Kupferblut - Erbin der Flamme - Lea Diamandis - E-Book

Kupferblut - Erbin der Flamme E-Book

Lea Diamandis

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Beschreibung

Willst du zusehen, wie die Welt in Flammen steht, oder sie selbst in Brand setzen und ihre Asche nach deinem Willen formen? Nach den verhängnisvollen Offenbarungen auf dem Yuleball gehen Soleya und Aiyana getrennte Wege. Um Kronprinzessin zu werden, ist Aiyana bereit gewesen, alles zu tun –, auch Soleya das Herz zu brechen. Im Palast wird sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, und beginnt an ihrem Weg zu zweifeln. Als sie dem grausamen Plan der Königin auf die Spur kommt, ist sie zum Handeln gezwungen. Zurück in der Festung der gestohlenen Künste fühlt sich Soleya wie eine Ausgestoßene. Die Suche nach den göttlichen Artefakten schenkt ihr neue Hoffnung, doch in den Reichen der alten Gottheiten warten gefährliche Prüfungen auf sie …

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Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-69-4

Alle Rechte vorbehalten

Für Likah und Aiyana.

Für die Freundschaften,

die stärker aus jedem Sturm hervorgehen.

Inhalt

Triggerwarnung 5

Playlist 6

Kupfer in ihren Augen 7

Eine unverhoffte Begegnung 21

Die Flammenprinzessin undder Drache 33

Kein Zurück mehr 41

Aus der Zeit gefallen 51

Der Inbegriff des Sterbens 58

Wieso hast du mich nicht gerettet? 76

Scherben eines anderen Lebens 82

Callida Armitage 92

Die Brücke zwischen Lebenund Tod 105

Nächtliche Gespräche 120

Vanyas Diadem 130

Zum blutigen Hammer 145

Der Dolch der Nachtflamme 152

An der Schwelle 156

Von Annäherungen und Distanzen 177

Die Archive von Kárasol 193

Der Rand der Welt 214

Der Eispalast 224

Schachmatt 234

Farrens Zepter 244

Fremde Gewässer 259

Vergessene Lande 268

Der Preis von Feuer 275

Flammen im Inneren 291

Der Apfel fällt weit vom Stamm 303

Eine Kriegserklärung 327

Zu spät 337

Erlöschende Lichter 350

Die letzte Königin 354

Triggerwarnung: 413

Glossar 414

Triggerwarnung

Dieses Buch nutzt Inhalte, die bei einigen Leserinnen und Lesern Unwohlsein hervorrufen oder eventuelle persönliche Trigger darstellen könnten. Eine genaue Auflistung der inbegriffenen Themen bzw. Szenen ist am Ende dieses Buches zu finden, da sie explizite Spoiler zur Geschichte enthält.

Playlist

Halsey - The Tradition

Evanescence - Going Under

MARINA - Valley of the Dolls

Nightwish - Meadows of Heaven

Nightwish - Dead Gardens

Tarja - Shadow Play

Imagine Dragons - My Life

Evanescence - Your Star

Skillet - Yours to Hold

AURORA - Cure For Me

Within Temptation - Mercy Mirror

Ruelle - Big Guns

Skillet - Whispers in the Dark

Digital Daggers - In Flames

MARINA - Scab and Plaster

Taylor Swift - long story short

Fleurie - Fire In My Bones

Our Last Night - Deceiver

Digital Daggers - The Devil Within

AURORA - Artemis

Kapitel 1

Kupfer in ihren Augen

Aiyana

Aus dem Ganzkörperspiegel blickt mir eine Fremde entgegen. Als kleines Mädchen hat sie sich gesträubt, prunkvolle Kleider zu tragen. Nicht, weil sie diese nicht gemocht hat. Sie hat nicht wie ihre Mutter aussehen wollen.

Die Fremde ist das Spiegelbild ihrer Mutter. Rauchschwarze Locken fallen ihr auf die Schlüsselbeine. Einzelne Strähnen sind zurückgeflochten. Kupfer schimmert in ihren Augen, die einst honigbraun gewesen sind. Unnachgiebig und tödlich. Eine Maske in derselben Farbe verdeckt ihr Gesicht. Die Mundpartie ziert ein starres Lächeln aus Schmucksteinen. Masken schützen nicht vor dem Zorn der alten Gottheiten. Stattdessen sorgen sie dafür, dass sich die Einwohnerschaft Bellonnas täglich eine neue Persönlichkeit aussucht.

»Ist das Korsett eng genug, Eure Hoheit?«, fragt eine klare Stimme. Die Schneiderin ist in meinem Alter. Ein Lehrling. Natürlich hat Aleydis mir nicht ihre kostbare Schneidermeisterin zur Seite gestellt.

Tränen steigen in meinen Augen auf. Hinter den kristallenen Perlen färben sich die Augen der Schneiderin jadegrün. Je nach Lichteinfall tummeln sich Flecken in Blaunuancen darin. Der Duft eines nahen Frühlings streichelt meine Nase. Denk nicht an sie, Aiyana. Sie hat dich verlassen. Deine Trauer ist sie nicht wert. Ich wünschte, jemand würde das Loch in meiner Brust davon überzeugen. Ich schmecke ihren letzten Kuss auf meinen Lippen. Ihre letzte Lüge, bevor sie mich verraten hat. Du bist wie sie. Worte wie Eissplitter in meinem geschundenen Herzen.

Ich vergrabe die Fingernägel in den Handflächen. Dränge die Erinnerungen fort. Wenngleich sie ein Sturm sind und ich ein Zweig. Heute darf ich nicht zerbrechen. Nicht an Soleya denken. Meinen großen Auftritt soll sie nicht zunichtemachen.

Nach einem Blinzeln sind die Augen der Schneiderin, hinter der marmorweißen Maske, wieder türkisblau.

»Ein wenig lockerer wäre gut«, bringe ich mit mühsam kontrollierter Stimme hervor.

»Wie Ihr wünscht.« Mit geschickten Fingern zupft sie an den Schnüren. Das Korsett lockert sich, bis mir ein tiefes Ausatmen vergönnt ist. »Ist es so nach Eurem Ermessen?«

»Ja.«

Unter diesem kleinen Wort richtet sich das Mädchen auf wie eine vertrocknete Pflanze in feinem Sonnenlicht. Sein Schimmern zeichnet Lichtreflexe in ihre Ozeanaugen. Erbärmlich.

»Seid Ihr zufrieden mit Eurem Kleid?«

Ich mustere die Fremde im Spiegel. Sie trägt ein kupferfarbenes bodenlanges Kleid. Winzige Juwelen in der Farbe frischen Blutes sind in den Seidenstoff eingearbeitet. Lange Ärmel verhüllen die Tätowierung auf der Innenseite ihres linken Handgelenks.

Der Anblick meines Spiegelbildes entfacht ein Brennen in meinen Eingeweiden. Ich sehe aus wie sie. Aleydis. Das Monster aus meinen Albträumen. Du bist wie sie. Verdammt, Soleya hat recht gehabt! Flammen brechen aus mir hervor. Ihr Lichtschein spiegelt sich im Kupferstoff meines Kleides.

Meine Ohren fangen ein Klirren ein. Ein feiner Riss spaltet das Spiegelglas. Reißt mein Gesicht in zwei Hälften. Es ist zersplittert. Wie mein Inneres.

Die Schneiderin zuckt zurück. »Wie ist das passiert?«

Meine Hände verkrampfen sich zu Fäusten. Ich spanne all meine Muskeln an. Vergrabe die Magie tief in meinem Inneren. Rosafarbene Halbmonde auf meinen Handflächen spiegeln meine Unruhe wider.»Es ist ein alter morscher Spiegel«, zische ich. »Nichts, was sich nicht ersetzen lässt.«

»Ihr habt recht.« Das muss sie sagen. Der Kronprinzessin widerspricht niemand. Abwartend sieht sie mich an. Ihr linker Fuß zuckt.

Wenn sie darauf besteht, gebe ich ihr, was sie sich wünscht. »Das Kleid sieht exzellent aus«, sage ich in so perfekter Imitation von Aleydis’ honigsüßem Tonfall, dass mir übel wird. »Niemand hätte ein schöneres schneidern können als Ihr.«

Sie macht einen ungelenken Knicks. »Ich danke Euch.«

»Ich habe zu danken.« Ich mache eine wegwerfende Handbewegung. »Eine meiner Dienstmägde wird mich zur Krönungszeremonie abholen. Bis dahin möchte ich einen Augenblick für mich haben. Ihr seid entlassen.«

Nach einem Knicks verlässt sie das Zimmer. Das Zufallen der Tür ist Musik in meinen Ohren.

Ich sinke seufzend auf das Sofa in der Mitte des in Kupfer gestrichenen Empfangszimmers. Anders als die Möbel aus warmem Holz hat es die Farbe von Blut.

Ich heiße den Moment der Einsamkeit mit offenen Armen willkommen. Während des vergangenen Viertelmondes bin ich von allen Seiten umschwärmt worden. Als sei ich das Licht und die Dienerschaft die Motten. Wenn sie wüssten, dass ich die Finsternis bin, hätten sie mir sicher nicht jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Vor sieben Tagen hat sich niemand von ihnen an meinen Namen erinnert. Jetzt funkeln ihre Augen, folgen jedem meiner Schritte. Als erwarten sie, dass ich eine Lösung für alle Probleme finde. Das gemeine Volk wird heute, am Tag der Jahreswende, von meiner Rückkehr erfahren. Aleydis wird mich zu ihrer Thronerbin krönen. Werden mich meine Untertanen auf dieselbe Weise ansehen? Wissen sie, dass es zwei Töchter gegeben hat?

Glas splittert in meinem Kopf. Die letzten Scherben des Spiegels regnen auf den Marmorboden. Stechender Schmerz durchfährt mich. Dickflüssiges Blut tropft aus meiner Nase. Metall auf meinen Lippen. Spuren eines zerbrochenen Lebens.

Ich spanne meinen Kiefer an. Verbanne die Magie aus meinem Inneren. Seit drei Jahren ist die Telekinese meine Stütze. Jetzt ist mir, als schaufle sie mein frühes Grab. Camai ist immer an meiner Seite gewesen. Jetzt weiß ich nicht, wo mein Drache sich aufhält. Durch die Entfernung ist mein Zugriff auf den Magiespeicher mit zerreißender Anstrengung verbunden. Nach Bellonna zu fliegen wäre der sichere Tod eines jeden Drachen. Hoffentlich passt Camai auf Søren auf.

Was ist geschehen, nachdem ich Søren zurückgelassen habe? Die Sorge um meinen großen Bruder erschüttert mich bis ins Mark. Ein trockenes Schluchzen dringt aus den Tiefen meiner Kehle. Was wird er von mir denken, wenn er von der Krönung erfährt? Erst hat er unsere Großmutter an die Flammen verloren. Jetzt verliert er mich an das Feuer meiner Rache. Er hat stets versucht, mir meine Pläne auszureden. Gesagt, dass ich mit der Vergangenheit abschließen soll. Sørens schlimmster Albtraum ist wahr.

Meine Augen brennen. Ich blinzle die Tränen fort. Prinzessinnen weinen nicht. Außer es verschafft ihnen einen Vorteil.

Ich taste nach Camais Magie. Feinem Sprühregen gleich tröpfelt sie in meine Prothese. Ein Brüllen hallt in meinem Kopf nach. Ich lasse nicht los. Den Druck, den Camais Schmerz auf meinem Herzen abgelegt hat, kämpfe ich nieder. Wenn ich Magie brauche, hole ich sie mir. Um jeden Preis.

Ich stehe auf. Sende einen mentalen Befehl zu den Scherben, die verstreut unter dem leeren Spiegelrahmen liegen. In einem Wirbelsturm aus kristallenem Glas erheben sie sich in die Luft. Wie ein Puzzle setze ich sie in den Rahmen ein. Splitter zerreißen die Spiegeloberfläche. Zersprungenes Glas kleben ist möglich. Die Risse bleiben sichtbar.

Dennoch sehe ich die Fremde mit dem Kupfer in ihren Augen klar vor mir. Entschlossenheit liegt in ihrer Körperhaltung. Das Kinn gereckt, die Schultern gestrafft, den Rücken durchgedrückt. Heute erhält sie das Diadem, das ihr zusteht. Bis sie die Königinnenkrone trägt, ist es eine Frage der Zeit.

Die Fremde im Spiegel ist Prinzessin Aiyana Vaewing. Die Kronprinzessin des VierLänderBündnisses. Die Königin, die ihrem Volk reine Magie schenken wird. Die Fremde im Spiegel bin ich. Verdammt, ich ertrage ihren Anblick nicht!

Ich lasse die magischen Fäden los. Scherben regnen auf mich herab. In meinem Kleid und meiner Maske hinterlassen sie keinen Kratzer. Mein wundes Inneres reißt auf. Ich weiß nicht, wie lange ich mich selbst zusammenhalten kann.

***

Zwei Dienstmägde und vier Gardistinnen geleiten mich zur Feier. Möchte Aleydis, dass ihre Garde mich beschützt? Soll sie das Volk vor mir beschützen?Der Gedanke lässt mich lächeln.

Wir passieren die Gänge einer verlorenen Kindheit. Hier sind die Gärten der Träume verwelkt. Egal, wie oft das kleine Mädchen sie gegossen hat.

Mitglieder der Dienerschaft, die uns passieren, weichen uns aus. Nein, mir. Ich bin der reißende Fluss. Spüle alles fort, was sich mir in den Weg stellt. Die Angst der Dienerschaft atme ich ein wie süßen Frühlingsduft. Wenn sie mich nicht lieben, sollen sie mich fürchten.

Vor der Hintertür zum Festsaal sind ein halbes Dutzend Gardistinnen und Gardisten in ihren kupfernen Uniformen platziert. Einnehmende Stille liegt über dem Gang.

Seichte Violinenmusik fließt durch die Flügeltür. Zwei harte Musiknoten lösen sie ab. Die Tür schwingt auf. Ich schlüpfe in die Rolle der Kronprinzessin. Das gebrochene kleine Mädchen lasse ich auf dem Gang zurück. Trete in aufrechter Körperhaltung über die Türschwelle. Am Absatz einer Wendeltreppe bleibe ich stehen.

Kupferne Girlanden schmücken die hohe Decke. Im Antlitz der Blumen aus Rubinen, Amethysten und Turmalinen bricht das Licht der Kronleuchter. Am Horizont, hinter den deckenhohen Bogenfenstern, erstreckt sich ein mattweißer Winterhimmel. Üppige Tafeln und samtene Sofas am Rand der Tanzfläche warten darauf, dass die Gäste dort Platz nehmen.

Sie sind allesamt in den Farben der Morgenröte gekleidet und knien auf dem Boden. Die Häupter zur Sonne gereckt.

Ihre Sonne ist das Monster aus meinen Albträumen. Aleydis steht auf einem Podest am Fuß der Wendeltreppe. Die rauchschwarzen Locken sind zu einem strengen Knoten zurückgebunden. Ihr Samtkleid ist ein Farbenspiel aus Kupfer und Blut mit einem tiefen Rückenausschnitt.

Kaum ist das Lied des Streichorchesters verklungen, breitet Aleydis die Arme aus. Als wolle sie das Volk umarmen. Auf den Moment lauernd, in dem sie ein Messer in all die gebeugten Rücken rammen kann. »Herzlich willkommen, meine Freundinnen und Freude«, füllt ihre Honigstimme den Festsaal aus. Ich schneide eine Grimasse. »Es erfüllt mich mit tiefstem Stolz und großer Freude, euch am Morgen eines neuen Sonnenjahres in meinem Heim begrüßen zu dürfen. Es ist die Zeit eines Neuanfangs und diesen werden wir gemeinsam feiern. Mir wurde am Abend des Yulefestes ein unverhofftes Geschenk beschert, an dem ihr teilhaben sollt.« Ein ehrfürchtiges Raunen geht durch die Menge. »Wie ihr wisst, ist meine Familie vor zehn Jahren bei einem Angriff der Festung der gestohlenen Künste ums Leben gekommen.« Bedauern trübt ihre Worte. Ich knirsche mit den Zähnen. Das Bedauern gilt Aeryn. »Lange dachte ich, mein Ehemann und meine zwei wundervollen Töchter seien für immer verloren. Jedes Sonnenjahr haben wir gemeinsam ein Fest in ihrem Namen gefeiert, um sie in Ehren zu halten, und sie waren mein Antrieb in jedem meiner Kämpfe, die ich für euch ausgefochten habe.«

Glühende Funken sammeln sich in meinen verkrampften Händen. Zu meiner Linken ertönt ein Zischen. Rasch lasse ich die Magie los. Ein winziges Loch hat sich in den blutroten Stoff eines Samtvorhangs gefressen. Mein Blick flackert zu den Gardistinnen und Gardisten neben mir. Gebannt starren sie Aleydis an. Ich atme aus. Meinen Magieausbruch haben sie nicht bemerkt.

»Zehn Sonnenjahre habe ich nicht gewusst, dass ein Teil meiner Familie den Angriff überlebt hat.«

Die Menge gibt »Oh!« und »Ah!«Laute von sich.

Ich unterdrücke ein Schnauben. Sicher bin ich nicht die Thronerbin, die sie erwarten.

»Bei dem Angriff ist meine Tochter Aeryn gestorben.« Der Schmerz in ihren Worten sät Übelkeit in mir. »Aiyana, ihre Zwillingsschwester, wurde von der Anhängerschaft der Festung entführt. Ich habe ihre Leiche nie in den Trümmern gefunden, und dachte, sie wäre verschüttet worden oder verbrannt.«

Mitleidiges Seufzen brandet durch die Menge. Dringt in mein Inneres, wo eine Welle brennender Wut bricht. Siedend heiße Gischt strömt durch meine Adern. Aleydis ist eine verdammte Lügnerin.

»Letzte Woche ist ihr zur Flucht verholfen worden. Nachdem sie in der Festung von keiner Geringeren als Larentia Velaris misshandelt wurde.«

Das ist der wahrste Satz, den ich heute aus ihrem Mund vernommen habe. Larentia Velaris, das Oberhaupt der Festung und die mächtigste lebende Flüsterin, ist das zweite Monster aus meinen Albträumen. Die Tätowierung an meinem linken Handgelenk pocht im Takt meines Herzschlags. Als meine Meisterin hat Larentia mich im Umgang mit meiner Magie geschult. In der Hoffnung, eine Klinge zu schmieden, die Aleydis den Todesstoß versetzt. Unwissend, dass ich die Klinge sein werde, die sie beide vernichtet.

»Treue Untergebene der Krone haben Aiyana befreit und sie am Abend des Yulefestes durch einen Geheimgang in den Thronsaal gebracht.« Erleichterte Ausrufe erklingen. Ich blicke in zahlreiche strahlende Augen hinter unnachgiebigen Masken. »Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Beinahe hätte ich Aiyana nicht erkannt.«

Ich presse die Zähne aufeinander. Sie hat sich Aeryn gewünscht. Vergessener Schmerz eines kleinen Mädchens nimmt mir den Atem.

»Jetzt bin ich überglücklich, meine verlorene Tochter an meiner Seite zu haben. Ich bin mir sicher, dass wir in Bellonna und über die Grenzen der Kupferdynastie und des VierLänderBündnisses hinaus Gutes bewirken werden. Gemeinsam.«

Ich beiße mir auf die Innenseite der Wange. Unterdrücke ein Lachen. Mit jedem Wort wird Aleydis’ Rede lächerlicher. Meine Fassung droht zusammenzufallen.

»In der letzten Woche habe ich Aiyana Ruhe gegönnt, und wir haben viel miteinander gesprochen. Zehn verlorene Sonnenjahre aufzuholen braucht Zeit.« Aleydis’ angespannte Rückenmuskeln strafen ihre Worte Lügen. »Sie hat mir versichert, dass sie bereit ist, ihr rechtmäßiges Erbe anzutreten, und welcher Tag ist besser geeignet für Veränderungen als die Jahreswende?« Sie tritt neben die Wendeltreppe. Unsere Blicke kreuzen sich. Schaudernd schaue ich in einen Spiegel. Die Zeiten, in denen mein Spiegelbild mich beherrscht, sind vorbei. Ich knicke nicht ein. Erwidere ihren Blick mit derselben Härte. »Heißt meine Tochter herzlich willkommen!«

Ich lasse Aleydis’ Blick los, recke das Kinn und drücke den Rücken durch. Eine Hand am Treppengeländer, schreite ich die kupfernen Stufen hinab. Damals hat Aleydis mich gezwungen, sie Hunderte Male hinauf und hinabzusteigen. Ein Buch auf dem Kopf balancierend. Beim dreihundertsiebenunddreißigsten Mal bin ich ausgerutscht. Mit meinem linken Bein ist die Narbe, die ich mir zugezogen habe, verbrannt. Danach hat mich Aleydis eine Woche in meinem Zimmer eingesperrt. Nicht, ohne mir vorher ein blaues Auge zu verpassen.

Ich atme gegen die Enge in meiner Brust an. Das Mädchen von damals ist verbrannt. Aus ihrer Asche ist eine Frau auferstanden, die sich von Aleydis nicht in die Knie zwingen lässt.

Neben Aleydis bleibe ich stehen. Wage mit angehaltenem Atem einen Blick in die Menge. Tote Gesichter mit strahlenden Augen blicken mir entgegen. Unbehagen siedet in meiner Brust. Was, wenn das Strahlen Fassade ist? Ich vermisse Gesichter, in denen ich lesen kann.

Aleydis tritt näher zu mir. Meine Instinkte schreien nach Flucht. Glühende Magie lodert in mir auf. Mit zusammengepresstem Kiefer kämpfe ich sie nieder. Einen einzelnen Funken behalte ich bei mir. Sicher ist sicher.

Schraubstockartig schlingt Aleydis mir einen Arm um die Körpermitte. Sie ist die Schlingpflanze. Bereit, zuzudrücken und ihre Beute zu töten. Der Gestank von Rosenwasser verfängt sich in meiner Lunge. Aleydis hat schon immer nach ihren Lieblingsblumen gerochen. »Wehe du missachtest das Protokoll«, zischt Aleydis. Sie versetzt mir einen Schubs. Für die Zuschauenden sieht er vermutlich sanft aus. Schmerz durchzuckt meine Hüfte. »Mach schon.«

Ich beiße mir auf die Zunge. Erhobenen Hauptes trete ich aus Aleydis’ Schatten ins Licht. »Meine Freundinnen und Freunde«, echoe ich Aleydis’ Worte. Träufle so viel Honig in meine Stimme, wie ich aufbringen kann, ohne mich zu übergeben. »Es erfüllt mich mit tiefstem Stolz und großer Freude, nach zehn Jahren meinen rechtmäßigen Platz einzunehmen.« Aleydis hat mich einen Tag nach meiner Rückkehr in den Palast gezwungen, die Worte auswendig zu lernen. Sie hinterlassen den Geschmack eines Apfels mit süßer Schale und verfaultem Innerem in meinem Mund. »Ich wünsche mir inständig, dass ihr mich als eure zweite Wegbegleiterin willkommen heißt und mir die Eingewöhnungszeit in Bellonna so angenehm wie möglich bereitet. Neun Sonnenjahre im Haus unserer Feindinnen und Feinde sind nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Ich hoffe, dass ihr Nachsicht mit mir habt, wenn ich Zeit brauche, um die hiesigen Traditionen neu zu erlernen.«

Nachdem ich geendet habe, geht ein Raunen durch die Menge. Ich wage keinen Blick in die Augen hinter den Masken. Wünsche mir, meine eigene Maske abzunehmen. Mein Volk soll die echte Aiyana kennenlernen. Nicht Aleydis’ Puppe. Wenngleich ich mir nicht sicher bin, ob sie die echte Aiyana mögen würden. Ich für meinen Teil kann sie nicht ausstehen.

»Es ist Zeit, der Krone deine ewige Treue zu schwören.« Die Schärfe in Aleydis’ Stimme jagt mir einen Schauder den Rücken hinab. In den Händen hält sie einen kupfernen, rubinbesetzten Stab.

Alles in mir zieht sich zusammen. Wie es das Protokoll verlangt, knie ich mich vor Aleydis auf die Tribüne. Lähmende Angst gefriert meine Glieder. Das Monster aus meinen Albträumen ragt mit ausgefahrenen Krallen über mir auf.

Aleydis tippt mit dem Kupferstab meine linke Schulter an. »Schwörst du, mich als Regentin des VierLänderBündnisses und der Kupferdynastie gemäß unseren Traditionen und Gebräuchen zu unterstützen?«

»Das schwöre ich.«

Der Stab wandert zu meiner rechten Schulter. »Wirst du mich unterstützen, die Kraft der Gesetze der alten Gottheiten aufrechtzuerhalten, die nach unserer Verfassung gelten?«

»Das werde ich.«

Der Stab berührt mein Haar. »Wirst du dich von unserem Gesetz und den alten Gottheiten auf deinem weiteren Weg leiten lassen?«

»Ich verspreche, all das zu tun. Die alten Gottheiten werden mir auf meinem Weg zur Seite stehen.«

Eine Dienerin taucht neben Aleydis auf. Auf einem blutroten Samtkissen liegt ein filigran gearbeitetes Diadem. Vanyas Diadem nachempfunden. Das Echo eines göttlichen Artefakts. Die Kupferstreben bilden Blütenranken, in die vereinzelte Rubine eingearbeitet sind.

Aleydis legt den Stab auf die Tribüne. Packt in einer fließenden Bewegung das Diadem.

Ich beiße die Zähne zusammen. Senke das Haupt. Kühles Kupfer wiegt schwer auf meinem Kopf.

»Kronprinzessin Aiyana Vaewing von Bellonna«, hallt Aleydis’ Stimme durch den Festsaal. »Hiermit erkläre ich dich zu meiner rechtmäßigen Thronerbin.«

Mit angehaltenem Atem hebe ich den Kopf. Aleydis’ Augen sind honigbraune Dolchklingen, die auf meine Kehle zielen.

»Erhebe dich.«

Schwankend komme ich auf die Füße. Lasse Aleydis’ Blick los, wende mich den Gästen zu. Wie in meinen grausamsten Wunschträumen knien sie vor mir. Ein Funke Genugtuung glimmt in mir auf. »Erhebt euch.«

Eine hohe Violinenmelodie setzt ein. Hunderte Gäste kommen auf die Füße. Jubeln mir zu. Sehen mich an, als sei ich ein wahrgewordenes Wunder.

Sie sind unscharf wie hinter einer regenbenetzten Fensterscheibe. Ihre Freudenrufe fernes Rauschen. Die Genugtuung in mir verglimmt. Ich suche ich die Menge nach jadegrünen Augen mit blauen Reflexen ab. Nach zwei stahlgrauen Augenpaaren, die ich mir ein zweites Leben geschenkt haben. Nach Veris’ tiefem Veilchenblau und Gwyns strahlendem Blutrot. Nach Vaters Eisblau, die Suche nach einem anderen Paar eisblauer Augen vermeide ich. An diese Person möchte ich nicht denken. Getrieben von lächerlicher Hoffnung schlägt mein Herz schneller. Als es begreift, dass sie nicht hier sind, zerspringt es. Hunderte Gäste. Hunderte Jubelschreie. Nie bin ich so allein gewesen wie in diesem Augenblick.

***

Ich hasse Feierlichkeiten. Die letzten Sonnenlängen haben sich angefühlt, als würde ich durch knietiefen Schlamm waten. Aleydis hat mich allen Anwesenden vorgestellt. Hinter ihren Masken haben sie alle gleich ausgesehen. Die Ehrfurcht, mit der sie mir begegnet sind, ist an mir abgeprallt. Respekt muss ich mir verdienen. Er wird einer zukünftigen Königin nicht in die Wiege gelegt. Die Ablehnung von Lord Kanerva, dem Vertreter der Eisendynastie, ist in mein Gedächtnis eingebrannt. Er hat sich geweigert, vor mir das Haupt zu neigen. Ob es böses Blut zwischen ihm und Aleydis gibt, habe ich nicht fragen müssen. Mein Magen ist längst ein bodenloses Loch gewesen, als Aleydis mir gestattet hat zu essen. Danach hat die wahre Folter begonnen. Aleydis hat zahlreiche Adelsdamen angestiftet, mich um einen Tanz zu bitten. Folgsam habe ich die Tänze über mich ergehen lassen. Mit den Augen gelächelt. Fragen gestellt. Die Adelsdamen reden lassen. Ganz die Bilderbuchprinzessin. In Gedanken bin ich bei meinem Tanz mit Soleya auf dem Samhainfest gewesen. Bin ich ihr damals schon verfallen gewesen? Oder habe ich Veris’ und meinen Pakt, uns niemals auf eine Frau einzulassen, lange vorher gebrochen?

Seufzend lehne ich mich auf dem rubinroten Samtsofa zurück. Nach dem letzten Tanz bin ich hierher geflüchtet. Ein Glas Weißwein in den Händen. Alkoholgeruch beißt mir in die Nase. Angewidert rümpfe ich sie. Ich trinke nichts, das meine Sinne vernebelt. Mit zitternden Fingern umklammere ich den Stiel des Glases. Die blasse Flüssigkeit droht überzuschwappen. Soll ich eine Ausnahme machen? Sicher hilft ein trüber Verstand, um meine Krönungsfeierlichkeiten zu ertragen. Ich atme durch den Mund, hebe das Glas …

Bevor es meine Lippen berührt, nimmt es mir jemand aus der Hand. Die Sofapolster geben nach, als sich die Person neben mich setzt. »Das trinkst du besser nicht.«

Die Stimme hallt in meinen Ohren nach. Einem Sturm gleich legt sie Erinnerungen frei. Ein Zerrbild gleitet über die Wirklichkeit. Ein kräftig gebautes Mädchen mit zwei Zöpfen, eisblauen Augen und unzähligen Sommersprossen. Das Zerrbild zerfasert. Neben mir sitzt eine junge Frau. Mahagonifarbene Locken fallen ihr auf die Schultern. Der kräftige Körper ist zu Rundungen geworden. Ihr goldenes Kleid ist unordentlich geschnürt. Hinter der gleichfarbigen Maske funkeln jene Augen, nach denen ich nicht Ausschau halten wollte. Gerötete Adern durchziehen das Eisblau, dennoch sind die Augen vertraut wie meine eigenen.

»Hallo, Likah.« Meine Stimme klingt ungewohnt rau.

Likah Vaewing, meine Cousine. Die Tochter von Vaters Zwillingsschwester, Jessamine. Eineinhalb Sonnenjahre jünger als ich. Vor dem Schnitt, der mein Leben in Davor und Danach teilt, hat kein Blatt zwischen uns gepasst. Wir haben gern gelesen. Uns gewünscht, die Heldinnen aus unseren liebsten Abenteuergeschichten zu sein. Die furchtlosen Kriegerinnen, welche die Prinzessinnen aus dem Turm befreien. Wir sind auf Bäume geklettert, um dem Horizont näher zu sein. Wir haben Stöcke als Schwerter benutzt. Bis mein Vater nachgegeben und uns den Umgang mit Waffen gelehrt hat. Wir haben versucht, mit unserer Fantasie Magie in das triste Prinzessinnenleben zu bringen. Egal, wie oft Aeryn uns gefunden und uns bei Aleydis verpetzt hat. Laut Aleydis ist Likah ein schlechter Einfluss auf mich gewesen. Ich bin mir nicht sicher, wer wen schlecht beeinflusst hat. Likah ist meine beste Freundin gewesen. Die Schwester, die Aeryn nie gewesen ist.

Auf dem Yulefest haben sich die scharfen Kanten meines zersprungenen Herzens bei ihrem Anblick in mein Inneres gebohrt. Ich habe mir meine beste Freundin zehn Sonnenjahre lang zurückgewünscht. Wohlwissend, was ich ihr mit meinem Verschwinden aufgebürdet habe. Oft habe ich wach gelegen. Gehofft, dass Likah an der Last der Krone nicht zerbricht. Dass sie mich nicht verabscheut, nachdem ich sie in dem Leben, das sie nie gewollt hat, alleingelassen habe.

In sieben Tagen unter einem Dach hat sich mein Wunsch, Likah wiederzuhaben, nicht erfüllt. Ich habe sie einmal gesehen. Am Morgen nach meiner Rückkehr. Sie hat mich einen endlosen Augenblick angestarrt, ehe sie vor mir geflohen ist. Aleydis muss den schlechten Einfluss nicht von mir fernhalten. Likah möchte nichts mit mir zu tun haben. Der Gedanke versetzt mir einen Stich. Gut, ich habe sie genauso wenig aufgesucht. Aus Scham vor der Person, deren Anblick ich täglich im Spiegel ertragen muss. Die Frau, die Likahs Leben jegliche Unbeschwertheit genommen hat.

Ich habe nicht gedacht, dass Likah zur Feier erscheint. Ihre Mutter hat sich nicht die Mühe gemacht, ihr Landhaus für ein Fest zu meinen Ehren zu verlassen. Wenn jemand Aleydis weniger ausstehen kann als ich, dann Tante Jessamine. Der einzige Grund, aus dem sich die beiden je in einem Raum aufgehalten haben, ist Vater gewesen.

Likah leert mein Weinglas in einem Zug. »Das Diadem steht dir nicht«, ihre Stimme trieft vor Spott, »und diese Feier erst recht nicht.«

Ich fühle mich entblößt. »Du hast mich seit zehn Jahren nicht gesehen«, knurre ich. »Du kennst mich nicht, Likah.«

Sie zuckt mit den Schultern. »Diese Feier und dieses Diadem sind das, was Aerynsich gewünscht hat, nicht du. Beim Spielen ist sie die Prinzessin gewesen und wir die Kriegerinnen, die sie gerettet haben.«

Die Erinnerungen sind ein Strick um meine Kehle. »Du meinst, wenn sie uns nicht bei Aleydis verpetzt hat? Das habe ich nicht vergessen.«

Likah neigt den Kopf. »Wieso bist du dann nach zehn Jahren in diesen Käfig zurückgekehrt? Sicher nicht aus Sehnsucht nach Aleydis, Wachen, die dir überallhin folgen, und einem Leben umgeben von leeren Gesichtern.« Schmerz spricht aus ihrer Stimme. Mit zitternden Fingern schnappt sie sich eine Champagnerflöte vom Tablett eines vorbeilaufenden Dieners.

Ich presse meinen Rücken gegen die Sofapolster. Die Anklage in Likahs Worten reißt meine ältesten Wunden auf. Das kleine Mädchen von damals sehnt sich nach ihrer besten Freundin. Sie ist nie weiter von mir entfernt gewesen als in diesem Augenblick. Kein Wort verlässt meine zentnerschweren Lippen.

Likah leert die Champagnerflöte, ohne den kalkulierenden Blick von mir abzuwenden. »Denk darüber nach, ob du mir meine Frage beantworten möchtest.« Sie beugt sich zu mir. Tippt mit ihren spröden, in abgeblättertem Puderrosa lackierten Nägeln auf meine Maske. Das Klimpern des Kupfers hallt bis in meine Knochen nach. »Ich möchte wissen, wie viel von meiner besten Freundin da drin schlummert.« Sie senkt die Stimme. »Komm morgen, zwei Sonnenlängen nach dem Abendessen, in mein Zimmer, insofern die alte Aiyana nicht bei dem Unfall vor zehn Jahren gestorben ist.« Mit diesen Worten steht sie auf. Die Menschenmenge verschluckt sie, als sei Likah nie da gewesen.

»Ich hoffe, du begibst dich nicht in schlechte Gesellschaft«, zischt Aleydis’ Stimme wie aus dem Nichts dicht neben meinem Ohr.

Eine Gänsehaut zieht sich über meinen Hals. »Natürlich nicht.« Hoffentlich spiegeln meine Augen das falsche Lächeln auf meinen Lippen. »Sind dir die Adelsdamen ausgegangen oder möchte mich jemand zum Tanzen auffordern?«

Kapitel 2

Eine unverhoffte Begegnung

Soleya

Gezeichnete.Gemurmel, das die abgestandene Luft in den schattenhaften Gängen elektrisch auflädt.

Verräterin. Flüstern, das der Meereswind über die Silberinseln hinausträgt.

Abtrünnige. Schreie, die jede Nacht Teil meiner Albträume werden.

Monster. Warnungen, geboren aus Angst und Verachtung, die mich antreiben, die Schatten niemals loszulassen.

***

Vor sieben Tagen bin ich in die Festung zurückgekehrt. In dem naiven Glauben, Larentia würde meine Gabe geheim halten. Ich habe gewusst, dass etwas nicht stimmt, als sie sich am Yulemorgen mit mir vor der versammelten Anhängerschaft im Speisesaal hingestellt hat. Wenige Sätze haben mir ein Schandmal in die Haut gebrannt. Ich zahle den Preis für mein Verschwinden. Dafür, dass ich Larentia nicht an meinem ersten Tag in der Festung die Wahrheit gesagt habe. Vor allem dafür, dass ich nicht verhindert habe, dass alle entführten Kinder gestorben sind.

Die Rekrutinnen und Rekruten meiden mich im Speisesaal. In den Gängen weichen sie mir aus oder schubsen mich. Jedes Mal fangen mich die Schatten auf, bevor ich gegen die nächste Steinwand pralle. Larkin hält unsere Trainingseinheiten kurz. Veris wirft mir aus der Ferne Blicke zu, die an mir kleben wie die Schuld. Gwyn ist ihr stiller Schatten und hat kein Wort mit mir gesprochen.

Ihre Verachtung hinterlässt Narben auf meiner Haut, und ich gebe ihnen, was sie wollen. Niemand hat mich gezwungen, die übliche Trainingskleidung zu tragen. Eine Handvoll Kleider umzunähen, ist ein Leichtes gewesen. Ihre Rückenausschnitte geben den Blick auf die kupferne Narbe auf meiner pfirsichfarbenen Haut frei.

Meine Freizeit verbringe ich an Neriss’ Seite. Mit jedem vergehenden Tag wünsche ich mir mehr, auf dem Rücken meines Drachen die Festung hinter mir zu lassen und die göttlichen Artefakte zu suchen. Die vier Zündhölzer, die Nisha mir gegeben hat, trage ich immer bei mir. Ohne das Auge der Wahrheit, den Dolch aller Welten und die zwei Bücher mit den Wegbeschreibungen komme ich nicht weit. Larentia wird sicher kein zweites Mal vorschnell sein und diese mäßig gesichert in ihren Räumlichkeiten aufbewahren.

Vor einer Woche hat mir Nisha, die Herrscherin der Finsternis, offenbart, dass das Verschwinden der alten Gottheiten und ihrer vier göttlichen Artefakte ihre Strafe ist. In ihrem Durst nach Macht und gewillt, den Sterblichen Magie zu schenken, haben sie sich gewaltsam an jener der Drachen vergriffen. Die Anhängerschaft der Festung der gestohlenen Künste hat einen Weg gefunden, sich mit einem Blutritual selbst an der Magie der Drachen zu bedienen. Die Verbindung fügt den Drachen auf lange Sicht Schmerzen zu, bis hin zum Tod. Ich bin mit einem Drachen verbunden und von einer Gottheit gezeichnet, was mir einen Magiespeicher beschert hat. Neriss leidet nicht, wenn ich Kontrolle über die Schatten ausübe.

Mein hochgestecktes Ziel und die Verachtung der anderen sind eine willkommene Abwechslung im Gegensatz dazu, womit ich mich seit sieben Tagen herumschlage. Aiyanas Geist ist mir in die Festung gefolgt und lauert mir in jeder Ecke auf. Prinzessin Aiyana Vaewing, die sich der Festung angeschlossen hat, um Rache an ihrer Mutter zu nehmen, die sie neun Sonnenjahre lang misshandelt hat. Die junge Frau, die mein Anker gewesen ist, als die Welt um mich herum ins Wanken geraten ist. Du bist keine Spielfigur, hat sie gesagt. Mir geholfen, die Bücher von Larentia zu stehlen. Mir einen Blick in ihr altes Leben ermöglicht. Mich geküsst. Nachts in meinen Armen gelegen, nachdem ihre Großmutter gestorben ist. Um mir anschließend ein Messer in den Rücken zu rammen. Aiyana hat mich verraten. Wie die Königin und Larentia hat sie meine Gabe gewollt, nicht mich. Manchmal wünschte ich, ich hätte nie einen Blick hinter ihre Maske erhascht und in unserer Schneekugel verharren können, bevor die schönen Lügen auf uns herabschneien. Mit jedem zerrinnenden Tag reißt das schwarze Loch in mir auf und frisst alle schönen Erinnerungen; ihre warmen Finger, ihr Lachen, den Geschmack ihrer Lippen, ihren sehnigen Körper, der sich an meinen schmiegt. Schmerz brandet in Wellen durch mein Inneres und schlägt mein gebrochenes Herz in Scherben, wann immer meine letzten gemeinsamen Momente mit Aiyana mich einholen.

Nach einem Waldbrand wachsen neue Pflanzen. Ich habe vor, aus der Asche, die Aiyana von mir übriggelassen hat, aufzuerstehen.

***

Hinter dem Bogenfenster schmilzt die Nacht im Morgenfeuer, das Muster aus Licht und Schatten auf meine Haut zeichnet. Gedankenverloren halte ich meine linke Hand in erste Strahlen der Morgensonne, die sich auf meinen Fingerspitzen in ein tanzendes Schimmern verwandeln.

Weder Larentia noch Larkin habe ich die Lichtmagie offenbart. Die Kontrolle über sie zu erlangen, fällt mir schwerer. Mir fehlt ein Gegengewicht, bei der Schattenmagie habe ich Neriss. Obschon ich einen Magiespeicher besitze, hält mich vor allem die Blutsverbindung zu meinem Drachen davon ab, die Kontrolle zu verlieren. Versuche ich, über das Licht zu herrschen, drohe ich auszubrennen, wenn meine Konzentration abreißt.

Ich nutze jeden Augenblick des ungestörten Trainings, den ich bekomme. Mein knurrender Magen dankt mir nicht, dass ich das Frühstück habe ausfallen lassen, um mich vor Larkins Ankunft in den Trainingsraum zu schleichen.

Das Licht spinnt Fäden in blassem Rosa bis hin zu gleißendem Gold. Behutsam verwebe ich sie, bis sich auf dem Samtstoff meines rauchschwarzen Kleides Blüten aus Licht tummeln. Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen.

»Soleya?«

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich wirble herum, im selben Atemzug lasse ich das Licht gehen. Rosa und goldenes Glimmern blenden mich, ehe es mit der Morgenröte verschmilzt.

Meine Hände glühen, eilig verstecke ich sie hinter meinem Rücken und bemühe mich um einen authentischen Gesichtsausdruck ohne Künstlichkeit. Meine Narbe kribbelt, der Magiespeicher in meiner Brust pulsiert hektisch. Ich bin längst ein offenes Buch. Die letzte Seite soll niemand lesen.

Larkin tritt durch den Türrahmen, kurz huscht sein Blick zu der offenstehenden Tür. »Wie du hier hereingekommen bist, muss ich dich wohl nicht fragen …«

Ich schüttle den Kopf.

Er seufzt. »Was machst du hier?«

»Verlorene Trainingszeit aufholen.«

»Das ist löblich von dir.«

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ist dies das erste Lob, das ich seit meiner Rückkehr von ihm bekomme oder eine Lüge?

»Vor allem, wenn ich bedenke, dass heute kein Training stattfindet.«

Ich runzle die Stirn. »Wieso nicht?«

»Am Tag der Jahreswende ist das Aufnahmeritual für neue Rekrutinnen und Rekruten, hast du das vergessen?«

»Aiy…« Ich beiße mir auf die Zunge. Die erste Silbe ihres Namens hinterlässt bittersüßen Geschmack in meinem Mund. »Larentia hat es mir gegenüber erwähnt. Ich dachte nicht, dass es für mich wichtig ist.«

»Bei der Ankunft der Anwärterinnen und Anwärter haben alle anwesend zu sein«, erklärt Larkin. »Das Aufnahmeritual hingegen ist nicht für fremde Augen bestimmt.«

»Wieso fällt dann mein heutiges Training aus?«

»Dir ist sicher aufgefallen, dass der Morgen der Jahreswende in der Festung nicht gefeiert wird.«

Ich zucke mit den Schultern. Hätte es eine Feier gegeben, hätte Larentia mich zwingen müssen, dort aufzutauchen.

»Dafür gibt es heute Abend ein großes Fest. Zwischen den Prüfungen des Aufnahmerituals findet außerdem ein gemeinsames Mittagessen statt«, fährt Larkin fort. »Ihr Älteren seid herzlich eingeladen, die Frischlinge herumzuführen.«

»Ich bezweifle, dass irgendjemand eine Führung von mir möchte … oder Zeit mit mir verbringen.« Ein resigniertes Seufzen entschlüpft mir. »Wenn es sein muss …«

Zum ersten Mal seit sieben Tagen begegnet Larkin meinem Blick. Zaghaft lächelt er mir zu. »Vielleicht erlebst du eine Überraschung«, meint er mit sanfter Stimme. »Und unter uns gesagt: Ob du von Vanya gezeichnet wurdest oder nicht, spielt keine Rolle. Wichtig ist, wie du diese Gabe nutzt.«

Mein Herz stockt. »Das meinst du ernst?«

Seine Gesichtszüge erweichen. »Ich habe eine Weile gebraucht, um es zu verstehen.« Mit einer einladenden Geste deutet er auf die Tür. »Kommst du?«

Für diesen zerbrechlichen Augenblick verschwindet der Druck auf meiner Brust. Rasch schnappe ich mir meinen Mantel von der Fensterbank, ehe ich mich Larkin in federnden Schritten anschließe. »Wie läuft das Aufnahmeritual ab? Ich weiß schon, Geheimhaltung. Die anderen Rekrutinnen und Rekruten haben das Ritual selbst erlebt.« Ich schlucke trocken. »Ich nicht.«

»Da ist was dran.« Mit spitzen Fingern tippt er an sein Kinn. »Na schön, das Wissen kann dir nicht schaden.«

Ich komme nicht umhin, ihm mein strahlendstes Lächeln zu schenken.

Er schmunzelt. »Das Aufnahmeritual darf einmal im Leben absolviert werden. Es gibt drei Prüfungen. Körperliche Stärke bedeutet den Umgang mit Waffen und das erfolgreiche Absolvieren eines Ausdauer und Geschicklichkeitsparcours, der jedes Sonnenjahr einen anderen Aufbau hat.«

Daran wäre ich gescheitert.

Wir treten aus den schattenhaften Gängen nach draußen auf die Ländereien, wo uns schneidend kalter Winterwind empfängt.

»Die zweite Disziplin nennt sich innere Kraft. Larentia oder eine andere Flüsterin fordert deinen Geist heraus und du bist gezwungen, dich dem innersten Kern deines Selbst zu stellen.«

Schaudernd schlinge ich die Arme um die Körpermitte, als könne ich meinen Kern so bewahren.

»Die letzte Prüfung, Problemlösung, sieht bei jedem Aufnahmeritual anders aus. Sie erfordert sowohl Teamarbeit als auch die geistige und körperliche Stärke der Einzelnen. Bei mir ist es damals die Bergung eines Schatzes auf einer verlassenen Silberinsel gewesen.«

Ich schneide eine Grimasse. »Ich dachte, etwas verpasst zu haben. Jetzt bin ich froh, ohne Prüfung davongekommen zu sein.«

Larkins Augen funkeln amüsiert. »Das glaube ich gern.«

Wir kommen auf einem altbekannten Plateau an. Hier habe ich im vergangenen Herbst mein Blutritual mit Neriss absolviert. Eine Tribüne aus silbernem Klippengestein umschließt das Plateau als Halbkreis, dahinter schillert das Blutmeer im blassrosafarbenen Morgenlicht. Von der Mitte des Plateaus aus wacht eine Statue der Kriegerkönigin, der ersten Rekrutin, die einen Drachen als Blutsgefährten gehabt hat, über uns. Elektrisierende Blitze zucken durch die kühle Luft, zupfen an meinem Verstand und übertragen sich von der Statue aus auf mich. Meine Narbe pocht im Takt meines Herzens und meiner raschen Schritte.

»Ich muss mich zu den anderen Meisterinnen und Meistern gesellen.« Larkin berührt mich flüchtig am Oberarm. »Wenn du etwas brauchst, komm zu mir.« Mit diesen Worten ist er verschwunden.

In zittrigen Schritten nähere ich mich der Tribüne. Klirrender Wind dringt unter meine Haut, mit klammen Fingern nestle ich an meinem Mantelsaum.

»Wo ist deine Narbe, Gezeichnete?«

»Sonst willst du immer, dass sie alle sehen!«

»Dass du es wagst, hier aufzutauchen!«

»Monster!«

»Du hast nicht einmal selbst eine Prüfung absolviert!«

Ich drehe mich nicht nach den Stimmen um. Mit angezogenen Knien lasse ich mich am vorderen Rand der Tribüne auf einen Sitz aus Klippengestein sinken, schlinge die Arme um mich und widerstehe den Schatten, deren Finger zärtlich meine kühle Haut streicheln. Mich unsichtbar zu machen ist nicht der richtige Weg. Das Flüstern hinter mir ritzt Narben in meine Haut. Aiyana würde sich davon nicht in die Knie zwingen lassen, sondern die Verachtung zu ihrem Vorteil nutzen. Ich setze mich gerade hin und trage das Kleid aus Abscheu, das die gewisperten Worte weben, mit Stolz.

Die Zeit fließt wie zäher Sirup, bis Larentia neben die Statue der Kriegerkönigin tritt. In ihrem weißen Seidenkleid verschmilzt sie mit dem Schneehimmel, das Morgenlicht konturiert den Stoff in einem blassen Rosarot. »Ein neues Sonnenjahr ist angebrochen, und wie ihr seit einer Woche alle wisst, ist es Zeit für Veränderungen«, hallt ihre Stimme über das Plateau. »Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass auch im Herzen der Feinde – Bellonna – ein Umbruch stattfindet. Heute krönt Königin Aleydis Vaewing ihre totgeglaubte Tochter, Aiyana Vaewing, zu ihrer Thronerbin.«

Die Wahrheit über Aiyana hat Larentia den anderen nach unserer Flucht erzählt.

Stechender Schmerz durchfährt mich. Aiyana hat ihr Ziel erreicht. Ich kneife meine brennenden Augen zusammen und presse die Handballen darauf. Der Mahlstrom aus Bildern, der hinter meinen geschlossenen Lidern vorbeizuckt, verschwindet nicht. Aiyana in einem Kleid aus Kupfer, mit einer filigranen Krone in den rauchschwarzen Locken. Ein Thron, auf dem sie ihr Volk überragt. Immer wieder Aiyana, wie sie auf dem Krönungsball mit einer anderen Frau tanzt, sie mit sanftem Blick ansieht, und sie anschließend an einen ungestörten Ort mitnimmt. Mit einem frustrierten Schnauben öffne ich die Augen. Ein Klumpen in meiner Kehle hindert mich am Schlucken, und die finstere Verzweiflung in mir macht knisternder Wut Platz.

Larentias Worte rauschen an mir vorbei wie die Wellen des Blutmeers hinter der Tribüne. »Begrüßt mit mir die neuen Anwärterinnen und Anwärter, die sich den Weg in unsere Reihen verdienen möchten«, ist das Erste, was meine Ohren aufnehmen.

Fünf Dutzend Gestalten betreten das Plateau. Dennoch erkenne ich die stahlgrauen Augen sofort. Søren begegnet meinem Blick, und auf seinen Zügen liegt derselbe Schmerz, der seit einer Woche in meinem Inneren haust.

***

Meinen Nachmittag habe ich unverhofft mit einer Trainingseinheit verbracht. Larkin hat Larentia darum gebeten. Wenn wir, sobald der Schneefall es zulässt, in den Schlafenden Wald aufbrechen wollen, wo Vanyas Diadem versteckt sein soll, schadet mir Training nicht, sollen ihre Worte gewesen sein.

Jetzt betrete ich den Festsaal, in der Hoffnung auf ein Treffen mit Søren. Mein Training mit Larkin hat für mich neben rettender Ablenkung das Ausfallen des Mittagessens bedeutet.

Silberne und weiße Leuchtkugeln schweben in der Luft, der Duft von Schnee und verblühten Rosen tränkt die Atmosphäre. Die seichte Melodie der Violinen ist dieselbe und die Buffettische sind genauso angeordnet wie an Samhain.

Ich suche die Menge nach stahlgrauen Augen ab und schaue prompt in ein Augenpaar, das einem Wald bei Nacht ähnelt.

In zielsicheren Schritten kommt Larentia zu mir. »Mit dir hätte ich nicht gerechnet.«

Ich presse meine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. »Ich habe nicht vor, mich zu verstecken.«

»Schön.« Ein diabolisches Lächeln teilt ihre Lippen. »Ich hoffe, das heutige Training mit Larkin hat dich weitergebracht.«

Ich nicke. »Vielen Dank für die Genehmigung.«

Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. »Für das Mädchen, das mir helfen wird, die göttlichen Artefakte zu vernichten, möchte ich das Beste.« Schwerter aus Smaragden spiegeln sich in ihren Augen. »Und natürlich für das Mädchen, das mir helfen wird, eine gewisse Kronprinzessin loszuwerden.«

Ihre Worte sind eine blutleere Hand, die meine Kehle packt. »Mit den göttlichen Artefakten gelingt uns das sicher.«

Larentia macht einen Schritt auf mich zu und streichelt sanft über meinen Wangenknochen, was ein Stechen auf meiner Haut hinterlässt. Seit ich Lichtmagie besitze, schmerzt mich der Kontakt mit einst magischen Artefakten nicht mehr, unangenehm bleibt er. »Glaub nicht, dass Aleydis und Aiyana sich jetzt, wo sie dich verloren haben, bedeckt halten.«

Sie zieht ihre Hand fort und lässt mich allein mit meinen schreienden Gedanken in der Menge zurück.

Die Musik verstummt, die Aufmerksamkeit der Umstehenden schnellt zu der Flügeltür, die in den Festsaal führt. Mäßig interessiert folge ich ihren Blicken.

»Heißt unsere neuen Rekrutinnen und Rekruten herzlich willkommen«, erklingt Larentias Stimme.

Zwei Dutzend Gestalten betreten nacheinander den Festsaal. Allesamt in der silbernen Uniform der Festung gekleidet, ohne einen Anstecker, der bei vollwertigen Rekrutinnen und Rekruten die Art ihrer Magie anzeigt. Ich sehe ihre Gesichter als würde ich durch eine verschmutzte Fensterscheibe blicken.

Bis Søren den Raum betritt. Hinter seinem sandblonden Haar und den breiten Schultern sind alle anderen blass. Sein Blick findet meinen sofort.

Kaum haben alle Neuankömmlinge die Türschwelle überschritten, setzt Musik ein, und sie zerstreuen sich.

Søren bahnt sich seinen Weg durch die Menge, in meine Richtung. Ich warte ab, bis er vor mir steht, und wünschte, ich könnte den Ausdruck deuten, der sich auf seinen Zügen niedergelassen hat.

»Søren, ich …« Mir versagt die Stimme.

Er schüttelt den Kopf. »Nicht hier«, formen seine Lippen.

Mit hämmerndem Herzen schaue ich mich nach Larentia um. Sie hat mir den Rücken zugedreht und ist in ein Gespräch mit einer Meisterin, die ich nicht kenne, vertieft. Ich packe Søren am Arm und ziehe ihn mit mir, auf den Gang hinaus.

Nachdem wir um zwei Ecken gebogen sind, lasse ich ihn los. Ein Klumpen in meiner Kehle schnürt mir die Luft ab, als ich mich ihm zuwende. »Es tut mir alles so leid … Orchid … das Feuer … Khione …«, meine Stimme überschlägt sich, »und Aiyana. Ich hätte nie mit ihr in den Palast einbrechen sollen. Wenn ich gewusst hätte, was sie vorhat, … wer sie ist …«

Bevor ich weiterstammle, hat Søren die Distanz zwischen uns überbrückt und die Arme um mich geschlungen. Zuerst bin ich wie gelähmt, dann klammere ich mich an ihm fest. Obschon es sieben Tage her ist, dass mich das letzte Mal jemand umarmt hat, kommt es mir wie ein Sonnenjahr vor. Gierig atme ich Sørens Duft nach Orchideen und frisch gefallenem Schnee ein.

»Du musst dich nicht entschuldigen. Der Angriff ist nicht deine Schuld gewesen.« Seine Stimme bricht. »Ich hätte energischer mit Aiyana sein sollen … sie dazu bringen, dir die Wahrheit zu sagen …«

Ich löse unsere Umarmung, um in sein Gesicht zu sehen. Mein Herz krampft sich zusammen. Graue Regenwolken verdüstern seine Augen, und werfen einen Schatten über sein Gesicht, in das sich Linien das Kummers gegraben haben.

»Wir haben beide versagt, Aiyana vor sich selbst zu beschützen«, bringe ich mit tränenerstickter Stimme heraus. »Wieso bist du hierhergekommen?«

»Ich brauche Unterstützung und habe gehofft, dich hier anzutreffen.« Bebend verlassen die Worte seine Lippen, feiner Regennebel besprüht das Sturmgrau seiner Augen. »Aiyana ist die letzte Familie, die mir bleibt. Meine Eltern sind als Mitglieder der Stadtwache gestorben, als ich gerade ein Jahr alt war, meine Großmutter ist auch tot. In Orchid hat mich nichts mehr gehalten, nachdem ich bei der Evakuierung dort geholfen habe.« Er ringt die Hände. »Ich habe geahnt, was Aiyana vorhat, nachdem Großmutter gestorben ist, ich wusste nicht, wo du auf dem Spielbrett stehst …«

Meine Kehle zerreißt mit jedem Atemzug. »Du dachtest, ich würde bei ihr bleiben, nachdem sie mich hintergangen hat? Ich weiß nicht einmal, ob sie mich gewollt hat oder meine Gabe.«

Er lächelt traurig. »Verliebte handeln rasch unüberlegt.«

Verliebt – das Wort breitet sich ätzendem Gift gleich in meinen Adern aus. Ein Tuch aus Tränen webt sich über meinem Blick, mehr als einen erstickten Laut bringe ich nicht über die Lippen.

Einen Herzschlag später sind Sørens Arme da. Er zieht mich an sich, streicht mir über das Haar und hindert mich daran, in meinen Tränen zu ertrinken. »Du hast das Richtige getan.« Ein letztes Mal drückt er mich fest an sich, ich sauge seine Nähe in mich auf, dann begegnet er meinem Blick mit ernster Miene. »Wäre es nicht mein Ziel, dir bei deiner Mission zu helfen und einen Weg zu finden, um Aiyana vor zu mehr fatalen Fehlern zu bewahren, wäre ich nicht hier.«

»Danke.« Mit belegter Stimme berichte ich ihm von Aiyanas Verrat sowie meiner Rückkehr in die Festung. Meine Begegnung mit Nisha erwähne ich nicht. Wer weiß, ob sie Søren bestrafen würde, wenn er diese Wahrheit kennt?

»Wie hast du das Aufnahmeritual gemeistert?«, wechsle ich das Thema, als ich geendet habe.

Er reibt sich den Nacken. »Du meinst, weil ich mit fünfundzwanzig zu alt dafür bin?«

Zögernd entschlüpft ein Lachen meinen Lippen, als wolle es fragen, ob das in Ordnung ist.

Die Wolken über Sørens Zügen machen Platz für ein sachtes Lächeln. »Ich habe mich in allen drei Prüfungen bewiesen. Larentia hat keine andere Wahl gehabt als mich in der Festung aufzunehmen.« Er senkt verschwörerisch die Stimme. »Wenn sie mich abgewiesen hätte, hätte ich ihr gezeigt, dass ich mich mit einem Drachen angefreundet habe.«

Mein Herz stolpert. Ist Aiyanas Drache sicher vor ihr? »Camai?«

»Camai ist auf einer der unbewohnten Silberinseln in Sicherheit. Sie*er ist schwach, der Flug hat an ihren*seinen Kräften gezehrt. Zu Aiyana zurückkehren möchte und kann Camai nicht, was sie*ihn innerlich zerreißt. Dass Aiyana ihr*ihm täglich viel Magie entzieht, verschlimmert ihren*seinen Zustand.« Ein Schatten Traurigkeit trübt seine Miene. »Allein um Camais willen müssen wir unseren Plan in die Tat umsetzen.«

Ich hebe das Kinn. »Für Camai.« Ein Gedanke keimt in mir auf, ich seufze. »Vielleicht solltest du Camai als Trumpfkarte in der Hinterhand behalten. Ich weiß nicht, wie ich Larentia davon überzeugen soll, dich auf die Reise in den Schlafenden Wald mitzunehmen.«

Kapitel 3

Die Flammenprinzessin und

der Drache

Aiyana

Ich sollte mich beim Durchqueren meines Palasts nicht wie eine Diebin in der Nacht fühlen. Dennoch halte ich inne, sobald Schritte erklingen. Drücke mich in den Schutz der Mauern. Dankbar für meine schwarze Bluse mit einer gleichfarbigen Stoffhose. Sind die Schritte verklungen, schleiche ich weiter.

Vor der Tür zu Likahs Gemächern stehen keine Wachen. Ein Problem weniger. Ich trete von einem Fuß auf den anderen. Mit jedem verstreichenden Moment schlägt mein Herz einen Ton lauter. Likah möchte die alte Aiyana sehen. Wenn ich wüsste, wer das ist …

Zaghaft klopfe ich an die kupferne Tür. Nach atemlosen Augenblicken erklingen Geräusche im Zimmer. Kurz darauf öffnet sich die Tür einen Spalt.

Mein Atem verfängt sich in meiner Lunge. Seit acht Tagen bin ich von Masken umgeben. Jetzt schaue ich in eisblaue Augen, die zu einem runden Gesicht mit einer kleinen Stupsnase gehören. Umrahmt von mahagonifarbenen Locken, die ein Haarband zurückhält. Auf der leicht geröteten Porzellanhaut tummeln sich unzählige Sommersprossen. Mir ist, als stünde ich vor einer jüngeren Version von Tante Jessamine, und die Ähnlichkeit zu Vater zerreißt etwas in mir. Wieso hat die Schicksalsgöttin Farren mich zu Aleydis’ Spiegelbild gemacht?

Likah zupft am Saum ihres pfefferminzfarbenen Kleides. Tritt von einem Fuß auf den anderen. »Komm rein.«

Ich zwänge mich durch den Türspalt. Likahs Empfangszimmer erscheint mir zu klein für uns beide. Samtvorhänge sperren die Nacht aus. Leuchtkugeln hüllen den Raum in diffusen Schein.

Likah lässt sich auf einem ausladenden Sofa nieder. Auf dem Ebenholztisch davor steht neben einer leeren Pralinenpackung eine halb leere Rotweinflasche. Ich rümpfe die Nase. Beißender Alkoholgeruch tränkt die Luft.

Likah klopft neben sich.

Mit einer Beinlänge Abstand setze ich mich neben sie. Die Nähe zu Likah lässt mein Herz bei jedem Schlag schmerzen. »Wieso hast du mich hierhergebeten?« Meine Stimme klingt fremd, als fehle ihrer Melodie ein Ton.

»Wenn ich eines mit Mama gemeinsam habe, dann die Abneigung gegenüber Masken. Würden die alten Gottheiten mich für meine Vergehen bestrafen wollen, hätten sie es längst getan.« Likah schneidet eine Grimasse. Nach acht Tagen umgeben von toten Gesichtern verfolge ich jede Muskelregung. »Die Masken sind naiver Aberglaube und helfen, Bellonnas Schönheit zu wahren, ohne zu offenbaren, dass sie von innen zerfällt.« Ein Funke Unsicherheit gleitet durch ihren Blick. »Nimm die Maske ab. Ich möchte mit dir sprechen, nicht mit einem Zerrbild.«

In einer flinken Bewegung löse ich das Band der Maske. Lege sie auf den Sofapolstern ab. Mit donnerndem Herzschlag begegne ich Likahs Blick.

Forschend betrachtet sie mich. Als wolle sie das kleine Mädchen aus ihren Erinnerungen mit der jungen Frau vor sich abgleichen. Ein winziges Lächeln huscht über ihre Lippen. »Besser.«

Ich beiße mir auf die Innenseite der Wange. Zwinge mich, das Lächeln nicht zu erwidern.

Likahs Blick huscht zu der halbleeren Weinflasche. Sie verschränkt ihre zitternden Finger ineinander, wendet sich hastig ab. »Ich möchte eine Antwort auf die Frage, die ich dir auf der Feier gestellt habe. Wieso bist du in deinen Käfig zurückgekehrt?«

Eisblaue Augen nehmen mich gefangen. Ich laufe über eine frostige Brücke. Wird ihr Splittern meinen Tod bedeuten oder ein Akt der Befreiung sein? »Ich bin gegen meinen Willen in der Festung festgehalten worden …«

Sie rümpft die Nase. »Oh, bitte! Hältst du mich für so einfältig wie Aleydis’ Untertanen?« Ihre Abwehrhaltung schmilzt wie ein prunkvolles Kleid aus Eis in strahlendem Sonnenschein. »Vermutlich. Ich bin die ehemalige Thronerbin, die kein Interesse an Politik hat, und von der niemand irgendetwas erwartet. Außer, dass ich nachmittags aufstehe«, sie deutet auf die leere Pralinenpackung und die Weinflasche, »mich ungesund ernähre, mir das unpassendste Kleid für jeden Anlass schneidern lasse und mit der halben Dienerschaft geschlafen habe.« Schmerz zerrt an ihren Zügen. »Mama hält mich für die Enttäuschung der Familie, weil ich mich weigere, ihren Traum zu leben. Sie möchte nicht verstehen, dass er mein Albtraum ist oder was mich zu dieser Person gemacht hat. Erst habe ich meinen Vater verloren, dass Mama seitdem nicht dieselbe gewesen ist, weißt du. Dann ist meine beste Freundin gestorben und mit ihr eine unbeschwerte Zukunft.« Ihre Miene ist eine Winterlandschaft. Kummer erstickt jedes Glück an der Wurzel wie Schnee. Feine Tränenkristalle glitzern in ihren Augen und betupfen ihre dichten Wimpern. »Bis meine beste Freundin in mein Leben zurückgekehrt ist und sich die Krone genommen hat, die sie nie wollte. Es hat sich angefühlt, als wären die Zukunft, die wir uns als Kinder ausgemalt haben, und das Mädchen aus meiner Erinnerung ein zweites Mal gestorben. Deshalb habe ich mich nicht getraut, mit dir zu sprechen.«

Sie greift zwischen die Sofapolster. Zieht ein dünnes Buch mit vergilbten Seiten hervor. Ein rubinroter Drache prangt auf dem blassgelben Einband. Vor zehn Jahren ist er strahlend golden gewesen. Darüber formen rubinrote Lettern den Titel ›Die Flammenprinzessin und der Drache‹.

Eine verloren geglaubte Sehnsucht keimt in mir auf. Das Eis zu meinen Füßen ist beim Klang von Likahs Worten geschmolzen. Beim Anblick des Buches zerbricht es. Ich falle. Meinen Erinnerungen entgegen.

»Schau mal, Aiyana, die Wolke sieht aus wie ein Drache!«

»Vielleicht ist sie ein echter Drache.« Ein leises Seufzen entschlüpft meinen Lippen. Obwohl warmer Frühlingswind weht, fröstle ich. Meine geschwollene Wange pocht im Takt meines Herzens. »Ein Drache könnte mich weit von ihr wegbringen.«

Likah verflechtet ihre Finger mit meinen. »Irgendwann wird sich dein Wunsch erfüllen.«

Warmem Sonnenlicht gleich dringen ihre Worte in mein Herz. Mein Atem geht ruhiger.

Mit der anderen Hand drücke ich das Buch an meine Brust, das wir heute gemeinsam gelesen haben. In der Bibliothek hat es uns magisch angezogen. Zwischen den Seiten hat die spannendste Abenteuergeschichte überhaupt auf uns gewartet. ›Die Flammenprinzessin und der Drache‹ heißt sie. Anders als in den Büchern, die Mutter mir zu lesen erlaubt, geht es nicht um eine Prinzessin, die vor einem Drachen gerettet wird.

Die Geschichte handelt von einer Prinzessin, die auf der Schwelle zum Erwachsenwerden steht. Kurz nach dem Sternschnuppenfall und dem Auftauchen der Drachen jagen die Sterblichen die mächtigen Geschöpfe. Den Eltern der Prinzessin gelingt es, einen Drachen einzusperren. Ihr tut der Drache leid, sie freundet sich mit ihm an und ist nicht in der Lage, ihn zu befreien. Bis sie in der Stadt auf ein Mädchen in ihrem Alter trifft, das die Magie der Schatten beherrscht. Gemeinsam befreien sie den Drachen und fliehen aus dem Palast. Eine Weile tauchen sie unter, verlieben sich ineinander, und das Mädchen lehrt die Prinzessin im Umgang mit Lichtmagie. Ihre eigene Waffe darf sie nicht berühren. Kurz nachdem sie losgezogen sind, um mehr Drachen zu helfen, werden sie in einen Hinterhalt gelockt. Als sie von den Angreifenden in eine Ecke gedrängt werden, hat sie keine andere Wahl, als die verbotene Waffe ihrer Geliebten zu nutzen. Die darin hausende Magie geht auf sie über, hilft ihr, den Kampf zu beenden und das Leben ihrer Geliebten und das des Drachen zu retten. Dafür muss sie ihr eigenes Leben geben. Ihre Geliebte überlebt und schwört, die übrigen Drachen zu retten und das Andenken der Prinzessin in Ehren zu halten.

Es ist eine traurige Geschichte über Verluste. Eine, in der nicht die Drachen die Bösen sind. Die Erkenntnis zupft am Rande meines Verstandes. Als hätte ich in meinem Geschichtsunterricht etwas übersehen …

»Aiyana! Likah!«

Aeryns Ruf zerschlägt die Blase des Glücks.

Synchron springen Likah und ich auf die Füße. Das Buch glüht in meinen Händen.

Likah schiebt sich schützend vor mich. Fixiert Aeryn mit zusammengebissenen Zähnen und einem Schneesturm in den Augen.

Das Herz hämmert mir bis zum Hals.

Aeryn stellt sich auf die Zehenspitzen. »Was habt ihr da?«

Ich presse das Buch eng an mich. »Nnichts.«

Aeryn schubst Likah zur Seite. Meine beste Freundin stößt ein gepresstes Knurren aus.

Ich stolpere rückwärts. Baumrinde sticht in meinen Rücken. Wieso sind meine Finger so schwitzig? Mit einem dumpfen Knall fällt das Buch in das jadegrüne Gras.

Aeryn hebt es mit spitzen Fingern auf. Ihre Augen weiten sich beim Anblick des Einbands. Wie ein Warnsignal funkelt der rubinrote Drache darauf im Sonnenlicht. »Mama! Aiyana und Likah haben heimlich in einem Buch über Drachen gelesen!«

Eine Gestalt löst sich aus dem Schatten der Bäume. Einen Herzschlag später werde ich mit voller Wucht gegen den nächstbesten Baum geschleudert. Die Welt explodiert in glühendweißem Schmerz. Rosenduft droht mich zu ersticken. Dickflüssiges Rot sickert aus meiner Wange. Verklebt meine Locken. Ich bin nicht die Heldin aus Likahs und meiner liebsten Abenteuergeschichte. Die Wolken am Frühlingshimmel sind fortgezogen. Kein Drache wird mich vor meiner Mutter retten.

Der Nebel der Erinnerungen gibt mich frei. Behutsam strecke ich eine Hand nach dem Einband aus. Ziehe den Umriss des Drachens nach. Wehmut steigt aus den Tiefen meines Unterbewusstseins an die Oberfläche. »Ich dachte, Aleydis hätte das Buch vernichtet.«

»Das dachte ich auch, bis ich nach meiner Ankunft im Palast die ganze Bibliothek danach abgesucht habe.« Ein zartes Lächeln teilt Likahs Lippen. »Wir haben uns eigene Drachen gewünscht, kaum hatten wir die Geschichte zum ersten Mal gelesen, weißt du noch?«

Der Anblick des Buches und Likahs Worte haben einen Sturm ausgelöst. Zerstörerisch und befreiend wirbelt er mein Inneres auf. Sie ist meine beste Freundin. Daran haben zehn Sonnenjahre nichts geändert. Ich wäre eine Närrin, wenn ich sie je wieder gehenlasse oder etwas vor ihr verheimliche. Meine Schutzwälle zerfallen zu Staub. Die Grenzen zwischen meinem alten, meinem neuen und meinem jetzigen Leben verschwimmen. »Wie könnte ich das vergessen?«

Der Tränennebel über Likahs Augen lichtet sich, einen warmen Wintertag zum Vorschein bringend. »Ich wollte mehr als das.«

»Du wolltest dich der Festung anschließen.« Natürlich habe ich sie mir dort an meiner Seite gewünscht. Likah und ich, mit Drachen gegen den Rest der Welt. Hätten wir dorthin gepasst? Anders als in das Prinzessinnenleben, das uns nie gewollt hat? Hätten Veris und Gwyn Likah gemocht?

Likah nickt. »Mein naiver Kindheitstraum hat sich nicht geändert, und insgeheim habe ich mir gewünscht, dass du am Leben bist und ihn verwirklichst.« Das Eis in ihren Augen schmilzt zu trüben Pfützen. »Stattdessen habe ich Mamas Kindheitstraum leben müssen.« Sie zwirbelt eine Locke um den Zeigefinger. Im fahlen Licht gleicht ihr Schimmern dem Rotwein in der halbleeren Flasche. »Was ist vor zehn Jahren geschehen?«

Über ihren Zügen liegt eine Mischung aus Ehrlichkeit und Sorge. Der letzte Widerstand bricht. Ich bin bereit, meine Geschichte in ihre Hände zu legen. Sie wird auf sie aufpassen, wie sie zehn Sonnenjahre ein Kinderbuch gehütet hat. »Vater hat mich mit seinem Körper vor den Angreifenden abgeschirmt … mir gesagt, dass ich mich tot stellen soll … ich habe ihn sterben sehen.« Meine Finger umklammern zitternd Vaters Dolch an meinem Gürtel. »Trümmer haben mein linkes Bein eingequetscht. Vater hat auf mir gelegen. Ich konnte mich nicht bewegen.« Nasses Salz brennt auf meiner Haut. Spuren meiner zerschlagenen Kindheit. »Bevor ich ohnmächtig geworden bin, habe ich einen Blick auf Aleydis erhascht. Sie hat mich liegen lassen …«

Likah legt ihre Hand auf meinen Oberarm.

Ich schmiege mich in ihre warme, sichere Berührung. »In Orchid bin ich aufgewacht.« Ich stähle meine Stimme. Wohlwissend, dass Feuer Stahl schmilzt. Wie es mir meine Heimat und meine Großmutter genommen hat. »Eine alte Frau namens Khione hat mich in den Trümmern gefunden. Sie hat mich gesund gepflegt, mich gemeinsam mit ihrem Enkel als Teil ihrer Familie aufgezogen …« Mit zitternden Fingern rolle ich mein linkes Hosenbein nach oben. Drehe meine Prothese in Likahs Richtung. »… und mir geholfen, wieder laufen zu lernen.« Ich halte den Atem an. Warte darauf, dass sich in Likahs Gesichtsausdruck etwas verändert. Auf Mitleid. Darauf, dass sie mich ansieht, als sei ich aus Glas.

Stattdessen knufft sie mich lächelnd in die Seite. »Du bist die Heldin aus unserer liebsten Abenteuergeschichte.«

Ein Schmunzeln stiehlt sich auf meine Lippen. »Warte, bis du den Rest gehört hast.« Das Porträt eines Drachen über meinem Bett. Mein Wunsch, in die Festung aufgenommen zu werden. Das Aufnahmeritual. All das erzähle ich Likah mit einem Gefühl wie warmes Sonnenlicht in meiner Brust. Mir ist, als sei ich die Heldin, die sich die kleine Aiyana gewünscht hat. Je mehr ich erzähle, desto mehr wird mir klar, dass ich die Schurkin bin. Getrieben von loderndem Zorn, geboren aus Rache, bin ich am Blut meiner Familie erstickt, statt mich mit der Familie zufriedenzugeben, die das Schicksal mir geschenkt hat. Khione. Søren. Veris. Gwyn. Soleya erwähne ich nicht.

Stolz glimmt in Likahs Augen auf, als ich geendet habe. Ein wissendes Lächeln zeichnet sich auf ihren Lippen ab. »Ich hätte ahnen müssen, dass du einen größeren Plan verfolgst und die Krone nicht dem Prunk wegen möchtest, sondern um Gutes zu tun. Du bist zum richtigen Zeitpunkt aufgetaucht. Bellonna braucht eine Heldin, die die Stadt aus den Fängen der kupfernen Königin befreit und das Volk ins Licht führt.« Sie senkt die Stimme. »Bleibt die Frage, wo deinDrache sich aufhält und was eure gemeinsame Magie ist.«

Der Klumpen in meiner Kehle brennt beim Schlucken wie Feuer. Camai. Ein seichtes Zupfen an meinem Verstand versichert mir, dass sie*er am Leben ist. »Nach Bellonna konnte Camai nicht mitkommen.« Ich atme tief ein. »Was meine Magie angeht …« Ich taste nach den Fäden des prasselnden Kaminfeuers in einer Zimmerecke. Schmerz flammt in mir auf. Ich ignoriere ihn. Zwinge die Flammen, aufzulodern.

In Likahs Augen spiegeln sich rote Funken. Feuer und Eis fließen ineinander. Eine Mischung aus Neugierde und Furcht tritt in ihren Blick. »Ganz die Flammenprinzessin.«

»Telekinese, ich kann auch Gegenstände bewegen«, verbessere ich, das stählerne Band um meine Brust ignorierend. »Wir werden Flüsterer genannt.«

»Das macht deine Magie umso nützlicher.«

Mein Magen zieht sich zusammen. Wenn sie den Preis für meine Magie kennen würde, würde sie dann dasselbe sagen?

Likah rappelt sich auf. Abwartend sieht sie mich an. Streckt eine Hand nach mir aus. »Es gibt etwas, das ich überprüfen möchte.« Sie zwinkert mir zu. »Bisher hat mir die passende Komplizin für ein Abenteuer gefehlt. Was sagst du?«

Ohne zu zögern, ergreife ich ihre Hand.

Kapitel 4

Kein Zurück mehr

Soleya

Der Reisebeutel wiegt schwer auf meinen Schultern: Kleidung zum Wechseln, Vanyas Buch – Larentia hat es mir nach unserer gestrigen Besprechung gegeben –, ein Notizbuch, ein Füllfederhalter, Äpfel, Nüsse, Brot sowie ein Wasserbeutel sind darin verstaut.

Ich bin es gewohnt, nie zu bleiben. Als treibendes Boot auf dem tosenden Meer sehne ich mich nach einem Zuhause. Wenngleich ich nach der Reise in den Schlafenden Wald in dieses Zimmer zurückkehren werde, ist es nicht meines. Der Traum von meiner eigenen Schneiderei in Bellonna ist unerreichbar. Ein Ziehen in meiner Brust möchte mich nach Guldheim führen – zu Firan, Linn und meinen Eltern. Und zu Dahlia, meiner kleinen Schwester, die dabei gewesen ist, als Vanya mich von der Schwelle des Todes ins Leben zurückgeholt hat. Dahlia, die mich an die Königin verraten hat. Warum? Eine Frage, die mich nachts schaudernd wachliegen lässt.

Behutsam taste ich mit den Fingerspitzen nach dem Dolch aller Welten, der in einer Scheide an meinem Gürtel steckt, und konzentriere mich auf das Auge der Wahrheit, das zwischen meinen Schlüsselbeinen einem zweiten Herzen gleich pulsiert. Die magischen Impulse glätten das Meer meiner Gedanken.