1000 gute Gründe - Lucy Astner - E-Book

1000 gute Gründe E-Book

Lucy Astner

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Beschreibung

Ein Kinderbuch, das einfühlsam und mit viel Leichtigkeit vom Verlust einen geliebten Menschen erzählt. Ein Mutmach-Buch für Mädchen ab 11 Jahren.

Milou liebt Oma Anni über alles! Sie ist nicht nur der wichtigste Mensch in ihrem Leben, sondern sie backt ihr auch für jeden Tag einen Glückskeks. Ein Keks mit einer ganz persönlichen Botschaft, die Milou hilft, den tristen Alltag zu überstehen. Als ihre geliebte Oma überraschend stirbt, bricht für Milou eine Welt zusammen. Doch während sie sich immer mehr abzukapseln droht, passiert plötzlich etwas Unvorstellbares: Ein Glückskeks landet auf ihrer Fußmatte – und es bleibt nicht der einzige! Milou kann es kaum glauben. Ist es etwa möglich, dass Oma Anni ihr Botschaften aus dem Jenseits schickt? Glückskeks für Glückskeks führen Annis Zettelchen Milou zurück ins Leben. Und sie stellt fest, dass es 1000 gute Gründe gibt, um Glücksmomente zu sammeln …

Viele Kinder, die in die Pubertät kommen, fühlen sich verloren und oft fehl am Platz, besonders wenn sie einen geliebten Menschen verlieren. Zu verstehen, dass es ein Abenteuer sein kann, sich selbst zu finden, dabei kann Ihnen und Ihren Kindern dieses Buch helfen. Denn es ist nicht nur in Ordnung, man selbst zu sein, sondern sogar ganz wunderbar! 

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Das Buch

Milou liebt Oma Anni über alles! Sie ist nicht nur der wichtigste Mensch in ihrem Leben, sondern sie backt ihr auch für jeden Tag einen Glückskeks. Ein Keks mit einer ganz persönlichen Botschaft, die Milou hilft, den tristen Alltag zu überstehen. Als ihre geliebte Oma überraschend stirbt, bricht für Milou eine Welt zusammen. Doch während sie sich immer mehr abzukapseln droht, passiert plötzlich etwas Unvorstellbares: Ein Glückskeks landet auf ihrer Fußmatte – und es bleibt nicht der einzige! Milou kann es kaum glauben. Ist es etwa möglich, dass Oma Anni ihr Botschaften aus dem Jenseits schickt? Glückskeks für Glückskeks führen Annis Zettelchen Milou zurück ins Leben. Und sie stellt fest, dass es tausend gute Gründe gibt, um Glücksmomente zu sammeln …

Die Autorin

© Philipp Astner

Lucy Astner wurde 1982 in Hamburg geboren. Sie mag es, Schokolade zu essen, Trampolin zu springen und zu lachen, bis der Bauch wehtut. Und eben weil sie selbst so gerne lacht, hat sie ihr Hobby zum Beruf gemacht und schreibt Kinderbücher und Drehbücher für Kinofilme, mit denen sie viele andere Menschen zum Lachen bringt. Mit ihren vier Kindern und ihrem Mann lebt sie heute mitten in Hamburg.

Mehr über Lucy Astner:www.lucyastner.de

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Für Leni und Lotti

Von allen guten Gründen, das Leben zu feiern,seid ihr zwei der schönsten!

Ich lieb euch mehr, als Worte es jemals sagen könnten.

Milou zog die aufgeschlagenen Knie zu sich heran und schlang die Arme um ihre Beine, um sich möglichst klein zu machen, klein und immer kleiner. Am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst. Auf einer Skala von eins bis zehn war dieser Tag hier eine glatte Null, nein – vermutlich bewegte er sich sogar im Minusbereich!

Hinter sich auf dem Sportplatz hörte sie noch immer die anderen, hörte, wie sie kreischten, lachten und einander anfeuerten, als ginge es hier um die Rettung des Planeten und nicht etwa um eine blöde Urkunde aus noch blöderem Papier. Pah! Milou konnte auf so einen Unsinn gut und gerne verzichten. Sie hatte andere Talente – sich verstecken zum Beispiel. Ja, wenn »Verstecken« eine Disziplin bei diesem doofen Wettkampf gewesen wäre, dann hätte sie jetzt mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auf dem Siegertreppchen gestanden: Ehrenurkunde mit Goldmedaille und Extrasternchen. Vermutlich hätte man ihr sogar eine Krone aufgesetzt!

Weil »Verstecken« aber eben keine Wettkampfdisziplin war, stand Milou nun also auch nicht auf irgendeinem Treppchen und ließ sich feiern, sondern hockte stattdessen zusammengekauert hinter dem alten Geräteschuppen am Rande des Sportplatzes und hoffte inständig, dass niemand sie entdeckte, bevor die Veranstaltung vorüber war. Und als wären die blutigen Knie und die Scham über das, was passiert war, nicht schon schmerzhaft genug, kletterte nun auch noch die Mittagssonne über die Baumkronen am Spielfeldrand und knallte ihr mit erbarmungsloser Härte auf den Kopf.

Mama würde ihr heute Abend garantiert einen ellenlangen Vortrag darüber halten, wie absolut schädlich direkte Sonneneinstrahlung für die Gesichtshaut junger Damen war. Milou konnte sich ihre Standpauke sogar jetzt schon lebhaft ausmalen:

»Glaub mir, Schätzchen, jeder Sonnenstrahl macht eine Falte. Wenn du dich mit zwölf schon bräunst wie ein Grillhähnchen, sieht dein Gesicht mit dreißig aus wie ein Pavianhintern!«

So war Mama eben: direkt, schlagfertig und nie um einen witzigen Spruch verlegen. Und natürlich wusste Milou um die Gefahr von Sonnenbränden. Allerdings sorgte sie sich dabei ehrlich gesagt weit mehr um die gesundheitlichen Spätfolgen der UV-Strahlung als um Faltenbildung. Aber wenn es um ihre Gesichtshaut ging, war Mama eben unverbesserlich. Kaum etwas schien für Florentine Hufschneider schrecklicher als die Vorstellung, nicht mehr jung zu sein.

Milou konnte das nicht verstehen. Oma Anni hatte unzählige Falten – und Milou liebte jede einzelne! Sie erzählten eine Geschichte, sie zeichneten ein Bild vom Leben, das Milou Hoffnung machte. Ein Bild davon, dass die Jahre zwar ihre Spuren hinterließen, am Ende aber irgendwie alles gut wurde. Denn genau so war das Leben in Oma Annis Küche, in ihrem kleinen Garten und in ihren weichen Armen: einfach gut!

Wenn Anni lachte, dann lachten nicht nur ihr Mund und ihre grünen Augen, nein, jede Falte in ihrem Gesicht kicherte mit. Und wenn ihre flinken Finger Hefeteig kneteten, Nusszöpfe flochten oder eine Prise Zimt in frische Pflaumenmarmelade rieseln ließen, dann roch hinterher jede noch so kleine Falte an ihren Händen nach zu Hause, nach Wärme und Geborgenheit. Milou war zwar erst zwölf, aber eines wusste sie bereits ganz sicher: Wenn sie alt wurde, würde sie jedes Fältchen willkommen heißen – solange das Leben immer noch nach Omas Backstube roch!

Auf einen Sonnenbrand konnte sie aber trotzdem gut und gerne verzichten. Stöhnend legte sie ihr Gesicht auf ihren schmerzenden Knien ab und versuchte herauszufinden, an welcher Stelle dieser Tag derart aus dem Ruder gelaufen war. Wann genau hatte sie verpasst, die Notbremse zu ziehen?

Im Grunde war schon das Aufstehen eine Qual gewesen. Vor lauter Aufregung – und vermutlich, weil sie bereits geahnt hatte, dass dieser Tag nicht zu ihren Sternstunden gehören würde – hatte sie gestern Abend einfach nicht einschlafen können. Stunde um Stunde hatte sie sich im Bett herumgewälzt, hatte sich unruhig von einer Seite auf die andere geworfen und hartnäckig versucht, das Wort aus ihren Gedanken zu vertreiben, das sie nicht nur um den Schlaf, sondern auch um den Verstand brachte:

Bundesjugendspiele ...

Für die meisten Mädchen und Jungen war das hier der schönste Tag im ganzen Schuljahr – für Milou aber war es ein Tag des Grauens.

Natürlich konnte man sich darüber freuen, den ganzen Vormittag in kurzen Hosen und bei schönstem Sonnenschein über den Hartplatz zu hetzen, in übergroße Sandkisten zu springen und kleine schwere Bälle zu werfen – aber doch nur, wenn man Freude an Bewegung hatte und zumindest einen Funken Talent!

Milou aber hatte weder das eine noch das andere. Um genau zu sein, war sie nicht viel sportlicher als ein nasser Sandsack. Und bedauerlicherweise war sie auch nicht viel beweglicher. Deshalb hatte sie heute Morgen auch auf Papas Verständnis gehofft. Milous Vater teilte die Nicht-Begeisterung seiner Tochter für Sport. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte er Letztere sogar an sie vererbt. Clemens Hufschneider konnte einen Fußball nicht von einem Basketball unterscheiden und hielt Ronaldo für ein scharfes brasilianisches Reisgericht. Außerdem hatte er bei seinem letzten Versuch, eine Glühbirne unter der Zimmerdecke auszuwechseln, einen Krampf in der Schulter bekommen und war wie eine Riesenkartoffel vom Küchenstuhl geplumpst. Eine ziemlich laut fluchende Riesenkartoffel, wohlgemerkt …

Im Gegensatz zu Milou machte es ihm allerdings nicht besonders viel aus, nicht sportlich zu sein. Wieso sollte es auch? Er konnte sich schließlich jeden Morgen in sein schickes Labor zurückziehen, zwischen Studienergebnissen und Erlenmeyerkolben abtauchen, und die Welt retten, indem er sein Mikroskop scharf stellte. Man konnte sich also durchaus erlauben, eine Kartoffel auf zwei Beinen zu sein, wenn man nicht an den blöden Bundesjugendspielen teilnehmen musste!

Milou hatte dieses Glück leider nicht – aber sie hatte natürlich trotzdem auf die Unterstützung ihres Vaters gehofft. Doch dann war es heute Morgen ausgerechnet Mama gewesen, die ihr die Decke nach dem achten Weckerklingeln vom Kopf gezogen hatte.

»Aufstehen, Schlafmütze. Sieh mal aus dem Fenster, heute wird ein herrlicher Tag!«

Milou war über den unerwarteten Auftritt ihrer Mutter allerdings viel zu überrascht gewesen, als dass sie noch hätte zum Fenster sehen können.

»Wo … ist denn Papa?«

»Der musste kurzfristig nach Brüssel«, hatte ihre Mutter erwidert und strahlend das Fenster aufgerissen. »Irgendein Kollege ist auf einem Kongress ausgefallen. Und du kennst ja deinen Vater: Er lässt keine Gelegenheit aus, seinen Kopf mit den anderen Superhirnen dieser Welt zusammenzustecken und irgendein neues Wundermittel aus der Kitteltasche zu schütteln.« Sie lachte auf und zwinkerte verschwörerisch, aber Milou sah sich nicht dazu in der Lage, zurückzulächeln. Stattdessen zog sie sich vorsorglich die Bettdecke bis zum Kinn hoch.

»Und warum bist du nicht im Studio?«

»Hab mir heute freigenommen«, verkündete ihre Mutter und riss dann doch tatsächlich Milous schützende Decke an sich.

Milou konnte es nicht fassen. Nicht nur die Sache mit der Decke, nein, viel verstörender fand sie, dass ihre Mutter sich freigenommen hatte!

Florentine Hufschneider moderierte seit sieben Jahren für einen großen Fernsehsender. Vor knapp einem Jahr waren sie sogar extra hergezogen, damit sie das tägliche Morgenmagazin übernehmen konnte. Jede freie Minute verbrachte sie vor der Kamera. Milou erinnerte sich an mindestens vier Kindergeburtstage, bei denen ihre Mutter nicht dabei gewesen war, weil sie arbeiten musste. Außerdem hatte sie ihre Einschulung und ihre Teilnahme an der Endrunde des Vorlesewettbewerbs verpasst – und zweimal hatte sie sogar an Heiligabend arbeiten müssen. Aber ausgerechnet heute Morgen konnte sie nicht einfach im Studio verschwinden?!

Am liebsten hätte Milou sich für den Rest des Tages unter ihrer Bettdecke verkrochen – aber das ging ja nicht mehr, weil Mama die Decke bereits zum Auslüften über das Fensterbrett warf. Trotzdem konnte Milou nicht einfach kampflos aufgeben.

»Ich … fühle mich irgendwie nicht gut heute«, murmelte sie und gab sich große Mühe, ein extraleidvolles Gesicht aufzusetzen. Offenbar waren ihre Schauspielkünste aber nicht viel überzeugender als ihre sportlichen Leistungen, denn Mama runzelte nur kurz die Stirn und schüttelte dann amüsiert den Kopf.

»Das kommt davon, wenn du nachts heimlich unter der Decke liest. Du weißt schon, dass ausreichend Schlaf ein wichtiger Faktor für Fitness, Konzentration und ein ausgeglichenes Hautbild ist?«

Milou stöhnte leise und rollte mit den Augen. »Erstens habe ich letzte Nacht gar nicht gelesen, zweitens ist mir mein Hautbild ziemlich egal – und drittens brüte ich vermutlich irgendetwas aus.«

»Und was genau brütest du aus?«, hakte Mama nach und verschränkte belustigt die Arme vor der Brust.

Milou zuckte möglichst lässig mit den Schultern. »Keine Ahnung. Eine Erkältung vielleicht?«

Kaum hatte sie das Wort »Erkältung« ausgesprochen, schnellte Mama auch schon auf sie zu und klatschte ihr die Hand auf die Stirn.

»Also Fieber hast du nicht.«

»Aber Kopfschmerzen!«

»Die verfliegen wieder, wenn du erst mal ordentlich gefrühstückt hast. Ich habe frischen Chia-Pudding angerührt. Und am besten trinkst du noch ein großes Glas Wasser dazu!«

Chia-Pudding und Wasser? Milou verzog angewidert das Gesicht. Sie wollte kein Wasser, und noch viel weniger wollte sie dieses geschmacklose Glibberzeug zum Frühstück! Da konnte sie ja gleich den Glitzerschleim verdrücken, den Tess ihr neulich im Kunstunterricht in die Haare geschmiert hatte. Am allerallerwenigsten aber wollte Milou heute in die Schule gehen – und deshalb musste sie jetzt auch zu härteren Maßnahmen greifen: der Wahrheit!

»Heute sind Bundesjugendspiele, Mama, und ich bin wirklich nicht …«

»Bundesjugendspiele?«, fiel ihre Mutter ihr ins Wort und ihre Augen leuchteten vor Begeisterung auf.

So ein Mist! Die Wahrheit war hier offenbar die falsche Strategie. Im Gegensatz zu Milou oder Papa war Florentine Hufschneider nämlich eine herausragende Sportlerin. Und mehr noch: Sie war eine Gewinnerin! Noch heute bewahrte sie all ihre Urkunden, Medaillen und Pokale aus der Schulzeit auf dem Dachboden auf, nicht eine einzige hatte sie im Laufe der Jahre entsorgt.

»Das ist ja wunderbar!«, verkündete sie nun und zog ihre Tochter mit einem Ruck von der Matratze. »Frische Luft und Bewegung sind die beste Medizin gegen lästige Kopfschmerzen. Du wirst sehen: Nach zehn Minuten Wettkampfspaß mit deinen Freunden fühlst du dich wie neugeboren.«

Milou stieß ein Seufzen aus, aber es klang wohl eher wie ein verzweifeltes Grunzen. Mamas Ansatz hatte mindestens zwei dicke, fette Haken: Erstens hatte Milou keine Freunde und zweitens würden die blöden Bundesjugendspiele ihre Kopfschmerzen nur schlimmer machen. Daran konnte auch frische Luft nichts ändern.

Allerdings machte es wenig Sinn, die Angelegenheit noch länger mit ihrer Mutter auszudiskutieren. Und als Florentine dann sogar voller Inbrunst verkündete, dass sie ihre Tochter höchstpersönlich mit dem Fahrrad bis zum Sportplatz begleiten würde, gab Milou auch den allerletzten Fluchtgedanken auf und stellte sich ihrem Schicksal. Sie musste dem Schrecken der Sportveranstaltung also irgendwie ins Auge blicken.

Wie durch und durch verkorkst dieser Tag aber tatsächlich war, hatte sie erst festgestellt, als ihr aufgefallen war, dass sie ihren Glückskeks vergessen hatte – ausgerechnet heute!

Geradezu panisch hatte sie vorhin am Rand des Hartplatzes ihren Sportbeutel durchwühlt und schließlich sogar komplett ausgeschüttet, nur um festzustellen, dass sie die Brotdose, die Oma Anni ihr am Vorabend immer zubereitete, offenbar in die falsche Tasche gesteckt hatte. Was für ein Super-GAU! Jetzt stand sie nicht nur ohne Stärkung da, sondern auch ohne ihre tägliche Portion Glück! Damit war ihr Schicksal endgültig besiegelt gewesen. Milou hätte sich auch einfach gleich mit Marmelade beschmieren und in einen Ameisenhaufen legen können – dieser Tag konnte ohnehin nur noch in eine Katastrophe münden …

Seit sie vor einem Jahr in die neue Stadt gezogen waren, waren Omas Glückskekse Milous einziger Rettungsanker und Lichtblick im grauen Schulalltag. Überhaupt war Oma Anni der einzige Grund, warum Milou ihren Kopf nicht schon längst in einer feuchten Sandgrube verbuddelt hatte, um nie wieder daraus aufzutauchen.

Papas Mama lebte im Haus direkt nebenan und sie war die beste Zuhörerin der Welt. Im Gegensatz zu Milous Eltern verstand Oma Anni ihre Probleme, und sie nahm sie ernst, anstatt sie einfach herunterzuspielen oder mit einem witzigen Spruch kleinzureden. Außerdem ging nichts über Annis Backkünste! Für jedes Problem hatte sie ein Rezept, das beinahe magisch wirkte. In ihrer kleinen gemütlichen Küche roch es rund um die Uhr nach warmem Rosmarinbrot oder süßen Puddingschnecken, und sobald Milou im Flur über ihre Türschwelle trat, fühlte sie sich auf genau die richtige Weise verstanden und geborgen. Der bloße Geruch von Annis Backwerken wirkte auf Milou wie eine Umarmung, die ihr half, durch den Tag zu kommen, ohne vollends durchzudrehen.

Das mit Abstand Beste aber waren Annis Glückskekse. Ihre Großmutter backte die knusprigen Teigtäschchen nach einem alten Geheimrezept, das sie sicher in ihrem Kopf verwahrte. Wirklich einzigartig wurden die Kekse allerdings erst durch die kleinen Botschaften, die Anni für ihre Enkelin hineinlegte. Tag um Tag, Woche um Woche fand Oma Anni immer aufs Neue genau die richtigen Worte, um Milou aufzuheitern und ihr einen kleinen Schubs zu geben. Milou war es ein Rätsel, wie ihre Großmutter jedes Mal im Voraus den passenden Spruch für den entsprechenden Tag witterte, und irgendwann stellte sie dieses magische Gespür einfach nicht mehr infrage. Solange sie einen von Omas Glückskeksen in ihrer Brotdose vorfand, war die Welt noch in Ordnung und der Tag konnte gar nicht so schlimm werden. Aber ausgerechnet heute Morgen hatte sie ihre Brotdose vergessen.

Was sich an den umgestülpten Turnbeutel angeschlossen hatte, war nicht weniger als ein Protokoll des Schreckens: Beim Wettlauf war Milou natürlich als Letzte ins Ziel gekommen – und das, obwohl Hanna Wolf mit einem Verband am Knöchel lief. Beim Kugelstoßen war Milou die Kugel aus der Hand gerutscht und auf ihren eigenen Fuß geplumpst, sodass sie nicht nur einen blutigen Zehennagel kassierte, sondern auch das heitere Gelächter ihrer Klassenkameraden. Und dann war sie beim Absprung an der Sprunggrube zu allem Überfluss auch noch mit der Schuhspitze an der Absatzkante hängen geblieben und bäuchlings nach vorne in die Sandkiste geklatscht. Noch immer hallte der Aufprall im Sand in ihren Ohren nach, genau wie das Johlen der Mädchen und Jungen um sie herum.

Nein, sie würde heute ganz sicher keine Urkunde erhalten, das war klar. Stattdessen hatte sie nun Kniescheiben, die noch immer bluteten, und einen neuen Spitznamen, den sie so schnell nicht wieder loswerden würde: Fliegenklatsche – weil das tatsächlich ziemlich gut beschrieb, wie sie in die Sprunggrube gefallen war. Flatsch!

»Außerdem ist sie genauso flach wie so eine Klatsche«, hatte Tess lachend über den ganzen Sportplatz gebrüllt und dabei auf Milous Brust gedeutet. Oder zumindest auf die Stelle, wo sich bei allen anderen Mädchen bereits Brüste abzeichneten.

Zu gerne hätte Milou sie sachlich darüber aufgeklärt, dass es durchaus Mädchen gab, die erst nach dem zwölften Lebensjahr einen Brustansatz entwickelten und dass es null Komma gar keinen Grund gab, sich darüber lustig zu machen. Aber irgendwie hatte sich in diesem Augenblick plötzlich nur noch ein dicker Kloß ihre Kehle hinaufgedrängt und alles andere erstickt. Und weil sie vor den anderen nicht auch noch hatte losheulen wollen wie ein Baby, war sie einfach wortlos aus der Sandkiste getaumelt und weggerannt. Und hier hockte sie nun in ihrem Versteck …

»Was machst du denn hier?«

Erschrocken zuckte Milou zusammen und hob den Kopf. Sie hatte niemanden kommen hören, doch jetzt sah sie, dass Levi aus der Parallelklasse den Geräteschuppen umrundet hatte und sie mit gerunzelter Stirn beäugte. Levi – ausgerechnet Levi!

Milou spürte, wie ihr Herz für einen Moment aus dem Takt stolperte.

Es spielte keine Rolle, ob die Sonne ihr bereits einen Sonnenbrand verpasst hatte, denn nun war ihr Gesicht ohne Zweifel auch ohne UV-Strahlen rot wie eine überreife Fleischtomate. Ein paarmal öffnete sie hilflos ihren Mund, aber es kam einfach kein Ton über ihre Lippen.

Mit einem unsicheren Lächeln drehte Levi sich halb zum Sportplatz um. »Hier ist …«, brüllte er den anderen zu, doch als er Milous panischen Blick bemerkte, verstummte er seltsamerweise schnell wieder. Für einen kurzen Augenblick war es ganz still, fast so, als wären Raum und Zeit zwischen ihnen stehen geblieben – doch dann beendete Levi seinen Satz laut und deutlich: »Hier ist der Ball, den wir gesucht haben!«

Tatsächlich blitzte im dichten Gebüsch vor Milou ein alter Lederball auf. Levi zögerte keine Sekunde, fischte ihn unter den Zweigen hervor und rannte zurück auf den Sportplatz, ohne sich noch einmal zu Milou umzudrehen. Erleichtert ließ sie die Schultern sinken. Das war gerade noch mal gut gegangen …

Sie hatte zwar keine Ahnung, warum Levi sie nicht verpfiffen hatte, aber im Grunde war das auch egal. Wichtig war nur, dass sie ihren Mitschülern heute nicht mehr unter die Augen treten musste, denn noch mehr Spott und Spitznamen konnte sie wirklich nicht ertragen.

Nein, sie würde einfach hier sitzen bleiben, bis die Luft wieder rein war – selbst wenn ihr Gesicht am Ende aussah wie ein Hummer im Schnellkochtopf. Sie würde sitzen bleiben und warten, bis alle anderen nach Hause verschwunden waren. Diese verfluchten Bundesjugendspiele konnten schließlich nicht ewig dauern …

»Du hast wie lange hinter diesem Schuppen gehockt?« Oma Anni blinzelte sie derart ungläubig an, dass sie das Tuch fallen ließ, mit dem sie bis eben noch Milous Wunden am Knie gesäubert hatte.

Trotzig zuckte Milou mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vermutlich so drei Stunden. Vielleicht auch vier?«

»Vier Stunden?« Annis Blick ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihre Enkelin für völlig durchgeknallt hielt. Doch dann schlich sich plötzlich ein Grinsen auf ihr Gesicht und sie kicherte verstohlen. »Dann ist es ja kein Wunder, dass du aussiehst wie ein Ampelmännchen.«

»Sehr witzig!«, erwiderte Milou schmallippig, weil ihr jetzt wirklich nicht zum Scherzen zumute war. Sie wusste ja selbst, dass sie sich einen fetten Sonnenbrand eingefangen hatte und dass das in jeder Hinsicht denkbar blöd war – selbst wenn sie keine Angst vor Falten hatte.

Aber hatte sie denn eine Wahl gehabt? Noch ewig hatte sie die tobenden Kinder hinter sich auf dem Sportplatz gehört und sich nicht getraut, ihr sicheres Versteck zu verlassen. Erst als die Sonne einmal quer über den Nachmittagshimmel gewandert war, war es um sie herum still geworden und sie hatte sich mit einem Ächzen vom staubigen Boden erhoben.

Alles an ihrem Körper tat weh. Der blutige Zeh, die Knie und die Handgelenke, die sie sich beim Sturz verletzt hatte, ihr Rücken und Hintern vom stundenlangen Hocken auf dem harten Kiesboden, und zu allem Überfluss brannte nun auch noch die Haut auf ihren Armen und im Gesicht.

Was Milou jetzt definitiv am allerwenigsten gebrauchen konnte, war, dass ihre Oma sich über ihren Tomatenkopf lustig machte – denn das würden morgen in der Schule mit Sicherheit schon die anderen übernehmen.

Offenbar merkte nun auch Oma, dass die Angelegenheit Milou ziemlich zusetzte.

»Tut mir leid, mein Schatz, ich wollte mich nicht über dich lustig machen.« Behutsam tupfte sie etwas Jodsalbe auf die verletzten Knie und klebte geschickt zwei Pflaster über die Wunden. »So sollte es ganz schnell besser werden. Und für den Sonnenbrand gebe ich dir noch eine selbst angerührte Ringelblumensalbe mit, die wirkt wahre Wunder. Wenn du willst, kann ich dir auch schnell eine Kartoffel pürieren und dich damit einschmieren.«

Irritiert runzelte Milou die Stirn. »Du willst mich mit einer Kartoffel einschmieren?«

»Mit einer rohen Kartoffel, ja«, erklärte Oma und verstaute das Verbandszeug wieder in der kleinen Abstellkammer, die sich an die Küche anschloss. »Die Stärke lindert die Entzündung und außerdem ist es angenehm kühl auf der Haut. Ist ein ganz, ganz altes Hausmittelchen.« Sie tippte sich grinsend an den Kopf und blies sich dabei neckisch eine wilde graue Locke aus der Stirn.

Milou war aber noch immer nicht überzeugt. Die Vorstellung, sich von Kopf bis Fuß mit einer rohen Kartoffel einschmieren zu lassen, war ungefähr so reizvoll wie als Hot Dog verkleidet über den Schulhof zu tanzen.

»Danke, die Ringelblumensalbe reicht«, murmelte sie und stieß ein Seufzen aus. »Weißt du übrigens, warum heute alles so furchtbar schiefgelaufen ist?«

»Es gibt gute Tage und schlechte Tage, mein Schatz, das ist ganz normal«, versuchte Oma sie mit einem Zwinkern aufzuheitern, aber Milou schüttelte entschieden den Kopf.

»Ich habe deinen Glückskeks vergessen! Ich habe die Brotdose gestern aus Versehen in die Schultasche gesteckt und nicht in den Sportbeutel – nur deshalb ist alles so fürchterlich aus dem Ruder gelaufen.« Geknickt ließ sie den Kopf hängen.

Oma Anni betrachtete sie einen Moment nachdenklich, zog sich dann einen Stuhl heran und setzte sich ganz dicht vor Milou. »Es tut mir leid, dass du gestürzt bist, Liebes. Und noch mehr tut mir leid, dass dir niemand geholfen hat und du dich stattdessen hinter diesem blöden Schuppen versteckt hast. Aber …« Sie griff zögerlich nach Milous Händen. »Du weißt schon, dass meine Glückskekse in Wirklichkeit nichts damit zu tun haben, oder?«

Jetzt fing das schon wieder an! Milou stöhnte leise, schloss die Augen und ließ sich auf ihrem Stuhl zurücksinken. Dieses Gespräch hier hatten sie schon unzählige Male geführt.

Oma Anni war davon überzeugt, dass ihre kleinen Botschaften keinerlei Auswirkungen auf das echte Leben hatten, dass sie keinen Einfluss darauf ausübten, ob Milou Glück oder Pech hatte. Sie hatte sogar schon einmal vorgeschlagen, die ganze »Glückskekserei« lieber sein zu lassen, wenn Milou ihre Stimmung derart von einem kleinen Gebäckstück abhängig machte. Milou hatte natürlich vehement protestiert und sie davon überzeugen können, weiter zu backen wie bisher – und der heutige Tag hatte ja wohl mehr als eindrucksvoll bewiesen, dass an der Glückswirkung der Kekse etwas dran war! Warum sonst war heute denn bitte so viel schiefgegangen?

Milou holte tief Luft und öffnete die Augen wieder. »Ich weiß, dass du denkst, ich würde mir das alles nur einbilden. Aber so ist es nicht!« Sie blickte ihre Großmutter ernst an. »Dein Glückskeks macht einfach alles besser! Zumindest macht er alles etwas erträglicher. Und wenn ich ihn heute nicht vergessen hätte, wäre das hier ganz sicher nicht passiert.« Eindrucksvoll deutete sie auf ihre bepflasterten Knie.

Oma runzelte die Stirn, sodass sich dort gleich noch eine Handvoll Falten bildeten, die Mama garantiert um den Verstand gebracht hätten. »Und du meinst nicht, dass es dafür ganz eventuell auch eine andere Erklärung geben könnte?«

»Welche sollte das denn sein?«

»Na ja«, fing Oma vorsichtig an und drückte noch einmal ganz sacht Milous Hand. »Versteh mich bitte nicht falsch, mein Schatz, du hast unzählige, wundervolle Talente. Aber Sport gehört vielleicht nicht unbedingt dazu.«

Milou musste beinahe losprusten, als sie merkte, wie behutsam Oma ihre Worte abwägte. Dabei brauchte sie in dieser Angelegenheit gar keine Samthandschuhe. Milou wusste ja selbst, dass sie sich in diesem Leben vermutlich nicht mehr für die Olympischen Spiele qualifizieren würde. Zumindest solange »Kopfrechnen« und »Zimtschnecken-Wettfuttern« nicht zu neuen Disziplinen erklärt wurden. Und trotzdem war der katastrophale Tag nicht einfach damit zu erklären, dass Milou zwei linke Füße hatte.

»Ich weiß dein Feingefühl sehr zu schätzen, Oma. Aber es gibt ja wohl einen Unterschied zwischen unsportlich sein und sich vor allen Leuten zum Gespött machen, weil man wie ein Bügelbrett in die Sandkiste knallt.«

Oma Anni biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Offenbar gab sie sich noch immer nicht geschlagen. Es dauerte einen Augenblick, aber dann beugte sie sich ziemlich verschwörerisch zu Milou vor und begann zu flüstern. »Ich weiß nicht, ob dein Vater dir jemals davon erzählt hat, aber …« Sie hielt einen Moment inne und gab sich dann einen Ruck. »Na ja, bei seinen ersten Bundesjugendspielen auf dem Gymnasium hat er sich beim Startschuss so sehr erschrocken, dass er versehentlich in die falsche Richtung gelaufen ist. Dabei hatte er ein derartiges Tempo drauf, dass er im Zickzackkurs gleich drei seiner Mitschüler über den Haufen getrampelt hat. Und als sie dann alle übereinanderlagen wie nasse Mehlsäcke, musste er zu allem Überfluss ziemlich heftig …« Oma seufzte und sah ihre Enkelin bedeutungsschwer an.

Milou brauchte einen Augenblick, bis der Groschen fiel. Ungläubig verzog sie das Gesicht. »Oh nein! Sag bitte nicht, er hat …?«

Oma nickte entschieden und sprach es endlich aus: »Er musste pupsen, jawohl. Und zwar ziemlich laut und deftig. Zu der Zeit habe ich ihm jeden Morgen englische Bohnen zum Frühstück gekocht …«

Noch heute war ihr Papa verrückt nach Bohnen – deshalb konnte Milou sich leider nur allzu lebendig ausmalen, was für eine Duftnote er damals unter seinen Klassenkameraden gesetzt haben musste. Und plötzlich kam ihr ein Gedanke, der ihr noch viel stärkere Magenschmerzen bereitete als die Erinnerung an Papas Bohnenpupse. Konnte es etwa sein, dass ihr Vater ihr gar nicht die Unsportlichkeit vererbt hatte, sondern eher das Talent zum Trottel sein?

Aber nein, das war doch Blödsinn! Milou schüttelte den Gedanken entschieden ab. Sie war schließlich auch die Tochter ihrer Mutter und hatte noch niemals vor den anderen gepupst – sie konnte Bohnen ja nicht einmal ausstehen! Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer kam sogar nur eine einzige Erklärung dafür infrage, warum sich ihr Papa damals derart blamiert hatte. Grinsend blickte sie ihre Lieblingsoma an.

»Ich wette, das alles wäre Papa nicht passiert, wenn du ihm auch einen Glückskeks gebacken hättest.«

Oma Anni sah sie einen Moment überrascht an, aber dann lachte sie laut auf, legte den Arm um ihre Enkeltochter und drückte sie ganz fest an sich. »Du bist einfach unverbesserlich, meine kleine Milou.«

Milou musste jetzt selbst lachen und versank in Omas Umarmung – dabei war sie eigentlich gar nicht mehr so »klein«. Genau genommen hatte sie ihre Großmutter schon fast eingeholt. Im letzten Jahr waren ihre ohnehin schon viel zu dünnen Beine irgendwie in die Höhe geschossen, und auch ihre Arme kamen Milou ungewöhnlich lang vor. Wie seltsame Anhängsel baumelten sie rechts und links und Milou wusste nicht viel damit anzufangen. Immer waren sie irgendwie im Weg. Wenn sie ganz ehrlich war, fühlte sich seit ein paar Monaten eigentlich alles an ihr seltsam fremd an – manchmal fühlte sie selbst sich sogar wie ein Fremdkörper im eigenen Leben. Warum musste sich nur ständig alles verändern? Wieso musste Mama dieses blöde Morgenmagazin übernehmen und die ganze Familie dafür umziehen? Hätte nicht einfach alles so bleiben können, wie es gewesen war?

Oma Anni war definitiv die einzig gute Sache am Umzug. Früher hatte Milou ihre Großmutter nur in den Ferien oder an langen Wochenenden gesehen, aber jetzt lebten sie Tür an Tür. Ja, Oma und ihre kleinen Glückskekse waren tatsächlich der einzige Grund, warum Milou nicht längst den Kopf in den Sand gesteckt hatte …

Noch stundenlang hätte sie in Omas Umarmung verharren können, immerhin roch Anni auch heute wieder so köstlich nach Zimt und Zucker, warm und irgendwie tröstlich – doch mit einem Mal ertönte ein lautes Poltern von der Terrassentür!

Erschrocken zuckte Oma zusammen und blickte zum kleinen Garten vor ihrer Küche. Als sie sah, wer dort stand und wie von Sinnen gegen die Glastür hämmerte, stöhnte sie laut auf.

»Dieser alte Holzkopf. Irgendwann bringt er mich noch um den Verstand!«

Milou wusste natürlich sofort, von wem ihre Großmutter sprach, und als sie sich selbst zum Garten umdrehte, wurde ihre Ahnung bestätigt: Auf der kleinen Terrasse vor Omas Küchentür stand Herr Muffel höchstpersönlich und klopfte gegen die Scheibe, als gäbe es dafür ein Preisgeld.

In Wirklichkeit hieß »Herr Muffel« natürlich nicht »Herr Muffel«, sondern Ernst Holunder – aber dieser Name spiegelte nun mal kein bisschen wider, wie unfassbar grummelig der alte Miesepeter war! Deshalb hatte Milou ihn kurzerhand umbenannt. Herr Muffel war aber nicht nur muffelig, sondern leider auch Omas direkter Nachbar. Er lebte in der Erdgeschosswohnung nebenan, was grundsätzlich nicht weiter schlimm gewesen wäre – hätten sich die beiden nicht den kleinen Garten teilen müssen, der hinter dem Haus lag.

Die Wohnung von Milous Eltern lag im Haus daneben im vierten Stock, und so konnte Milou vom Küchenbalkon aus regelmäßig bestaunen, wie unterschiedlich die beiden Nachbarn dort unten mit ihren Grünflächen umgingen. Während Oma Anni in ihrer kleinen Großstadtoase nämlich allerhand Wildkräuter und Blumen gedeihen ließ, ein Vogelhaus und ein Insektenhotel bewirtschaftete und eine kleine rote Holzbank in den Schatten ihres Apfelbaums gestellt hatte, war Herrn Muffels Hälfte des Gartens ein Zeugnis der Trostlosigkeit. Der Rasen war so kurz und akkurat geschnitten, als wäre er mit einer Nagelschere gestutzt worden, versprühte dafür aber keinen Funken Gemütlichkeit. Herr Muffel hatte weder Gartenstühle noch andere Möbel herausgestellt, die zum Verweilen eingeladen hätten, und tatsächlich hatte Milou das Gefühl, dass sich nicht einmal die Bienen freiwillig auf seinen Teil des Grundstücks verirrten.

Jetzt gerade allerdings stand der alte Griesgram auf Omas schiefer Holzterrasse und hämmerte noch immer mit hochrotem Kopf gegen die Küchentür.

»Ich komm ja schon, ich komm ja schon«, murmelte Oma Anni, schob ihren Stuhl zurück und näherte sich der Terrassentür. Kaum hatte sie diese aufgerissen, pfefferte sie ihrem Nachbarn auch schon ihre ungefilterte Meinung an den Kopf: »Kannst du dich vielleicht mal benehmen wie ein normaler Mensch oder bestehst du darauf, dich für den Rest deines Lebens wie ein Ochse aufzuführen?«

Während Milou sich große Mühe gab, sich ein überraschtes Lachen zu verkneifen, klappte Herrn Muffel der Mund auf und er starrte Oma Anni ziemlich verdattert an. Für einen winzigen Augenblick wirkte es sogar so, als wäre ihm die schlechte Laune aus dem Gesicht gerutscht, doch dann verschränkte er trotzig die Arme vor der Brust, presste angespannt die Lippen aufeinander und stieß ein empörtes Schnauben aus.

»Mir bleibt ja keine andere Wahl!«, motzte er und schnaubte gleich noch einmal extralaut. »Ich habe dir schließlich schon hundertmal gesagt, dass du dich an die Grundstücksgrenzen halten sollst!«

Oma Anni runzelte amüsiert die Stirn. »Soweit ich das sehe, bist du derjenige, der sich nicht an die Grenzen hält, mein Lieber. Immerhin stehst du gerade ganz eindeutig auf meiner Seite des Gartens.«

Milou konnte genau beobachten, wie sich Muffels Nasenlöcher vor Empörung aufblähten.

»Aber dein Unkraut wächst mal wieder zu mir rüber!« Wütend deutete er auf ein Büschel Grünzeug, das sich tatsächlich recht wagemutig über den gestutzten Rasenteil nebenan neigte.

Oma schob kurz ihren Kopf zur Terrassentür hinaus und begutachtete den grünen Missetäter. Dann zuckte sie mit den Schultern und schenkte ihrem Nachbarn ein freches Grinsen. »Also ich sehe da kein Unkraut: Das sind Brennnesseln.«

Wieder musste Milou sich verkneifen, loszukichern. Das Gesicht von Herrn Muffel hatte mittlerweile die Farbe einer heißen Herdplatte angenommen – und dabei hatte er nicht einmal einen Sonnenbrand. Er holte extratief Luft und funkelte Oma Anni an. »Mach dich jetzt ja nicht lustig über mich. Ich bestehe darauf, dass dein Unkraut umgehend verschwindet!«

»Ich belehre dich wirklich nur ungern«, erwiderte Oma freundlich, »aber Brennnesseln sind Nutzpflanzen! Du könntest dir einen Tee daraus kochen oder eine Suppe. Wenn du vorsichtig bist, kannst du dir sogar einen Salat aus den Blättern zubereiten – das würde sicher auch deiner schlanken Linie ganz guttun.« Zwinkernd holte sie aus und klopfte ihrem verdutzten Nachbarn auf den runden Bauch.

Jetzt konnte Milou sich wirklich nicht mehr zusammenreißen und prustete lauthals los.

Herr Muffel kniff die Augen zusammen und warf erst ihr und dann ihrer Oma einen giftigen Blick zu. Bevor er aber noch etwas sagen konnte, ergriff Anni schon wieder das Wort. »Falls es dich beruhigt: Ich wollte die Brennnesseln heute Abend ohnehin abernten.«

Missmutig hielt der Griesgram inne. »Heute Abend, sagst du?«

»Heute Abend«, versicherte ihm Oma. »Und bei der Gelegenheit hatte ich auch vor, dir zwei Gläser Marmelade vor die Tür zu stellen.«

Wie bitte? Meinte sie das etwa ernst? Milou hustete vor Schreck auf.

Omas Nachbar hingegen wirkte nicht sonderlich überrascht, wohl aber etwas besänftigt.

»Erdbeermarmelade?«, murmelte er und löste endlich die verschränkten Arme vor der Brust.

»Mit einem Hauch Vanille«, ergänzte Milous Großmutter und zwinkerte verheißungsvoll. »Die Gläser kühlen gerade noch aus. Aber wenn du nicht willst …«

Muffel rang noch einen Moment mit sich, aber dann knickte er ein.

»Meinetwegen«, grummelte er. »Du kannst die Marmelade vor meine Tür stellen – aber mach bloß keinen Lärm dabei. Und morgen früh ist das Unkraut verschwunden!« Dann drehte er sich ohne ein weiteres Wort auf dem Absatz um und stampfte zurück zu seiner eigenen Küchentür.

Oma lehnte den Oberkörper noch einmal grinsend nach draußen.

»Ich wünsche dir auch noch einen ganz wundervollen Tag, mein Lieber!«

Kopfschüttelnd schloss sie die Tür hinter sich und drehte sich zufrieden zu Milou um. »Er ist und bleibt ein alter Betonschädel.«

Milou konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum sie bei dieser Feststellung lächelte.

»Wieso warst du denn so freundlich zu ihm?«

»Freundlich?« Oma Anni blickte sie überrascht an. »Ich habe ihn als ›Ochsen‹ bezeichnet, hast du das nicht mitbekommen?«

»Schon, aber anschließend hast du ihm zwei Gläser Marmelade versprochen. Die hat der alte Griesgram doch gar nicht verdient.«

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit lachte Oma laut auf und schlang die Arme um Milou, um sie fest an sich zu drücken. »Du hast ja recht, mein Schatz, eigentlich hat er meine Marmelade nicht verdient. Aber es gibt eben ein paar Dinge, die du vermutlich erst verstehen wirst, wenn du etwas älter bist.«