glück.

»Stimmt. Du hättest ihn besser nicht mitgenommen«, sage ich. »Bei dem Wetter hätte keiner von euch in Porthleven surfen dürfen, schon gar nicht Jensen. Er hat viel zu wenig Erfahrung!«

Anders als Luke, der seit seinem zehnten Lebensjahr fast täglich auf dem Brett steht.

Er beißt sich auf die Lippe, weil er weiß, dass er sich noch einiges wird anhören müssen.

»Aber«, versuche ich meine Argumentation zu Ende zu führen, auch wenn Luke nichts davon wissen will, »vielleicht ist das alles ja doch zu etwas gut. In Zukunft schaltet Jensen vielleicht seinen Verstand ein, bevor er bei solchen Verhältnissen aufs Brett steigt. Oder du oder einer von deinen Freunden tut das für ihn. Das kann Leben retten. Und in diesem Sommer beschäftigst du dich halt mal mit etwas anderem oder lernst vielleicht jemanden kennen, den du sonst nicht treffen würdest, jemand, der Auswirkung auf dein ganzes weiteres Leben hat. Das könnte wiederum Angies Gefühle für dich beeinflussen, positiv wie negativ, aber wenigstens wüsstest du dann Bescheid und könntest dich nach einer anderen umsehen. Ich will damit nur sagen: Auch wenn dir der gebrochene Knöchel gerade wie die größte Katastrophe überhaupt vorkommt, schaust du vielleicht eines Tages zurück und verstehst, dass es aus einem bestimmten Grund passiert ist. Mein Vater hat mir mal gesagt: In fünf Jahren sieht alles anders aus. Das habe ich nie vergessen.«

Luke atmet tief durch, sein Gesicht verzieht sich vor Schmerz.

»Willst du wirklich nicht noch eine Tablette?«, frage ich besorgt.

Er schüttelt den Kopf. »Geht schon. Aber ich brauch irgendwas zum Ablenken. Bitte überleg dir was!«, presst er hervor.

»Soll ich dir eine Geschichte erzählen?« Ich lächele ihn hoffnungsvoll an.

»Solange sie nicht von Schummel und Bummel handelt«, antwortet er schmunzelnd und zuckt erneut zusammen.

»Du bist ganz schön frech«, gebe ich mich künstlich empört. »Schummel und Bummel sind das Beste, was ich je hervorgebracht habe!«

Das stimmt nicht ganz, und Luke weiß es.

Er grinst mich an. »Ja, sie sind echt super. Aber wann hat Grandad dir das mit den fünf Jahren gesagt?«

»Lustigerweise, als ich so alt war wie du jetzt. Zehn Jahre früher habe ich den Spruch allerdings mal so ähnlich gehört.«

»Als du fünf warst? Und das weißt du noch?«

Ich nicke. »Ruth war eine Frau, die man nicht so schnell vergisst.«

»Wer ist Ruth?«

»Die große Liebe deines Großvaters«, erkläre ich. »Und ich rede nicht von deiner Oma«, füge ich mit bedeutungsschwerem Blick hinzu.

»Was ist denn mit ihr passiert?«

»Ach, das ist eine andere und sehr lange Geschichte.«

Er sieht mich kleinlaut an. »Ich habe ja jetzt erst mal Zeit.«

»Na gut.« Ich lächele in mich hinein. »Dann fange ich am besten ganz vorne an.«

Für mich begann es nämlich, als ich fünf Jahre alt war.

Fünf

Auf Nells Bett saß ein Junge.

Ihr Stoffhäschen an sich gedrückt, musterte sie ihn misstrauisch. Mürrisch starrte er zurück.

»Nell, das ist Vian«, sagte ihr Vater mit betont heiterer Stimme.

»Vian, runter von dem Bett!«, mahnte Ruth leise.

Nell hatte Ruth bereits unten im Wohnzimmer kennengelernt. Die Frau hatte ein nettes Lächeln und rote Locken, die beim Gehen wippten. Auf Anhieb hatte Nell die neue Freundin ihres Vaters gemocht. Aber wenn sie der Grund war, weshalb jetzt ein Junge auf der unteren Matratze des Etagenbetts saß, wo Nell immer schlief, dann musste sie vielleicht noch mal darüber nachdenken, wen sie mochte und wen nicht.

»Vian!«, wiederholte Ruth.

Nell löste den Blick von dem Jungen mit den unergründlich dunklen Augen und sah ihren Vater an. »Was macht der auf meinem Bett?«

Daddy wirkte kurz ratlos, dann setzte er wieder seine fröhliche Stimme auf. »Wir dachten, weil du jetzt ein großes Mädchen bist, möchtest du lieber im oberen Bett schlafen.«

Nell schüttelte den Kopf. »Ich will unten schlafen.«

Ihr Vater tauschte einen betretenen Blick mit Ruth.

Ruth kniete sich hin. »Stehst du bitte auf, Vian?«

»Nein«, presste Vian hervor und rückte so weit nach hinten, bis er die Wand berührte. Seine dunklen Haare hoben sich von der weißen Tapete ab.

Nells Blick schweifte durchs Zimmer, sie registrierte die fremden Teddys auf der Bettdecke und die Spielzeugautos auf dem schmalen Regal über dem Kopfkissen. Es sah aus, als würde Vian schon länger in ihrem Bett schlafen.

Und es war wirklich ihr Bett. Es war schon immer ihr Bett und ihr Zimmer gewesen. Unter die Holzlatten, auf der die obere Matratze lag, hatte sie sogar Sterne geklebt, die im Dunkeln leuchteten. Schnell sah sie nach, ob die Sterne noch da waren. Ja, waren sie.

»Schon gut«, beruhigte Nells Vater seine Freundin und legte ihr die Hand auf den Arm. »Wie wär’s, wenn wir erst mal nach unten gehen und einen schönen heißen Kakao trinken und Kekse essen?«

Kakao und Kekse vor dem Abendessen? Nell war von dem Vorschlag begeistert, nur Vian machte weiter ein düsteres Gesicht. Es war geradezu so, als sei sie der Eindringling.

»Daddy, ich will nicht im oberen Bett schlafen«, flüsterte sie ihrem Vater befangen zu, als sie ihm aus dem Zimmer folgte. Sie verstand den Grund für die ganze Aufregung nicht. »Dann kann ich meine Sterne nicht sehen.«

»Wir können neue holen, die wir an die Wand kleben«, schlug ihr Vater vor und drehte sich am Fuß der Treppe um, um Nell auf den Arm zu nehmen.

»Aber ich find es schön, wenn sie über mir sind«, beharrte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen, während ihr Vater sie in die Küche trug.

»Dann besorgen wir dir Sterne für die Decke«, erwiderte er.

»Aber ich mag mein Bett.«

»Nell, bitte!« Genervt legte er die Stirn in Falten und setzte seine Tochter auf dem Boden ab. »Sei lieb, ja?«

Nell war verletzt. Sie war doch lieb. Sie wohnte gerne bei ihrem Vater in Cornwall. Sie freute sich darauf, die Sommerferien mit ihm gemeinsam zu verbringen. Warum musste das plötzlich anders sein? Warum waren diese Leute hier?

Ihre Mutter hatte es ihr natürlich vorher erklärt. Daddy hätte eine neue Freundin, die »nicht schnell genug einziehen konnte« …

»Passt gar nicht zu deinem Vater. Total untypisch. Hab erst gedacht, sie hätte ihn komplett auf links gedreht, aber ich hab mit ihr gesprochen, und sie macht einen ganz netten Eindruck. Tut ihm wahrscheinlich gut – dann ist endlich Schluss mit seinem Eremitendasein. Außerdem bist du dann nicht allein, ihr Sohn ist nämlich genauso alt wie du, hat nur zwei Tage vor dir Geburtstag. Dein Dad meint, das wäre Schicksal und ihr wärt bestimmt bald dicke Freunde.«

Von all den Informationen war Nell ganz schwindelig geworden, aber sie hatte aufmerksam zugehört, weil Mummy sonst immer zu viel zu tun hatte, um mit ihr zu sprechen, und sie jetzt sogar richtig fröhlich war und lachte.

Der einzige Mensch, der Mummy in letzter Zeit zum Lachen gebracht hatte, war ihr Tennislehrer Conan.

Auch wenn sie schon länger nicht mehr mit Conan Tennis gespielt hatte.

»Ruth? Kommst du?«, rief Daddy nach oben.

»Sofort!«, rief Ruth zurück.

Daddy lächelte Nell an. »Vian ist ein bisschen schüchtern, aber sonst ist er wirklich nett. Du wirst ihn mögen, versprochen.«

Das hatte er schon am Telefon gesagt.

»Und, auf welche Kekse hast du Lust?«, fragte Daddy. »Die mit Vanillecreme oder die dunklen? Oder vielleicht die mit Marmeladenfüllung?«

»Die mit der Marmelade«, antwortete Nell lächelnd. Strahlend öffnete ihr Vater die Packung und verteilte den Inhalt auf einem Teller. »Da sind sie ja!«, sagte er fröhlich, als Ruth mit Vian an der Hand auftauchte.

Der Junge war ungefähr so groß wie Nell, höchstens ein paar Zentimeter größer. Im Küchenlicht konnte Nell sehen, dass seine Augen blau waren. Dunkelblau. Er wirkte immer noch sehr schlechtgelaunt.

Nell drückte ihren Stoffhasen an die Brust und versteckte sich hinter den Beinen ihres Vaters.

»Alles geklärt«, sagte Ruth heiter. »Vian schläft ab jetzt im oberen Bett.«

»Aber …«, setzte Nells Vater an.

»Pst!«, unterbrach Ruth ihn. »Ist schon gut. Er ist einverstanden. Stimmt doch, Schatz, oder?«

Vian funkelte seine Mutter böse an und zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. Als die Beine über die Küchenfliesen schrammten, zuckten alle zusammen, nur der Verursacher nicht. Schmollend ließ er sich auf den Stuhl sinken, schob die Unterlippe vor, verschränkte die Arme vor der Brust und starrte vor sich hin.

Es sah nicht so aus, als sei Vian einverstanden.

Nell versuchte, ihn nicht zu beachten. Sie hatte sich schließlich nur zurückgeholt, was ihr gehörte. Sie schlief wirklich gern im unteren Bett.

Später am Abend, nach einem Abendessen in angespannter Atmosphäre – Nells Vater hatte viel mehr als sonst geredet, Vian dagegen kein Wort gesagt –, saß Nell unruhig zappelnd im Dunkeln vor dem Badezimmer auf dem Boden. Ruth half ihrem Sohn, sich bettfertig zu machen, während Nells Vater die Küche aufräumte. Nell wartete darauf, sich die Zähne putzen und zur Toilette gehen zu können, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hatte, aber Vian und Ruth brauchten Ewigkeiten da drin. Die Tür war einen Spaltbreit geöffnet. Nell sah, dass Vian mit hängendem Kopf neben der Badewanne stand.

»Die ziehe ich nicht an«, brummte er. Sein Gesicht war rot.

»Nur so lange, bis du dich an die Leiter gewöhnt hast«, sagte Ruth leise.

»Windeln sind was für Babys.«

Nell spitzte neugierig die Ohren. Machte Vian etwa ins Bett?

Er schniefte.

Heulte der?

Ruth hockte sich neben ihn. »Das wird schon, Vian. Ich verspreche es dir. Wenn du morgen erst mal mit Nell gespielt hast und ihr euch kennengelernt habt, dann wird es besser.«

»Sie mag mich nicht.«

»Sie kennt dich nicht. Das ist auch für sie alles neu, vergiss das nicht! Sie ist es gewöhnt, ihren Daddy ganz für sich zu haben, wenn sie herkommt. Sonst sieht sie ihn doch nicht.«

»Warum sehe ich meinen Daddy nicht?«

Ruth seufzte schwer und richtete sich auf. »Komm, Schatz!«, drängte sie.

Nells Gedanken überschlugen sich. Wer war Vians Daddy? Und wo war er?

»Zieh das Ding heute Nacht an, dann bist du auf der sicheren Seite. Du willst doch nicht, dass dir ein Missgeschick passiert, während Nell unter dir schläft.«

Nells Augenbrauen schossen in die Höhe.

Als beide bettfertig waren, las Daddy Nell und Vian eine Geschichte vor. Das machte er nicht wie sonst immer oben in Nells Bett, sondern unten auf dem Sofa. Nell schaute zu Vian hinüber, der reglos dasaß und aufmerksam lauschte. Er hatte dunkelbraunes, fast schwarzes Haar und dieselben Locken wie seine Mutter, nur kürzer. Sie umrahmten sein Gesicht und fielen ihm teilweise in die Augen.

Vian hatte immer noch kein Wort mit Nell gesprochen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er ihr Spielkamerad werden würde und sie freiwillig Zeit mit ihm verbrachte.

»So, das war’s! Schlafenszeit!«, sagte Nells Vater und tätschelte die nackten Knie der Kinder.

Nell sprang auf und gab ihrem Vater einen Kuss auf den Mund.

»Nachti, hab dich lieb!«, rief sie.

Ihr Vater schien sich zu wundern, als sie sich umdrehte und die Treppe hochlief.

Normalerweise zog Nell die Gutenachtgeschichte ewig in die Länge, bettelte um eine weitere Geschichte, einen weiteren Kuss oder sogar um ein Lied. Doch an diesem Abend trieb sie die Entschlossenheit in ihr Zimmer. Sie warf den Plüschhasen auf das obere Bett und kletterte die Leiter hinauf. Als Vian in der Tür erschien, hatte sie sich bereits unter die Bettdecke gekuschelt. Erstaunt sah er zu ihr hoch.

»Von mir aus kannst du das untere Bett haben«, sagte Nell großmütig.

Vian stürzte in den Flur und rief: »Mummy! Nell sagt, ich kann unten schlafen!«

»Ach, das ist aber lieb von ihr!«, sagte Ruth im Wohnzimmer.

Nell spürte, wie sich eine kribbelige Freude in ihr ausbreitete, als ihr Vater die Treppe heraufkam. Er trat in ihr Zimmer, und seine schokoladenbraunen Augen strahlten vor Stolz.

»Danke«, flüsterte er, stieg auf die mittlere Sprosse und drückte seiner Tochter einen dicken Kuss auf die Wange. »Das bedeutet mir sehr viel. Finde ich wirklich toll von dir. Hast du richtig gemacht.«

Ja, das stimmte.

Und es hatte nur ganz, ganz wenig mit Nells Angst davor zu tun, dass Vian ihr auf den Kopf pieseln könnte.

Nells Vater, Geoffrey Forrester, lebte schon so lange in dem kleinen Cottage am Helford River, wie er denken konnte. Er hatte es nach dem frühzeitigen Tod seiner Mutter geerbt und ging davon aus, dass auch er das Haus nur mit den Füßen zuerst verlassen würde.

Das Cottage stand an einem steilen Hang, der zum Fluss hin abfiel. Nichts liebte Geoff mehr, als in Ruhe auf der Bank vor der riesigen dunkelroten Hortensie im Garten zu sitzen und zuzusehen, wie die Gezeiten des nahen Meeres den Fluss an- und abschwellen ließen.

Jetzt jedoch war er nicht allein, und »Ruhe« war nicht das passende Wort, um seine Situation zu beschreiben.

»Auf die Plätze, fertig, los!«, rief Ruth.

Nell bemühte sich, ihren Körper so steif wie möglich zu machen, bevor sie sich in Bewegung setzte. Kreischend rollte sie den Hang hinab und hoffte, Ruth würde sie wirklich wie versprochen auffangen, bevor sie vom Gras ins Flussbett rollte. Es war zwar Ebbe, aber der Schlamm war unglaublich tief. Nell erinnerte sich, dass sie im vergangenen Jahr einen Gummistiefel darin verloren hatte.

Ruth fing das taumelnde Mädchen auf und stellte es auf die Füße. Nells Lachen wurde bald von Vians Kriegsgeheul übertönt, der als Nächster an der Reihe war.

»Du alter Schlawiner!«, rief Ruth, als sie ihren Sohn unten auffing. »Ich war noch nicht so weit!«

Vian rappelte sich auf und rief: »Noch mal! Noch mal!«

Er suchte Nells Blick, und sie begriff, dass der Wettstreit eröffnet war, deshalb raste sie den Hang hinauf, so schnell sie konnte, um sich oben hechelnd auf den Boden zu werfen.

Ruth stand unten und schrie: »O Gott, Geoff! HILFE!«

Gerade noch rechtzeitig war sie bei Nell, und Geoff kam hinuntergestürzt und fing Vian auf. Er fluchte laut, weil er sich beim hastigen Aufspringen heißen Tee über die Hand gegossen hatte.

Nell und Vian bekamen ein schlechtes Gewissen, aber Ruth warf den Kopf in den Nacken und wieherte los, und alle fielen in ihr Lachen ein.

»Ihr habt Gras in den Haaren«, sagte Ruth später am Küchentisch und zupfte die frisch gemähten Halme aus den Haaren der Kinder. Sie aßen Käsesandwiches. Das Brot hatte eine harte Kruste; es stammte aus dem Laden im Dorf. Das Fenster bot eine wunderbare Aussicht auf den breiten Fluss unten. Zu beiden Seiten der steilen Ufer standen alte Eichen, deren grüne Wipfel weich wie Watte erschienen.

»Deine Mutter hat gesagt, ich muss deine Haare diesen Sommer besser pflegen, sonst macht sie kurzen Prozess damit und schneidet sie ab«, witzelte Geoff und klopfte Nell auf die Schulter.

Nell wunderte sich. Sie wusste, dass das eine leere Drohung war. Schon öfter hatte sie ihre Mutter gefragt, ob sie die Haare so kurz haben könne wie Isabel in ihrer Vorschulklasse, aber Mummy hatte geantwortet, Isabel sähe aus wie ein Junge, und aus ihrem Tonfall hatte Nell geschlossen, dass das nichts Gutes war.

»Ich bürste dir die Haare«, erbot sich Ruth. »Sie haben so eine wunderbare Farbe. Wie der Weizen auf den Feldern jenseits des Flusses.«

»Willst du heute Abend wieder rüber und malen?«, fragte Geoff beiläufig, und Nell erinnerte sich, dass ihre Mutter erklärt hatte, Ruth sei Malerin. »Ich kann auf die Kinder aufpassen«, schlug er vor.

»Nein, ich will mit!«, rief Vian begeistert. »Darf ich?«

Ruth lächelte ihren Sohn an. »Natürlich.«

»Juhu!« Er warf Nell einen Blick zu. »Ich baue da eine Höhle«, verriet er.

»Darf ich auch mit?«, fragte Nell ihren Vater hoffnungsvoll.

»Na, wie wär’s, wenn wir alle zusammen gehen und ein Picknick machen? Solange Ruth arbeitet, könnte ich euch bei eurer Höhle helfen.«

Alle fanden, das sei eine hervorragende Idee.

»Wo ist LouLou?«, fragte Nell am Abend, als sie am Bootsanleger unten am Wasser standen. Sie meinte das Ruderboot, das nach ihrer Mutter benannt worden war.

Eigentlich hieß ihre Mutter Louise. Nell hatte nie gehört, dass jemand »LouLou« zu ihr sagte, doch ihr Vater hatte das offenbar getan, vor langer Zeit.

»Das war ein bisschen klein für uns vier, deshalb habe ich ein neues gekauft«, erklärte ihr Vater.

Nell betrachtete das orangefarbene Ruderboot, das sanft im leicht muffigen, trüben grünen Wasser schaukelte.

»Was hältst du von dem Namen ›Wombat‹?«, fragte Nells Vater. »Hat Ruth vorgeschlagen.«

»Wombats leben in Australien«, meldete sich Vian ernst zu Wort. »Mein Vater ist Australier.«

Das Erste wusste Nell schon – ihre Vorschullehrerin war ebenfalls Australierin und brachte oft Bücher über dort heimische Tierarten mit, die sie den Kindern vorlas –, doch der zweite Satz war neu für sie.

Nell registrierte die erwartungsvollen Gesichter der anderen um sie herum und schaute schließlich Vian an. »Finde ich gut«, sagte sie.

Vians Lächeln brachte sein Gesicht zum Strahlen, und der Anblick erfüllte Nell mit Wärme.

Zweimal täglich war Hochwasser, die Zeiten verschoben sich jedoch immer leicht. Heute und in den nächsten Tagen war es möglich, den Fluss am späten Nachmittag zu überqueren und kurz nach Sonnenuntergang zurückzukehren, ohne dass man Angst haben musste, auf Grund zu laufen.

Ruth setzte sich vorne ins Boot, um zu zeichnen. Die Kinder hockten hinten, in ihren dicken gelben Schwimmwesten doppelt so breit wie sonst. Nells Vater saß an der Ruderpinne, doch in der Mitte des Flusses fragte Nell, ob sie auch mal lenken dürfe, worauf Vian das natürlich auch wollte. Das Boot wackelte bedenklich, als Geoff mit den Kindern die Plätze tauschte, und als sie zehn Minuten im Kreis gefahren waren, wechselten sie zurück, damit Ruth in Ruhe weiterzeichnen konnte.

Nachdem sie das Boot sicher an den niedrigen Ästen eines Baumes festgemacht hatten, gingen die vier unter den Eichen entlang zu einem Grashang, der an das Feld eines Bauern grenzte.

Nell schaute Ruth nach, die allein weiterzog, eine zusammengeklappte Holzstaffelei unter dem Arm und eine große Tasche über der Schulter. Ihre roten Locken leuchteten in der Nachmittagssonne.

Als Nell später das Interesse am Bau der Höhle verlor, lief sie nach oben, um nach Ruth zu sehen.

»Hallöchen!«, grüßte Ruth mit einem freundlichen Lächeln. Sie stand inmitten goldgelber Ähren und hielt einen Pinsel mit oranger Farbe in der linken Hand. »Weiß Daddy, dass du hier bist?«

»Ja, er hat gesagt, dass ich zu dir gehen darf«, erwiderte Nell, noch atemlos vom Anstieg. »Was malst du da?«

»Das«, erwiderte Ruth und wies mit dem Kopf auf die Aussicht.

Nell schaute sich über die Schulter um. Der klare blaue Himmel über ihr liebkoste die flaumig wirkenden Baumwipfel auf der anderen Seite. Der Fluss selbst war so ruhig, dass sich die Landschaft darin spiegelte, und rechts von ihnen stand ihr Cottage samt Nebengebäude auf der grünen Anhöhe und strahlte weiß in der Sonne.

»Willst du mal gucken?«, fragte Ruth und machte Nell ein Zeichen, um die Staffelei herumzukommen.

Und ob Nell wollte.

Was sie sah, verblüffte sie. Die Leinwand explodierte vor Farben: strahlende Blau- und Grüntöne, lebendiges Gelb und Orange, leuchtendes Rot und Violett. Das Bild war wunderschön, hatte nur nicht viel Ähnlichkeit mit der Realität.

»Gefällt es dir?«, fragte Ruth.

»Ja«, antwortete Nell ehrlich.

»Ich male nicht immer das, was ich sehe«, erklärte Ruth. »Sondern das, was ich fühle.«

Nell dachte darüber nach. Sie schielte zu Vians Mutter hinüber. »Bist du glücklich?«

Ruth lachte, und die Sommersprossen auf ihrer Nase zogen sich zusammen. Ihre blauen Augen tanzten. »Ja, Schätzchen, das bin ich.« Sie lächelte Nell an. »Magst du Kunst?«

Nell nickte ernsthaft. »In der Vorschule male ich auch viel.« Aber ihre Bilder waren nie so bunt und schön wie dieses.

»Wenn du willst, kannst du es mal mit meinen Aquarellfarben versuchen. Hast du Lust darauf?«

Nell wusste nicht, was Aquarellfarben waren, dennoch strahlte sie übers ganze Gesicht.

»Du bist so niedlich«, sagte Ruth mit geschürzten Lippen. »Vielleicht darf ich dich irgendwann mal malen?«

Es klang wie eine Frage, deshalb nickte Nell.

»Schau mal!« Ruth knickte eine goldene Weizenähre ab und hielt sie an Nells Haar. »Ich lag gar nicht so falsch. Siehst du?« Sie nahm eine Locke und zog sie vor Nells Gesicht, damit sie die beiden Farben vergleichen konnte. »Aber deine Augen«, fuhr Ruth mit konzentriert gerunzelter Stirn fort, »deren Farbe ist schwieriger zu beschreiben … Sie sind wie … Sie haben die Farbe von flüssigem Honig. In der Sonne«, fügte sie hinzu, während sie das kleine Mädchen betrachtete. »Wunderwunderschön.«

Nell gefiel die Beschreibung sehr.

Da rief ihr Vater unten am Ufer nach ihr. Die leichte Brise wehte ihm das braune Haar aus der Stirn. Er machte Nell ein Zeichen, dass sie zurückkommen solle. Sie sah, dass er eine rot-schwarz karierte Decke ausgebreitet hatte, auf der bereits Vian lag und alles Mögliche in sich hineinstopfte. Nell warf Ruth ein kurzes Lächeln zu, dann lief sie los, und ihr blondes Haar flatterte im Wind.

»Was ist deine Lieblingsfarbe?«, fragte Vian Nell später, als sie im Etagenbett lagen.

»Grün«, erwiderte sie, wie aus der Pistole geschossen. Das war immer so gewesen, solange sie denken konnte. »Und deine?«

»Rot«, antwortete er. »Aber früher war es blau.«

»Warum ist dein Vater in Australien?«, fragte Nell. Es war ein heftiger Themenwechsel.

Von unten kam lange keine Antwort. »Keine Ahnung«, sagte Vian schließlich.

Nell hörte ein Rascheln, kurz darauf tauchte Vians Gesicht oben an der Leiter auf. »Ich krieg immer Postkarten von ihm«, murmelte er und reichte ihr eine Karte.

Nell setzte sich im schwindenden Licht auf und betrachtete das Bild. Der gelbe Stoff ihrer Vorhänge war so dünn, dass er die Helligkeit draußen kaum ausschloss, selbst zu dieser Uhrzeit konnte man das Bild erkennen.

Es zeigte ein Boot auf weitem blauen Meer.

»Mein Vater ist Fischer«, erklärte Vian und hakte seinen dünnen Arm um das Holzgitter des Bettes.

»Fehlt er dir?«, fragte Nell, denn ihr Vater fehlte ihr immer sehr, wenn sie bei ihrer Mutter in London war. Cornwall war zu weit weg, um am Wochenende hinzufahren; im letzten Jahr hatte sie ihren Vater nur in den Schulferien sehen können.

Vian zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht.«

Nell fand die Antwort seltsam. »Magst du ihn?«

»Weiß nicht«, wiederholte Vian, und Nell stutzte abermals. »Mummy sagt, irgendwann fliegt sie mit mir nach Australien, damit ich ihn kennenlerne.«

»Du kennst ihn gar nicht?« Nell wusste nicht, ob sie richtig verstanden hatte.

Vian schüttelte den Kopf, nahm die Postkarte wieder an sich und zog sich auf seine Matratze nach unten zurück.

»Bist du traurig?«, fragte sie.

»Nein«, antwortete Vian.

Aber da war sich Nell nicht so sicher.

Nach der ersten Woche von Nells einmonatigem Aufenthalt in Cornwall musste Geoff zurück zur Arbeit. Er war Landschaftsgärtner in Glendurgan, einer Parkanlage auf der anderen Flussseite von Helford, die im Besitz des National Trust war. Nell begleitete ihren Vater oft. Das war ihr lieber, als mit dem mürrischen Mädchen aus dem Dorf daheim zu bleiben, das sonst immer auf sie aufgepasst hatte, doch auch wenn Geoff seine Tochter mit kleinen Aufgaben wie Unkrautjäten und dem Ausbrechen toter Blüten beschäftigte, wurde der Tag für ein Mädchen in ihrem Alter schon recht lang.

Als Ruth vorschlug, Nell könne mit ihr und Vian zu Hause bleiben, dachte Nell lange über das Angebot nach. Schließlich entschied sie sich jedoch, es so zu belassen, wie sie es kannte. Als sie dann aber allein durch den Irrgarten lief, während ihr Vater die Hecken schnitt, stellte sie fest, dass ihr der neue Spielkamerad fehlte.

In der vergangenen Woche hatten die beiden Kinder Höhlen am Ufer und Sandburgen am Strand gebaut. Auf windigen Hügeln hatten sie Drachen steigen lassen und waren steile Dünen hinuntergerannt. Als Vians Eis in den Sand fiel, hatte Nell ihres mit ihm geteilt. Und als sie gebeichtet hatte, dass ihr die Sterne fehlten, die ihr Vater noch nicht nachgekauft hatte, knibbelte Vian die Hälfte der alten über seinem Kopf ab und klebte sie mit Pritt an der Decke über Nell fest.

Als Nell die kleine Strohhütte in der Mitte des Irrgartens erreichte, setzte sie sich auf die Holzbank und dachte an die vergangene Nacht zurück. Wieder einmal hatten Vian und sie sich flüsternd mit Geschichten wachgehalten, hatten sich gegenseitig ihre Sehnsucht nach einem kleinen Hund gestanden. Irgendwann war Nell eingefallen, dass sie ihr Kuscheltier, den Hund Barky, draußen im Garten vergessen hatte. Sie war aufgestanden, um ihn zu holen, und hatte dabei ein Gespräch zwischen ihrem Vater und Ruth im Wohnzimmer belauscht. Als Nell ihren Namen hörte, war sie stehen geblieben.

»Wie Nell heute geguckt hat, das war köstlich!«, hatte Ruth gesagt, und Nell hatte sich vorgestellt, dass Vians Mutter dabei lächelte. »Wie sie leise gelacht hat, als sie hinter Vian die Düne runtergelaufen ist … Sie ist hinreißend, Geoff. Ich hab sie jetzt schon unglaublich lieb.«

Nell war ganz warm ums Herz geworden, und ihr Vater hatte mit einem leisen »Aah« geantwortet.

Als sie ein Geräusch hörte, schnellte ihr Kopf herum, und sie sah Vian aus dem Schlafzimmer kommen. Nell legte den Finger auf die Lippen und zeigte auf die oberste Treppenstufe. Die beiden setzten sich hin und lauschten.

»Als ich erfuhr, dass ich mit Vian schwanger war, dachte ich, mein Leben sei vorbei«, sagte Ruth, und Vians Grinsen erstarrte in seinem Gesicht. Die unvorhergesehene Wendung des Gesprächs machte Nell frösteln. Sie hakte ihren kleinen Finger um den von Vian.

»Ich musste nach Hause zurück und bei meiner Mutter wohnen, und ich hatte solche Angst. Aber wenn ich damals gewusst hätte, wie es mir fünf Jahre später geht«, fuhr Ruth fort, »hätte ich mir keine Sorgen gemacht. Ich liebe dich, Geoff. Vian liebt dich auch, und wir sind hier so glücklich mit dir und Nell. Danke für alles, was du für uns tust.«

»Nein, ich danke dir, mein Schatz«, hatte Nell ihren Vater antworten hören. Seine Stimme klang rauer als sonst. »Du hat wieder Licht in mein Leben gebracht. Ich bin unglaublich glücklich darüber, dass ihr alle bei mir seid.«

Nell hatte erleichtert geseufzt und dann Vian angesehen. Er hatte ihr Lächeln erwidert, und Nell kam zu dem Schluss, dass Barky draußen auch eine Nacht alleine überstehen würde. Dann waren die beiden zurück ins Bett gekrochen.

Als Nell nun allein mitten im Irrgarten saß, kam ihr eine Idee. Sie sprang auf und suchte ihren Vater.

»Daddy?« Sie zupfte an seinem grünen Hemd und blickte hoffnungsvoll zu ihm auf.

»Ist gleich Zeit für Tee und Kekse«, versprach er, weil er annahm, seine Tochter sei deshalb zu ihm gekommen.

Nell schüttelte den Kopf. »Vian und ich haben uns unterhalten.«

»Aha?«

»Können wir einen Hund haben, Daddy?«, fragte sie. Die buschigen Augenbrauen ihres Vaters zogen sich zusammen. Bevor er nein sagen konnte, redete Nell schnell weiter. »Bitte, Daddy! Wir würden ihn so lieb haben! Wir würden mit ihm spazieren gehen und ihn füttern und die ganze Zeit mit ihm spielen. Vian und ich wünschen uns so sehr einen Hund. Wir versprechen auch, dass wir uns immer um ihn kümmern!«

Nell hatte ihren Vater schon öfter nach einem Hund gefragt, aber er hatte immer abgewiegelt – er arbeite zu viel, und Nell sei nur selten in Cornwall. Doch jetzt schien er zum ersten Mal ernsthaft darüber nachzudenken.

Am Wochenende dann knickte Geoff unter dem vereinten Druck der Kinder ein, und nachdem das Cottage hundesicher gemacht worden war, fuhr er mit Ruth und zwei unglaublich aufgeregten Kindern in ein mehrere Meilen entferntes Dorf, wo die örtlichen Pubbesitzer einen Wurf Mischlinge hatten, die gerade abgegeben werden konnten. Das kleine schwarz-weiße Fellknäuel, das sie sich aussuchten, nannten sie Scampi als Erinnerung an den Pub, aus dem das Hündchen kam.

Es war der tollste Sommer in Nells Leben, und als der August sich dem Ende zuneigte, wollte sie um nichts in der Welt zurück nach London. Sie weinte, als Vian, der in die kleine Schule oben im Dorf gehen würde, seine neue Uniform anprobierte. Sie heulte und bettelte, damit sie in Cornwall bleiben und mit ihm in eine Klasse gehen durfte. Auf keinen Fall wollte sie an ihre strenge Privatschule in London zurück.

Aber ach, es sollte nicht sein. Zumindest nicht in jenem Sommer, sondern erst zwei Jahre später, als es Louise in den Sinn kam, einem Mann an die französische Riviera zu folgen. Da bekam Nell ihren Willen, und als sie dieses Mal die lange Fahrt nach Cornwall antrat, sollte es für immer sein.

Zehn

»Nell!«, rief Vian, als er durch die Haustür hereinplatzte. »Wo bist du?«

»Hier.« Sie saß am Küchentisch. Obwohl sie erst vor einer halben Stunde von der Schule heimgekommen war, begann sie schon mit ihren Hausaufgaben, die sie über das verlängerte Wochenende aufbekommen hatten.

Vian hatte wie immer keine Lust zum Lernen.

Er konnte sich kaum zusammenreißen, fuchtelte wild mit den Armen und rief: »Im Fluss ist ein Entenküken! Es hat seine Mutter verloren! Schnell!«

Sofort sprang Nell auf und lief ihm nach.

Schon oft hatten die beiden darüber gesprochen, wie viel Spaß es machen würde, ein Küken großzuziehen, doch bisher hatte keins das zweifelhafte Vergnügen genossen, sich ihnen zur Verfügung stellen zu müssen.

Scampi ließ sich von der Aufregung der Kinder, die den Hang hinunter ans Ufer rasten, anstecken, doch Nell konnte das Piepsen des Kükens trotz des lauten Hundegebells hören. Zwischen den Zweigen der Trauerweide erhaschte sie einen Blick auf das gelbbraune Federkleid.

»Bring Scampi ins Haus und hol die Rettungswesten!«, befahl Vian. »Ich mache das Boot fertig.«

»Aber deine Mum hat gesagt, dass sie nicht gestört werden will«, warf Nell ein.

Nells Vater war noch auf der Arbeit, und Ruth malte in ihrem Atelier – das kleine Nebengebäude, fünf Meter vom Cottage entfernt. In früheren Zeiten war darin eine komplette Familie untergekommen, doch schon in Geoffs Kindheit hatte man es renoviert und zu einem Spielzimmer umgebaut.

»Wir stören sie ja gar nicht«, erwiderte Vian mit durchtriebenem Grinsen. »Los, beeil dich, bevor das Küken weg ist.«

Aus der Fließrichtung der Wellen schloss Nell, dass gerade Ebbe war, und sie wusste, dass das Wasser erstaunlich schnell ablief. Sie war noch nie auf Grund gelaufen, aber es gab immer ein erstes Mal, deshalb war sie so klug, zwei Paar Gummistiefel und das Netz für die Fahrt im Boot mitzubringen, das sie immer zum Krabbenfischen benutzten.

Auch wenn Nell Angst hatte, später eine Standpauke zu bekommen, weil sie allein mit dem Boot rausgefahren waren, war ihr Verantwortungsgefühl stärker. Sie hatte schon gesehen, wie verirrte Küken von großen Reihern aus dem Fluss gefischt wurden, deshalb war ihr bewusst, dass sie keine Zeit zu verlieren hatten. Mit dem Netz in der Hand saß Nell im Heck und drehte sich so, dass sie aufs Wasser schaute. Angestrengt lauschend, vernahm sie bald das Piepsen des Vogeljungen.

»Da!« Sie zeigte hinüber. Das Küken verschwand immer wieder zwischen den Zweigen, die übers Wasser strichen. Es bewegte sich in Richtung der Brücke. Dahinter würde es in einen Zufluss gelangen, der mit dem Boot nicht befahrbar war.

Mit frischer Entschlossenheit ruderte Vian weiter. Nell reckte sich über Bord, wollte ihre Beute fischen wie beim Entenangeln auf der Kirmes, doch das Küken paddelte erstaunlich schnell davon. Vian setzte ihm nach, und abermals blieb Nells Netz leer. Ein Auto fuhr über die Brücke. Nell schaute hoch und erkannte gerade noch das blasse Gesicht eines braunhaarigen Jungen, der zu ihnen hinunterschaute. Als sie den Blick wieder auf den Fluss richtete, war das Entlein verschwunden.

»O nein!«, rief Vian.

Nell hörte die Panik in seiner Stimme. Er hatte Angst vor den Sandbänken in der Mitte des Flusses, die glitschigen Walrücken glichen.

»Wir drehen besser um«, sagte er kleinlaut.

»Auf gar keinen Fall!«, entgegnete Nell. Sie hatte Nerven wie Drahtseile. »Notfalls steigen wir aus und waten da durch!« Sie schaute über das Wasser. »Wo bist du, kleines Küken?«, rief sie. »Wir wollen dich doch retten!«

»Da!«, meldete Vian und wies zur Brücke hinüber. Schnell ruderte er hin und verzog das Gesicht, als das Ruderblatt auf das Flussbett traf. In dem Bewusstsein, dass es ihre letzte Chance war, hielt sich Nell am Rand fest und beugte sich so weit wie möglich vor. Als es einen Ruck gab, fiel sie fast über Bord. Das Boot war auf Grund gelaufen und würde jetzt erst mal gute sechs Stunden bis zur Flut dort liegen bleiben, doch das störte die Kinder nicht, denn im Netz war das Entenküken. Nell und Vian waren überglücklich.

Als sie nach Hause kamen, stand Ruth mit einem Pärchen und einem Kind vor dem Cottage.

Ruth verkaufte nicht nur Bilder, sondern arbeitete auch als Verwalterin für den Besitzer mehrerer Ferienhäuser oben im Dorf. Wahrscheinlich war die Familie da, um die Schlüssel abzuholen.

»Was ist denn mit euch passiert?«, rief Ruth beim Anblick von Nell und Vian.

Sie hatten ihre Gummistiefel am Fluss gelassen und waren barfuß nach Hause gegangen. Ihre Beine waren bis zu den Knien mit dickem Schlamm überzogen.

Strahlend präsentierte Nell das Küken, doch schnell war sie ernüchtert, als sie Ruths entsetztes Gesicht sah.

»O nein!«, rief Ruth. »Bringt es zurück!«

»Das geht nicht, Mum«, mischte Vian sich ein. »Dann stirbt es.«

»Seine Mutter ist bestimmt irgendwo am Fluss und sucht es«, sagte Ruth.

»Nein, da war keine Ente«, beharrte Vian. »Es war ganz allein. Wir mussten es retten.«

Ruth seufzte, und als sie weitersprach, klang sie resigniert. »Kate, Simon: Das sind Nell und Vian.«

Nell lächelte die Erwachsenen an. Das Kleid der Frau gefiel ihr – es war hellblau und umspielte ihre Knöchel.

»Und das ist Edward«, stellte Kate ihren Sohn vor und schob ihn den Kindern entgegen.

Er war ungefähr so groß wie Nell, hatte hellbraune Haare und ein offenes, freundliches Gesicht. Seine Augen waren groß und dunkel. Sie erinnerten Nell an Bastian aus Die unendliche Geschichte. Den Film hatte sie einen Monat zuvor im Kino gesehen. Ihr hatte der Film sehr gefallen.

»Warum seid ihr so dreckig?«, fragte Ruth entnervt.

Nell sah zu Boden.

»Wir sind bei Ebbe auf Grund gelaufen«, murmelte Vian.

»Ihr seid mit dem Boot rausgefahren? Allein? Wo ist es jetzt?« Bei jeder Frage wurde Ruths Stimme höher.

Vian wies auf das Rinnsal unten. »Wir haben es an einem Ast festgebunden, damit es nicht aufs Meer rausgezogen wird.«

»Du liebe Güte!«, sagte Ruth kopfschüttelnd. Dann wandte sie sich Kate und Simon zu. »Entschuldigen Sie bitte.«

»Kein Problem«, erwiderte Kate lächelnd. »Wir sind Ihnen dankbar, dass wir einen Tag früher kommen durften.« Normalerweise war samstags Bettenwechsel. »Wir können ja noch ein bisschen herumfahren und dann wiederkommen.«

»Sie können auch erst mal einen Tee trinken. Wie wäre das?«, schlug Ruth vor. »Die Putzfrauen sind gründlich und schnell. In einer halben Stunde können Sie bestimmt rein.«

»Eine Tasse Tee wäre herrlich«, sagte Kate. »Wir haben eine lange Fahrt hinter uns. Aber keine Eile. Machen Sie ganz in Ruhe.«

Alle schauten auf das Küken in Nells Händen. Die Augen des Entleins öffneten und schlossen sich schläfrig. Es war erstaunlich ruhig.

»Ich würde sagen, ihr setzt es erst mal in die Badewanne«, sagte Ruth. »Ich lasse schon mal das Wasser ein. Ihr zwei geht zum Wasserhahn im Garten und macht euch sauber. So dreckig kommt ihr mir nicht ins Haus.«

Die Erwachsenen gingen hinein, die drei Kinder liefen ums Cottage herum nach hinten.

»Ich kann es so lange halten«, bot Edward Nell an, als sie am Gartenschlauch standen.

»Nein, ich halte es«, bestimmte Vian. »Moment.« Er fing an, sich mit dem eiskalten Wasser zu waschen. Zu seiner Verärgerung blieb Edward stehen.

»Ist das winzig!«, sagte er, als Nell die Hände öffnete, um ihm das daunige Wesen zu zeigen. Das Küken reckte den Hals und versuchte, aufzustehen. Es piepste mehrmals schrill.

»Es ist wahrscheinlich erst ein paar Tage alt«, erklärte Nell und schloss die Hände wieder, so dass sich das Küken klein machen musste. Ihr gefiel es, wie sich die feuchten Schwimmflossen auf ihren Handflächen anfühlten.

Sie konnte immer noch nicht glauben, was für ein Glück sie gehabt hatten.

»Wie weit ist es von hier bis zum Strand?«, fragte Edward.

»Es gibt ganz viele Strände«, antwortete Nell. »An einem, der ganz in der Nähe ist, lernen wir gerade surfen, nicht, Vian?«

Er brummte nur.

»Ich würde auch gerne surfen«, sagte Edward.

»Dann komm doch mit!«, schlug Nell sofort vor.

»Geht das?«, fragte Edward. Vian warf Nell einen strafenden Blick zu.

»Ja, klar! Du musst nur deine Eltern fragen.« Sie ignorierte Vian. Nell freundete sich schnell mit anderen Kindern an, Vian gewöhnte sich erst mit der Zeit an sie. Am Anfang sträubte er sich immer gegen Neues.

»Gut, mach ich«, sagte Edward.

»Wie alt bist du?«, fragte Nell aus Höflichkeit, während sie darauf wartete, dass der Schlauch frei wurde. Vian schien Ewigkeiten zu brauchen und nicht voranzukommen. Der Flussschlamm klebte wie Kleister.

»Zehn, aber fast elf. Und du?«

»Auch zehn«, erwiderte Nell. Sie wies auf Vian. »Vian auch. Er hat zwei Tage vor mir Geburtstag.«

Edward war verwirrt. »Seid ihr Zwillinge?«

»Wie sollen wir wohl Zwillinge sein, wenn wir nicht am selben Tag geboren wurden?«, fragte Vian mürrisch.

»Wir sind keine richtigen Geschwister«, erklärte Nell, unbeirrt von Vians Laune. »Mein Vater ist mit seiner Mutter zusammen, aber meine richtige Mutter lebt in Frankreich und Vians richtiger Vater in Australien. Wo wohnst du?«

»In London«, antwortete Edward.

»Ich auch!«, rief Nell. »Ich meine, da habe ich gewohnt, bis meine Mutter weggezogen ist. In den Sommerferien fahre ich zu ihr nach Frankreich.«

Die Erinnerung daran schien Vian merklich zuzusetzen. Er tat Nell leid. Im letzten Jahr war sie selbst unglaublich einsam gewesen, als Ruth mit Vian nach Australien geflogen war. Er war zum zweiten Mal dort gewesen – beim ersten Mal, mit sieben Jahren, hatte er seinen Vater kennengelernt. Nell wusste, dass Vian ihr fehlen würde, wenn sie in Frankreich war, aber für denjenigen, der zurückblieb, war es immer schwerer.

»Das reicht«, sagte Vian, wischte die nassen Hände an seinem roten T-Shirt ab und streckte sie Nell entgegen. Vorsichtig bugsierte sie das Entenküken in seine kalten Hände und ging zum Wasserhahn. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Vian wegging.

»He, warte!«, rief sie ihm entgeistert nach, während er aus ihrem Blickfeld verschwand. Wollte er das Entlein etwa ohne sie in die Badewanne setzen? »Der nervt mich so!«, brach es aus ihr heraus.

Edward trat verlegen gegen die Steinplatten.

»Sei froh, dass du keinen Bruder hast!«, fauchte Nell verärgert und schrubbte energisch den hartnäckigen Schlamm von ihren Beinen.

»Ich hatte mal einen Bruder«, bemerkte Edward beiläufig. »Aber der ist gestorben.«

Nell war entsetzt. »Was ist denn passiert?«

»Er wurde krank. Da war ich noch ein Baby, deshalb kann ich mich nicht daran erinnern. Er war zwei Jahre älter als ich.«

Nell wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie war voller Mitgefühl.

»Meine Mutter bekommt noch ein Kind«, verriet Edward. »Wir wissen aber noch nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Dann bin ich ein sehr großer Bruder«, sagte Edward stolz und verschränkte die Arme vor der Brust. »Kleine Babys weinen viel, aber ich helfe ihr trotzdem.«

Nell lächelte Edward an. Sie merkte, dass er nett war. Sie mochte ihn.

»Möchtest du was trinken, Edward?«, rief Ruth aus der Küche, als sie ins Haus kamen.

»Nein, danke«, erwiderte Edward und zog im Flur die Turnschuhe aus.

Das Badezimmer war direkt geradeaus. Nell schaute hinein und sah, wie das Küken zufrieden in der Badewanne schwamm. Vian ließ die Hand über den Rand baumeln. Seine Fingernägel waren immer noch schwarz vor Dreck.

»Warum hast du nicht gewartet?«, zischte Nell ihm zu.

Vian tat, als habe er sie nicht gehört. Verärgert schnaubend folgte sie Edward in die Küche.

Die Erwachsenen saßen am Tisch. Das Kleid von Edwards Mutter spannte sich straff über ihren Bauch, so dass Nell die Schwangerschaft sehen konnte. Im Garten hatte man nichts davon gemerkt.

»Wann ist es so weit?«, fragte Ruth.

»Ende August«, erwiderte Kate. »Wird schon seltsam sein, nach so langer Zeit wieder Windeln zu wechseln und nicht durchschlafen zu können.«

»Das glaube ich«, sagte Ruth.

»Mum und Dad, kann ich surfen lernen?«, unterbrach Edward die Erwachsenen. »Nell und Vian bekommen Unterricht.«

»Ja, am Poldhu Beach«, ergänzte Ruth. »Das sind von hier zehn, fünfzehn Minuten mit dem Auto. Morgen früh geht’s los.«

»Darf ich?« Edward sah seine Eltern hoffnungsvoll an. Sie waren noch unentschlossen.

Simon fragte Ruth: »Muss man sich da vorher anmelden?«

»Ich denke, Sie können einfach hinfahren«, antwortete Ruth. »Aber ich suche Ihnen die Nummer heraus, dann sind Sie auf der sicheren Seite.«

Kate zog ihren Sohn auf den Schoß. »Ich hab dir doch gesagt, dass du hier Freunde findest«, sagte sie aufmunternd.

Edward wurde rot, stand schnell auf und warf Nell ein schüchternes Lächeln zu.

»Warum musstest du den unbedingt zum Surfen einladen?«, murrte Vian in der Nacht. Sie lagen in ihrem Etagenbett, Nell war bereits halb eingeschlafen. Jetzt war sie wieder wach.

»Er ist doch nett«, entgegnete sie müde. »Ich finde, er sieht aus wie der Junge aus der Unendlichen Geschichte.«

Nach längerem Schweigen brummte Vian: »Du hast immer gesagt, ich würde wie der Junge aussehen.«

»Du erinnerst mich an Atréju, auch wenn du jetzt kurze Haare hast.« Im Film reichten die Haare Atréju fast bis auf die Schultern.

Nell beugte sich über das Gitter des oberen Betts – sie hatten nie wieder getauscht. »Edward sieht eher aus wie Bastian«, sagte sie.

Vian schmollte noch immer, doch Nell wusste, dass er mit dem Vergleich zufrieden war. Atréju war ein mutiger Held, ein reitender, monsterjagender Retter des Universums. Bastian las die spannende Geschichte nur in einem Buch, auch wenn er am Ende auf dem Glücksdrachen saß.

»Er tut mir leid«, sagte Nell. »Er hat niemanden. Sein Bruder ist tot«, fügte sie ernst hinzu.

Vian verstummte.

»Da war er selbst noch ganz klein, aber es ist trotzdem furchtbar, nicht?«

Vian nickte. Er schaute zu Nell hoch, und seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Was ist?«, flüsterte sie.

»Ich will nicht, dass du im Sommer nach Frankreich fährst«, brach es mit erstickter Stimme aus ihm hervor.

Nell warf ihre Bettdecke zurück und kletterte die Leiter hinunter. Scampi lag neben Vian auf dem Boden, seine Rute klopfte schwach, als Nell über seinen flauschigen Körper hinweg in Vians Bett stieg. Vian rückte zur Seite, Nell legte einen Arm um seine Schultern. Vian tat dasselbe, und die beiden hielten sich fest.

»Es wäre schön, wenn du mitkommen könntest«, flüsterte Nell. »Das wird total langweilig.«

»Immerhin hat deine Mutter einen Swimmingpool.«

»Ja, das ist super«, gab Nell zu. »Aber lieber würde ich mit dir im Meer schwimmen.«

»Auch wenn es eiskalt ist?«

»Ja, trotzdem.«

Meistens trugen sie Neoprenanzüge, aber die waren so mühsam anzuziehen, dass sie sich manchmal auch ohne ins Wasser wagten.

»Hoffentlich geht’s dem Entlein gut«, bemerkte Vian.

»Hoffe ich auch«, erwiderte Nell. »Unglaublich, dass wir es retten konnten!«, freute sie sich.

Im Moment saß das Küken in einem Karton in der Küche, zu Scampis großem Verdruss hinter verschlossener Tür, doch am nächsten Tag wollten die Kinder ihr altes muschelförmiges Planschbecken mit Wasser füllen und dem Entchen dort ein Zuhause schaffen.

Nells Vater war überraschend verständnisvoll und sogar hilfsbereit gewesen, als er nach Hause kam und erfuhr, was passiert war. Er hatte nicht nur dafür gesorgt, dass Steven und Linzie, die Bauern weiter oben an der Straße, ihnen Hühnerfutter liehen, sondern hatte auch Ruth überzeugt, dass die Kinder alt und umsichtig genug seien, um allein mit dem Boot rauszufahren, solange sie vorher einem Erwachsenen Bescheid sagten und auf die Tide achteten.

»Was hältst du davon, wenn wir ihn Webster nennen?«, fragte Vian.

Nell runzelte die Stirn. Ihn? Sie war überzeugt, dass das Küken weiblich war, und Webster klang sehr nach einem Jungennamen.

Doch letztendlich wollte sie nur, dass Vian glücklich war, und wenn das Küken dafür männlich sein musste, dann sollte es halt so sein. »Ja, finde ich gut«, sagte sie. »Also heißt es Webster.«

Vian grinste.

Sie waren so ins Gespräch vertieft, dass sie die Schritte auf der Treppe nicht hörten. Plötzlich öffnete sich knarrend die Tür. Die beiden sahen sich erschrocken an, Vian zog die Bettdecke über ihre Köpfe.

Sie hörten zwei schwere Schritte, dann wurde die Decke zurückgerissen. »Ab in dein Bett!«, brüllte Geoff so laut, dass sogar Scampi Reißaus nahm.

Nell floh aus Vians Bett und kletterte flugs die Leiter hoch in ihr eigenes, bevor sie ihrem Vater in die Augen sah.

»Entschuldigung, Daddy«, flüsterte sie. Er war sehr böse.

»Entschuldigung«, echote Vian von unten.

»Schluss jetzt! Es wird geschlafen!«, befahl Geoff und verschwand.

Später in der Nacht wurde Nell ein zweites Mal aus dem Schlaf gerissen. Sie legte das Ohr an die Wand. Ihr Vater und Ruth unterhielten sich mit erhobenen Stimmen im Wohnzimmer.

»Sie streiten«, murmelte Vian im unteren Bett. Er spürte wohl, dass Nell aufgewacht war.

»Worüber?«, fragte sie bang.

Vian schlüpfte aus dem Bett.

»Vian!«, zischte Nell. »Lass das!« Aber er war schon an der Tür und zog sie auf.

Nell kletterte die Leiter hinunter und schlich auf Zehenspitzen zu Vian.

»Ich will nicht umziehen«, hörten sie Ruth sagen.

»Glaubst du, ich vielleicht?«, gab Geoff zurück. »Ich bin in diesem Haus groß geworden! Aber jeder braucht ein eigenes Zimmer – und ein eigenes Bett.«

»Sie sind doch erst zehn! Bei dir hört es sich an, als würden sie was Verbotenes tun.«

»Ich weiß, dass sich niemand was dabei denkt, aber sie werden so schnell groß. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie …«

»Hör auf!«, unterbrach Ruth Nells Vater. Sie klang empört.

Vian und Nell tauschten verwirrte Blicke.

»Wir müssen uns Gedanken darüber machen«, sagte Geoff erschöpft. »Vielleicht können wir das Atelier umbauen«, schlug er vor.

»Und wo arbeite ich dann?«, fragte Ruth. »Und wer von den beiden soll da schlafen?«

»Vian hätte vielleicht nichts gegen ein eigenes Zimmer.«

Vian zuckte zusammen. Nell spürte einen stechenden Schmerz. Ohne nachzudenken, drängte sie sich an ihm vorbei und lief die Treppe hinunter.

»Ihr könnt ihn nicht zwingen, draußen zu schlafen!«, rief sie auf halber Höhe.

Schockiert sahen Ruth und Geoff zu ihr hoch. Dann sackten die Schultern von Nells Vater nach vorn. »Wir überlegen nur, Nelly. Erwachsene besprechen solche Sachen.«

»Ist mir egal!«, schrie sie. »Ihr könnt ihn nicht zwingen! Wenn einer da schlafen muss, dann ich, nicht Vian!« Sie stampfte mit dem Fuß auf.

Ein blasser Vian kam hinter ihr die Treppe hinunter. »Nein, ihr könnt sie nicht zwingen! Warum dürfen wir uns nicht das Zimmer teilen? Wir wollen in einem Zimmer schlafen!«

»Ihr werdet größer. In eurem Alter sollte jeder ein eigenes Zimmer haben«, sagte Geoff überzeugt.

»Warum?«, fragte Vian.

»Es ist einfach …« Verlegen trat Ruth von einem Bein aufs andere. »Es ist nicht richtig, Kinder. Jungen und Mädchen sollen nicht in einem Zimmer schlafen.«

Vian und Nell waren verblüfft. Warum das denn nicht?

»Ihr schlaft doch auch zusammen«, fiel Vian ein.

»Das ist was anderes«, entgegnete Ruth verdrießlich. »Wir sind erwachsen und wir sind … Gut, wir sind nicht verheiratet«, räumte sie ein, »aber so gut wie.«

»Nell und ich heiraten später auch«, verkündete Vian.

Nell nickte. Darauf hatten sie sich mit sechs Jahren geeinigt. Es stand fest.

Ruth warf Geoff einen Seitenblick zu.

»Ihr seid viel zu jung, um so was zu sagen«, fuhr er die Kinder an und unterband jeden weiteren Widerspruch. »Es steht doch noch nichts fest. Wir haben uns nur darüber unterhalten, ob es möglich wäre, in ein größeres Haus umzuziehen. Man belauscht nicht die Gespräche anderer Leute! Ihr müsstet eigentlich tief und fest schlafen. Ab ins Bett!«

»Ich will nicht umziehen!«, rief Nell.

»Vielleicht ziehen ja Ruth und ich ins Atelier«, sagte Geoff, um seine Tochter zu beruhigen. »Bloß brauchen wir uns darüber jetzt keine Gedanken zu machen. Aber«, seine Stimme wurde deutlich lauter, »wenn ihr beide jetzt nicht auf der Stelle ins Bett geht und nicht aufhört, zum anderen ins Bett zu klettern und ihn wachzuhalten, dann werdet ihr getrennt, und zwar schneller, als euch lieb ist!«

Die Drohung half. Nell und Vian rasten wie der Blitz nach oben, und für den Rest der Nacht hörte man keinen Mucks mehr von ihnen.

Am nächsten Morgen war die Stimmung im Cottage leicht angespannt, doch niemand kam auf das Thema vom Vorabend zu sprechen. Selbst die kleine Ente konnte Nells Unbehagen nicht vertreiben.

Direkt nach dem Frühstück packten sie für den Strand. Obwohl Nell Edward ermutigt hatte, mit ihnen in die Surfschule zu gehen, hoffte sie nun, er würde es nicht tun. Sie wollte nicht, dass Vian wieder schlechte Laune bekam.

Doch als sie den Strand erreichten, stand Edward bereits mit seinen Eltern in der Schlange, um sich anzumelden. Er schaute sich über die Schulter um, und sein Gesicht begann zu strahlen. Nell griff nach Vians Hand und drückte sie, doch er entwand sie ihr. Sie warf Edward nur ein verhaltenes Lächeln zu.

»Alles in Ordnung?«, fragte er später, als sie sich in die Neoprenanzüge kämpften. Edwards geliehene Ausrüstung war noch nass und sandig vom letzten Benutzer. Sie sah aus, als sei sie besonders schwer anzuziehen. Nell und Vian hatten ihre eigenen Anzüge mitgebracht.

»Doch«, antwortete Nell und stieß versehentlich mit dem Ellenbogen einen fremden Mann an. Der Kurs bestand aus ungefähr einem Dutzend Teilnehmern aller Altersklassen. »Und bei dir?«

»Hab ein bisschen Angst«, gab Edward zu. »Du nicht?«

»Eigentlich nicht.« Nell war völlig ruhig. In den letzten zwei Wochen war sie aufgeregt gewesen, aber Angst hatte sie nicht. Vian und sie wollten schon seit Ewigkeiten surfen lernen.

Jeweils zu zweit trugen sie ihre Bretter an den Strand – eins unter jeden Arm – und stellten sich im Halbkreis um den Lehrer auf. Vian rückte ganz nach außen neben Nell und ignorierte Edward auf ihrer anderen Seite.

Nell konnte es nicht leiden, wenn Vian so abweisend war – nicht nur zu Edward, sondern auch zu ihr. Er war immer so besitzergreifend. In der Schule war er anders. Dort hatte jeder seine eigenen Freunde, sie waren selten in der Pause zusammen. Doch die Ferien gehörten ihnen, und Vian stellte klar, dass Edward ein Eindringling war.

Nell war in der Zwickmühle. Sie versuchte, sich auf den Unterricht zu konzentrieren, was deutlich einfacher wurde, als sie erst mal im Wasser waren und jeder mit sich selbst beschäftigt war. Als Vian schon beim zweiten Versuch auf dem Brett stand und mit der Welle fast bis ans Ufer surfte, jubelte sie, so laut sie konnte. Vian sah sich über die Schulter um und reckte ihr den gestreckten Daumen entgegen. Dass Edward immer wieder ins Wasser fiel, hob seine Laune beträchtlich.

Am Nachmittag regnete es in Strömen. Ruth lud die Kinder ein, mit ihr im Atelier zu malen. Nell schrieb lieber Geschichten als zu zeichnen, aber sie beschäftigte sich gerne mit Ruths Aquarellfarben und mochte den Geruch im Atelier, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dort zu schlafen. Der Raum hatte vier große Fenster, die alle auf den Fluss gingen. Abgesehen davon herrschte dort das reinste Durcheinander: Überall auf den Holzbodendielen waren Farbkleckse, an den Wänden lehnten Leinwände in allen Größen.

Nell traute sich nicht, Ruths teure Öl- und Acrylfarben zu benutzen, doch Vian tat es gerne. Er hatte Ruths künstlerisches Talent geerbt. Seine Werke waren bereits in einer Galerie in Truro ausgestellt worden, nachdem er an einem Malwettbewerb für Kinder teilgenommen hatte. Der Galerist war von seinen abstrakten Segelbooten beeindruckt gewesen, doch Nell bewunderte am meisten seine Zeichnungen von Elfen und Kobolden.

Einige Jahre zuvor war Ruth mit ihnen zu einer Vorlesestunde in der Bibliothek gegangen, in der die verschiedenen Feenarten vorgestellt wurden. Das hatte Nell auf die Idee gebracht, sich Geschichten über die in Cornwall beheimateten Pixies auszudenken – beziehungsweise Piskies, wie sie hier genannt wurden. Und so war sie auf Schummel und Bummel gekommen, zwei freche Kobolde, die am Helford River lebten und ständig von den bösen Spriggens bedroht wurden.

Auf Nells Bitte hin hatte Vian die Wesen aus ihren Geschichten zum Leben erweckt. Er hatte kleine Szenen auf Kieselsteine gemalt, die sie am Strand gefunden hatten. Auf der Fensterbank ihres Zimmers hatte Nell ganz viele Steine aneinander gereiht. Sie gehörten zu ihren kostbarsten Besitztümern.