Kupferblut - Gezeichnete der Dunkelheit - Lea Diamandis - E-Book

Kupferblut - Gezeichnete der Dunkelheit E-Book

Lea Diamandis

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Beschreibung

Tränen und Asche verkleben meine Wimpern und nehmen mir die Sicht auf meine Welt, aus der immer größere Stücke herausbrechen – bis nichts mehr übrig ist. Als die Königin des Vier-Länder-Bündnisses die junge Schneiderin Soleya zu sich ruft, glaubt diese, dass all ihre Träume wahr werden. Was sie jedoch nicht weiß ist, dass in ihrem Blut der Schlüssel liegt, welcher der Welt die reine Magie zurückbringen kann. Bei einem Angriff durch die Festung der gestohlenen Künste offenbart sich durch die Drachenkriegerin Aiyana der eigentliche Plan der Königin. Und für Soleya stellt sich die Frage, wem sie wirklich vertrauen kann.

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Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-43-4

Alle Rechte vorbehalten

2.Auflage

Für Julia,

weil du immer an mich und meine Geschichten glaubst und mich siehst, wie niemand sonst es kann.

Inhalt

Die Königin 6

Ein Kleid aus Sternenlicht 21

Hinter der Mauer 30

Die Kronprinzessin 42

Magie zwischen Buchrücken 54

Narben 65

Gewittersturm 78

Aiyana 85

Nur eine Spielfigur 103

Bedingungen 113

Aufbruch 126

Das Gesetz der Drachen 140

Schattengänger 157

Unsichtbare Bande 166

Der Preis der Magie 180

So leicht zu zerbrechen 190

Göttliche Gnaden 201

Tanz mit mir 214

Die Hand um meine Kehle 224

Die Orchideenstadt 239

Von Vergangenheit umhüllt 251

Roter Schnee 267

Die Welt steht still 279

Yule 283

Erst die Dunkelheit bringt Licht 297

Die Masken fallen 307

Epilog 318

Glossar 320

Danksagung 323

Triggerwarnung 325

Triggerwarnung

Dieses Buch nutzt Inhalte, die bei einigen Leserinnen und Lesern Unwohlsein hervorrufen oder eventuelle persönliche Trigger darstellen könnten. Eine genaue Auflistung der inbegriffenen Themen bzw. Szenen ist am Ende dieses Buches zu finden, da sie explizite Spoiler zur Geschichte enthält.

Kapitel 1

Die Königin

Blassorange Farbe tropft von meinen Fingerspitzen, vermischt mit kräftigem Karmesinrot. Als hielte ich die Sonne in den Händen, die an einem Wintermorgen über dem Blätterdach des Goldwaldes aufgeht und Nisha, der Herrcherin der Nacht, einen Dolch in das dunkle Herz stößt.

Eilig wische ich meine Finger an einem bereitgelegten Stofflappen ab. Fahles Licht des späten Nachmittags beleuchtet mein neuestes Werk, das vor mir auf dem hölzernen Arbeitstisch liegt. Die Maske ist aus geschliffenem Ahornholz, die Seiten zieren Blumen in einem Farbenspiel von Sonnenblumengelb bis hin zu Kirschrot. Federn in derselben Farbe sind um die Kopfpartie aufgeklebt. Lady Vissers, die Tochter des Bürgermeisters, heiratet eine Adelstochter aus Bellonna, der Hauptstadt des Vier-Länder-Bündnisses. Vereint unter der Krone meiner Heimat, der Kupferdynastie, mit ihrem Regierungssitz in Bellonna, besteht das Bündnis aus den vier großen Reichen des Kontinents: meiner Heimat, der Kupferdynastie, im Herzen des Kontinents, den Goldenen Städten im Süden, dem Bronzenen Reich im Nordwesten und der Eisendynastie im Nordosten. Seit die sterblichen Völker und die alten Gottheiten in Bellonna, der kupfernen Hauptstadt, als Schauplatz der finalen Schlacht den Krieg gegen die Drachen verloren haben, verhüllt das dort wohnhafte Volk sein Gesicht hinter Masken, während wir in Guldheim keine tragen. Obschon die alten Gottheiten schlafen, möchte niemand riskieren, dass sie ihm ins Antlitz sehen.

Ein Gefühl, das warmem Sonnenlicht gleicht, sammelt sich in meiner Brust. Lady Vissers hat nicht meinen Vater, den Schneidermeister, beauftragt, ihr eine Maske, ein Kleid und Schuhwerk für ihre Hochzeit zu fertigen. Sondern mich, seine Tochter, die im ersten Lehrjahr ihrer Ausbildung ist.

Jetzt, da die Farbe auf dem Ahornholz trocknen muss, wende ich mich einer Lage karmesinroten Stoffes zu. Meine Auftraggeberin wünscht sich, einen Sonnenaufgang am Leib zu tragen, als Symbol ihres Neubeginns in Bellonna.

Ich greife nach der Schere, die neben mir auf der Arbeitsplatte liegt. Ein Kribbeln breitet sich von meinen Fingerspitzen in meinem ganzen Körper aus. Beinahe ziehe ich die Hand zurück, als hätte ich mich verbrannt. Dabei bin ich es gewohnt, das alte Familienerbstück in den Händen zu halten. Die Schere stammt aus einer vergessenen Zeit, als unser Kontinent Byr‘daear noch über reine Magie verfügt hat. Jetzt ist sie stumpf, gelblich statt strahlend golden. Das sanfte, von der Schere ausgehende Kribbeln treibt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Es gleicht einer Klagemelodie, als sehne sich die Schere nach ihrer einstigen Magie. Meine kupferne Narbe, die sich von meinem Schulterblatt meine Wirbelsäule hinab zieht, fängt für einen Herzschlag Feuer. Zugezogen habe ich sie mir im Alter von sieben Jahren, als ich am schlammigen Ufer des Goldflusses ausgerutscht und in die Fluten gestürzt bin. Beinahe wäre ich ertrunken. Die Erinnerungen sind blass und doch mein ewiger Schatten. Dahlias Augen, die mich am Ufer erwartet haben, verfärben sich in meinen Albträumen manchmal in ein tiefes Grün, in dem ein ganzes Universum lauert.

Als ich mit acht Jahren zum ersten Mal die goldene Schere in den Händen gehalten habe, habe ich Vater von der Tonfolge in traurigem Moll erzählt. Er hat mir mit blassem Gesicht und vor Schock geweiteten Augen das Versprechen abgenommen, nie wieder zu erwähnen, was die Schere in mir auslöst. Die Magie sei fort, seit die Gottheiten verschollen sind. Verschwunden mitsamt ihren vier göttlichen Artefakten, die es einst ermöglicht haben, Magie in Gegenstände zu binden und sie für uns Sterbliche nutzbar zu machen. Seitdem schweige ich, wann immer ein Gegenstand mir eine längst vergessene Melodie vorsingt. Vater hat unsere Unterhaltung in den vergangenen neun Jahren nie mehr erwähnt. Manchmal bohrt sich sein Blick intensiv in meinen, als wisse er etwas, das mir verborgen bleibt. Ich wünsche mir, das Kribbeln abzustellen. Die Tropfen der Magie, die ich mir einbilde, zu vergessen. Die Magie ist tot, die göttlichen Artefakte sind verschollene Relikte aus einer vergangenen Zeit. Der Schere hat das wohl niemand gesagt.

»Soleya!«

Erschrocken zucke ich zusammen, die Schere gleitet mir aus der Hand. Klirrend fällt sie zu Boden. Das Kribbeln verlässt meine Adern. Die Erinnerungen an jenen Tag vor neun Jahren zerfallen zu Staub.

»Beim Auge der Sonne, Soleya!« Schnellen Schrittes eilt Linn an meine Seite und lehnt sich mit dem Rücken an den hölzernen Arbeitstisch. »Was hast du mit dem Stoff vor?«

»Mit dem Stoff?«, wiederhole ich ihre Worte. Ich bücke mich, hebe die Schere mit klammen Fingern auf und ignoriere das Kribbeln mit zusammengebissenen Zähnen. Mein Blick fällt auf den karmesinroten Samtstoff, der von einem sauberen Schnitt zerteilt wird. Mit glühenden Wangen wende ich den Blick ab. »Noch habe ich nicht zu viel abgeschnitten«, verteidige ich mich.

Linn schnaubt belustigt. »Ich habe den Stoff rechtzeitig gerettet.« Sie streicht sich die schneeweißen Locken hinter ihre spitzen Ohren. »Wir haben nur diese eine Lage karmesinroten Samtstoff und Weylin ist erst in einem Mond berechtigt, neuen zu kaufen …«

»… aber das Kleid muss am Ende dieser Woche fertig sein, einen Fehler darf ich mir nicht erlauben«, beende ich ihren Satz.

Linn tritt näher zu mir, bis sich unsere Schultern berühren. Ich lehne mich an sie, auf der Suche nach Halt. »Wenn du deine eigene Schneiderei in Bellonna eröffnen möchtest, darfst du mit deinen Gedanken bei der Arbeit nicht abschweifen.«

Ein gedehntes Seufzen dringt über meine Lippen. »Ich weiß.«

Mein Blick gleitet aus dem runden Fenster, vor dem mein Arbeitstisch steht. Eine Einbuchtung aus glattem Holz, abgeschlossen von Kristallglas, ohne Nägel oder Schrauben. Guldheim, unser Dorf, ist aus reiner Magie entstanden, jedes Haus besteht aus einem einzelnen Stück Holz. Glatte Dächer kommen ohne einen Nagel aus, vereinzelt sprießen Blätter, die sich im Bernsteinorange eines frühen Herbstes färben, aus ihnen. Gesäumt wird das Dorf von Bäumen mit kräftigen goldenen Stämmen und kristallenen Blättern, die dem Goldwald ihren Namen verleihen. Dahinter ragen die Mauern Bellonas als ein Schemen aus Kupfer im Abendrot auf. Die Stadt der Masken und der Regierungssitz des Vier-Länder-Bündnisses wirkt wie von einem Zauber erschaffen. Wann immer Bellonnische Kundschaft Vaters Schneiderei betritt, hänge ich an ihren Lippen, sammle ihre Geschichten und versuche, einen Blick in ihre Augen zu erhaschen, die ihr wahres Selbst hinter den Masken aus Glas, Holz, Metall oder Stoff spiegeln.

»Wohin sind deine Gedanken jetzt schon wieder unterwegs?« Eine Mischung aus Seufzen und Lachen rollt über Linns Lippen, vermutlich bemerkt sie meinen sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster.

»Du hast recht, ich sollte mich konzentrieren.«

Schweren Herzens wende ich mich von der Silhouette Bellonnas ab. Ich begegne Linns Blick, ihre stahlgrauen Augen betrachten mich kalkulierend. In diesem Augenblick bin ich mir fast sicher, dass ich ein offenes Buch für sie wäre, selbst wenn ich eine Maske trüge. Wir kennen einander seit zwölf Jahren. Damals sind Linns Eltern aus dem Mondscheingebirge auf einer der Silberinseln, der Heimat der Frostelfen, nach Guldheim geflohen.

Die Frostelfen und ihr Gegenstück, die Baumelfen, sind die ältesten Völker des Kontinents. Doch auch sie sind machtlos gegen das Verschwinden der Magie. Die Anhängerschaft der Festung der gestohlenen Künste hat Linns Familie, so wie viele Sterbliche aus anderen Dörfern, aus ihrer Heimat vertrieben. Dass jemand versuchen könnte, ein ganzes Volk auszulöschen, nur um Zugang zu dessen Territorium zu erhalten, ist mir unbegreiflich. Jetzt herrscht die Festung der gestohlenen Künste über die gesamten Silberinseln im Westen des Festlands, und treibt dort ihr Unwesen.

Linn und ich sind Nachbarinnen und rasch beste Freundinnen geworden. Nach der Schulzeit haben wir unsere Lehre in Vaters Schneiderei gemeinsam begonnen.

Ich zwinkere ihr zu. »Dann ist es deine Aufgabe, mich abzulenken, bevor ich mich in neuen Tagträumen verliere.«

»Na schön.« Ein Schmunzeln umspielt ihre schmalen Lippen. »Uns stehen einige interessante Aufträge bevor. Während du dich um die Garderobe für Lady Vissers kümmerst, soll ich ein Hochzeitskleid für eine Kaufmannstochter schneidern. Die ersten Bestellscheine für Kleidung für das Erntefest liegen ebenfalls auf Weylins Schreibtisch. Danach steht Yule vor der Tür, zwischen den Festtagen wird uns sicher nicht langweilig.«

»Bestimmt nicht«, pflichte ich ihr bei und schenke ihr ein Lächeln. Zum Yulefest findet ein Ball im Palast der vier Türme, dem Regierungssitz in Bellonna, statt. Süßer Schmerz durchfährt mich. Was würde ich dafür geben, an einem solchen Ball teilzunehmen!

Aus dem Augenwinkel linse ich aus dem Fenster. Die kupferne Stadt am Horizont versinkt im Abendrot. In spätestens einer Sonnenlänge wird sich ein Mantel der Stille über Bellonna und Guldheim senken. Die goldenen Bäume schimmern bereits, wie von Silbertau überzogen. »Ich mache mich wieder an die Arbeit, bis Mutter mich zum Abendessen ruft.« Mit einer zittrigen Handbewegung deute ich auf das Fenster. »Du solltest vor Inkrafttreten der Ausgangssperre heimkehren.«

Bei Nacht, wenn Nisha, die Mutter der Drachen, ihr Unwesen treibt, ist es in allen Städten des Vier-Länder-Bündnisses untersagt, die Straßen zu betreten. Ausgewählte Leute der Stadtwache sind von der Regel ausgenommen, sorgen für Ordnung, nehmen es mit den Gefahren auf und schnappen Ausreißer. Wer sich der Ausgangssperre widersetzt, riskiert einen grausamen Tod. Es heißt, die Anhängerschaft der Festung der gestohlenen Künste und ihre Drachen lauern darauf, dass jemand im trügerischen Schutz der Finsternis an sie denkt. Dann schlagen sie zu. Bei der bloßen Vorstellung daran erschaudere ich. Ich meide die Nacht nach dem Vorbild von Sahar, Nishas Zwillingsschwester, der Göttin der Sonne, und unserer Schutzgöttin, und bleibe in der Dunkelheit im Haus, in dessen Inneres diese nicht vordringen kann.

Linn schiebt die Unterlippe vor. »Du verzichtest freiwillig auf meine Gesellschaft?«

»Wenn es um Leben und Tod geht – ja«, erwidere ich mit Nachdruck in der Stimme.

»Punkt für dich.« Ihre schmalen Lippen kräuseln sich zu einem Lächeln, das ihre Augen in mattem Silber erstrahlen lässt. »Ich hoffe, du kommst ohne mich gegen deine Tagträume an.« Sie zieht mich in eine flüchtige Umarmung. Ich atme ihren Duft nach Fichtennadeln und warmem Holz ein. »Gute Nacht, Soleya.« Mit diesen Worten verschwindet sie lautlos aus der Schneiderei.

Ich lasse mich auf den hölzernen Stuhl sinken und fokussiere mich auf den karmesinroten Samtstoff, der im Öllampenschein gespenstisch schimmert. Wenn ich zu viel abgeschnitten hätte, wäre das nicht auszudenken! Das Kleid muss perfekt werden. Lady Vissers soll ihren neuen Bekanntschaften in Bellonna berichten, wessen geschickte Hände ihre Garderobe gefertigt haben. Nicht abschweifen, Soleya! Ich fahre mir durchs Haar. Das Ziepen meiner Kopfhaut bringt mich in den Moment zurück. Ich greife nach einer Lage Stoff in strahlendem Sonnenblumengelb und breite sie vor mir aus. Lady Vissers soll den Sonnenaufgang bekommen, den sie sich wünscht. Einen Farbverlauf von Karmesinrot bis hin zum Sonnenblumengelb.

Ich möchte nach der Schere greifen, da ertönt ein schwaches Klopfen an der Tür.

»Herein«, rufe ich, rapple mich auf und verlasse das Hinterzimmer.

Der Verkaufsraum ist ordentlich gehalten. Auf Schneiderpuppen und in Regalen sind die neuesten Kleider und Masken ausgestellt. Sie sind nach Farben sortiert. Der Schein eines prasselnden Kaminfeuers erhellt den Raum und spendet ihm wohlige Wärme. Auf dem Verkaufstresen stapeln sich Pergamentblätter, die ich eilig an die Seite schiebe.

Die Holztür mir gegenüber schwingt auf und eine Frau tritt, auf den Schwingen des brausenden Abendwinds, hinein. Mir stockt der Atem. Mein Gegenüber trägt ein bodenlanges, langärmliges Kleid in purem Gold, wie aus den Strahlen der Sonne gewoben. Beinahe muss ich die Augen zusammenkneifen, um mich vor seinem blendenden Glanz zu schützen. Die Haare in mattem Rauchschwarz sind zu einem kunstvollen Knoten geflochten. Vereinzelt blitzen Blüten aus Gold und Kupfer zwischen den Locken hervor. Ihre Haut, auf die ich an ihren Händen und Schlüsselbeinen einen Blick erhasche, ist von einem warmen Goldbraun, als fließe Sonnenlicht statt Blut durch ihre Adern. Eine Maske aus reinem Gold, ohne Verzierungen, verdeckt ihr Gesicht. Je näher sie mir in anmutigen Schritten, als schwebe sie über den Boden, kommt, desto deutlicher erkenne ich ihre Augenfarbe, die flüssigem Honig gleicht. Intensiv bohrt sich ihr durchdringender Blick in meinen.

Ein warmer Schauder rieselt über meine Haut. Vor mir kommt die schönste Frau zum Stehen, die ich je gesehen habe. Gleichzeitig fühle ich mich schutzlos und nackt, als falte ihr Blick die Schichten meines Selbst auf, um all meine verborgenen Geheimnisse zu lesen. Sie ist so eindrucksvoll, dass ich das Gefühl habe, sie könne in mich hineinsehen. Ich habe Mühe, nicht zurückzuweichen oder zu rufen, dass ich keine Magie spüren kann, obgleich die Schere außerhalb meiner Reichweite im Hinterzimmer liegt.

Ich verknote meine schwitzigen Finger ineinander und ermahne mich, tief in den Bauch zu atmen. Woher soll sie von der goldenen Schere und all den anderen Gegenständen wissen? Sie mag von grausamer Schönheit sein, doch die Fremde hat sicher nicht kurz vor Inkrafttreten der Ausgangssperre die Schneiderei aufgesucht, damit ich sie anstarre.

»Womit kann ich Ihnen dienen?«, frage ich und zwinge Stärke in meine Stimme. Innerlich verfluche ich mich. Ja, mein Gegenüber ist schön. Das bedeutet nicht, dass ich mich wie eine Närrin aufführen muss. Unzählige Male habe ich Kundschaft hinter dem Verkaufstresen bedient. Nichts hat sich verändert. Dennoch liegt, anders als sonst, knisternde Anspannung in der Luft, als warte ein Gewitter darauf, sich über uns zu entladen.

»Ihr seid Soleya Armitage? Die Meisterschülerin von Weylin Armitage?«, fragt die Fremde. Ihre Stimme klingt weich und kratzig, wie ein Dolch, der in einer Scheide aus Samt steckt, darauf lauernd, direkt auf mein flatterndes Herz zu zielen.

»Ja«, antworte ich zögernd.

»Es tut mir leid, dass ich Sie zu dieser späten Stunde störe, doch ich brauche ein Kleid.« Sie senkt die Stimme, eine Düsternis schwingt in ihren nächsten Worten mit. »Meine Familie ist vor zehn Jahren ums Leben gekommen, ich plane ein großes Fest zu ihrem Todestag.«

Ihre Worte erfüllen mich mit dem Gefühl, zu fallen und niemals auf dem Boden aufzukommen. Der rettende Genickbruch bleibt mir verwehrt. Ich muss etwas Aufmunterndes sagen, das der Fremden ihren Schmerz nimmt. »Das tut mir leid –«

»Nicht doch«, fällt sie mir ins Wort. »Vor allem meine Tochter hat mir mehr gegeben als jeder andere vor oder nach ihr, obwohl sie nur neun Jahre unter der Sonne verbringen durfte. Jetzt wacht Sahar über sie und sie lebt für immer auf der Sonnenseite dieser Welt.«

Ihr Tonfall klingt so verschwörerisch, dass ein warmes Gefühl in meinen Verstand sickert. Ich spüre, dass sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitet. Die Fremde zieht ein Medaillon aus der Innenseite ihres Kleides. Die Oberfläche ist aus mattem Silber, die Inschrift unleserlich. Im Licht der Abendsonne, das die Schneiderei erfüllt, gleicht sein Strahlen den Sternen am nächtlichen Firmament.

»Das Medaillon ist die einzige Erinnerung an meine Tochter, die mir geblieben ist«, erklärt mein Gegenüber.

Ein elektrisierendes Kribbeln zuckt durch mich hindurch. Ehe ich mich ermahnen kann, mich nicht zu bewegen, streifen meine Fingerspitzen das kühle Silber. Das Kribbeln wird stärker, als würde ein Gewitter in meinen Adern wüten. Donnergrollen trägt einen Schrei zu mir heran, der in meinem Kopf nachhallt. Eine Gänsehaut kriecht von meinen Fingerspitzen, meinen Arm hinauf, bis über meinen Rücken. Die uralte Narbe scheint aufzuplatzen, Flammen zucken meine Wirbelsäule hinab. Das Silber, das noch immer meine Finger berührt, ist siedend heiß. Ich ziehe meine Hand zurück. Der Nachhall des Gewitters pulsiert durch meine Adern.

»Verzeiht«, stammle ich und widerstehe dem Impuls, meine Finger aneinander zu reiben, die unangenehm brennen.

Die Fremde macht eine wegwerfende Handbewegung. »Neugierde ist menschlich«, erwidert sie in einem Tonfall, aus dem ich ein Lächeln herauszuhören glaube, das mir hinter ihrer Maske verborgen bleibt. »In fünf Tagen erwarte ich ein Kleid wie aus Mondlicht gewoben, das zu ebendiesem Medaillon passt, und meiner Tochter und mir auch in der dunkelsten Nacht den Weg weist.«

Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle. Fünf Tage. Lady Vissers Garderobe muss in sieben Tagen für die erste Anprobe bereit sein. Der Kloß gleicht Flammen, die meinen Hals hinabkriechen, als ich ihn hinunterwürge. »Das ist –« Unmöglich, möchte ich sagen. Das Wort zerfällt in meinem Mund zu Asche. Die flüssigem Honig gleichenden Augen hinter der Maske ziehen mich in ihren Bann, ich möchte mein Gegenüber nicht enttäuschen.

»Überlegt es Euch gut.« Sie streckt eine Hand nach mir aus.

Bevor ich zurückweichen kann, streicht sie mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich erschaudere. Mein Blick verliert sich in ihrem.

»Man sagte mir auch, Ihr wollt eine Schneiderin in Bellonna werden.« Mit der freien Hand greift sie in eine der eingenähten Taschen ihres Kleides. »Wenn Ihr mir meinen Wunsch erfüllt, soll Euch der Eure gewährt sein.« Sie legt einen weißen Umschlag vor mir auf den Verkaufstresen. Darauf prangt ein Siegel, das die vier göttlichen Artefakte zeigt: ein Diadem aus Kupfer, ein Zepter aus Silber, ein Medaillon aus Gold und ein Schwert aus Bronze. Darunter prangen die Initialen A V in verschnörkelter Schrift. Das Siegel und die Initialen von Aleydis Vaewing, der Königin des Bündnisses. Mein Kopf fühlt sich wie leergefegt an, nur ein einzelner Gedanke gräbt sich hartnäckig darin fest – vor fast zehn Jahren sind ihr Ehemann, König Jeldrik, und ihre beiden Töchter bei einem Anschlag der Festung der gestohlenen Künste ums Leben gekommen. Aleydis hat als Einzige überlebt.

Meine Knie werden weich. Ich stütze mich Halt suchend auf dem Verkaufstresen ab. Mein Herz vergisst seinen Takt, dann setzt es zu einer raschen Melodie an. Die Welt um mich herum erstrahlt in neuen Farben, als hätte jemand Sahar persönlich Eintritt in die Schneiderei gewährt. »Aber … das kann nicht … wie konntet Ihr … Ihr seid –« Ich beiße mir auf die Zunge, ehe sich meine Worte weiter überschlagen. Mit hämmerndem Puls blicke ich auf, die honigbraunen Augen der Fremden funkeln amüsiert. »Verzeiht, Eure Majestät.« Ich entziehe meine Wange ihrer Hand und mache einen tiefen Knicks, ohne meinen Blick von ihr abzuwenden.

»Entschuldige den Spaß, den ich mir mit dir erlaubt habe, Soleya. Sei unbesorgt, vor der Tür zur Schneiderei wartet meine Leibgarde auf mich. Ich wünsche keine Störenfriede bei diesem wichtigen Treffen.« Sie klopft mit ihren golden lackierten, langen Fingernägeln auf den Briefumschlag. Dabei betrachtet sie forschend mein Gesicht, als suche sie dort nach etwas. »Was sagst du, nimmst du mein Angebot an?«

Ein warmes Gefühl prasselt durch meine Adern und setzt sich in meinem Herzen fest. Königin Aleydis Vaewing möchte, dass ich ihr ein Kleid schneidere. Die entsprechenden Papiere, um Bellonna zu betreten, sind zum Greifen nahe. Ich spüre, dass meine Mundwinkel nach oben zucken und Hitze in meine Wangen schießt. »Natürlich, meine Königin. Es ist mir eine große Ehre und ich habe nicht vor, Euch zu enttäuschen.«

»Ich hatte gehofft, dass du zustimmst«, sagt sie mit honigsüßer Stimme. Den Briefumschlag lässt sie zurück in die Tasche ihres Kleides gleiten. »Ich sollte mich auf den Heimweg machen, bevor Nisha ihre Schergen schickt, um mich zu holen. Wir sehen uns in fünf Tagen, sobald der Morgen mein Kommen zulässt.« Mit diesen Worten macht sie auf dem Absatz kehrt. Eine goldene Sonne, die mit dem Abendrot verschmilzt, das sie hinter der Tür zur Schneiderei empfängt. Hinter ihr fällt diese mit einem dumpfen Aufschlag ins Schloss und lässt mich mit einer Stille zurück, als sei die Königin nie hier gewesen.

Mehrere Herzschläge lang bin ich erstarrt. Mein Verstand möchte nicht begreifen, nicht wahrhaben, was soeben geschehen ist.

Habe ich mich in einem Tagtraum verloren?

Wie in Trance gleitet mein Blick zum Verkaufstresen. Auf dem dunklen Holz liegt ein einziges Pergamentblatt in der Farbe milchigen Mondlichts. In kupferner Tinte steht darauf:

Ich erwarte das Kleid in fünf Tagen bei Anbruch der Morgendämmerung. Sobald Nisha die Welt verlassen hat, erscheine ich zu einer ersten Anprobe. Von allen weiteren Arbeiten ist Soleya Armitage freigestellt. Sollte ihr jemand beim Schneidern ungefragt zur Hand gehen, werde ich es wissen. Wenn ihre Arbeit so hervorragend ist, wie alle sagen, darf sie ihre Ausbildung im Palast der vier Türme abschließen. Gezeichnet, Ihre königliche Majestät, Aleydis Vaewing von Bellonna.

Darunter prangt das königliche Siegel, die Initialen der Königin in Form einer Rosenblüte.

Eine Mischung aus erfreutem Schluchzen und glockenhellem Lachen dringt über meine Lippen. Die Königin möchte, dass ich ihr ein Kleid schneidere. Fünf Tage sind ein Wimpernschlag, doch ich werde nicht versagen. Ich schmecke bereits Rauch und knisternde Elektrizität auf der Zunge – in Guldheim ist Strom teuer, in Bellona mangelt es nicht an ihm. Ich spüre eine Maske, die mir ein zweites Gesicht gibt. Eines, das meine Gedanken und meine Verbindung zu reiner Magie für immer verbirgt.

Ein Gefühl, das süßem Honig gleicht, breitet sich in meinen Adern aus, schlägt seine Zelte in meinem Herzen auf und durchströmt meinen ganzen Körper. Ich fühle mich leicht, als würde ich mit jedem Wimpernschlag davonschweben. Über die hölzernen Häuser Guldheims und den Goldwald, bis nach Bellonna, direkt in den Palast der vier Türme.

Von weit her dringen rasende Schritte an meine Ohren, schlitternd nimmt die Person zwei Stufen auf einmal. »Soleya!«

Tintenschwarze Wolken verdunkeln die Sonne in meinem Herzen, als hätte die Stimme meines kleinen Bruders sie dorthin gemalt. Die Blase, die ich mir erschaffen habe, platzt.

Firan poltert die Treppe herunter, die unsere Wohnung mit der Schneiderei verbindet. Vor mir angekommen, bleibt er schwer atmend stehen. An seinen Wangen ist die Haut erdbeerrot statt pfirsichfarben, seine dunkelblonden Haare sind zerzaust und der Blick aus seinen jadegrünen Augen fragend. »Wieso stand bis gerade eben eine königliche Kutsche vor unserem Haus? Gardisten und Gardistinnen haben die Tür bewacht. Sie hatten Waffen. Vater hat mir verboten, mich ihnen zu nähern und nachzufragen.« Er unterbricht seinen Redefluss, um tief Luft zu holen. »Vater und ich sind an den Treppenabsatz geschlichen.« Er tritt von einem Fuß auf den anderen. »Gut, ich bin ihm nachgeschlichen, aber er hat mich nicht weggeschickt. Was die Frau mit der Maske zu dir gesagt hat, haben wir nicht verstanden.« Er stellt sich auf die Zehenspitzen, reckt das Kinn und streckt die Brust raus. Firan ist dreizehn, sein nächster Wachstumsschub steht ihm noch bevor. Er reicht mir knapp bis zum Kinn. Der Anblick entlockt mir ein leises Lachen, das ich rasch als Husten tarne. In seinem Redefluss treibend, bemerkt Firan das Geräusch scheinbar nicht. »Wenn sie eine Gefahr gewesen wäre, hätte ich es mit ihr aufgenommen und dich verteidigt.«

Ich streiche ihm durch die unordentlichen, dunkelblonden Wellen. »Daran habe ich keinen Zweifel.«

Ein Lächeln huscht über seine Lippen. »Sie hat dich nicht angegriffen und Vater hat gesagt, ich soll euch nicht unterbrechen, falls es sich um einen wichtigen neuen Auftrag handelt.« Er legt den Kopf schief und betrachtet mich mit fragendem Blick. »Wer ist die Fremde gewesen und was hat sie von dir gewollt?«

Das warme Gefühl in meiner Brust kehrt zurück. Diesmal verdunkelt ein schwarzer Fleck die Sonne in meinem Inneren. Wenn ich nach Bellonna gehe, muss ich meine Familie zurücklassen. Ich deute auf den Zettel. »Lies selbst«, fordere ich Firan mit sanfter Stimme auf.

Er leistet meiner Aufforderung mit zusammengekniffenen Augen Folge. Bei jedem Wort, das er liest, wird er blasser um die kleine Stupsnase. Sein zittriger Herzschlag zeichnet sich unter dem grauen Hemd ab, als er zu mir aufblickt. »Königin Aleydis Vaewing möchte, dass du ihr ein Kleid schneiderst«, stammelt er. Es ist eine Feststellung, keine Frage.

Ich zwirble eine dunkelblonde Strähne um den Zeigefinger. »Ja«, wispere ich, unsicher, ob mein donnernder Herzschlag meine Stimme übertönt.

»Du bist die beste Schneiderin, die ich kenne und ich weiß, dass das Kleid ihre Vorstellungen übertreffen wird.«

Seine Worte entfachen eine strahlende Kerze der Hoffnung in meiner Brust. Die Gewissheit, dass mein kleiner Bruder an mich glaubt, nimmt mir einen Teil der Zweifel von den Schultern.

»Ich weiß, dass es dein Traum ist, eine Schneiderei in Bellonna zu eröffnen, … dass du dort leben möchtest –« Mit jedem Wort verliert Firans Stimme an Stärke. »Aber ich dachte, wir besorgen uns gemeinsam die entsprechenden Papiere und besuchen die Stadt der Masken zusammen.« Er schiebt die Unterlippe vor. »Wenn jemand geht, egal wohin, wieso kann sie nicht gehen?«

Die Kerze erlischt. Ein Leben in Bellonna ist mein Traum. Der Preis, den es zu zahlen gilt, wird mir bewusst, als ich in Firans glanzlose, jadegrüne Augen blicke. Ich überbrücke die Distanz zwischen uns, ziehe ihn in eine feste Umarmung und spüre seinen rasenden Herzschlag durch den Stoff meines Kleides. »Dahlia wird früher oder später ebenfalls ausziehen«, beantworte ich seine Frage bezüglich unserer Schwester mit einem Kloß im Hals. »Ich werde nicht für immer fortgehen. An den Wochenenden möchte ich meine Familie besuchen. Und Linn.« Ich streiche ihm über das Haar. »Vielleicht gefällt es mir nach der Ausbildung in Bellonna nicht und ich übernehme eines Tages Vaters Schneiderei. Guldheim ist meine Heimat. Ihr seid meine Heimat, Fir. Mutter, Vater, Linn und du.«

Meine Träume von der kupfernen Stadt und davon, hinter die Masken der Einwohnerschaft zu sehen, sind die eines jungen Mädchens, das mehr von der Welt sehen möchte. Doch der Gedanke, das Dorf am Saum des Goldwalds, umgeben von Wiesen mit Wildblumen in allen Regenbogenfarben, Tälern und abgelegenen Waldstücken, die Firan und ich gemeinsam erkundet haben, nie wiederzusehen, schmerzt. Bellonna ist nicht weit von Guldheim entfernt. Selbst wenn ich Arbeit in einer dortigen Schneiderei finde, bis ich eines Tages meine eigene eröffne, bleibt meine Familie mein Halt.

Als ich Firans Herzschlag spüre, der langsam eine ruhige Tonfolge anstimmt, weiß ich, dass ich zurückkehren werde. Immer.

***

Der Geruch von Zimt, Äpfeln, Honig und Schokolade liegt in der Luft. Ich atme ihn tief ein. Jeden Bissen meines Pfannkuchens lasse ich auf der Zunge zergehen. Der warme Teig, die weichen Äpfel und der kühle Honig vermischen sich in meinem Mund zu einer wahren Geschmacksexplosion. Was das Volk Bellonnas wohl zu Abend isst? Mit einem Stich in die Brust muss ich mir eingestehen, dass es sicher nicht Vaters Spezialpfannkuchen sind.

Der süßliche Geruch wird von angespannter Stille überlagert. Soeben habe ich meine Erzählung, wieso die Königin unsere Schneiderei betreten hat, beendet.

Mutter fährt sich unruhig durch die Haare, bis sich zahlreiche Strähnen aus ihrem dunkelblonden Haarknoten lösen. Sorge und Stolz kämpfen um die Vorherrschaft in ihrer Miene.

Vater erbleicht. Sein Blick verhakt sich mit dem meinen wie damals, als er mich vor der Schere gewarnt hat.

Dahlia betrachtet die Tischplatte. Das hellbraune Haar fällt ihr ins Gesicht, wodurch ich ihre Miene nicht deuten kann. Ihre Hände, die in der Lage sind, in vollkommener Ruhe ein Schwert zu schmieden, zittern.

Firan schaufelt ein Stück Pfannkuchen nach dem anderen in seinen Mund. Sein Kauen ist das einzige Geräusch. Geschmolzene Schokolade tropft aus seinem Mundwinkel – er schwört darauf, sie mit den Pfannkuchen zu kombinieren. Jetzt ist der Anblick ein Stich in mein Herz. Vorausgesetzt, ich enttäusche die Königin nicht, sind es solche kleinen Details, die mir am meisten fehlen werden.

Mutter fasst sich als Erste. Der Stolz gewinnt den Kampf gegen die Sorge und gleitet über ihre Züge. »Das kommt sehr plötzlich. Deine Ausbildung hat gerade erst begonnen, aber wenn sich jetzt schon in Bellonna herumspricht, welches Talent du besitzt, solltest du diese Chance nutzen.«

Mir fällt ein erster Stein vom Herzen. »Danke.«

»Ich wusste, dass dein Talent nicht lange unentdeckt bleibt. Du hast vom Meister gelernt.« Vater setzt ein mattes Lächeln auf, das seine Augen nicht erreicht. »Dennoch wünschte ich, es wäre zu einem späteren Zeitpunkt dazu gekommen.« Seine Stimme klingt hohl. »In fünf Tagen, vor deiner Abreise, müssen wir«, er trinkt einen Schluck Apfeltee, ehe er fortfährt, »dringend noch einmal miteinander sprechen.«

Die Schere liegt unten im Hinterzimmer. Dennoch durchfährt mich ein unangenehmes Prickeln, das den zwei Wespenstichen gleicht, die ich mir im Sommer bei einem Waldspaziergang mit Firan zugezogen habe. Etwas sagt mir, dass es bei diesem Gespräch nicht um das Schneidern gehen wird. Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Ohne einen Rat von dir mache ich mich sicher nicht auf den Weg nach Bellonna.«

Vater seufzt. »Wenn du fort bist, muss ich mir einen zweiten Lehrling suchen.«

»Darüber wird Linn nicht allzu erfreut sein«, murmle ich. Ich bin diejenige gewesen, die sie zu einer gemeinsamen Lehre in der Schneiderei überredet hat. »Dass sie die Garderobe für Lady Vissers an meiner Stelle fertigstellen und in den nächsten fünf Tagen meine Aufgaben übernehmen muss, sollte ich ihr schonend beibringen.«

»Das wird Linn schon verkraften«, erwidert Vater sanft, ehe er sich bei Firan erkundigt, ob er seine Hausaufgaben gemacht hat, als sei das Thema meines möglichen Umzugs nach Bellonna erledigt.

Dahlia schiebt ihren Stuhl zurück, macht auf dem Absatz kehrt und verschwindet schnellen Schrittes aus dem Esszimmer. Mein Magen zieht sich zusammen. Irgendein Wort hätte sie sagen können. Dass sie froh ist, falls ich verschwinde, hätte genügt.

Falls …

Der Umzug ist keinesfalls in Stein gemeißelt. Ich bin eine passable Schneiderin, keine Frage. Wieso sollte die Königin mich auswählen, wenn sie jede haben könnte? Was, wenn mir meine Tagträume Steine in den Weg legen? Bin ich ohne Linn, die mich rechtzeitig aus ihnen ins Jetzt zurückholt, aufgeschmissen?

Zweifel schlagen in Wellen über mir zusammen und drohen, mich in finstere Fluten hinabzuziehen. Ich senke den Blick. Niemand soll die Furcht, die sich den Weg an die Oberfläche bahnt, in meinen Augen lesen.

Ich bin nur ein Mädchen aus Guldheim. Was, wenn ich nicht nach Bellonna passe? Ein Schmutzfleck auf der kupfernen Fassade der Stadt, nichts weiter.

Was, wenn eine Maske nicht ausreicht, um mein wahres Selbst zu verbergen? Eine Maske lässt die Augenpartie frei. Die Seelenspiegel eines jeden Maskenträgers bleiben von ihr unberührt. Meine Narbe glüht auf, ich presse meinen Rücken gegen die Stuhllehne. Wage nicht, zusammenzuzucken. Ein Kribbeln erfüllt mich bis in die Haarspitzen. Was, wenn die Soleya hinter einer Maske sichtbar wird, die das Flüstern von Gegenständen hört, deren Magie sie längst verlassen hat?

Kapitel 2

Ein Kleid aus Sternenlicht

Schwarze Linien bilden den ausgestellten Rock der Frau, deren Zuhause ein weißes Pergamentblatt ist. Ich setze den Bleistift an, und möchte ein Spitzenmuster zeichnen. Statt feiner Linien bringe ich nur ein verwischtes Zickzackmuster zustande.

Reiß dich zusammen, Soleya! Wieso müssen deine Hände ausgerechnet jetzt so sehr zittern?

Ich drücke so fest mit dem Bleistift auf, dass seine Spitze abbricht. Den ruinierten Entwurf des Kleides, das die Fäden meiner Zukunft in den Händen hält, schiebe ich zu seinesgleichen. Zehn Pergamentblätter tummeln sich neben mir auf dem Arbeitstisch.

Meine Gedanken sind, Blätter im Wind gleichend, davon gewirbelt. Haben mich nicht schlafen lassen. Einige Sonnenlängen habe ich mich hin und her gewälzt. Ruhelos, ein Spiegel des Sturms in meinem Inneren. Die Umarmung des Schlafes ist mir verwehrt geblieben.

Ich habe die Nacht sinnvoll nutzen wollen, bin nach unten in die Schneiderei gegangen und habe begonnen, erste Entwürfe zu zeichnen. Entweder meine Finger versagen mir den Dienst oder meinen Ideen fehlt das gewisse Etwas. Jetzt sehen die Wolken hinter dem Fenster wie Zuckerwatte aus, die von strahlendem Kornblumenblau zerrissen wird. Als glühend goldene Scheibe erhebt sich Sahar über den fernen Dächern Bellonnas. Die Nacht hat Guldheim aus ihren Klauen freigegeben, ohne dass ich einen brauchbaren Entwurf gezeichnet habe.

Zweifel fressen, einem Rudel Wölfe gleich, an mir. Ich betrachte meine feingliedrigen Finger. Sind sie in der Lage, Wunder zu wirken? Ein Kleid zu schaffen, das einer Königin und ihrer verstorbenen Familie würdig ist?

Schritte dringen durch die dünne Holzdecke zu mir nach unten. Meine Familie erwacht an einem neuen Tag, an dem sie alle ihrer Routine nachgehen. Nur meine Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten.

Ich schließe die Augen, massiere mir die Schläfen und atme tief in den Bauch. Langsam zähle ich von zwanzig rückwärts, bis sich meine Atmung beruhigt hat.

Sogleich fische ich ein neues Pergamentblatt aus dem Stapel, setze den Bleistift an und zeichne die elfte gesichtslose Frau. Ihre Silhouette geht mir leicht von der Hand. Wenngleich sie eine leere Hülle bleibt. Eine Stellvertreterin aus Blei und Pergament, die sich für einen Wimpernschlag das Kleid einer Königin überwirft. Wollte ich die wahrhaftige Königin Aleydis Vaewing auf einem Pergamentblatt einfangen, würde ich scheitern. Wenn sie Guldheim an Festtagen besucht, geht das Raunen um, die Königin sei unter ihrer Maske entstellt. Der Unfall, bei dem ihre Familie gestorben ist, soll Brandnarben hinterlassen haben, die sich von ihrem Haaransatz, ihre Wange hinab ziehen. Früher habe ich dem Raunen kaum Beachtung geschenkt, jetzt lodert Wut in meinen Adern auf. Die Königin ist die anziehendste Frau gewesen, in deren Gegenwart ich mich je aufhalten durfte. Sollte sie Brandnarben haben, tut das ihrer Schönheit keinen Abbruch. Ich schüttle den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. Die Wut in meinen Adern erlischt. Um Königin Aleydis und den Unfall ranken sich viele Geschichten, fast alle sind in Blut geschrieben. Welche davon der Wahrheit entsprechen, weiß nur die einzige Überlebende: sie selbst.

Gedankenverloren betrachte ich die Gesichtslose. Sie braucht keine Maske, um ihr wahres Selbst zu verbergen, Augen als Seelenspiegel fehlen ihr. Aus ihrem leeren Gesicht schaut mich niemand an. Gleichzeitig ist der ovale Kopf voller verborgener Geheimnisse.

Die hungrigen Wölfe lassen von mir ab. Meine Zweifel verlieren sich mitsamt der Zuckerwattewolken im Morgenwind.

Behutsam setze ich den Bleistift an. In fließenden Bewegungen gleitet er über das Pergament. Ein seidenes Korsett, an den Schultern ausgestellte Ärmel sowie ein hoher, mit Rüschen besetzter Kragen. An der Taille liegt das Kleid eng an, danach umspielt es die Beine der Gesichtslosen, als sei der Stoff ein kleiner Wasserfall. Die Seide ist mit einem Muster aus Sternen bestickt, das weder einen Anfang noch ein Ende besitzt – ähnlich den Silberpunkten am nächtlichen Firmament. Ein Farbverlauf von Rabenfederschwarz über mattes Silber bis hin zu Zartgrau zieht sich von oben nach unten über den Stoff. Eine Maske aus tintenschwarzer Spitze, überzogen von funkelnden Diamanten, die sich ebenso im Stoff des Kleides wiederfinden, rundet das Kleid ab.

Als ich den Bleistift absetze, haben die Sonnenstrahlen draußen die Wolken durchbrochen. Morgenlicht fällt durch das Fensterglas, durchdringt meine Haut und erfüllt mich mit Wärme. Wenn das fertige Kleid halb so atemberaubend aussieht wie die Zeichnung vor mir, ist es perfekt.

Mit einem Lächeln auf den Lippen betrachte ich meinen Entwurf. Die Müdigkeit ist fort, am liebsten möchte ich mich sofort an die Arbeit machen und die Zeichnung zum Leben erwecken.

Näherkommende Schritte hallen auf dem Holzboden nach. Ich drehe mich vom Fenster fort. Vater tritt durch die Tür, die den Verkaufsraum mit dem Hinterzimmer verbindet. In den Händen hält er ein Tablett, das er vor mir auf dem Arbeitstisch abstellt.

Mein Magen rumort, als der Geruch von frischem Honig, warmem Brot und dampfendem Kaffee meine Nase kitzelt. Das Frühstück hätte ich beinahe vergessen.

»Ich weiß, wie es ist, von der eigenen Inspiration wachgehalten zu werden«, sagt Vater mit einem sanften Lächeln. »Frühstücken solltest du trotzdem.« Seine haselnussbraunen Augen beäugen meinen Entwurf kritisch.

Ich halte den Atem an. Mit klammen Fingern greife ich nach der Kaffeetasse und umklammere sie. Stellvertretend für mein Selbstvertrauen, das ich gerade erst zurückgewonnen habe.

Vater legt mir eine Hand auf die Schulter. »Dein Entwurf kann sich sehen lassen.«

Ich atme aus. »Danke.«

»Du bist meine Tochter und hast von mir gelernt, seit du eine Schere, Nadel und Faden halten konntest.«

Der Stolz, der in seiner Stimme mitschwingt, entlockt mir ein leises Lachen. »Ich kann es kaum erwarten, den Entwurf Wirklichkeit werden zu lassen«, erwidere ich.

Er schiebt das Tablett demonstrativ in meine Richtung. »Bevor du gefrühstückt hast, lasse ich dich nicht ins Lager, um nach passenden Stoffen zu suchen.«

Ein Seufzen kann ich mir nicht verkneifen. »Von mir aus.«

Im Verkaufsraum schwingt die Tür knarrend auf.

»Das muss Linn sein«, murmelt Vater. »Sie wird ein Auge auf dich haben.« Sanft drückt er meine Schulter, die Geste flutet mich mit neuer Energie. »Ich muss mich um eine Bestellung kümmern. Neue Schuhe mit Stahlkappen für den Hufschmied.« Mit diesen Worten lässt er mich im Hinterzimmer zurück.

Ich bleibe nur lange genug allein, um einen Schluck Kaffee zu trinken. Linn wechselt rasche Worte mit Vater, dann betritt sie den Raum, als sei ein Drache hinter ihr her. Ihre Wangen sind gerötet, einzelne Strähnen schneeweißen Haars haben sich aus ihrem Fischgrätenzopf gelöst. »Wieso hast du mir nichts gesagt?« Mit vor der Brust verschränkten Armen sieht sie zu mir herab, während auf ihren schmalen Lippen ein Lächeln liegt, das ihre Empörung Lügen straft.

Mit Vater hat sie im Verkaufsraum nicht lange genug gesprochen. »Woher weißt du …« Ich fahre mir durchs Haar. »Firan.«

Sie nickt. »Kaum hatte Nives ihm die Tür geöffnet, hat er davon erzählt.« Linns jüngerer Bruder Nives und Firan sind im selben Alter und gehen jeden Morgen zusammen zur Schule. Strahlende Silberkristalle treten an die Stelle von Linns Augen. »Ich kann nicht glauben, dass du ein Kleid für die Königin schneidern sollst.« Sie löst ihre verschränkten Arme, tritt an meine Seite und zieht mich in eine Umarmung. »Dann wird dein Traum schneller wahr, als du gedacht hast.«

Ihre Euphorie ist so ansteckend, dass ich lachen muss. Meine Zweifel sind für diesen Augenblick vergessen, als hätte Linns Umarmung sie in Rauch aufgelöst. »Dafür muss das Kleid perfekt werden – innerhalb von fünf Tagen.«

Linn löst sich aus der Umarmung. Ihre Miene ist mit einem Mal ernst. »Das wird es. Und ein bisschen hasse ich es, das zu sagen. Wenn du nach Bellonna gehst, wirst du mir fehlen.«

»Ich werde dich besuchen«, verspreche ich ihr. Darüber, lange von Linn und meiner Familie getrennt zu sein, möchte ich jetzt nicht nachdenken. »Weißt du, was du noch mehr hassen wirst? Die Garderobe für Lady Vissers, die du fertigstellen musst.«

Linn verdreht die Augen. »Wenn es sein muss«, stöhnt sie.

»Sonst werde ich nicht rechtzeitig mit dem Kleid fertig.«

»Na schön, aber nur weil du es bist«, murmelt sie zähneknirschend, dann hellt sich ihre Miene auf. »Zeigst du mir jetzt endlich deinen Entwurf?«

»Weil du es bist«, wiederhole ich ihre Worte und deute auf meine Zeichnung. Nach einem schnellen Frühstück wird sie hoffentlich erste Formen in der Wirklichkeit annehmen.

***

Ein Fluss aus Sternenlicht ergießt sich über meine Finger. Ich stecke den Stoff mit einer Sicherheitsnadel fest. Anschließend gehe ich im Kreis um die Schneiderpuppe herum und überprüfe, ob die Rüschen gleichmäßig fallen. Perfekt. Das Kleid aus meinen Gedanken nimmt Form an.

Die Maße der Königin haben hinten auf dem Zettel, den sie mir hinterlassen hat, gestanden. Ich hoffe, das Kleid wir ihr gefallen und passen. Wenn ich mir die falsche Schneiderpuppe ausgesucht habe, wäre das ein Desaster.

Ich zwinge meine Gedanken zur Ruhe, beuge mich über den Arbeitstisch und öffne die schmale Schatulle voll funkelnder Diamanten, die mich dort erwartet. Meine Fingerspitzen kribbeln erwartungsvoll. Jetzt gilt es, fehlerfrei zu arbeiten. Bringe ich einen Diamanten falsch auf dem Stoff an, ist die Arbeit von drei Tagen dahin und ich muss von vorne anfangen. Die Körner in der Sanduhr fallen schneller als ich dachte. Einen Fehler darf ich mir, so kurz bevor das letzte von ihnen den Boden erreicht, nicht erlauben.

Ich greife nach einer silbernen Pinzette, nehme behutsam einen der Diamanten auf und tunke ihn in den Bottich mit durchsichtigem Leim, den Vater aus dem Saft der Mondblume herstellt. Meine Finger hören auf zu zittern, je näher der Diamant dem Stoff kommt. Ich setze ihn an den vorbestimmten Platz, und ein erster Stern glimmt an dem seidenen Firmament auf.

Sein Funkeln überträgt sich auf mich, treibt mir ein Lächeln auf die Lippen und verbrennt meine Sorgen. Ich werde nicht scheitern.

Schon bald trägt die Schneiderpuppe ein Kleid, wie aus flüssig gewordenem Sternlicht gewoben. Mit angehaltenem Atem betrachte ich mein Werk. Wenn die Maske halb so schön aussieht, sehe ich erstmals, was sich hinter den Mauern Bellonnas verbirgt.

Verlier dich nicht in Tagträumen, Soleya. Nicht so kurz, bevor sie Wirklichkeit werden.

Wie aus dem Nichts schlingt jemand einen Arm um meine Schulter. Ich zucke zusammen, entwinde mich der Umarmung und funkle Vater wütend an. »Können Linn und du euch nicht wenigstens bemerkbar machen?«

Um seine Mundwinkel zuckt es. »Dann könnten wir dich nicht heimlich bei deiner Arbeit beobachten.« Diesmal lasse ich seine Umarmung zu, lehne mich hinein und atme seinen Duft ein. Er riecht nach Farbe, vermutlich hat er soeben Stoffe bemalt. »Das Kleid sieht großartig aus. Die Königin wird es lieben.«

Einem warmen Kaminfeuer gleich, prasseln seine Worte durch meine Adern.

Sanft löst er die Umarmung. Das Lächeln verlässt seine Lippen, um Platz für eine ernste Miene zu machen. »Du wirst in zwei Tagen nach Bellonna reisen.«

»Die Königin hat das Kleid noch gar nicht gesehen«, unterbreche ich ihn. »Und die Maske ist nicht fertig.«

»Ich bin Schneidermeister und habe das Kleid gesehen. Vertrau mir«, gibt er mit einem matten Lächeln, das seine Augen nicht erreicht, zurück. »Wir müssen miteinander sprechen, Soleya.« Er senkt die Stimme. »Ich weiß, dass du eine stärkere Verbindung zu letzten Spuren reiner Magie hast als andere. Du bist besonders sensibel.« Ein Ruck geht durch seinen Körper, als müsse er Knochenarbeit leisten. »Und, dass dir einst magische Artefakte Schmerzen bereiten. Obwohl sie nach dem Sternschuppenfall und dem Krieg ihre Kräfte verloren haben.« Er legt eine Hand auf meine Wange, sein Blick verhakt sich mit meinem. Ich wage nicht, zu atmen. »In Guldheim weiß kaum jemand, dass das möglich ist, womöglich sind deine Mutter, du und ich die Einzigen. Es sollte nicht möglich sein. Pass auf, wem du in Bellonna deine Sensibilität offenbarst.«

Seine Worte legen mir ein schweres Gewicht auf die Schultern. »Was, wenn mir in Bellonna jemand helfen kann?«, frage ich mit zerbrechender Stimme. Was, wenn jemand dafür sorgen kann, dass es aufhört? Das Flüstern. Der Schmerz. Alles.

Abgründe schimmern in seinen hellbraunen Augen. Damals, nach dem Unfall, sind es Dahlias Augen gewesen, die den seinen gleichen, und mich auf diese Weise angesehen haben. »Versprich mir, vorsichtig zu sein und such nur nach Antworten, wenn du keinen anderen Ausweg siehst. Manchmal ist es einfacher, einen Teil deines Selbst hinter einer Maske zu verbergen.«

»Ich werde vorsichtig sein«, verspreche ich ihm, um eine feste Stimme bemüht.

»Gut.« Sein Griff gibt mich frei. »Kümmere dich um das Kleid. Du möchtest die Königin nicht enttäuschen.«

Er lässt mich allein, bevor ich etwas erwidern kann.

Meine Sensibilität, wie er es genannt hat, möchte ich niemandem offenbaren. Eine Maske zu tragen, erscheint mir immer verlockender. Doch kann diese nur mein Gesicht verbergen. Nichts, was in meinem Blut darauf lauert, aus mir herauszubrechen.

***

Ein blasser Morgen taucht Guldheim in dichten Nebel. Links und rechts von Firan und Linn flankiert, stehe ich im Türrahmen der Schneiderei. Wir können nicht weiter als wenige Fuß schauen. Zu dicht ist der Nebel. Wann erscheint die Königin? Die Anspannung in der Luft ist auf der Zunge zu schmecken. Linn fährt sich in fahrigen Bewegungen durch das schneeweiße Haar. Firan wippt aufgeregt auf den Fußballen.

Die beiden spiegeln mein Inneres. Äußerlich starre ich wie betäubt den Nebel an, in meiner Brust schlägt mir das Herz bis zum Hals. Elektrisierende Blitze knistern in meinen Adern.

Heute ist mein großer Tag. Das Kleid und die Maske stehen im Vorraum der Schneiderei für die Königin bereit.

Zuerst dringt das Rattern von Kutschenrädern auf den Pflastersteinen an meine Ohren. Gefolgt von einem Raunen, das einem Schwarm Wespen gleicht, und zielsicheren Schritten.

Ich rolle meine Schultern nach hinten und bemühe mich um eine aufrechte Körperhaltung. Firan und Linn stehen starr neben mir, unsere Schultern sind eng aneinandergepresst. Zittere nur ich oder wir alle?

Drei Gestalten materialisieren sich aus dem Nebel. Zwei Gardistinnen in kupfernen Uniformen, von der Kleidung bis zu den Masken, mit kahl rasierten Schädeln flankieren die Königin. Ihr Kleid und ihre Maske schimmern wie reines Sonnenlicht, das den Nebel durchdringt. Als seien Linn und Firan Luft, verschmilzt ihr Blick mit meinem.

Mein Herz droht, mir aus der Brust zu springen. In meinem vernebelten Verstand ist gerade genug Platz für die Gewissheit, dass ich einen Knicks machen muss. Firan und Linn tun es mir gleich.

Eine Armlänge vor uns bleibt die Königin stehen.

»Willkommen, Eure Majestät«, sage ich um eine Stimme bemüht, die einer Königin würdig ist. »Es ist mir eine Ehre gewesen, Euch ein Kleid zu schneidern und ich hoffe, es genügt Euren Ansprüchen.«

»Die Freude ist ganz meinerseits«, erwidert sie mit honigsüßer Stimme. Ihr Blick zuckt zu Linn und Firan. »Wer ist unser Publikum?«

»Firan ist mein Bruder und Aislinn meine beste Freundin«, antworte ich. »Wenn ihre Anwesenheit unerwünscht ist –«

»Aber nein«, winkt die Königin ab.

Ich atme auf. »Ich möchte Euch nicht länger warten lassen. Lasst uns eintreten.«

Ich werfe Firan einen scharfen Blick zu. Er versteht und öffnet die Tür. »Nach Ihnen, Eure Majestät.« Seine Stimme klingt hohl.

Die Königin sieht ihn mit warmem Blick an, den er nicht erwidert, ehe sie die Schneiderei betritt.

Linn, Firan und ich folgen ihr.

Das Kleid steht, auf einer Schneiderpuppe, in der Mitte des Raumes und zieht die vollkommene Aufmerksamkeit der Königin an. Wie eine Berglöwin ihre Beute, umkreist sie die Schneiderpuppe.

Mein Herz schlägt unruhig, im Takt ihrer Schritte.

Linn streckt eine Hand nach mir aus. Ich schiebe sie weg. Vor der Königin darf ich mir nicht erlauben, Schwäche zu zeigen.

Nach endlosen Herzschlägen wendet sich die Königin mir zu. Ihr Blick nimmt mich gefangen, ich falle in einen Abgrund, voll gleißenden Sonnenlichts. Wage nicht, zu atmen oder mich zu bewegen. In diesem Augenblick gehe ich über ein Drahtseil. Ein Wort der Königin genügt, um mich auf die andere Seite zu bringen oder in die Tiefe stürzen zu lassen.

»Das Kleid übertrifft all meine Vorstellungen. Es ist perfekt.« Warm sickern ihre Worte in mein Herz, nisten sich dort ein und treiben es zu einer hoffnungsvollen Melodie an. »Ich hoffe, du hast gepackt, Soleya. Wir brechen gleich auf.«

Kapitel 3

Hinter der Mauer

Ich starre mein Spiegelbild so energisch an, dass ich erwarte, dass es mich jeden Augenblick ermahnt, damit aufzuhören. Jede Facette des Gesichts, das mir seit siebzehn Jahren vertraut ist, präge ich mir ein. Welliges Haar, dunkelblond mit einzelnen goldenen Strähnen, das bis über die schmale Brust fällt. Jadegrüne Augen mit einem veilchenblauen Ring um die Pupille und winzigen azurblauen Sprenkeln. Ein herzförmiges Gesicht mit einer schiefen Nase und eine feine Narbe, wie ein Sprung in pfirsichfarbenem Porzellan, die sich von meiner rechten Augenbraue bis zu meinem Haaransatz zieht. Anders als die Narbe auf meinem Rücken, ist sie für jeden sichtbar. Zugezogen habe ich sie mir bei einem Sturz von einem der höchsten Bäume im Goldwald, im Alter von zehn Jahren.

Die Erinnerung flutet meine Adern mit einem Gefühl wie Sonnenlicht, das meinem Spiegelbild ein Lächeln auf die schmalen Lippen treibt.

Behutsam, als wolle ich das Mädchen im Spiegel nicht erschrecken, gleitet mein Blick an mir herab. Ein Seidenkleid in der Farbe erster Triebe junger Bäume im Frühling fällt mir in Kaskaden bis zur Mitte der Oberschenkel. Es lässt meine Augen reiner Jade gleichen, hat Mutter gesagt, nachdem ich es fertig genäht habe.

Ein letztes Mal huscht mein Blick über mein Gesicht, als wolle ich sichergehen, dass ich mich selbst in der Stadt der Masken nicht vergesse. Ich schließe die Augen. Mein Herzschlag dröhnt mir in den Ohren, als der weiche Seidenstoff der Maske meine Haut berührt.

Blinzelnd öffne ich die Augen.

Das Gesicht einer Fremden mit meinen jadegrünen Augen betrachtet mich forschend. Eine seidene, jadegrüne Stoffmaske verbirgt ihre Gesichtszüge. Darauf sind filigrane goldene Äste und Zweige gemalt, die funkelnde Blätter tragen. Ein Stück Guldheim, das ich hinter die Mauer mitnehmen werde.

Meine Kehle ist staubtrocken. Schlucken nützt nichts. Die Wunde in meinem Inneren bleibt. Fühlt es sich so an, wenn Träume wahrwerden? Als würde ich von zwei gegensätzlichen Sturmfronten auseinandergerissen?

»Soleya!« Besorgnis schwingt in Mutters Stimme mit.

Ich muss mich sputen.

Rasch greife ich nach dem Reisebeutel, in den ich das Nötigste gepackt habe. In Bellonna kann ich mir von meinem Lohn das meiste neu kaufen. An freien Tagen werde ich nach Guldheim zurückkehren, um weitere meiner Sachen mitzunehmen.

Der vertraute Duft nach Farbe, Wildblumen und frischem Honig, der meinem Zimmer seit jeher anhaftet, durchströmt meine Lungen. Ob meine Familie den Raum, in dem ich siebzehn Jahre meines Lebens verbracht habe, unberührt lässt? Was, wenn Dahlia ein größeres Zimmer möchte?

Kopfschütteln verwerfe ich den Gedanken. Die Maske wiegt schwer auf meinem Haupt und bringt mich ins Jetzt zurück.

Ich habe keine Zeit, mich gebührend zu verabschieden oder mich in Wehmut zu verlieren.

Mein Herz spielt eine traurige Melodie und die Welt versinkt in Grautönen, als ich mein Zimmer hinter mir lasse und die glatten Stufen nach unten in die Schneiderei gehe.

Rasende Schritte nähern sich mir … und ebben abrupt ab.

»Soleya?« Firan starrt mit großen Augen zu mir hinauf, seine Haut ist ungesund bleich.

Mein Magen zieht sich zusammen. Erkennt er seine große Schwester hinter der Maske nicht? »Besser, ich gewöhne mich jetzt daran, eine Maske zu tragen«, sage ich mit sanfter Stimme und einem Lächeln, das mir auf den Lippen brennt.

Er legt den Kopf schief. »Wenn du uns besuchen kommst, nimmst du sie ab, ja?«

Ich verstrubble seine dunkelblonden Haare. »Versprochen.«

Ein flüchtiges Lächeln huscht über seine Lippen. »Wann kommst du uns besuchen?«

Etwas in mir zerreißt. Tränen verkleben meine Wimpern und den Stoff meiner Maske – dahinter bin ich kaum in der Lage, zu atmen. Die Luft schmeckt abgestanden. Ich ziehe meinen kleinen Bruder in eine feste Umarmung, atme seinen Geruch nach Laub, regennassem Holz und verblühenden Wildblumen ein, und lausche der raschen Melodie seines Herzschlags. »Noch in diesem Mond«, verspreche ich ihm. Sanft löse ich die Umarmung, sodass Firan mir ins Gesicht sehen kann. Hoffentlich erkennt er die Ehrlichkeit in meinen Augen. »Sobald ich mich in Bellonna eingelebt habe.«

Diesmal zucken seine Mundwinkel nach oben und das Lächeln, das sich auf seinem Gesicht ausbreitet, erreicht seine jadegrünen Augen. »Ich sorge dafür, dass Dahlia sich nicht in deinem Zimmer herumtreibt«, raunt er mir zu.

»Firan, Soleya.«

Beim Klang von Mutters Stimme fahren wir auseinander.

»Ich werde dich vermissen«, sage ich mit bröckelnder Stimme, ehe ich mich meinen Eltern zuwende.

Mutter nimmt mich in den Arm, sie riecht nach Tinte, Pergament und Staub, vermischt mit einem Hauch verlorener Kindheit. »Pass auf dich auf, Soleya«, flüstert sie. »Ich bin stolz auf dich.«

Tränen legen sich, einem kristallenen Strick gleichend, um meine Kehle. Rasch schlucke ich sie herunter. Verhindern, dass meine Sicht verschwimmt, kann ich nicht. »Danke, Mama«, erwidere ich. »Pass auf, dass Firan ohne mich keinen Ärger macht.«

»Versprochen.« Mit diesen Worten lässt sie mich los.

Sogleich zieht Vater mich in eine feste Umarmung. »Vergiss nicht, was du von mir gelernt hast.« Seine Stimme klingt wie eine alte Schere, an der mit jedem Wort mehr Rost frisst. »Und versprich mir, dass du niemandem von«, er senkt die Stimme, »dem Vorfall mit der Schere erzählst.«

Ich beiße mir auf die zitternde Unterlippe. »Versprochen.«

Nachdem wir uns aus der Umarmung gelöst haben, schnellt mein Blick zu Dahlia. Hellbraune Haarsträhnen fallen ihr ins Gesicht, tiefe Ringe liegen unter ihren Augen, und sie knabbert an ihrem Daumennagel, unter dem eine Schicht Asche haftet.

»Mach es gut, Dahlia«, wispere ich.

Ihre Schultern beben unter einem tiefen Atemzug. Für den Bruchteil einer Sekunde treffen sich unsere Blicke. Ein Schmerz, der mir durch Mark und Bein geht, spiegelt sich in dem tiefen Haselnussbraun, das mich empfängt. »Es tut mir leid.«

Ich möchte fragen, was ihr leidtut, da liegt eine Hand auf meiner Schulter. Die mir auf der Zunge liegende Frage zerfällt zu Asche. Ich wirble herum, halte mich an Linns Lächeln fest, und atme ruhiger. »Ich bin ein wenig neidisch auf dich, aber ich gönne dir von Herzen, dass dein Traum wahr wird.«

Ich zwinkere ihr zu. Sie sieht mich stirnrunzelnd an. Ich unterdrücke ein Seufzen. Natürlich, unter der Maske sieht sie die Geste nicht, daran muss ich mich erst gewöhnen. »Vielleicht bist du die Nächste, die die Königin auswählt, nach Bellonna zu kommen«, erwidere ich und ziehe sie in eine flüchtige Umarmung. »Pass auf meine Familie auf.«

»Wenn du mir im Gegenzug alles erzählst, was du in Bellonna erlebst«, murmelt sie in mein Haar.

»Natürlich.« Ich schlucke. »Ich werde dich vermissen.«

»Ich dich auch.« Ein letztes Mal drückt sie mich an sich, dann versetzt sie mir einen sanften Stoß. »Lass die Königin nicht warten.«

Mein Herz stolpert. Ich atme tief in den Bauch, dränge die Tränen fort und wage nicht, mich nach meiner Familie umzudrehen. Zum Glück radiert die Maske jegliche Furcht aus meinen Zügen. Um eine gerade Körperhaltung bemüht, verlasse ich die Schneiderei. Der Duft von Farbe, Stoff und Wildblumen liegt kurz in der Luft, dann fällt die Tür hinter mir zu und schließt mich aus meinem alten Leben aus.

Draußen empfängt mich lauer Wind, dem der Duft verblühender Rosen und nahenden Regens anhaftet. Reinigend durchströmt er meine Lungen und macht mich bereit für ein Abenteuer.

Guldheim und meine Familie sind mein sicherer Hafen, zu dem ich immer zurückkehren werde. Jetzt ist es an der Zeit, den Sprung in das unergründliche, azurblaue Wasser zu wagen und zu hoffen, dass ich schwimme, statt unterzugehen.

Wie auf Kommando sind zwei königliche Gardistinnen in kupferner Uniform an meiner Seite, kaum habe ich die Schneiderei verlassen. »Seid Ihr aufbruchsbereit?«, fragt eine dumpfe Stimme hinter einer der identischen Masken aus glattem Metall.

Benommen nicke ich. Ich bin Schneiderin, keine Adlige. Eine Eskorte brauche ich nicht.

Auf dem Weg zu der Kutsche am Wegesrand ändert sich meine Meinung. Neugierige Blicke bohren sich, Pfeilspitzen gleichend, in meine Haut. Ein Raunen geht durch die Menge. Ich halte den Kopf hoch erhoben, drehe mich nicht nach der Einwohnerschaft Guldheims um, und frage mich dennoch, was sie sehen. Ein einfaches Mädchen in Verkleidung, das einem zerbrechlichen Traum nachjagt? Oder eine vielversprechende Schneiderin, die für Größeres bestimmt ist?

»Die Königin erwartet Euch«, verkündet eine der Gardistinnen vor der Kutsche angekommen. Die vier Pferde, allesamt Dunkelfüchse, die sie ziehen, scheinen mit ihren kupfernen Rüstungen ein Teil von ihr zu sein.

»Vielen Dank«, stammle ich.

Unbeholfen klettere ich in das Innere der Kutsche. Weiträumige Fenster durchfluten sie mit dem bernsteinorangenen Licht der herbstlichen Nachmittagssonne. Die beiden Kutschenbänke sind aus hellbraunem Leder, dazwischen steht ein kleiner Tisch. Mein Magen grummelt, als der Geruch von Kaffee und Mandelkeksen an meiner Nase zupft, vermischt mit süßem Rosenduft, dessen Ursprung ich nicht zuordnen kann.

Auf der rechten Bank sitzt die Königin mit übereinandergeschlagenen Beinen. In ihrem goldenen Kleid gleicht sie einem einzelnen Stern in finsterster Nacht.

Ich mache einen ungelenken Knicks, vor Aufregung wird mir ein wenig schwindelig. Die Königin bringt mich persönlich nach Bellonna und ich darf die Fahrt mit ihr in derselben Kutsche verbringen. Der Gedanke fühlt sich viel zu schön an, um das zu hinterfragen.

»Willkommen, Soleya.« Ehrliche Freude tränkt ihre Worte. »Setz dich.«

Kaum bin ich ihrer Aufforderung nachgekommen, setzt sich die Kutsche in Bewegung. Lautlos, als schwebe sie über den Kiesweg, der Guldheim mit der Hauptstraße verbindet, die nach Bellonna führt.

»Ich hoffe, du konntest dich trotz unseres schnellen Aufbruchs von deiner Familie verabschieden.«

»Sicher.« Meine Stimme klingt kraftlos.

Zart wie Schmetterlingsflügel streichelt die Königin meinen Arm mit den Fingerspitzen. Die plötzliche Berührung erfüllt mich mit einem zittrigen Gefühl und alle feinen Härchen auf meiner Haut stellen sich auf. Ich wage nicht, meinen Arm fortzuziehen, … wenn ich ehrlich bin, möchte ich ihn nie wieder fortziehen. Süßer Rosenduft flutet meine Lungen, das Parfum der Königin.

»Verzeih mir«, sagt sie mit sanfter Stimme. »Ich weiß, wie es ist, die eigene Familie zu verlieren.« Hinter der Maske gleichen ihre Augen süßem flüssigem Honig. »Sei versichert, dass du sie bald wiedersiehst.« Diesem letzten Satz haftet ein Hauch von Wehmut an.

»Verzeiht«, stammle ich. »Es war nicht meine Absicht, Eure Wunden aufzureißen.« Eine Welle von Scham überrollt mich und treibt mir Hitze in die Wangen. Ich möchte den Kopf einziehen, mich klein machen. Vor der Königin darf ich mir dies nicht erlauben. Abgehackt atmend lasse ich mich von ihrem Blick gefangen nehmen. Leichter als gedacht. Warm und sanft strahlen mir ihre Augen entgegen. »Natürlich werde ich meine Familie wiedersehen …«

»Sei unbesorgt.« Ihre Stimme ist der Sonnenstrahl, der den dunklen Fleck vertreibt, der mein Herz trübt. »Meine Töchter und meinen Ehemann mag ich verloren haben, doch ich trage sie in meinem Herzen. Dank des Kleides aus deiner Hand werde ich ihren zehnten Todestag gebührend feiern, mit all meinen Freundinnen und Freunden. Denn das ist mein Volk für mich.« Unter der Maske sind ihre Lippen unsichtbar. Wie sie wohl aussehen? Das Lächeln, das sich unter dem rosenroten Stahl verbergen muss, schwingt in ihren Worten mit. »Dich zähle ich genauso zu meinen Freundinnen und freue mich, dich in Bellonna, dem Herzen meines Herrschaftsgebietes, willkommen zu heißen.«

Mehr als ein »Danke« bringe ich nicht über die Lippen. Die Maske nimmt mir nicht länger die Atemluft, sondern fühlt sich leicht an. Ich fühle mich leicht. Die Worte und die Berührung der Königin haben mir eine Last von den Schultern genommen.

Reines Gold schließt den Riss in meinem Herzen, vertreibt den Anflug von Wehmut und macht Platz für elektrisierende Neugierde.

***

In strahlendem Kupfer hebt sich die Mauer, die Bellonna umgibt, von dem azurblauen Herbsthorizont ab. Der Duft von Gras, Laub und Herbstregen hat die Luft verlassen. Stattdessen atme ich Rauch ein, als hätte ein Feuer mein altes Leben niedergebrannt. Was ich aus der Asche erbaue, liegt an mir.

Die Königin wechselt rasche Worte mit einer Grenzwache.