Wer, wenn nicht du? - Paige Toon - E-Book
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Wer, wenn nicht du? E-Book

Paige Toon

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Beschreibung

Was tust du, wenn dein Herz nicht weiter weiß? Dieser Tag ist für Amber der reinste Horror: Erst hat sie sich wieder einmal mit ihrem Ehemann Ned gestritten, dann verliert sie ihren Job. Und jetzt der Anruf: Ihr Vater in Australien hatte einen Schlaganfall. Amber fliegt sofort von London nach Hause. Durch Zufall trifft sie dort Ethan wieder, ihre erste große heimliche Liebe. Amber merkt, dass sie den gutaussehenden Mann mit den strahlend grünen Augen nie wirklich vergessen hat. Ethan geht es ähnlich. Und was jetzt? Der perfekte Sommerroman von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Paige Toon

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Seitenzahl: 506

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Paige Toon

Wer, wenn nicht du?

Roman

Aus dem Englischen von Tanja Hamer

FISCHER E-Books

Inhalt

Für meinen Bruder Kerrin, [...]PrologDie Geschichte von Amber Church, dem Mädchen mit der Sonne in den AugenKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16In der ZwischenzeitDoris griff nach einem [...]Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Epilog Elf Monate späterDanksagung

Für meinen Bruder Kerrin, meine Schwägerin Miranda und meinen wundervollen kleinen Neffen Ripley.

Ich habe euch alle unglaublich lieb.

Prolog

In letzter Zeit ging Doris das kleine Mädchen einfach nicht mehr aus dem Kopf. Natürlich hatte sie nach dem Unfall oft an sie gedacht, doch das war sechsundzwanzig Jahre her, und nun war Doris über neunzig und hatte Jahrzehnte von anderen Erinnerungen, auf die sie zurückgreifen konnte.

»Bitte … Sie müssen es ihr sagen …«, hatte die Frau sie mit ihren letzten Atemzügen angefleht. Beim Gedanken daran zuckte Doris unwillkürlich zusammen, der Schmerz fühlte sich noch genauso frisch an wie vor sechsundzwanzig Jahren.

Doris versuchte, die Bilder aus ihrem Kopf zu verdrängen, doch es half alles nichts. Die Frau ließ sich nicht zum Schweigen bringen, jetzt genauso wenig wie damals. Selbst Schlaf brachte Doris keinen Frieden, und dabei war sie doch so furchtbar müde in letzter Zeit.

Doris hatte die Hand der Frau genommen, ohne zu wissen, wie sie ihr erklären sollte, dass ihre Tochter auf dem Rücksitz bewusstlos war. Doch einen Moment später war die Frau gestorben, ihre letzten Worte hallten in Doris’ Ohren wider.

Da bewegte sich das kleine Mädchen. Es hielt ein Plüschtier fest im Arm, und Doris’ gequältes Herz brach erneut, als sich die kobaltblauen Augen des Kindes öffneten und in dasselbe grelle Sonnenlicht blinzelten, das vermutlich seine Mutter dazu gebracht hatte, von der Straße abzukommen.

Wenn Doris nur wüsste, was aus dem Mädchen geworden war, vielleicht könnte sie dann loslassen und endlich ohne Albträume schlafen. Sie hatte dem Polizisten mitgeteilt, was die Frau vor ihrem Tod gesagt hatte, doch sie hatte sich nicht mehr weiter versichert, dass die Nachricht dem Mädchen auch ausgerichtet worden war. Hätte sie es dem Kind nicht doch selbst sagen sollen, wie sie es versprochen hatte?

In diesem Moment wusste Doris, was sie zu tun hatte. Sie würde einen Brief schreiben und ihren Sohn bitten, ihr dabei zu helfen, das Mädchen zu finden, das natürlich inzwischen eine erwachsene Frau war. Ihr Name war Amber, Doris hatte es nicht vergessen. Amber Church. Es war an der Zeit, dass sie ihr Versprechen einlöste.

Die Geschichte von Amber Church, dem Mädchen mit der Sonne in den Augen

Kapitel 1

Heute war ein richtiger Scheißtag.

Er fing schon mies an, als ich das zweite Mal diese Woche ohne meinen Mann neben mir im Bett aufgewacht war. Ned war mit seinem Boss nach der Arbeit etwas trinken gegangen – mal wieder –, und ich fand ihn völlig ausgeknockt auf dem Sofa, nach Schnaps und kaltem Rauch stinkend. Rauch von ihren Zigaretten, um genau zu sein. Sein Boss ist eine Frau, und sie steht auf ihn. Zumindest vermute ich das.

Mein erster Gedanke war, ihm ein Glas kaltes Wasser über den Kopf zu gießen, mein zweiter, dass ich damit unser braunes Wildledersofa ruinieren würde. Also ließ ich es sein. Da entdeckte ich einen kleinen Fleck von Erbrochenem auf seiner Schulter, stellte jedoch schnell fest, dass er gar nicht so klein war und sich auch nicht auf seine Schulter beschränkte.

»Ned, du Vollidiot!«, schrie ich aus vollem Hals, was ihn hochschrecken ließ, die hellbraunen Augen weit aufgerissen.

»Was ist los?«, krächzte er.

»Du hast aufs Sofa gekotzt! Mach das wieder sauber!«

»Nein! Ich schlafe noch«, maulte er. »Ich habe tierische Kopfschmerzen«, fügte er hinzu und legte den Arm übers Gesicht. »Ich mache es später.«

»Steh auf und mach es jetzt!«, brüllte ich ihn an.

»Nein!«, schrie er genauso laut zurück.

Es war wohl nicht vermessen zu behaupten, dass unsere Flitterwochenphase schon länger vorbei war.

Ich war fuchsteufelswild, als ich mich für die Arbeit fertig machte, was ich dadurch zum Ausdruck brachte, dass ich möglichst viel Lärm machte und dabei unablässig vor mich hin schimpfte, wie egoistisch und erbärmlich mein Ehemann doch war. Ich dachte nicht eine Sekunde lang an das Paar, das seit kurzem unter uns wohnte, weshalb ich ziemlich überrascht war, als ich der Frau in die Arme lief, nachdem ich die Haustür krachend ins Schloss geworfen hatte und die Treppe hinuntergestampft war.

»Vielen Dank auch, dass Sie mein Baby geweckt haben!« Das Gesicht der Frau war vor Wut gerötet. Im Hintergrund schrie ein Baby wie am Spieß. »Der Kleine ist erst vor zwei Stunden eingeschlafen, nachdem er die ganze Nacht wach war. Ich hatte das Glück, eine ganze Stunde Schlaf zu bekommen, ehe der Lärm in Ihrer Wohnung angefangen hat.«

»Es tut mir leid«, entgegnete ich beschämt. »Ich hatte einen Streit mit –«

»Seien Sie einfach in Zukunft etwas rücksichtsvoller, ja?«, unterbrach sie mich müde.

Den ganzen Weg zur U-Bahn plagte mich mein schlechtes Gewissen.

Doch dann fing der Spaß erst richtig an.

Dank erheblicher Verzögerungen auf der Northern Line war der U-Bahnhof vollgestopft mit Berufspendlern, die sich wie Autos im dicksten Stau bis in die Tiefen des Tunnels schoben.

Bis ich bei der Arbeit ankam, war ich erhitzt, genervt und fünfundvierzig Minuten zu spät. Zu allem Überfluss hatte die Hitze in der U-Bahn meine rotbraunen, gewellten Haare strähnig gemacht, so dass ich jetzt auch noch mit einem Bad-Hair-Day klarkommen musste.

Ich eilte reumütig ins Büro, so voller Entschuldigungen, dass ich hätte platzen können, blieb dann aber wie angewurzelt stehen. Ich arbeitete als Aktienhändlerin in einem Start-up-Unternehmen in der City, doch die hektische Geschäftigkeit, die mich normalerweise empfing, war an diesem Morgen seltsam gedämpft. Als mein Chef mich erblickte, schnipste er mit den Fingern und winkte mich zu sich.

»Sie sind zu spät.«

»Es tut mir leid –«

»Machen Sie sich keine Gedanken«, unterbrach er mich. »Jemand aus der Personalabteilung will Sie sehen.«

Er nickte in Richtung seines Büros, wohin ich mich mit sorgenvoller Miene aufmachte. Die meisten meiner Kollegen verhielten sich normal, doch ein paar Plätze waren leer. Ich ertappte meine Schreibtischnachbarin Meredith dabei, wie sie mir einen mitleidigen Blick zuwarf, doch da hatte ich das Büro meines Chefs auch schon erreicht.

Die beiden Leute von der Personalabteilung baten mich, die Tür zu schließen und Platz zu nehmen.

Die Nachricht traf mich völlig unvorbereitet: Sie würden mich auf die Straße setzen. Fünf von uns wurden entlassen, mit sofortiger Wirkung. Genauer gesagt waren vier bereits weg.

Ich würde noch drei Monate lang mein Gehalt bekommen, allerdings ohne die erhebliche Bonuszahlung, die in weniger als zwei Monaten fällig gewesen wäre.

Mir wurde schlecht.

Der Maklerberuf zählt nicht zu den sichersten Jobs der Welt, und eigentlich war es auch gar nicht das, was ich machen wollte. Als ich die Universität mit einer Eins in Mathematik abgeschlossen hatte, entschloss ich mich zunächst dazu, Lehrerin zu werden. Einige meiner Mitstudenten hielten mich damals für verrückt, dass ich keinen besserbezahlten Karriereweg einschlagen wollte, wo mir doch so viele Türen offenstanden. Vergangenen Sommer war ich einem von ihnen begegnet, der mir von seinem tollen Job in einem Start-up-Unternehmen erzählt hatte, das offenbar Millionen scheffelte. Er gab mir seine Visitenkarte und sagte, er könnte mir den Kontakt zu jemandem verschaffen, wenn ich in nächster Zeit vorhätte, meinen Lehrerjob an den Nagel zu hängen. Er hatte mich zur rechten Zeit erwischt, ich war gerade an dem Punkt angelangt, dass ich eine Veränderung brauchte. Dummerweise stand die nächste schon allzu bald wieder an.

Bob, einer der Sicherheitsmänner des Gebäudes, leistete mir Gesellschaft, während ich meine Sachen zusammenpackte. Seine Anwesenheit wäre nicht nötig gewesen – ich hatte nicht vor, meinen PC in die Handtasche zu quetschen. Obwohl ich, ehrlich gesagt, ein paar Stifte mitgehen ließ, als er gerade nicht hinschaute.

Dann musste ich die ätzende U-Bahn-Fahrt erneut antreten, nur in die andere Richtung und mit einem Kopf voller Fragen, was ich als Nächstes tun sollte.

Irgendwann schaffte ich es zurück in unsere Wohnung im zweiten Stock eines dreigeschossigen Reihenhauses in Dartmouth Park, einer Gegend Londons, die nicht weit vom Tufnell Park, Highgate oder Archway entfernt ist, je nachdem, wer fragt.

Es stank immer noch nach Neds Eskapaden der vorherigen Nacht; er hatte offenbar nur einen kläglichen Versuch unternommen, sein Erbrochenes vom Sofa zu entfernen. Mir blieb also nichts anderes übrig, als es selbst zu tun. Fluchend schruppte ich auf dem Fleck herum.

Wie gesagt, es war ein ziemlicher Scheißtag. Und dabei ist es gerade mal Mittag.

 

Ich seufze schwer, als der Abspann der Fernsehsendung über den Bildschirm läuft. Was jetzt? Ich sollte Ned anrufen, um ihm von meiner Kündigung zu erzählen, doch allein beim Gedanken daran, mit ihm zu sprechen, bekomme ich noch schlechtere Laune. Er hätte sich wenigstens mal melden können, um sich bei mir zu entschuldigen.

Einen Moment später klingelt mein Handy. Ich wette, das ist er. Wurde auch Zeit.

Ich fische mein Telefon aus der Tasche, doch die Nummer auf dem Display ist unbekannt. Wenn es wieder einer dieser Idioten ist, der mir eine Restschuldversicherung aufschwatzen will, kann er was erleben.

»Hallo?«, gehe ich gereizt dran.

»Amber, hier ist Liz«, sagt die Lebensgefährtin meines Dads in ihrem üblichen verhaltenen Tonfall.

Mein Dad und Liz sind schon seit siebzehn Jahren zusammen, haben aber nie geheiratet. Ich wünsche mir immer noch, dass sie sich eines Tages von ihm trennt, damit er eine Nettere finden kann, denn er selbst wird es nie schaffen, sie zu verlassen. Dad war schon immer jemand, der Konfrontationen lieber aus dem Weg geht.

»Hi, Liz«, erwidere ich kühl, während ich mich frage, warum sie mich auf dem Handy anruft, obwohl das viel teurer ist. Oh, natürlich, sie weiß noch nicht, dass ich arbeitslos bin. Das wird ein Spaß, ihr und Dad diese Neuigkeiten zu verkünden.

»Ich rufe wegen deines Dads an«, sagt sie. Ich versteife mich augenblicklich. »Er hatte einen Schlaganfall.«

Mir rutscht das Herz in die Hose. »Geht es ihm gut?«

»Das wissen wir noch nicht.« Sie klingt, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Normalerweise würde sich Liz nie dabei ertappen lassen, in der Öffentlichkeit Schwäche zu zeigen, also muss die Lage mehr als ernst sein. »Ich habe ihn auf dem Badezimmerboden gefunden. Er konnte nicht sprechen, oder zumindest habe ich nicht verstanden, was er gesagt hat. Er klang, als wäre er betrunken, nur schlimmer, und sein Gesicht sah irgendwie komisch aus – als wäre eine Seite gelähmt. Er konnte seinen Arm nicht bewegen, und dann ist mir aufgefallen, dass seine gesamte rechte Körperhälfte nicht mehr funktionierte.«

»O Gott«, murmele ich.

»Ich habe sofort den Krankenwagen gerufen, und sie haben uns ins Krankenhaus nach Adelaide gefahren, weil sie dort eine Spezialabteilung für Schlaganfälle haben. Jetzt bekommt er gerade ein CT. Ich wollte dir nur so schnell wie möglich Bescheid geben.«

»O Gott«, wiederhole ich, unfähig, irgendwelche anderen Worte zu finden, die in der Situation angebracht wären. »Ist er –«

»Ich weiß es nicht, Amber«, unterbricht sie mich, wobei sie schon wieder viel mehr wie die Liz klingt, die ich nur zu gut kenne. »Ich weiß doch auch noch nichts«, fügt sie frustriert hinzu. »Sie haben mir nur gesagt, dass er sehr, sehr viel Glück gehabt hat, dass ich ihn so früh gefunden habe. Je schneller er behandelt wird, umso besser stehen seine Chancen, dass die Schädigung sich in Grenzen hält. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich wie geplant mit Gina ins Kino gegangen wäre. Ich hatte etwas Halsweh, deshalb bin ich zu Hause geblieben.«

»Rufst du mich an, wenn –«

»Ich rufe an, wenn ich mehr weiß«, unterbricht sie mich wieder und beendet meinen Satz.

»Sollen wir nach Hause kommen?«, frage ich, während mir vor Angst schon ganz flau im Magen ist.

»Wir sprechen uns später«, entgegnet sie eilig. »Ich muss auflegen! Sein Arzt ist gerade rausgekommen.«

»Ich bin in der Wohnung«, sage ich noch, doch sie hat bereits aufgelegt.

Ich fühle mich so hilflos. Dad und Liz leben in Adelaide, Australien, wo ich aufgewachsen bin, und ich sitze hier in London, am anderen Ende der Welt.

Wie in Trance nehme ich das Festnetztelefon und wähle Neds Nummer.

Er sagt nicht einmal hallo. »Was machst du denn schon zu Hause?«, fragt er stattdessen, weil er offenbar die Nummer im Display gesehen hat.

»Ich wurde entlassen.«

Er schnappt überrascht nach Luft, doch ich komme ihm zuvor, ehe er etwas erwidern kann.

»Aber ich rufe an, weil mein Dad einen Schlaganfall hatte.«

Am anderen Ende der Leitung herrscht Schweigen, dann höre ich ihn seufzen.

»O Baby«, sagt er leise.

Angesichts seines Mitgefühls breche ich zusammen.

»Ach Mensch, du Arme«, murmelt er. »Willst du, dass ich nach Hause komme?«

»Das musst du nicht«, schluchze ich. Bitte, komm nach Hause.

»Ich bin schon unterwegs«, erwidert er zärtlich. »Ich liebe dich.«

Ich schreibe Liz, dass sie mich auf dem Festnetz anrufen soll, sobald sie die Gelegenheit dazu hat, ehe ich mir mein iPad schnappe und mich damit aufs Bett lege. Ned kommt eine Dreiviertelstunde später nach Hause. Ich höre, wie er seine schwere Winterjacke im Flur aufhängt und sich dann auf die Suche nach mir macht. Im Türrahmen zum Schlafzimmer bleibt er stehen. Er sieht ganz zerknautscht aus, in ungebügeltem grauem Hemd und Jeans.

»Hey«, sagt er leise und lächelt mich mitfühlend an.

Als kleines Friedensangebot strecke ich die Hand nach ihm aus. Seufzend setzt er sich aufs Bett und nimmt meine Hand. »Was genau hat Liz denn gesagt?«

Ich gebe unsere Unterhaltung wieder.

»Und was ist mit deinem Job?«, fragt er als Nächstes, also bringe ich ihn auch, was das angeht, auf den neuen Stand.

»Was für ein Arschloch«, beschwert er sich über meinen Chef, während er kopfschüttelnd meine Hand drückt.

»Mmm.« Meine Miene verfinstert sich, als ich ihn so ansehe. Mein Exboss ist nicht das einzige Arschloch hier.

Endlich hat er den Anstand, sich zu entschuldigen.

»Tut mir leid wegen vorhin.« Er senkt den Blick auf unsere ineinander verschlungenen Finger.

»Ich fasse es immer noch nicht, dass du mich angeschrien hast«, erwidere ich. »Nachdem du aufs Sofa gekotzt hast und –«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbricht er mich. Ned hasst es, die eigenen Fehler unter die Nase gerieben zu bekommen.

Dieser Streit könnte tagelang so weitergehen – so war es jedenfalls schon in der Vergangenheit –, doch es gibt jetzt Wichtigeres, also beiße ich mir auf die Zunge.

»Ich habe mal nach Flügen nach Australien geschaut«, erzähle ich und verziehe das Gesicht, als ich nach meinem iPad greife. »Die Preise sind eine Frechheit, aber wenigstens ist die Weihnachtszeit vorbei.« Es ist Mitte Februar, was bedeutet, dass in Australien noch Sommer ist, es jedoch nicht mehr ganz so heiß ist wie im Dezember und Januar.

»Denkst du, du solltest fliegen?«, fragt er.

»Definitiv«, antworte ich. »Ich könnte übermorgen schon einen Flug nehmen.«

»Wirklich? Okay. Ich schätze, irgendwie ist es sogar gutes Timing. Ungutes Timing«, korrigiert er sich schnell, als er sieht, wie ich die Augen aufreiße. »Du weißt doch, was ich meine.« Er wippt nervös mit dem Bein. »Wenigstens kannst du so lange dort unten bleiben, wie es nötig ist.«

»Kommst du mit?«, frage ich hoffnungsvoll.

»Amber, ich kann nicht«, entgegnet er kleinlaut. »Ich wünschte, ich könnte, ehrlich, aber auf der Arbeit ist gerade zu viel los.«

Eine dunkle Ahnung beschleicht mich.

»Hey.« Er tätschelt mir die Schulter. »Du weißt doch, dass ich nicht einfach alles stehen- und liegenlassen kann. Übernächste Woche muss ich nach New York –«

»Mit Zara?«, frage ich dazwischen. Das ist seine Chefin.

»Ja.« Er runzelt die Stirn. »Sei nicht so«, mahnt er sanft. »Du weißt doch, dass dieser Job wichtig ist für mich. Für uns.«

»Ich verstehe nicht, warum du nicht einfach zugibst, dass sie auf dich steht«, entgegne ich aufgebracht.

»Tut sie nicht!«, erwidert er. »Sie hat sich erst vor ein paar Monaten von ihrem Mann getrennt.«

»Sie hatte doch gerade erst geheiratet!«, rufe ich, erbost darüber, dass er sie verteidigt.

»Sie steht nicht auf mich«, wiederholt er. »Ich wollte dir eigentlich eine gute Neuigkeit erzählen, aber …« Er bricht ab und starrt aus dem Fenster.

»Was denn?« Ich setze mich auf.

»Max und Zara haben mich heute befördert. Zara hat mir gestern Abend schon angekündigt, dass sie es vorhaben.«

»Zu was denn befördert?« Meine Stimme klingt, als käme sie von woanders her und nicht von mir.

»Zum Creative Director.« Er zuckt mit den Achseln und lächelt auf diese schüchterne, süße Art, die er manchmal an sich hat.

»Du arbeitest doch erst seit zwei Jahren dort, und sie macht dich schon zum Abteilungsleiter?« Von wegen, sie steht nicht auf ihn!

Er wird schlagartig ernst. »Es sind schon fast zweieinhalb Jahre, und vielleicht mache ich meinen Job ja besser, als du es mir zutraust.« Damit stürmt er aus dem Zimmer.

»Ned!«, rufe ich bestürzt und laufe ihm hinterher. Er ist schon in der Küche, wo er sich lautstark klappernd einen Kaffee macht. »Tut mir leid«, sage ich. »Ich weiß, du bist genial. Was haben sie denn gesagt?«, fordere ich ihn auf weiterzuerzählen.

Ned arbeitet bei einer rasch expandierenden Werbeagentur in der Londoner Innenstadt. Im vergangenen Jahr wurden sie von einer New Yorker Agentur aufgekauft, und diese Reise in weniger als zwei Wochen wird sein erster Besuch im amerikanischen Büro sein.

Max Whitman ist CEO und einer der drei Gründer der Firma. Zara ist Hauptgeschäftsführerin, ihr unterstehen also alle Angestellten. Sie ist erst dreiunddreißig. Ich kann sie nicht leiden, auch wenn ich sie erst ein paarmal gesehen habe.

Sie ist dünn und sehr groß – viel größer als ich mit meinen eins vierundsechzig – und sie hat seidenglatte, weißblonde Haare, die sie normalerweise streng zurückgekämmt trägt, so dass ihr markantes Gesicht mit den hohen Wangenknochen noch besser zur Geltung kommt. Sie fällt auf, das muss man ihr lassen, aber vor allem könnte sie sich äußerlich kaum noch mehr von mir unterscheiden, mit meinem zierlichen Körperbau und den langen rotbraunen Locken. Manchmal trägt sie zwar die gleiche Art trendiger Hornbrille, die ich auch mal getragen habe, aber seit meiner Laseroperation brauche ich keine Brille mehr. Wir können beide roten Lippenstift tragen, aber ich bin mir nicht sicher, ob das schon als Gemeinsamkeit zählt.

Ohne mich anzusehen, geht Ned zum Kühlschrank und holt die Milch heraus. »Tate arbeitet jetzt im New Yorker Büro, weshalb sie hier einen Ersatz für ihn brauchen«, sagt er und schließt die Kühlschranktür schwungvoller, als nötig gewesen wäre. Tate war Neds direkter Vorgesetzter und eines der sogenannten kreativen Genies der Agentur.

»Heißt das, du unterstehst jetzt Max direkt?«, frage ich. Das wäre ein ziemlicher Aufstieg. Max ist der Platzhirsch.

»Ja«, antwortet er. »Und Zara auch noch zu einem gewissen Grad.«

Plötzlich bin ich unglaublich stolz auf ihn, als würde seine gute Neuigkeit jetzt erst richtig zu mir durchdringen. »Das ist wirklich toll«, sage ich und streiche ihm über den Arm.

»Es bedeutet auch viel mehr Geld«, erwidert er grinsend und lehnt sich an den Küchentresen. »Ich werde ein paar Abende länger arbeiten müssen, und wahrscheinlich bräuchte ich ein paar neue Anzüge.« Er schaut an sich runter und zuckt amüsiert mit den Schultern.

»Ach, was, ich liebe deinen Shabby-Look«, sage ich mit schiefem Grinsen, und auch wenn es für einen Außenstehenden so aussehen mag, als würde ich ihn necken, weiß er, dass es stimmt.

Er lacht und zieht mich in seine Arme.

»Gut gemacht«, sage ich und drücke ihn.

»Danke, Baby«, murmelt er in meine Haare. Er ist über eins achtzig groß und überragt mich um eine Kopflänge. »Tut mir leid, dass du heute nur schlechte Nachrichten bekommen hast.«

Mir wird schlagartig flau im Magen, als ich daran erinnert werde, dass Dad einen Schlaganfall hatte und ich entlassen wurde.

»Hey«, sagt Ned leise, als sich meine Augen mit Tränen füllen und ich zu schluchzen beginne.

Wenigstens habe ich genug Geld gespart, um mir den Flug zurück nach Australien leisten zu können, und ich bekomme noch drei Monate Gehalt, von denen ich dort leben kann.

»Ich wünschte, du könntest mitkommen«, schniefe ich.

»Ich auch. Aber vielleicht ist es sogar besser so«, fügt er vorsichtig hinzu. »Dann kannst du dich besser auf deinen Dad konzentrieren.«

»Vielleicht.«

Ich weiß, er freut sich tierisch über seine Beförderung und würde jetzt viel lieber feiern, als mich zu trösten. Aber vielleicht tue ich ihm auch unrecht.

Er schiebt mich auf Armlänge von sich weg, um mir ins Gesicht zu schauen. »Und du kannst dich mal wieder mit Tina und Nell treffen.«

Und mit Ethan, flüstert eine Stimme in meinem Kopf, ehe ich sie unterdrücken kann.

Aber der Gedanke ist nicht leicht zu verdrängen. Plötzlich sehe ich nur noch den gutaussehenden dunkelhaarigen Jungen vor mir, in den ich mich vor vielen, vielen Jahren verliebt habe.

Ethan, Ethan, Ethan …

Meine erste große Liebe. Derjenige, der meine Liebe nie erwidert hat.

Trotz all der Tränen, die ich um ihn vergossen habe, trotz all des Herzschmerzes, den ich ertragen musste, würde ich immer noch alles dafür geben, ihn wiederzusehen.

Und jetzt bekomme ich die Gelegenheit dazu.

Kapitel 2

Ich war acht, als mir das erste Mal klarwurde, dass ich in Ethan Lockwood verliebt war. Er war schon von Anfang an in meiner Klasse, aber ich hatte erst ein Jahr vorher angefangen, ihn richtig wahrzunehmen, von dem Moment an, als er mich unter einer Kiefer auf der anderen Seite des Spielplatzes gefunden hatte.

Ethans bester Freund war kurz zuvor weggezogen, und seitdem wechselte er zwischen verschiedenen Gruppen von Freunden hin und her, ohne irgendwo wirklich reinzupassen.

Mir ging es genauso. Allerdings ging es mir schon so, seit ich denken konnte.

»Alles okay?«, fragte er vorsichtig, als er mich schniefend am Fuß des Baumes sitzen sah, mit dreckverkrustetem Rocksaum und matschverschmierter Brille.

Jean würde wütend werden. »So ein schmuddeliges Mädchen«, sagte sie immer. Ich hasste sie.

Ich wischte mir schnell über die Nase und schüttelte den Kopf, ehe ich das Gesicht in den Händen vergrub.

»Soll ich einen Lehrer holen?«, bot er an.

»Nein«, murmelte ich zwischen meinen Fingern hindurch.

Er setzte sich neben mich und legte den Arm um meine Schultern.

»Nicht weinen«, sagte er leise, doch ich konnte nicht anders, besonders jetzt, wo er so nett zu mir war. »Was ist denn los?«, fragte er.

»Ich will nicht zu Jean gehen nach der Schule«, brachte ich erstickt hervor.

»Wer ist Jean?«

»Die Frau, die sich um mich kümmert, wenn mein Dad arbeitet«, erklärte ich. Sie war eine Tagesmutter, und ich war der zweitjüngste ihrer vier Schützlinge.

»Wo ist denn deine Mum?« Er zog verwirrt die Augenbrauen hoch.

Seine Frage überraschte mich. Ich dachte, jeder wüsste, dass ich keine Mutter hatte. War das nicht der Grund, warum niemand meine beste Freundin sein wollte, weil mein Vater meine Kleider nicht oft genug wusch und meine Haare nicht in schöne Zöpfe flocht? Jetzt, wo er wieder arbeitete, hatte er noch weniger Zeit, sich um mich zu kümmern, weshalb ich jeden Tag zu Jean in ihr furchtbares Haus gehen musste.

Ich wollte Ethan erst nicht sagen, dass meine Mum tot war, doch als ich in seine grünen Augen blickte, welche die gleiche Farbe hatten wie die Nadelbäume über uns, stellte ich fest, dass ich ihn nicht anlügen konnte.

»Oh«, sagte er stirnrunzelnd, als ich es ihm erzählt hatte. »Willst du lieber mit zu mir kommen zum Spielen?«

Ich konnte nicht, da Jean mich gleich nach der Schule abholte, und sie meckerte, wie zu erwarten, über meine verdreckte Schuluniform. An diesem Abend steckte ich meinen Rock selbst in die Waschmaschine und blieb extra lang wach, um ihn rausholen und zum Trocknen aufhängen zu können. Doch morgens war er trotzdem noch feucht. Meinem Dad sagte ich nichts davon.

»Ich hatte heute Morgen einen Anruf«, informierte er mich, als wir im Auto saßen, um zu Jean zu fahren, wo ich jeden Morgen vor der Schule mein Frühstück bekam. »Wer ist Ethan?«

Mein Herz machte einen Sprung. »Ein Junge aus meiner Klasse.«

»Seine Mutter hat angerufen, um zu fragen, ob du heute Nachmittag zu ihnen kommen darfst. Willst du das denn gern?«

»Ja, bitte!«, rief ich schnell.

»Okay, dann sage ich Jean Bescheid. Mrs Lockwood hat angeboten, dass du zum Abendessen bleibst.«

Ich war so aufgeregt, dass ich sogar die Kälte vergaß, die von meinem klammen Rock ausging.

 

Mrs Lockwood hatte dunkelbraune Haare wie Ethan, doch ihre waren lang und zu einem losen Dutt hochgesteckt. Ich fand, sie war so schön wie eine Disney-Prinzessin, nur dass sie kein Kleid mit Puffärmeln trug. Ich mochte sie auf Anhieb. Sie sagte, ich sollte sie Ruth nennen.

Ethans Haus kam mir vor wie aus einem Märchen mit einem riesigen, weißen Holzbalkon und hellen Steinmauern. Ich fand schnell heraus, dass Ethans Eltern die Besitzer eines kleinen Weinguts waren, zu dem die leuchtend grünen Weinberge gehörten, die das Haus umgaben. Wir gingen spazieren, und ich habe lebhafte Erinnerungen an Ethans Gesicht, wie es immer wieder zwischen den Blättern aufblitzte, als er auf der anderen Seite der Weinreben neben mir herlief. Obwohl er es eigentlich nicht durfte, drehte er die Bewässerungsanlage an, und wir rannten lachend durch den künstlichen Regen den sanft abfallenden Weinberg hinab. Vor Übermut stolperte ich und machte mich so schmutzig, dass Ruth mit Ethan schimpfte, als wir ins Haus zurückkehrten. Es war ihr so unangenehm, mich in diesem Zustand nach Hause zu schicken, dass sie mir ein paar Sachen von Ethan gab und meine Kleider in die Waschmaschine steckte. Ich konnte es nicht fassen, als sie mir abends alles sauber, trocken und gebügelt zurückgab. Sie besaßen einen Trockner – ein Luxus, von dem ich bis dahin noch nie gehört hatte.

Ethan und ich wurden schnell beste Freunde. Ich erinnere mich, wie seine Mum mich mal als seine Freundin bezeichnet hatte, woraufhin er sie hastig verbesserte, aber manchmal, wenn er lächelte, ließen seine Grübchen mein kleines Herz ein winziges bisschen schneller schlagen. Als Nelly Holland in der dritten Klasse lautstark verkündete, dass sie in Iain Grey verliebt war, kam mir ein Gedanke.

Ich war auch verliebt. In Ethan.

Ich habe es ihm allerdings nie gesagt.

Bis wir in die Highschool kamen, war ich ein Ass im Waschen und frisierte mir meine Haare selbst, weshalb ich nicht mehr ganz so eine Außenseiterin war. Außerdem hatte ich meine Kurzsichtigkeit akzeptiert und mir eine coole Brille zugelegt. Überhaupt hatte ich einen ziemlich guten Sinn für Mode entwickelt. Durch die Freundschaft zu Ethan war ich viel selbstbewusster geworden, wodurch ich auch leichter andere Freunde fand. Nelly wurde bald zu Nell für mich, und dann zog Tina aus Melbourne zu uns, und wir wurden zu einem Dreiergespann.

Es brach mir das Herz, als Ethan anfing, mit Ellie Pennell auszugehen, einem superhübschen, beliebten Mädchen mit großen braunen Rehaugen und dunklen Haaren. Zum Glück hatte ich meine Freundinnen, die mich wieder aufbauten.

Die Jahre vergingen, und Ethan hatte auf unserer Highschool schon bald den Ruf eines Frauenschwarms. Ich zwang mich, mit anderen Jungs auszugehen – welche, von denen ich eher erwartete, dass sie meine Gefühle erwiderten –, und irgendwann lebten Ethan und ich uns auseinander. Doch als er mit siebzehn die wunderschöne, intelligente Sadie Hoffman kennenlernte, wusste ich, dass ich ihn verloren hatte.

Sie heirateten, und inzwischen haben sie zwei wunderschöne Töchter, die ihm wie aus dem Gesicht geschnitten sind, mit den gleichen dunkelbraunen Haaren und grünen Augen. Es war hart, die Mädchen auf meiner Hochzeit zu sehen, aber nicht annähernd so hart, wie ihren Vater wiederzusehen.

Und doch habe ich »Ja, ich will« gesagt.

Ich liebe Ned. Ich liebe ihn heiß und innig. Ich hätte mich nicht von ihm zum Altar führen lassen, wenn es anders wäre, und ich weiß jetzt schon, dass ich ihn vermissen werde, während ich in Australien bin.

Aber ich liebe auch Ethan. Ich glaube nicht, dass ich in der Lage bin, damit aufzuhören.

Kapitel 3

Als ich aus dem Flugzeug steige, laufe ich gegen eine Wand aus Hitze. Da ich den günstigsten Flug nach Adelaide gebucht habe, musste ich zwei Zwischenstopps in Kauf nehmen. Jetzt ist es früher Nachmittag in Australien, die heißeste Zeit des Tages.

Den werde ich nicht brauchen, denke ich, und stopfe meinen Wintermantel in die Außentasche des Koffers, den ich gerade vom Gepäckband gewuchtet habe. In Jeans und Sportschuhen werde ich schon genug schwitzen, doch es ist nur eine halbstündige Taxifahrt bis zu Dads und Liz’ Haus. Ich werde meinen Koffer abstellen und mich schnell umziehen, ehe ich zum Krankenhaus fahre. Schlaf muss warten.

Ich bin so in Eile, um dem großen Ansturm auf den Taxistand zuvorzukommen, dass ich Liz völlig übersehe, die in der Ankunftshalle auf mich gewartet hat.

»Amber! Warte!« Ihre Rufe dringen schließlich doch zu mir durch, und ich bleibe so abrupt stehen, dass ich den Gepäckwagen der Person hinter mir in die Waden gerammt bekomme. Autsch! Was macht Liz denn hier? Ich habe ihr doch gesagt, dass sie mich nicht abholen muss.

»Hallo!«, rufe ich ihr zu. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, dass ich ein Taxi nehme.«

»Ich weiß, ich weiß«, winkt sie ab. »Das konnte ich doch nicht zulassen, jetzt da du deinen Job verloren hast.«

Als ich in London zum Terminal gehetzt bin, habe ich ihr noch schnell von meiner Entlassung erzählt.

»Reine Geldverschwendung«, fügt sie hinzu und umarmt mich grob. Liz ist ein paar Zentimeter größer als ich und hat kurze graue Haare. Die beste Art, sie zu beschreiben, wäre wahrscheinlich als »bullig«. Ab und zu erinnert sie mich tatsächlich an eine Bulldogge.

»Wie war der Flug?«, fragt sie und nimmt mir, ohne zu fragen, meinen Rollkoffer ab. »Das Auto steht da drüben.« Sie zeigt nach links.

»Ach, du weißt schon, lang.« Ich muss neben ihr herhetzen, um Schritt zu halten, und mein Handgepäck wird immer schwerer.

»Willst du dich erst ein bisschen ausruhen, bevor du deinen Vater besuchst?«

»Nein, ist schon okay. Ich wollte nur schnell meine Sachen abstellen und mich umziehen.«

»Nun ja, das Krankenhaus liegt quasi auf dem Weg, also wäre es praktischer, direkt dorthin zu fahren.«

»Wie es für dich besser ist«, erwidere ich.

Sie hat schon immer diese gouvernantenhafte Art an sich gehabt, die es schwer macht, sich mit ihr zu streiten. Als Teenager habe ich es natürlich trotzdem versucht.

»Du kannst dich im Auto umziehen«, fügt sie nüchtern hinzu.

Ich habe bereits beschlossen, es sein zu lassen.

»Hat sich sein Zustand schon verbessert?«, frage ich, als Liz auf die breite Straße in Richtung Innenstadt einbiegt.

»Ein bisschen«, antwortet sie, und ich verspüre einen leisen Hoffnungsschimmer. Seit ich vor drei Tagen die schreckliche Nachricht erhalten habe, ist die Angst um meinen Dad ins Unermessliche gestiegen. »Du wirst dich trotzdem erschrecken, also bereite dich besser auf das Schlimmste vor«, fährt sie beiläufig fort.

Ich lasse das Fenster runter und befehle mir, tief durchzuatmen. Niemand hat es je geschafft, mich so schnell auf die Palme zu bringen wie Liz. Für einen kurzen Moment bringt mich der Geruch nach Eukalyptus und Sonnenschein dazu, alles zu vergessen. Ich wusste nicht, dass man Sonnenschein riechen kann, aber jetzt gerade will ich glauben, dass es so ist.

»Du bekommst noch einen Sonnenbrand«, stellt Liz fest. »Hast du dich eingecremt?«

»Noch nicht«, antworte ich genervt.

»Mach das Fenster wieder hoch, dann kann ich die Klimaanlage einschalten, wenn dir zu warm ist.«

»Schon okay«, sage ich zähneknirschend. »Ich wollte nur ein bisschen frische Luft schnappen.«

Sie schnaubt.

 

Meine Nervosität steigt, als wir auf dem Parkplatz hinter dem Krankenhaus halten. Ich habe Krankenhäuser schon immer gehasst. Mir wird schlecht, als wir die nach Desinfektionsmittel stinkenden Korridore entlangeilen. Ich erinnere mich noch daran, wie ich nach dem Autounfall, bei dem meine Mutter gestorben ist, in einem Krankenhausbett lag und sehnsüchtig darauf wartete, dass mein Dad kommt und mich abholt. Ich würde alles darum geben, das Geräusch endlich vergessen zu können, das er gemacht hat, als er vor meinem Zimmer ankam. Ich habe mich furchtbar erschrocken und erst nach einem Moment gemerkt, dass die Person, die dieses unmenschliche Heulen von sich gab, derjenige war, der mich nach Hause bringen sollte.

»Das ist sein Zimmer.« Liz’ Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Sie bleibt vor einer geöffneten Tür stehen, die in ein geräumiges Vierbettzimmer führt. Jedes Bett ist mit einem blauen Vorhang vor Blicken abgeschirmt. Liz geht auf das erste auf der rechten Seite zu und lugt durch einen Spalt im Vorhang.

»Len«, sagt sie leise. »Amber ist hier.«

Ein Geräusch dringt hinter dem Stoff hervor, das nicht nach jemandem klingt, den ich kenne, und am wenigsten nach dem Vater, den ich so innig liebe.

Ich habe einen kurzen Déjà-vu-Moment, als Liz beiseitetritt, um mich ans Bett zu lassen.

Mein Dad liegt auf dem Bett, doch er sieht nicht aus wie mein Dad. Die rechte Seite seines Gesichts hängt nach unten, wie bei einem Gemälde, das man zur Hälfte im Regen stehen gelassen hat.

Liz schiebt mich nach vorn.

»Amber ist gerade aus London angekommen, Len. Sieht sie nicht toll aus für jemanden, der die ganze Nacht im Flugzeug gesessen hat?«

Er stöhnt.

»Du wirst dich erst daran gewöhnen müssen, aber dann kann man eigentlich ganz gut verstehen, was er sagen will«, erklärt Liz mir, als wäre er gar nicht da.

»Hat er mal versucht, etwas aufzuschreiben?« Ich steige nur widerwillig in diese Unterhaltung über ihn ein, wo er doch direkt vor uns liegt.

»Er kann kaum den Arm heben, da ist an Schreiben nicht zu denken.« Sie nickt in Richtung des Stuhls an seinem Bett. »Setz dich doch.«

Zögerlich tue ich wie geheißen. Dad hebt wie in Zeitlupe die linke Hand, und ich nehme sie in meine, während sich meine Augen mit Tränen füllen. Er sagt wieder etwas, das ich nicht verstehe.

»Er sagt, du sollst nicht weinen«, übersetzt Liz, ehe sie lauter hinzufügt: »Sie weint doch gar nicht, Len. Amber ist keine Heulsuse.«

Ich starre sie verdutzt an. Woher will sie das denn wissen? Da fällt mir ein, dass ich ihr als Teenager nie die Genugtuung verschafft habe, mich weinen zu sehen. Ihr Kommentar hilft jedenfalls sofort. Meine Augen sind wieder trocken.

»Er wird sehr schnell müde, also können wir nicht zu lang bleiben«, erklärt Liz. »Aber wir machen schon Fortschritte, nicht wahr, Len?«

Wenn das Fortschritte sind, will ich mir gar nicht vorstellen, wie es vor drei Tagen um ihn stand.

»Wird er wieder ganz gesund?«, frage ich leise und versuche, den Kloß in meinem Hals zu ignorieren.

»Das ist der Plan, stimmt’s, Len?«

Es irritiert mich, wie sie ständig seinen Namen sagt. Ich frage mich, ob es ihm auch so geht.

»Ich würde gern mit deinem Arzt sprechen.« Ich schaue Dad fest in die braunen Augen. Dann drehe ich mich wieder zu Liz um. »Könntest du ihn für mich holen?«

»Ich kann dir auch alles sagen, was du wissen willst.«

»Trotzdem würde ich gern mit seinem Arzt sprechen«, entgegne ich bestimmt.

»Er kommt sowieso demnächst zur Visite vorbei«, sagt sie. »Oder war er schon hier, Len?«

Dieses Mal verstehe ich ihn, als er »Nein« antwortet. Das ist schon mal ein Anfang.

Ich drücke seine Hand, und ein paar Sekunden später erwidert er den Druck. Ich lächele schwach und gebe ihm einen Kuss auf den Handrücken. Seine Hand fühlt sich knochig an, die Haut ist mit Leberflecken überzogen. Hat er vor dem Schlaganfall auch schon so alt ausgesehen? Ich war viel zu lang fort.

 

Liz und Dad wohnen in einem kleinen, für australische Verhältnisse alten Haus im Kolonialstil in Norwood, nur ein paar Gehminuten von der beliebten Innenstadt entfernt, in deren Läden, Cafés und Restaurants immer reges Treiben herrscht. Das Haus ist wirklich hübsch, mit weißer Holzvertäfelung, Wellblechdach und schmiedeeisernen Verzierungen an den Regenrinnen. Der Vorgarten ist mit einem weißen Holzzaun begrenzt. Es ist nicht das Haus, in dem ich aufgewachsen bin – nicht einmal das Haus, in dem ich meine Teenagerzeit verbracht habe. Es ist allein ihr Zuhause, und ich bin hier nur zu Gast.

Liz rollt meinen Koffer ins Gästezimmer, dessen Fenster einen idyllischen Blick auf den Carport des Nachbarn bietet. Dads und Liz’ Schlafzimmer liegt links davon mit Blick auf die Straße, und die Küche ist rechts. Von dort hat man Zugang zum Garten. Das einzige Badezimmer erreicht man über den Hauswirtschaftsraum, der an die Küche anschließt. Das Wohnzimmer und das Esszimmer befinden sich gegenüber der beiden Schlafzimmer. Das Haus ist nur eingeschossig, wie so viele australische Häuser, also gibt es glücklicherweise keine Treppen. Was ein Bonus ist, wenn Dad wieder nach Hause darf.

»Ich muss schnell zur Arbeit, um ein paar Unterlagen abzuholen, die ich gestern vergessen habe«, sagt Liz. »Hast du vor, ein Nickerchen zu machen?«

Wie mein Dad ist sie im Bildungswesen tätig. Sie arbeitet als Dozentin für Psychologie an der Universität, während er stellvertretender Rektor einer Grundschule hier in der Nähe ist. Sie sind beide Anfang sechzig, gehen also aufs Rentenalter zu. Bei meinem Dad könnte es jetzt schon so weit sein. Der Gedanke ist irgendwie traurig.

»Ja, ich würde mich gern ein bisschen hinlegen«, antworte ich. »Soll ich irgendwas zum Abendessen machen?«

»Nein, nein.« Sie winkt ab. »Ich hole uns Hühnchen und Pommes vom Imbiss die Straße runter.«

»Ich kann das auch abholen, wenn du mir sagst, wann du essen möchtest?«

»Das klären wir später«, wiegelt sie ab und verlässt das Zimmer.

»Wo sind Dads Autoschlüssel?« Ich folge ihr in den Flur.

»In der Schale auf der Kommode da«, antwortet sie und sieht mich fragend an. »Hast du vor, sein Auto zu benutzen, während du hier bist?«

»Eigentlich schon.« Ich weiß, dass mein Name noch mit in der Versicherung steht und Dad sicher nichts dagegen hätte.

»Das Auto müsste dringend mal wieder zur Inspektion«, stellt sie stirnrunzelnd fest. »Seit Wochen liege ich Len schon in den Ohren, dass er sich darum kümmert.«

»Ich mache das«, sage ich schnell. Ich brauche ohnehin Beschäftigung, wenn ich Dad gerade nicht besuche. Und über Schlaganfälle habe ich inzwischen mehr als genug gelesen, nachdem ich mir einen Berg an Informationen aus dem Internet zusammengesucht habe.

Ich weiß jetzt, dass ein Schlaganfall ein Hirnschlag ist, der auftritt, wenn die Blutzufuhr zu einem Teil des Gehirns plötzlich abgeschnitten oder stark reduziert wird. Das Gehirn braucht Nährstoffe und Sauerstoff, die von dem Blut transportiert werden, und ohne diese Versorgung sterben Gehirnzellen ab oder werden beschädigt. Wie ich vorhin im Gespräch mit dem Arzt herausgefunden habe, hatte mein Dad einen ischämischen Schlaganfall, der von einem Blutgerinnsel verursacht worden ist.

Weil Liz sofort den Krankenwagen gerufen hat, konnte die Diagnose schnell gestellt werden, und er kam wohl auch für eine Behandlung namens Thrombolyse in Frage, bei der das Blut mit Hilfe von speziellen Medikamenten wieder zum Fließen gebracht wird. In manchen Fällen kann die Behandlung auch negative Folgen haben, doch bisher zeigt Dad keinerlei Anzeichen von Nebenwirkungen.

Der Arzt hat mir erklärt, dass seine Genesung trotzdem ein langer Prozess sein wird. Er leidet immer noch unter einer geringen Schwellung im Gehirn, doch sobald diese zurückgeht, sollten deutliche Fortschritte sichtbar sein. Das ultimative Ziel ist es, dass er wieder nach Hause kommt und dort möglichst selbständig leben kann. Es kann durchaus sein, dass er manche Fähigkeiten neu erlernen muss. Alltägliche Dinge, die für uns selbstverständlich sind, wie Laufen, Reden, Lesen und Schreiben werden für ihn nicht mehr so leicht zu meistern sein.

Schlaganfälle sind nicht wie Krebs oder andere Krankheiten. Es gibt keine Warnsignale, keine Übelkeit oder andere Symptome. Man hat keine Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass man krank ist. Das Leben verändert sich von einer Sekunde auf die nächste. Alles ist anders. Ich hoffe, ich kann Dad helfen, damit zurechtzukommen.

 

Nachdem Liz gegangen ist, ziehe ich mich bis auf die Unterwäsche aus, lasse das Rollo herunter und schlüpfe unter die dünne, hellgraue Decke des Gästebetts. Das Zimmer ist neutral gehalten, die abstrakten Kunstdrucke in Grün-, Grau- und Blautönen an den cremefarbenen Wänden wirken beruhigend. Liz hat einen erstaunlich guten Geschmack.

In England ist es noch sehr früh am Morgen, also schicke ich Ned nur eine Nachricht, dass ich gut angekommen bin und Dad schon besucht habe. Dann lege ich das Handy weg und hoffe auf einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Ich wache desorientiert und gerädert auf, und merke erst nach ein paar Sekunden, dass Liz mich an der Schulter rüttelt.

»Amber, wach auf!«, ruft sie. Ich bin zu müde, um sie abzuschütteln. »Wenn du jetzt nicht aufwachst, kannst du heute Abend nicht schlafen«, warnt sie, und ich spüre, wie sich ihr Gewicht von der Matratze hebt. Ist sie weg? Bitte, lass sie weggegangen sein.

Plötzlich flutet grelles Tageslicht das Zimmer, und ich schreie wütend auf und ziehe mir die Decke über den Kopf. Sie ist nur aufgestanden, um die verdammten Rollos hochzuziehen.

»Aufwachen, Schlafmütze!«, wiederholt sie. »Ich habe schon Hühnchen geholt, also spring in deine Klamotten und komm zum Essen. Du verschläfst noch den ganzen Tag.«

Es fühlt sich nicht so an, als hätte ich den ganzen Tag geschlafen. »Wie viel Uhr ist es denn?« Die Sonne erscheint mir noch sehr hell.

»Sechs Uhr«, antwortet sie. »Du hattest drei Stunden.«

»Mehr nicht?« Ich fasse es nicht. Ist das ihr Ernst?

»Du wirst mir noch dankbar sein, wenn du nicht morgens um vier hellwach bist«, sagt sie in ihrem Oberlehrertonfall. »Los, aufstehen!«

»Gib mir fünf Minuten!« Ich schreie sie regelrecht an.

Schmunzelnd verlässt sie das Zimmer. Warum nur habe ich nicht Tina oder Nell gefragt, ob ich bei einer von ihnen wohnen kann?

Tina lebt oben in den Bergen, also ziemlich weit weg vom Krankenhaus, und Nell hat nur eine Einzimmerwohnung im Norden Adelaides. Aber gerade erscheint mir selbst ihr Schlafsofa verlockender, als hier zu bleiben.

Ich setze mich auf und reibe mir erschöpft die Augen. Ich sollte Nell und Tina tatsächlich mal anrufen. Ich habe ihnen per E-Mail angekündigt, dass ich nach Australien komme, wollte aber noch keine Versprechungen machen, was ein Treffen angeht, bis ich Dad gesehen hätte. Da fällt mir ein, dass Tinas Freund in einer Autowerkstatt arbeitet, vielleicht kann ich ihm die Inspektion von Dads Auto übertragen. Dann könnte ich mich währenddessen mit Tina treffen.

Ächzend schwinge ich die müden Glieder aus dem Bett und ziehe mich an. Als ich in der Küche ankomme, zerreißt Liz gerade mit bloßen Händen ein gebratenes Hühnchen. Bei dem Anblick dreht sich mir der Magen um. Dabei sollte ich völlig ausgehungert sein. Ich habe im Flugzeug kaum etwas gegessen. Genau genommen habe ich seit Tagen kaum etwas gegessen. Ich lasse mich auf einen Stuhl plumpsen, und Liz tischt eine Platte mit Hühnchen und Pommes auf.

Riecht sie etwa nach Zigaretten? Ich dachte, sie und Dad hätten aufgehört.

»Was möchtest du trinken?« Ihre Frage lenkt mich von meinen Gedanken ab. »Ich habe Fruita da.«

Was bin ich, ein Teenager? Ich will schon fragen, ob sie Wein da hat, als sie eine Auswahl der süßen, australischen Limo auf den Tisch stellt. Versuchsweise öffne ich eine Dose und nehme einen Schluck, woraufhin mir sofort das Wasser im Mund zusammenläuft. Plötzlich sieht sogar das Essen gut aus.

»Und, gut?«, fragt Liz, als ich ordentlich reinhaue.

»Super«, erwidere ich lächelnd.

»Dachte ich mir.« Sie klingt selbstgefällig. »Übrigens habe ich einen Inspektionstermin für Lens Auto gemacht, während du geschlafen hast. Ich muss morgen früh zur Arbeit, es wäre also toll, wenn du den Wagen so um zehn in die Werkstatt bringen könntest? Sie ist nur ein Stückchen die Straße runter, du kannst also zurück laufen.«

Ich erstarre in der Bewegung, die volle Gabel auf halbem Weg zu meinem Mund. »Ich habe doch gesagt, ich kümmere mich darum.«

»Ich wollte nur helfen«, entgegnet sie unterkühlt.

»Es ist nur so, der Freund meiner Freundin arbeitet in einer Werkstatt in den Bergen«, erkläre ich angespannt. »Ich dachte, dann könnte ich sie gleich besuchen fahren. Zwei Fliegen mit einer Klappe, sozusagen.«

»Dann sag den Termin morgen wieder ab, mir egal.« Sie zuckt mit den Schultern. »Die Telefonnummer hängt an der Pinnwand.«

Ich beiße mir auf die Lippe. Ich sollte lieber erst mit Tina reden.

Ich rufe sie gleich nach dem Abendessen vom Festnetztelefon an. Liz hat mir auch Dads Handy geliehen.

Ein Mann geht dran.

»Ist da Josh?«, frage ich. Das ist Tinas Langzeitbeziehung. Ich habe ihn erst einmal getroffen, und das war bei meiner Hochzeit, aber er scheint ein netter Kerl zu sein.

»Ja«, antwortet er.

»Hier ist Amber«, sage ich. »Tinas alte Schulfreundin.«

»Ach, hey! Tina hat schon angekündigt, dass du nach Hause kommst.«

»Ja, leider ist der Grund weniger schön.«

»O Mann, ja, tut mir leid mit deinem Dad«, erwidert er.

»Danke.«

»Ich hole mal Tina ans Telefon.« Dann ruft er »TEENS!« aus vollem Hals, was mich zusammenzucken lässt.

»Josh, warte mal«, sage ich schnell, ehe er den Hörer weglegt, »ich wollte dich eigentlich fragen, ob du noch in der Werkstatt in Mount Barker arbeitest? Beim Auto meines Vaters ist die Inspektion fällig.«

»Ja, da arbeite ich noch. Was fährt er denn?«

»Einen Holden Caprice.«

»Ich könnte dich morgen noch dazwischenschieben, wenn du eh hierher unterwegs bist?«

»Das wäre super. Ich hatte gehofft, Tina hätte vielleicht Zeit, mit mir zu Mittag zu essen.«

»Sie muss arbeiten, aber – warte, da kommt sie gerade.« Pause. »Es ist Amber«, sagt er, und die nächste Stimme, die ich in der Leitung habe, ist die meiner alten Freundin.

»Hey du!« Selbst in diesen zwei kleinen Worten kann ich ihr Mitgefühl spüren.

»Hey«, erwidere ich mit leisem Lächeln.

»Das mit Len tut mir so leid. Wie geht es ihm?«

»Ziemlich schlecht.« Ich spüre, wie ich einen Kloß im Hals bekomme, aber ich will sie nicht am Telefon vollheulen, also rede ich schnell weiter. »Hast du morgen Zeit, mit mir zu Mittag zu essen? Ich bringe Dads Auto zur Inspektion.«

»Aber klar!«

Wir machen eine Zeit aus und beenden das Gespräch. Es ist schön, etwas zu haben, auf das ich mich freuen kann.

Kapitel 4

Am nächsten Morgen wache ich um neun Uhr auf und fühle mich erfrischt und ausgeruht. Liz ist bereits zur Arbeit gefahren, was mir einen »Habe ich dir doch gesagt«-Kommentar zu meiner erholsamen Nachtruhe erspart, nachdem sie gestern mein Nickerchen so unsanft beendet hat.

Ich will heute Morgen noch Dad besuchen, ehe ich in die Berge fahre, also mache ich mich schnell fertig und suche im Bad seine Rasiersachen zusammen. Ihn gestern so zu sehen, hat zu viele schlechte Erinnerungen geweckt. Es war nicht nur die Art, wie er geklungen hat, sondern auch sein Aussehen. In meinen frühesten Erinnerungen ist er ein glattrasierter, gutriechender Daddy gewesen. Dann starb meine Mum, und ab da hat er sich völlig gehenlassen. Plötzlich war er der Dad, dessen Bartstoppeln kratzten, und der alles andere als frisch roch. Ich hatte nicht nur meine Mum verloren, sondern auch meinen Daddy. Ich wollte ihn nicht wieder verlieren, nicht im übertragenen und nicht im wörtlichen Sinne.

Es ist keine große Sache, aber ich habe vor, ihn heute zu rasieren. Ich frage mich, warum Liz das nicht längst getan hat.

 

Es ist kurz nach zehn Uhr, als ich im Krankenhaus ankomme. Mir wird wieder schlecht, also durchquere ich die langen Gänge möglichst schnell. Ich habe immerhin eine Mission. Dads Arzt kommt gerade aus einem anderen Patientenzimmer.

»Ach, hallo«, grüßt er freundlich. Sein Name ist Dr. Mellan, er ist ein großgewachsener Mann in den Fünfzigern mit olivfarbener Haut und schwarzgraumeliertem Haar. »Was macht der Jetlag?«

»Nicht so schlimm, danke. Wie geht es meinem Dad?«

Er legt den Kopf schief. »Heute ist er ein bisschen deprimiert«, berichtet er und gibt mir mit einem Kopfnicken in Richtung des Gangs zu verstehen, dass er mich begleitet. »Es ist normal, dass man nach einem Schlaganfall wütend oder depressiv ist. Aber eine positive Einstellung ist extrem wichtig für eine erfolgreiche Genesung«, erklärt er.

»Ich verstehe. Ich habe gedacht, ich könnte ihn heute mal rasieren. Dann sieht er wieder ein bisschen ordentlicher aus.«

»Das ist eine schöne Idee«, meint er. »Aber seien Sie nicht enttäuscht, wenn er nicht so reagiert, wie Sie es sich erhofft haben. Denken Sie immer daran, dass es für ihn sehr frustrierend sein kann, selbst die einfachsten Dinge nicht mehr ohne Hilfe tun zu können.«

»Okay«, erwidere ich ein wenig verzagt.

»Sie selbst dürfen Ihre gute Laune nicht verlieren«, erinnert er mich. »Bei Ihnen ist eine positive Einstellung genauso wichtig.«

Wir kommen bei Dads Zimmer an, und der Arzt bleibt stehen. »Noch ein Rat«, sagt er, »sprechen Sie langsam und in einfachen Sätzen. Machen Sie Pausen, damit er Zeit hat, das Gesagte zu verarbeiten. Aber passen Sie auf, dass Sie nicht von oben herab mit ihm reden. Er ist kein Kind.«

Ich nicke und bin froh, dass er mit ins Zimmer geht, wo er den Vorhang vor Dads Bett beiseitezieht.

»Guten Morgen, Len«, sagt er fröhlich. »Ihre Tochter Amber ist hier.«

Ich lächele Dad an, in der Hoffnung, dass es warm und herzlich rüberkommt und nicht so ängstlich, wie ich mich tatsächlich fühle. Was sich nicht verbessert, als Dad etwas Unverständliches nuschelt.

Dr. Mellan dreht sich lächelnd zu mir um. »Ich komme in etwa einer halben Stunde wieder.«

Er lässt uns allein, und ausnahmsweise wünschte ich mir, Liz wäre hier, und wenn es nur zum Übersetzen wäre.

»Hi, Dad«, sage ich so fröhlich, wie es mir möglich ist, und setze mich ans Bett. Ich beuge mich zu ihm und gebe ihm einen Kuss auf die nicht herunterhängende Wange. »Ich habe dein Rasierzeug mitgebracht«, erzähle ich. »Traust du mir zu, dass ich dich rasieren kann?«

Was auch immer er erwidert, es klingt wütend.

»Ach, komm schon, Dad.« Ich nehme seine Hand und schaue ihm in die braunen Augen. »Dann habe ich wenigstens etwas zu tun.« Pause. »Sonst fühle ich mich so nutzlos.« Mein Blick verschwimmt, als mir Tränen in die Augen steigen, und einen Moment später drückt er meine Hand.

»Okay«, nuschelt er langgezogen. Und dann könnte ich schwören, fügt er hinzu: »Aber nicht schneiden.« Auch wenn ich mir nicht sicher bin.

»Ich schneide dich nicht, versprochen«, versichere ich ihm kichernd.

Sein leises Lachen ist das vertrauteste Geräusch, seit ich in Australien gelandet bin.

»Das ist mein Dad«, sage ich schniefend. »Ich wusste, du bist da irgendwo hinter der ganzen Gesichtsbehaarung.«

»Bringen wir es hinter uns«, murmelt er. Glaube ich. Oder vielleicht sagt er auch nur, dass ich mich verziehen soll.

 

Nach dem Besuch bei Dad breche ich in die Berge auf. Ich kurbele die Autofenster runter und lasse die warme Luft über meine Haut wehen. Die Hitze ist angenehm nach dem kalten Winter, den wir in England gehabt haben. Wenn nicht hier und da ein Schneeglöckchen aufgetaucht wäre, hätte man annehmen können, der Frühling mache dieses Jahr Pause.

Es ist nur eine halbe Stunde Fahrtzeit bis Mount Barker, und ich finde die Werkstatt, in der Josh arbeitet, sofort.

»Hey«, grüßt er, als er in einem schmutzigen, grünen Overall aus der Garage tritt. Seine Wangen sind ölverschmiert, doch sein kantiges, gutaussehendes Gesicht kann nichts entstellen. Josh ist groß und schlank, dazu braungebrannt mit längerem dunklen Haar und dunkelbraunen Augen. Tina hat mit ihm wirklich einen guten Fang gemacht.

»Ich gebe dir lieber keinen Kuss zur Begrüßung, sonst mache ich dich noch schmutzig«, erklärt er. »Ich habe Tina gesagt, dass du dir mein Auto leihen kannst, damit ihr euch in Stirling treffen könnt.« Er zieht einen Schlüsselbund aus der Tasche und zeigt auf einen alten, aber gutgepflegten schwarzen BMW, der zwanzig Meter weiter geparkt ist.

»Bist du sicher?«, frage ich überrascht.

»Ja, aber geh vorsichtig mit ihr um«, warnt er mich, als er die Schlüssel in meine Handfläche fallen lässt. »Sie ist mein Baby.«

 

Tina arbeitet als Friseurin in Stirling, einer hübschen kleinen Stadt mit alten Häusern im Kolonialstil und baumgesäumten Straßen. Es gibt ein paar coole Bars und Cafés, und vor einem solchen sitzen wir auf der sonnigen Terrasse unter einem großen Sonnenschirm.

»Es ist so schön, dich wiederzusehen«, sagt Tina. »Tut mir leid, dass die Umstände so furchtbar sind.«

»Ja, das ist ätzend«, stimme ich zu, wohlwissend, dass es eine Untertreibung ist. »Die nächsten paar Wochen werden bestimmt hart.«

»Bleibst du so lang hier?«, fragt sie.

»Ich weiß es noch nicht. Ich musste für den Rückflug schon ein Datum angeben, was ich aber noch ändern kann. Im Moment plane ich, Ende März zurückzufliegen, um bis Ostern zu Hause zu sein.« Es sind noch etwa sechs Wochen bis dahin.

Tina ist auffallend hübsch: groß und schlank mit honigfarbener Haut und von Natur aus hellblondem Haar, das sie ein paar Zentimeter kürzer als schulterlang trägt. Sie ist offen und herzlich, und wenn ich gerade noch gedacht habe, dass Josh ein guter Fang ist, dann gilt das für sie erst recht. Die beiden geben ein ekelerregend attraktives Paar ab. Wenn sie sich entschließen sollten, Kinder zu bekommen, könnten sie die Babys für ein Vermögen verkaufen.

»Mir gefällt dein Pony.« Sie fasst über den Tisch und streicht mir über die Haare. »Steht dir echt gut.«

»Danke.« Ich lächele und senke die Speisekarte. Es ist nicht überraschend, dass sie Friseurin geworden ist. Als wir jünger waren, hat sie immer an Nells und meinen Haaren geübt. Wir haben alles mitgemacht: Dauerwellen, Strähnchen, ausgefallene Haarschnitte. Teilweise konnte sich das Ergebnis sehen lassen, teilweise eher weniger.

»Und, wie geht es Ned?«, fragt Tina.

»Es geht ihm gut«, antworte ich. »Er wurde gerade befördert.«

»Wie schön! Konnte er dich deshalb nicht begleiten?«

»Ja.« Ich zucke mit den Achseln. »Bisschen blöd, aber es ging nicht anders.«

»Du vermisst ihn sicher schon«, meint sie.

»Ach was!«, winke ich ab. »Ich bin doch gerade mal ein paar Tage weg. Willkommene Pause.«

Sie lacht, und ihre grünen Augen funkeln. »Seid wohl schon ein altes Ehepaar, was?«

»So in der Art«, erwidere ich grinsend. »Wie sieht’s bei dir und Josh aus? Läuten da auch bald die Hochzeitsglocken?«

»Nee. Der Idiot hat mir immer noch keinen Antrag gemacht.« Sie nimmt ihr Glas in die Hand und lässt die Eiswürfel kreisen. »Wenn er nicht bald in die Puschen kommt, schaue ich mich noch anderweitig um.«

»Echt jetzt?« Ich bin mir nicht sicher, ob sie scherzt.

»Andere Mütter haben auch schöne Söhne«, erwidert sie augenzwinkernd.

»Ihr zwei wohnt jetzt schon eine ganze Weile zusammen«, merke ich an.

»Wem sagst du das. Wir sind quasi selbst schon wie ein altes Ehepaar. Wenn er noch einmal seine verdreckten Overalls auf dem Badezimmerboden liegen lässt, drehe ich durch. Wir sollten bestellen.«

Ich lache, während sie die Kellnerin herbeiwinkt.

 

Tina muss nach einer Stunde wieder an die Arbeit, aber sie fragt mich, ob ich am Freitag Zeit habe. Sie und Josh wollen mit ein paar Freunden in die Stadt fahren, inklusive meiner alten Freundin Nell, die ich immer noch nicht angerufen habe.

Ich sage Tina, dass ich ihr wegen Freitag noch Bescheid gebe. Ich werde es davon abhängig machen, wie es diese Woche mit Dad läuft. Ich bin mir nicht sicher, ob ich schon in Partylaune bin.

Dads Auto ist erst in einer Stunde fertig, also schlage ich noch ein bisschen Zeit mit Bummeln tot. Ich genieße die frische Luft, die hier in den Bergen immer ein paar Grad kühler ist. Ich finde einen süßen Buchladen und kaufe den neuen Dan-Brown-Roman für Dad, den ich ihm auch vorlesen könnte, wenn er es selbst noch nicht schafft.

Schließlich steige ich wieder in Joshs BMW und fahre vorsichtig zurück zur Werkstatt.

Als ich auf dem Vorplatz den hellgrünen Jaguar Cabrio stehen sehe, beginnt mein Puls zu rasen. Josh tritt aus dem Büro, und ich steige aus dem BMW aus.

»Wir sind gerade mit dem Wagen deines Dads fertig geworden«, ruft er.

»Super, danke! Hey, ist das der Jaguar von Tony Lockwood?«, frage ich atemlos, obwohl ich die Antwort schon kenne. Ich würde das Auto immer wieder erkennen. Ethans Dad hat uns als Kinder immer darin spielen lassen.

»Nein, der von seinem Sohn«, antwortet Josh.

Damit hatte ich nicht gerechnet. »Ethan?«

»Du kennst ihn?« Er streckt mir die Hand hin, und ich gebe ihm die Schlüssel zurück.

»Ich bin mit ihm zur Schule gegangen«, erkläre ich nervös, während ich ihm zu dem Oldtimer folge. »Er war auch auf meiner Hochzeit.« Ich gebe mir alle Mühe, normal zu klingen, aber ich fürchte, meine Stimme ist zittrig.

»Stimmt, ich erinnere mich.« Er zieht ein Fensterleder aus der Tasche und entfernt damit einen Fleck auf der Kühlerhaube.

»Geht es Tony gut? Weil du meintest, das Auto gehört jetzt Ethan?«

»Oh. Ja, Tony geht es super«, antwortet er. »Er hat Ethan diese Schönheit zur Verlobung geschenkt, dem alten Glückspilz.«

»Nicht das schlechteste Auto der Welt.« Ich lächele schwach, während er das Tuch wieder einsteckt.

»Er sollte es jetzt eigentlich zurückgeben«, meint Josh und zieht vielsagend die Augenbrauen hoch.

Ich schaue ihn verwirrt an. »Was, wieso?«

»Na, jetzt wo er und Sadie sich getrennt haben?« Er runzelt die Stirn. »Wusstest du das gar nicht?«

Ich schüttele den Kopf. Adrenalin rauscht in meinen Adern. »Nein. Wann haben sie sich denn getrennt?«

»Vor einem halben Jahr etwa. Habt ihr gar keinen Kontakt mehr?«

»Nicht wirklich.« Bis zu meiner Hochzeit hatte ich ihn jahrelang nicht gesehen.

»Er wird demnächst herkommen, um den Wagen abzuholen. Du kannst ja noch kurz warten und ihm hallo sagen«, schlägt er vor.

Ich zögere, ehe mir einfällt, dass Dads Ergotherapeutin um drei vorbeischauen wollte. Ich wollte ein paar Dinge mit ihr besprechen. »Ich kann nicht, ich muss noch zu meinem Dad ins Krankenhaus. Aber richtest du ihm einen Gruß von mir aus, bitte?«

»Klar, mache ich.«

»Danke noch mal, dass ihr Dads Auto so kurzfristig dazwischengeschoben habt. Und dass ich dein ›Baby‹ leihen durfte«, füge ich lächelnd hinzu.

»Kein Ding«, erwidert er grinsend.

Ich habe Ohrensausen, als ich davonfahre und dabei immer die Augen nach Ethan aufhalte. Er und Sadie haben sich also getrennt? Er ist Single?

Ja, und ich bin verheiratet. Und daran sollte ich mich wirklich nicht erinnern müssen.

Kapitel 5

»Du hast vergessen, den Inspektionstermin abzusagen«, meckert Liz, sobald sie Dads Krankenzimmer betreten hat.

»O Shit!«, fluche ich, was ihr Stirnrunzeln nur verstärkt.

»Die Werkstatt hat mich auf dem Handy angerufen, als ich gerade gearbeitet habe«, fügt sie vorwurfsvoll hinzu.

»Ups. Tut mir leid«, entschuldige ich mich. »Hab es total vergessen.«

»Du bist rasiert!«, stellt Liz fest, als sie sich endlich meinem Dad zuwendet.

»Das war Amber«, nuschelt Dad.

»Ja, ich habe ihn rasiert«, bestätige ich mit stolzem Lächeln.

»Ich mochte deinen bärtigen Look, nicht wahr, Len?«

Ach, fahr doch zur Hölle.

Dad sagt etwas, das klingt wie »Mag das lieber«, und ich beobachte fasziniert, wie er langsam und zögerlich seine beeinträchtigte rechte Hand an sein Gesicht hebt.

»Ich auch.« Ich beuge mich über ihn und gebe ihm einen Kuss auf die glatte Wange.

»Ach, hallo!«, ruft Liz, als eine Frau Anfang vierzig an Dads Bett tritt. »Amber, das ist Lens Ergotherapeutin«, stellt sie uns vor, und rückt sich damit wieder in ihre angestammte Position als Dads Hauptpflegerin. Ich schlucke meinen Ärger runter.

 

Vier Tage später, am Freitagnachmittag, liege ich auf meinem Bett herum und beobachte die Fliegen, die gegen mein Fenster fliegen. Einmal, zweimal, dreimal. Mann, sind die dumm. Viermal. Oh, eine Biene!

Gestern Abend habe ich aus Versehen eine Motte am Badezimmerspiegel zerquetscht, als ich sie einfangen wollte. Mein erster Gedanke war: Ups. Der zweite: Was für eine schöne Lidschattenfarbe der Staub der Flügel ergeben würde. Die arme Motte. Ich glaube, ich sollte mal wieder mehr unter Leute kommen. Zum Glück habe ich heute Abend vor, mit Nell und Tina auszugehen.

Dad wurde heute in den Rehaflügel der Klinik verlegt, was ein großer Schritt für ihn ist. Er ist immer noch sehr müde, weshalb ich nicht allzu viel für ihn tun kann. Er braucht gerade seine ganze Energie und Konzentration für die verschiedenen Rehamaßnahmen: Physiotherapie, Ergotherapie und Sprachtherapie. Ich habe versucht, ihm vorzulesen, doch selbst Zuhören strengt ihn an. Liz hat mich schon gewarnt, dass ich ihn mehr ausruhen lassen soll. Er leidet an chronischer Erschöpfung, was offenbar häufig vorkommt bei Menschen, die einen Schlaganfall überlebt haben. Manchmal schläft er auch ein, während ich mit ihm rede. Ich habe angefangen, im nahe gelegenen Botanischen Garten spazieren zu gehen, um die Zeit totzuschlagen.