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Magnus Steinbach schwimmt gegen den Strom und liefert in seinem Buch 111 Gründe, ein Spießer zu sein. In einem leidenschaftlichen Plädoyer ruft er dazu auf, gegen die Masse aufzubegehren, die cool, hip, chic, geil, abgefahren und was sonst noch so alles sein will. Und aus Überzeugung schreibt er: Ja, ich bin ein Spießer! Humorvoll und kurzweilig klärt er auf über den Spießer an sich und die zahlreichen Vorzüge des Spießerlebens. Er beschreibt die Spezies in allen Lebenslagen: beim Essen, Trinken und Reisen, in Schule und Beruf, bei Sport und Spiel, bei Sex und Erotik, beim Lesen und im Museum, er erörtert des Spießers Einstellung zu Wirtschaft und Technik und nicht zuletzt zu seinem guten Recht. In einer Welt der Gleichmacherei liefert Magnus Steinbach so eine dringend notwendige Verteidigung des Spießertums.
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Seitenzahl: 293
Magnus Steinbach
Neulich saß ich mit meinem Freund Jens im »Pandora«. Ich liebe dieses Lokal, weil es das billigste Fassbier weit und breit ausschenkt, weil man dort noch sein eigenes Wort versteht und weil am zweiten Tisch links vom Eingang das Licht so gut ist, dass ich sogar mit Brille lesen kann. Eine szenigere Kneipe wäre Jens zwar lieber, aber da er ein bekennender Schnorrer ist und es mir spätestens nach dem fünften Halben egal ist, wer die Zeche zahlt, erträgt er das Publikum aus der Hochhaus-Siedlung nebenan ohne Murren.
Weil er für Chelsea ist und ich für Arsenal, hatten wir uns den ganzen Abend über Fußball gestritten. Dann, es war schon nach elf, als er merkte, dass meine Abwehr allmählich auseinanderfiel, schob er mir unvermittelt ein Buch zu, das mit Fußball nicht im Entferntesten etwas zu tun hatte. Auf dem Einband war ein Geschöpf abgebildet, dessen Geschlecht ich um diese Uhrzeit nicht mehr unterscheiden konnte, doch immerhin war der Titel noch groß genug für meine Augen: »Sex – von vorn und hinten gleich«. Darüber, ebenfalls gut lesbar, der Name von Jens. »Ach«, dachte ich, »schon wieder.« Ich kenne nichts Peinlicheres, als Bücher von Freunden lesen zu müssen.
Doch weil ich mich selbst gegen Mitternacht an die Spielregeln zu halten versuche, unterdrückte ich mein Gefühl an den Backenknochen und las erst einmal das Inhaltsverzeichnis. »Anal – allemal«, »Oral – kolossal« und »Manuell – ganz speziell« versprachen die Kapitelüberschriften. Immerhin war weiter hinten jenes Thema angekündigt, das mich seit frühester Jugend nicht mehr losgelassen hat. Also schlug ich die Seite 156 auf – und erstarrte.
Jens liebt es, seine Belesenheit zur Schau zu stellen, indem er selbst in alltäglichste Unterhaltungen Zitate einstreut, mal aus der Weltliteratur, mal aus einer Aphorismensammlung oder womöglich aus den eigenen Werken. Und deshalb hatte er es sich selbst bei diesem doch recht prosaischen Thema seines neusten Buchs nicht nehmen lassen, die einzelnen Kapitel mit literarischen Perlen zu verzieren, die ihm seine amusische Lebensgefährtin aus dem Internet herausgefischt hatte. Ob Liebe, Freundschaft oder Treue – nicht einmal vor den edelsten menschlichen Empfindungen schreckt diese Frau zurück.
Und so kam es, dass ich unter den protzig-fetten vier Worten der Kapitelüberschrift »Ficken – kannst du knicken« ganz unten in kleinster kursiver Schriftgröße den Namen eines Mannes lesen musste, den ich selbst bei zwei Promille verehre wie kaum einen anderen Zeitgenossen. Ich will ihn »H.« nennen, damit dieser milde, menschenfreundliche Greis, einer der ganz wenigen Vorbildcharaktere im Nachkriegsdeutschland, nicht noch mehr Grund hat, in seinem Grab zu rotieren. Deshalb werde ich auch nicht jenen Satz zitieren, den Jens und seine Freundin für den geeigneten Kommentar zum Thema Ficken gehalten hatten. Nur so viel: Nie hatte ich eine peinlichere Geschmacklosigkeit in einem Buch dieses Anspruchs gelesen.
Jens muss mir wohl meinen Abscheu vom Gesicht abgelesen haben, weil er sofort, halb misstrauisch, halb aggressiv, fragte: »Is’ was? Passt dir was nicht an meinem Buch?« Und als ich ihm, zugegeben etwas pathetisch, zu erklären versuchte, welche Kluft doch zwischen Kapitelüberschrift und Zitat klaffe, dass er sich besser Jan Cremer oder Henry Miller hätte heraussuchen sollen als diesen noblen älteren Herrn, blaffte er mich nur verachtungsvoll an: »Hey, das ist doch cool, das ist chic, sogar der Verlag, hey, fand es geil. Hätte nie geglaubt, dass du so ein verklemmter Spießer bist.« Sprachs, riss das Buch wieder an sich und rannte grußlos zur »Pandora« hinaus, ohne seine Zeche bezahlt zu haben. Aber das macht die Generation Landrover eigentlich immer so.
»Spießer? Verklemmt?«, dachte ich und bestellte mir noch einen Halben. Und dann, zehn Minuten später, fiel bei mir endlich der Groschen: Wenn das spießig ist, wenn Leute wie Jens mich wegen so etwas für einen Spießer halten, wenn sie, hey, einen solchen Dreck für cool, chic und geil halten, dann will ich gern ein Spießer sein, von ganzem Herzen und egal, wie hoch die Zeche ist. Und dann will ich, hey, hey und dreimal hey, ein Buch für all die Spießer schreiben, die sich freiwillig und aus Überzeugung an die Spielregeln halten und selbst im Traum nicht darauf kommen, Ficken mit Lieben gleichzusetzen. Womit wir beim Thema wären.
Magnus Steinbach
Kapitel eins
Grund Nr. 1
Weil sie beim Gruppensex nicht nachrechnen
Mein Freund Peter fürchtet weder Tod noch Teufel, besitzt alle Führerscheine vom Fallschirm bis zum U-Boot und schreckt selbst vor jenen privaten Gruppensex-Partys nicht zurück, wie sie im Hamburger Nordwesten gang und gäbe sind. Peter weiß, wie gesittet und diskret Menschen, die Jens als Spießer bezeichnen würde, ihrem Geschäft mit dem Sex nachgehen: kein Schweinkram, keine Unordnung, keine Abseitsfalle. Und erst recht kein Sodom und Gomorrha.
Getreu dem Motto des amerikanischen Satirikers James Thurber nehmen die Partygäste den Begriff »Gruppe« wörtlich: »Zwei sind ein Paar, drei sind eine Gruppe, vier sind eine Menge – einer ist ein Wanderer.« Danach sind einzelne, zwischen den Gruppen hin und her streunende Wanderer unerwünscht, weil sie dem Gruppengedanken beim Sex zuwiderhandeln, Ordnung muss sein. Ehepaare erscheinen mit dem Hausfreund, zwei Freundinnen mit jenem Mann, den sie sich gerade teilen, Tante und Neffe mit der Cousine, die aus den USA zu Besuch ist, lediglich Hunden ist das Betreten der Spielwiese verboten.
Peter behauptet, dass bei diesen Partys meistens die Gastgeberin dafür verantwortlich ist, dass alle Gäste gleichzeitig und mit den gleichen Voraussetzungen in die Startlöcher gehen: gleicher Dress, wie ihn auch schon Adam und Eva trugen, gleiche Stimmung, gleicher Spielraum und gleicher Pegel. Dass sich Paare in unbeleuchtete Zonen absondern oder womöglich Türen hinter sich verschließen, verstößt gegen die Regeln, die Zahl drei ist oberstes Prinzip beim gutbürgerlichen Gruppensex. Peter nennt diesen Rudelbums »kontrollierte Offensive« – eine Taktik, die sich selbst Otto Rehhagel nicht besser hätte ausdenken können.
Wenn dagegen »tolerante Paare«, wie es in den einschlägigen Magazinen heißt, zu einem Beisammensein einladen, dann entspricht das eher dem Klischee des Spießers, über das man in den besseren Kreisen die Nase rümpft. Wehe dem einzelnen männlichen Gast, der beim Durchzählen der Paare enttarnt wird, er fliegt hochkant aus dem Partykeller hinaus, weil er die Todsünde begangen hat, die heterosexuelle Symmetrie zu gefährden. Nach einem solchen Skandal ist die Stimmung buchstäblich im Keller. Denn als einziges Gesprächsthema für den Rest des Abends bleibt jetzt nur noch die Unverschämtheit des »Ferkels«, das es gewagt hatte, sich einer treuen Ehefrau zu nähern, ohne im Gegengeschäft deren Gatten mit der eigenen Begleiterin entlohnen zu können – einen schwereren Verstoß gegen den hanseatischen Kaufmannsgeist können sich tolerante Paare nicht vorstellen.
Da lobe ich mir doch Peters Form der Geselligkeit, zumindest wie ich sie mir wünsche: ohne Ansehen der Person, des Geschlechts und der Zahl sein Vergnügen zu haben, solange es nur gesittet zugeht und deshalb weder Männlein noch Weiblein am nächsten Morgen mit einem faden Geschmack im Mund aufwachen. Ein Genuss, bei dem man sich nicht vor sich selbst schämen oder sich vor anderen verstecken muss – das ist es, was ich mir bei der Filzpantoffel-Werbung in der U-Bahn vorstelle: hineinschlüpfen und wohlfühlen. Dafür würde ich in den Nordwesten Hamburgs sogar mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren.
Grund Nr. 2
Weil für sie vom Hals abwärts alle Frauen gleich aussehen
Gewöhnlich komme ich im »Pandora« nur mit dem Wirt oder mit der Bedienung ins Gespräch, das Licht zum Lesen ist einfach zu gut in meiner Ecke. Doch vor ein paar Wochen verirrte sich ein Tourist aus der Schweiz hierher; und weil mir die Bewohner dieses Landes wegen ihrer Ernsthaftigkeit, Gründlichkeit und Rechtschaffenheit lieb sind, ließ ich mich von ihm ansprechen. Ich habe es nicht bereut.
Mein Schweizer – nennen wir ihn Urs, weil sie alle so heißen – hatte als Binnenländer nach der ersten Großen Hafenrundfahrt seines Lebens noch etwas wacklige Knie und brauchte deshalb festen Boden unter den Füßen und außerdem ein Bier. Beides bekam er hier. Nach dem zweiten Glas fand er den Mut, mich nach dem Titel des Buchs vor mir zu fragen und so gab ein Wort das andere. Er sei von den Landungsbrücken aus noch ein paar Schritte über die Reeperbahn gelaufen, wäre aber dort vor den Bierpreisen zurückgeschreckt, hier im »Pandora« fühle er sich eher zu Hause.
Mein Versuch zu blödeln fiel auf steinigen Boden, schließlich saß ich einem Schweizer gegenüber. Nein, es habe ihn überhaupt nicht gereizt, in eines der Strip-Lokale zu gehen, das wäre zum Fenster hinausgeworfenes Geld. Und dann, mit würdevoller Miene: »Ich bin schließlich ein verheirateter Mann, deshalb weiß ich, dass alle Frauen vom Hals abwärts gleich aussehen.« Das saß. Mein Einwand, dass ich bisher immer das Gegenteil geglaubt hätte, dass nämlich »dort« keine wie die andere sei, stieß auf Verständnislosigkeit. So viel Blindheit überstieg sein schweizerisches Vorstellungsvermögen, also rief er Steffi, die Bedienung, zahlte seine zwei Bier, gab sogar noch zehn Cent Trinkgeld und ging festen Schritts davon. Sollte er vielleicht doch recht gehabt haben?
Lassen Sie uns einmal nachdenken. Der erste Blick, den ein Mann auf eine nackte Frau wirft, gilt nicht ihren Augen oder ihrem Mund, sondern der Stelle irgendwo »da unten«, das ist gesichertes Wissen. Ich will Ihnen die Details ersparen, aber immerhin: Machen wir das nicht alle so? Lügen wir uns nicht in die eigene Tasche, wenn wir behaupten, dass uns am FKK-Strand und im Strip-Lokal einzig und allein die menschliche Ausstrahlung und die unsterbliche Seele der Frau vor uns beschäftigt? Warum fragen wir sie dann nicht gleich nach ihren Hobbys und ihrem letzten Besuch in der Staatsoper, während unsere Augen verschämt eine Stelle zwischen den Brauen und dem Mittelscheitel fixieren? Nein, »Männer wollen immer nur das eine«, wie der Dichter sagt, und starren eben doch als Erstes auf das, was sie nichts angeht. Das ist schäbig, unkultiviert, stillos, mit einem Wort: spießig. Ein Gentleman macht so etwas einfach nicht.
Deshalb habe ich mir an jenem Abend gelobt, an jedem Strand der Welt – sofern es mich je an einen Strand verschlägt – meinen Blick dorthin zu zwingen, wo ich die Seele der vor mir ausgebreiteten Frau vermute. Und diese Seele wohnt ganz gewiss nicht unterhalb der Gürtellinie, wo ja, wie wir jetzt wissen, eine wie die andere aussieht, sondern oberhalb des Halses, vielleicht im Mund, auf der Zungenspitze oder in den Lachfalten neben den Augen, irgendwo in dieser Gegend.
Doch was lernen wir daraus, dass mir ausgerechnet einer, den ich für den typischen Schweizer Spießer hielt, diese Lektion erteilen musste? O Mensch, lieg vor dir selber auf der Lauer …
Grund Nr. 3
Weil ihre Uhren anders gehen
Es ist nun bald 30 Jahre her, dass Oskar Lafontaine dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt seine »Sekundärtugenden« zum Vorwurf machte, Tugenden wie Pflichtgefühl oder Berechenbarkeit. Man mag zu dem Schmidt-Schnauze früherer Jahre stehen wie man will, vor allem, wenn man erleben durfte, wie er einem im Fahrstuhl demonstrativ den Rücken zuwandte, als man ihn grüßen wollte. Doch das Letzte, was ich ihm vorwerfen würde, wäre seine Neigung, sich an die Spielregeln zu halten. Oder, wie der Fuchs zum Kleinen Prinzen sagt: »Es muss feste Bräuche geben.«
Zu den mir ans Herz gewachsenen Bräuchen zählt die Pünktlichkeit. Es mag seinen Charme haben, am westirischen Flughafen Knock zu stehen und als Abflugzeit nach New York ein unbestimmtes »Soon« zu lesen, weil man sich dann getrost noch einen weiteren Pint Guinness oder zwei gönnen kann. Aber erzählen Sie das einmal dem Mann, der morgens um acht mit den Hufen scharrend vergeblich auf die Geliebte wartet, bloß weil die den Termin nicht so ernst genommen hat wie er. Oder der Ehefrau, die Schlag Mitternacht mit einer Feuerzangenbowle auf das neue Jahr und mehr anstoßen will, während derweil Mann und Hausfreund im »Rattenkeller« an der Davidstraße noch ein Bier bestellen. Nein, es muss feste Bräuche im Leben geben.
Denn was wären wir alle ohne die Pünktlichkeit? Der selbsternannte Bordellkönig einer schwäbischen Kleinstadt würde ganz schnell, wenn er zum dritten Mal hintereinander die Pferdchen nicht pünktlich gefüttert hat, durch seinen Kronprinzen vom Thron gestoßen und zum Hofnarren degradiert – so spießig geht es selbst in diesen Kreisen zu. Kein Mensch hätte je die Ouvertüre zum »Don Giovanni« gehört, wenn die Musiker um zehn nach acht noch in der Kantine sitzen. Und das Thaigirl in Bangkok läge noch immer einsam in ihrem Bett, weil der Freund aus Ansbach oder Creußen beim Anflug in seinem Bumsbomber einen schlanken Steward erhörte und darüber die Zeit vergaß.
Doch wie die Partnertausch-Szene mit den toleranten Paaren, so hat auch die Pünktlichkeit ihre hässliche Kehrseite. Peter erzählt – und es graust ihm immer noch –, dass er vor Jahren die Kontaktanzeige eines solchen Paares aus dem schleswig-holsteinischen Neumünster beantwortete und dann mit dem Herrn des Hauses einen Sonnabend-Termin vereinbarte. »Also«, rechnete der ihm vor, »nachmittags bin ich beim HSV, anschließend Sportschau bei ein paar Kumpels und so, ich denke, so ab neun könnt ihr kommen.« Das Einverständnis der Ehefrau, die ja mitspielen sollte, allein ihretwegen wollte Peter anreisen, setzte er stillschweigend voraus.
Angesichts einer so großzügigen Zeittabelle verzichtete Peter auf der Autobahn auf alle riskanten Überholmanöver und stand deshalb erst sieben Minuten nach neun in Neumünster vor der Tür – gemeinsam mit zwei hoffnungsfrohen Freundinnen. Niemand öffnete. Peter, die geduldigste Seele der Welt, klingelte insgesamt zwölf Mal, sah zwischendurch sogar ein merkwürdiges Männchen durchs Treppenhaus huschen und beschloss nach einer Höflichkeitsviertelstunde umzuplanen. Zum Glück für das Trio aus Hamburg wohnte in der Nachbarschaft des HSV-Anhängers eine alte Freundin Peters. Und weil die von Beruf Krankenschwester war, kamen nicht nur er, sondern auch seine beiden Begleiterinnen voll auf ihre Kosten. Das alles verdankten sie im Grund nur dem kleinen Pünktlichkeitsfanatiker. So weit, so gut.
Tags darauf rief Peter bei dem toleranten Ehemann an, um ihm mitzuteilen, dass er nicht mehr zu warten brauche, er und seine beiden nymphomanischen Freundinnen hätten in Neumünster eine Orgie feiern müssen, deshalb brauche er jetzt erst einmal zwölf Stunden Schlaf. Doch mit Ironie konnte er dem selbstgerechten Spießer nicht kommen, der kannte nur Verachtung für seine Unpünktlichkeit: »Wir waren Punkt neun verabredet, mein Herr, drei Minuten später kommt bei mir keiner mehr rein. Ich habe vom Treppenhaus aus gesehen, wie ihr vor der Tür gezittert habt, das war noch besser als der HSV, hähähä. Das soll euch eine Lehre sein.« In solchen Momenten vergesse selbst ich alle Sympathie für die Spießer dieser Welt.
Grund Nr. 4
Weil sie immer drei Kondome und eine Stecknadel am Leib tragen
Spießer sind lieb, Spießer sind Gentlemen, Spießer sind pünktlich und – wer hätte das gedacht – Spießer sind vorausschauend, weil sie fürsorglich sind. Denn sie sorgen sich nicht nur um ihre eigene Gesundheit, sondern ebenso sehr um die der anderen.
Da es uns in diesem Kapitel ausschließlich um Sex und Erotik geht, beschränken wir uns auf den genitalen Aspekt. Peinlichste Hygiene ist kein Thema, die dürfen wir beim Spießer voraussetzen, wer mag es schon, wenn in der Stammkneipe seine schmutzige Unterwäsche breitgetreten wird? Schon gar nicht einer, der so ängstlich um seinen Ruf besorgt ist, dass er in den abgelegensten Stadtteil fährt, um dort den Hautarzt zu konsultieren, wenn Not am Mann ist.
Also sorgt der Spießer vor und zwar gründlich. Mein Nachbar Klaus beispielsweise, den ich als einen der erfolgreichsten Jäger im Revier kenne, obwohl das dem Mittfünfziger keiner glauben würde, geht nie ohne einen Vorrat von drei Kondomen und einer Stecknadel aus dem Haus. Nicht etwa, weil er die eigene Potenz überschätzt, sondern weil er seine Beutezüge bis ins Detail zu planen pflegt. Die Kondom-Planung sieht so aus:
Kondom Nr. 1 dient als Lockvogel. Klaus hat sich aus seinem letzten Texas-Urlaub einen soliden Vorrat im XXL-Format mitgebracht und nutzt diese Monster nun gezielt zur Eigenwerbung. Am Tresen seiner Stammkneipe setzt er sich unaufgefordert neben die Dame seiner Wahl, macht ein bisschen Konversation, spendiert zwei oder drei Wodka Bitter Lemon und lässt dann irgendwann ganz versehentlich seinen schwarzen Texaner aus der Geldbörse fallen. Da er die Kunst des spontanen Errötens beherrscht, wird die ohnehin schon entspannte Dame neugierig und will der Wahrheit auf den Grund gehen, der erste Schritt ist getan.
Kondom Nr. 2 im deutschen Standardformat holt die Neugierige zwar auf den Boden der Tatsachen zurück, doch zu diesem Zeitpunkt gibt es für sie kein Zurück mehr, selbst wenn sie wollte. Sie liegt mit Klaus im Bett und kann jetzt nur noch schauen, dass sie den Rest mit Anstand über die Bühne bekommt. Außerdem: Warum sollte man sich nicht ein bisschen Vergnügen gönnen, so schlechte Manieren hat der Kerl neben ihr doch gar nicht. Um indiskreten Fragen über den Texaner zuvorzukommen, erklärt Klaus, dass er ihn bei Damen, die einen Kondomriss fürchten, zur Sicherheit über das deutsche Modell rollt, eine derartige Fürsorglichkeit wirkt meist gewinnend, wie es im Kamasutra heißt.
Kondom Nr. 3, ebenfalls im deutschen Standard, hält der vorausschauende Klaus für Notfälle bereit. Ein solcher Notfall ist zu seinem Leidwesen bisher erst einmal eingetreten, aber die Hoffnung stirbt zuletzt, selbst bei einem so nüchternen Planer wie ihm. Damals hatte sich zum gespielten Entsetzen seines Opfers, das er gerade missionierte, eine WG-Nachbarin mit ins Bett geschlichen und forderte nun ihren Anteil an der Beute ein. Obwohl sie, erregt vom Anblick des Paars neben sich, alle Vorsichtsmaßnahmen über Bord werfen wollte, bestand Klaus auch bei ihr auf dem Sicherheitskondom; lediglich den Texaner tat sie als »typisch amerikanisches Banausentum« ab. Und bevor seine wiedererweckte Männlichkeit unter ihrem Spott zusammenbrach, verzichtete er auf die dritte Haut, die eigene mitgerechnet.
Wenn die drei Kondome das Sicherheitsnetz des Artisten Klaus bilden, so ist die Stecknadel sozusagen der doppelte Boden. Vorne am Revers seines Cordsamt-Jacketts trägt er die Rotarier-Nadel, auf der Rückseite versteckt ist eine ganz alltägliche Stecknadel, die nur in einer jener Situationen, wie sie in französischen Liebesgeschichten dargestellt werden, zum Einsatz kommen soll: wenn der gehörnte Ehemann überraschend von der Geschäftsreise zurückkehrt und die Falle zwischen den Schenkeln der geschockten Gattin zuschnappt. In diesem Fall, so malt sich Klaus immer aus, würde er souverän zum achtlos neben das Bett geworfenen Jackett greifen, die Stecknadel hinter dem Revers hervorziehen, die Spitze irgendwo in die Dame stechen und schon wäre er wieder frei. Nicht um die Welt würde er für so etwas Profanes die Mitgliedsnadel der Rotarier entwürdigen.
Grund Nr. 5
Weil sie ihr Erotikregal nach dem Autoren-Alphabet sortieren
Nirgendwo, lehrt uns ein kleinbürgerliches Vorurteil, verrät sich der Charakter eines Menschen so unverkennbar wie in seinen Hobbys: Schachspieler müssen Langweiler sein, der Frauenheld platzt vor Männlichkeit aus den Hosennähten, Sammler von Ming-Vasen sind kultiviert und wer sein Leben in großem Stil der Wohltätigkeit widmet, gilt als Grande Dame. Dem Spießer dagegen billigt Volkes Meinung Gartenzwerge, Schäferhunde, Mallorca und Bierdeckel zu. Bücher seien ihm fremd, aber nicht gänzlich unbekannt, weil er mit ihnen seine altdeutschen Schrankwände oder wie diese Scheußlichkeiten heißen schmücken kann, wenn er sich nicht einfach vom Möbelgeschäft um die Ecke ein paar Attrappen schenken lässt. So einfach ist das.
Die Wahrheit liegt wie immer auf dem Platz oder in diesem Fall im Bücherregal des Spießers. Wenn sich die Zeit findet, werden wir uns ein paar Andeutungen über den Inhalt dieses Regals erlauben, denn nichts sagt so viel über einen Menschen aus wie die Autoren, die er liest. Einer, der Eierbecher sammelt, kann sehr wohl auch Fontane lieben, und warum sollte ein anderer, der jedes Wochenende auf den Fußballplätzen Norddeutschlands verbringt, abends zu Hause nicht Charles Dickens lesen, anstatt seine Frau zu betrügen?
Doch wenden wir uns hier erst einmal von Dickens und Fontane ab und jenem Stiefkind der Literatur zu, das in dieses Kapitel gehört: dem erotischen oder, wie es seine Verächter nennen, dem pornografischen Buch. Denn gerade in diesem Genre bietet sich dem Spießer eine einzigartige Chance: Während der als anspruchsvoll geltende Literaturfreund seine Pornos unter dem Bett oder auf dem Dachboden verstecken muss, um seinen Ruf nicht zu gefährden, kann unser Mann Bücher selbst zweifelhaftesten Inhalts offen zur Schau stellen, ohne dass es Verwandte oder Kollegen erkennen. Denn solche Leute, wie sie traditionell mit einem Spießer gesellschaftlich verkehren, verachten Bücher oder dulden sie allenfalls als Marotte. Seine wahren Freunde aber teilen mit ihm dieses Hobby und fördern es sogar.
Die Gefahr dabei ist: Wer sich so offen und maßlos seiner Droge hingeben darf, läuft Gefahr, süchtig zu werden. Das ist der Grund, warum sich ausgerechnet in den Wohnungen von Spießern einige der anspruchsvollsten Pornografie-Sammlungen der Welt finden, wobei wir wohlgemerkt keine Vergleiche zum Vatikan ziehen oder dem Dreck, den die Honeckers und Ceauşescus dieser Welt zusammengerafft haben. Nein, es sind jene handverlesenen Bibliotheken, die das Glück der Besitzer und das Entsetzen der Hinterbliebenen sind.
Unser Spießer wäre jedoch kein Spießer, wenn sich bei ihm nicht die Neigung zu den Büchern mit seiner ausgeprägten Ordnungsliebe paaren würde. Warum sollte er auch erst die ganzen Regale absuchen müssen, wo er doch mit einem gezielten Griff ins Autoren-Alphabet zwischen A wie Apollinaire und Z wie Zwerenz jene Ferkelei des Grafen Mirabeau findet, nach der es ihn gerade gelüstet? Oder die von deutschen Provinz-Staatsanwälten verfolgte grüne »Barbara« der Olympia Press? Oder die Maupassant zugeschriebenen »Nichten der Frau Oberst«, denen es in Deutschland nicht besser erging als ihrer unersättlichen amerikanischen Verwandten Barbara? Eine erotische Bibliothek, in der man die hemmungsloseste Freizügigkeit genießen kann, ohne einen Schritt vor die Tür machen zu müssen, und dann noch fein säuberlich von A bis Z sortiert – es ist der Traum jedes Spießers, dem es gleichgültig ist, ein Spießer genannt zu werden.
Grund Nr. 6
Weil sie keine ordinäre Sprache im Bett dulden
Dass der Spießer im Grunde seines Herzens ein Gentleman ist, haben wir schon von dem Schweizer Urs gelernt, der unter Paragraph zwei die Gleichheit aller Frauen vom Hals abwärts erklärte. Jenen, die befürchten, dass diese Tugend auf den eidgenössischen Spießer beschränkt ist, empfehle ich den Besuch eines der Folterkeller rund um die Hamburger Reeperbahn. Dort werden sie Lebensart, Manieren und Zivilcourage lernen.
Gewöhnlich meide ich solche Orte, weil ich grundsätzlich – unabhängig vom Sex – weder Schmerzen erdulden noch zufügen mag. Doch wie es der Zufall und ein paar Biere wollten, landete ich eines späten Abends in einem jener Häuser, wo man dafür zahlt, verprügelt zu werden. Am Tresen wurde ich von einem gut gekleideten Herrn und zwei Frauen angesprochen, er in Flanell und die beiden in Leder. Der bessere Herr stellte sich als Eberhard vor, seine Begleiterinnen nannte er »Bananen-Elli« und »Pflaumen-Lilo«. Angeblich trug Lilo ihren Spitznamen wegen der molligen Figur, während die andere eher einer Stangenbohnen-Elli glich. Alle drei wirkten sie recht belesen.
Ob der Laden »Justine«, »Juliette« oder »Sodom« hieß, weiß ich nach meinem einzigen Besuch dort nicht mehr. Immerhin war der Name des Lokals der Grund dafür, dass Eberhard und seine Damen hier abgestiegen waren. Nach »intensiver Lektüre der französischen Literatur«, wie er mir etwas geschraubt erklärte, hätten sie sich entschlossen, »auf den Spuren gewisser Autoren zu wandeln«. Zu deutsch: Sie hatten den Marquis de Sade und Pauline Réage gelesen und wollten nun erleben, was Sache ist.
Ich ließ sie reden. Und als sie den Sprung ins kalte Wasser wagten und in die Keller hinabstiegen, folgte ich ihnen schon deshalb nicht, weil in solchen Lokalen das Bier zu teuer ist, als dass man es unbewacht am Tresen zurücklassen sollte. Erst als ich von unten wilde Schreie hörte und Ausdrücke, wie ich sie noch nie aus einem weiblichen Mund vernommen hatte, wurde ich neugierig.
Unten, gleich im vordersten Verlies, bot sich mir ein unfreiwillig komischer Anblick. An ein hölzernes Gerüst – ein Andreaskreuz, wie ich später lernte – gekettet, musste der nackte Eberhard hilflos mit anhören, wie seine ebenfalls nackten Begleiterinnen das ganze Haus zusammenschrien. Während Elli in den höchsten Tönen immer nur »Fick mich, du Sau« skandierte, weil ein Unbekannter rücksichtslos in sie hineinstieß, sekundierte ihr Lilo, indem sie mit der Peitsche auf den Unbekannten eindrosch und dabei gellend Obszönitäten brüllte, deren Wortlaut ich uns allen ersparen möchte.
Und mitten in diesem Hexensabatt, dem ganzen Peitschen, Stoßen, Brüllen und Kreischen, hing der gefesselte Eberhard und winselte wohlgesetzte Worte vor sich hin, immer die gleichen: »Diese Frau ist ungeschützt, diese Frau ist ungeschützt, diese Frau …« Offensichtlich hatten die handelnden Personen in ihrer Besinnungslosigkeit jegliche Vorsicht und erst recht Kondome über Bord geworfen und ergaben sich ungeschützt ihrem Trieb. Während dem Gentleman-Spießer Eberhard, der selbst in diesem Tohuwabohu um die korrekte Formulierung rang, immer nur einfiel: »Diese Frau ist ungeschützt …« Elli und Lilo hätten es, wenn sie in dieser Lage daran gedacht hätten, drastischer ausgedrückt, aber schließlich sind sie wohl keine Spießerinnen. Zumindest waren sie es nicht in diesem Moment.
Grund Nr. 7
Weil sie Internet-Sex verabscheuen
Lieben Sie feuchte Handflächen, Achselschweiß und die Spuren heimlicher Ministranten-Sünden? Dann sollten Sie diese Abrechnung hier mit dem Internet-Sex überblättern. Denn zu den Statussymbolen, die der gewissenhafte Spießer am höchsten schätzt, gehört die reine Leibwäsche, die er notfalls sogar zur Schau stellt, wenn er dazu aufgefordert wird. Und daher ist ihm auch alles zuwider, was Menschen in Gefahr bringt, sich selbst zu beflecken. Am meisten zuwider ist ihm Sex im Internet.
Um diese Abneigung zu rechtfertigen, muss der Spießer weder Psychologen noch Gerichtsgutachter befragen. Es ist ihm Rechtfertigung genug, dass er grundsätzlich weder Schmutz noch klebrige Flecken mag. Vielleicht ist er ja als 14-Jähriger von der Mutter dabei erwischt worden, wie er vor dem Bildschirm jene Ministranten-Sünde beging. Oder er ist beim Surfen im Internet in ein einschlägiges Video von Paris Hilton oder Britney Spears hineingeraten, das allein wäre schon Begründung genug für den Abscheu gegen Plastiksex. Sozialarbeiter und Studienräte würden in diesem Fall von Verdrängung sprechen, doch ein Spießer verdrängt nicht, er vergisst. Das genügt ihm.
Vor Jahren traf ich einmal eine pfiffige Westfälin (das ist kein Widerspruch), die unter dem Künstlernamen Perris Hilden durch die Provinz zwischen Datteln und Paderborn tingelte. Weil sie ihre Konzerte bei den Anzeigenblättern der Region immer nur telefonisch und dann auch noch mit einem westfälisch-amerikanischen Akzent ankündigte, gingen ihr die sensationslüsternen Freizeitjournalisten reihenweise auf den Leim und rührten für den vermeintlichen Weltstar die Werbetrommel.
Die Turnhallen des Münsterlands waren rammeldicke voll, wenn Perris die andere Paris so virtuos parodierte, dass die Teenies den Duft sämtlicher Promi-Galas Hollywoods zu schnuppern glaubten. Und wenn diese Teenies dann wieder einsam zu Hause vor ihrem PC saßen und zum hundertsten Mal das Video »One Night in Paris« anwarfen, erkannten sie plötzlich, dass ihnen im Internet Wassersuppe statt einer handfesten Ochsenkeule verkauft wurde.
Wenn zum Beispiel das ein anständiger Oralverkehr sein sollte, was sich da Paris Hilton mit Rick Salomon abquälte, dann sollten die beiden besser einmal Bildungsurlaub in einem westfälischen Jungmädchenzimmer machen. Nie hat die Natur den seelenlosen Internet-Kitsch à la Hilton und Spears gnadenloser entlarvt als Perris Hilden in ihren Live-Shows. Bei Perris tobte das wahre Leben wie ein Hurrikan durch die Turnhallen, kein Wunder, dass später zu Hause die Sprungfedern nur so ächzten, bei Paris – das erkannten auch die Teenies – war das Einzige, was klingelte, die Kasse.
Was das mit unseren Spießern zu tun hat? Alles. Zwar ist die Geschichte von Perris Hilden nur ein Wunschtraum, den ich bei Pinkus Müller in Münster träumte, als ich eine Portion Pfefferpotthast mit Gewürzgurken verdaute, aber sie wird all dem gerecht, was ein achtbarer Spießer beim Internet-Sex empfindet. Lasst uns die ganzen Zelluloid-Hiltons in den Reißwolf werfen, den PC herunterfahren und stattdessen auf die Piste gehen – mit trockenen Handflächen, drei Kondomen im Portemonnaie und für alle Notfälle einer Stecknadel am Revers. Das meine ich.
Grund Nr. 8
Weil ihnen die thailändische Kultur fremd ist
Ich kenne in Hamburg ein kleines Restaurant, dessen Koch ist nicht von dieser Welt. Nicht dass seine Speisekarte überirdisch wäre – das raffinierteste Gericht ist der gebackene Camembert mit Preiselbeeren –, auch ist seine Erscheinung alles andere als ätherisch, denn mit seiner anabolikagesättigten Muskulatur kommt er vor Kraft kaum durch die schmale Küchentür. Doch ein Blick auf seinen abwesenden Gesichtsausdruck verrät, dass dieser Mann nicht unter uns weilt, während er das Katenschinken-Brot mit Petersilie garniert. Denn, um ein schottisches Volkslied abzuwandeln: Sein Herz ist in Thailand, sein Herz ist nicht hier.
Der zum Philo-Asiaten konvertierte Barmbeker Jung hält nicht mit seiner Bewunderung für alles Thailändische hinterm Berg: »Es ist das Paradies auf Erden, glaubt es mir. Nicht das, was ihr denkt, sondern die ganze uralte Kultur des Landes – die Tempel, die Landschaft, die, die …« – hier stutzt er kurz, überlegt, dann geht es weiter: »Eben alles, einfach alles, aber wirklich nicht das, was ihr meint. Natürlich war ich auch mal in einer Bar, aber nur weil es regnete, auf Reisen hat man doch keinen Schirm dabei. Aber das? Nie und nimmer. Nur Spießer sind es, die zum Vögeln nach Bangkok fliegen.« Ein Spießer ist er dann wohl doch nicht.
Weil ihm damals die Frachtkosten zu hoch gewesen waren, hatte er darauf verzichtet, als Souvenir sich ein Thai-Girl mit nach Hause zu bringen, um nach Feierabend seine Kenntnisse über die Sitten und Gebräuche der neuen Wahlheimat zu vertiefen. Stattdessen ließ er sich in Hamburg von einer darauf spezialisierten Agentur eine dieser Lotosblüten vermitteln und die darf ihm seither gegen freie Kost und Logis den Haushalt führen. So erhält sie ihrem Koch den exotischen Traum am Leben, vorerst jedenfalls.
Einer meiner Kolleginnen, die eine recht einseitige Vorstellung von deutschen Thailand-Touristen hat und sich wundert, »dass solche wunderschönen Geschöpfe sich mit diesen Fettsäcken einlassen«, fallen nur zwei mögliche Begründungen ein: »Entweder ist es das Geld oder sein Format. Bei manchen Frauen spielt das eine Rolle, glaub mir das.« Also gingen wir zusammen den Koch anschauen. Doch schon beim ersten Blick auf die Bodybuilder-Figur fällte sie das vernichtende Urteil: »Kleiner Kopf, kleiner Schwanz.« Das also war es nicht.
Blieb als Motiv das Geld und das schien der Wahrheit näher zu kommen. Als ich nämlich Wochen später wieder einmal auf ein Schinkenbrot vorbeikam, wirkte das Gesicht des Kochs nicht mehr geistesabwesend, sondern ganz einfach nur noch müde, hundemüde. In einem stillen Moment fragte ich die Wirtin, ob der Thai-Liebhaber zu Hause zu sehr gefordert werde, doch da lachte sie nur geringschätzig: »Ja, aber nicht so, wie du denkst. Die nimmt den armen Kerl so aus, dass er keinen Euro mehr auf der Naht hat und jede freie Stunde im Hafen oder auf dem Großmarkt schuftet. Und ran lässt sie ihn auch nicht mehr, dafür bringt er ihr jetzt zu wenig.«
Dahin, dahin der Traum von der thailändischen Kultur. Dennoch hielt sich mein Mitgefühl in Grenzen. Warum hatte er sich auch über seinen Stand erheben müssen und verachtungsvoll auf die anderen Spießer herabgeblickt? Wäre er doch nur einer von ihnen geblieben und hätte Charakter genug gehabt, zu seinen Neigungen und Wünschen zu stehen. Dann nämlich wäre er eben doch nur zum Vögeln nach Bangkok geflogen, hätte ein paar der landesüblichen Nummern gemacht, um nach einer Woche zufrieden und hoffentlich gesund wieder nach Hamburg zurückzukehren. Danach hätte er sich als Spießer wieder getrost der deutschen Kultur und der deutschen Küche widmen können, ohne im Hafen und auf dem Großmarkt sich die Seele aus dem Leib zu schuften. Und ohne seine geliebte Currywurst heimlich in sich hineinschlingen zu müssen, während zu Hause das kalte thailändische Currybeef auf ihn wartet.
Grund Nr. 9
Weil sie so schön über die Intimrasur streiten können
Es gibt keinen Bereich des menschlichen Lebens, über den sich die Spießer aller Länder so einig sind wie über Sex und Erotik. Sex ist gut, Sex ist schön oder, wie die holländischen Spießer es formulieren würden, »Sex – neeeej, watt lecker«. Hauptsache, es geht dabei alles wohlsortiert und ordentlich zu und artet nicht in abweichendes Sexualverhalten aus. Nur in einem Punkt sind sie zerstritten: Soll man oder soll man lieber doch nicht? Wir sprechen von der Intimrasur.
Die Debatte zieht sich quer durch alle Altersklassen, Nationen und Neigungen. Krimileser beispielsweise plädieren für die Behaarung, weil sie nicht schon auf den ersten Blick herausbekommen wollen, wie denn nun die wahre »Natur der Frau«, wie sie es nennen, aussieht, etwas Spannung muss sein. Schwäbischen Spießern wäre diese Natur gleichgültig, dennoch lehnen auch sie die Rasur ab, weil sie Folgekosten für Cremes, Rasierklingen oder womöglich Ladyshaves fürchten. Die Puristen dagegen bestehen auf der Totalrasur und führen Argumente wie Hygiene und das deutsche Reinheitsgebot ins Feld, was ihre Kritiker wiederum als Scheinheiligkeit denunzieren. Lediglich der Schweizer ist fein raus, weil seine Sprache das Wort Schamhaar nicht kennt.
Ganz anders dagegen die Amerikaner. So spießig kann keiner von ihnen sein, als dass er nicht auch hier eine praktische Lösung parat hätte. Meine Freundin Betty beispielsweise, die aus dem tiefsten Bible-Belt der USA stammt, also der Heimat des bigotten amerikanischen Spießertums, war zwar anfangs geschockt, als sie in einem Hamburger Schwimmbad die erste Intimrasur ihres Lebens sah – umso mehr, als diese Blöße auch noch durch zwei Ringe betont wurde, die weit daraus hervorhingen. Doch schon ihr nächster Gedanke galt der Möglichkeit, wie man als Christ diesen gottlosen Intimschmuck nutzen könnte: »Man zieht einfach ein Stück Nähseide durch die Ringe und reißt dann ganz kräftig an beiden Enden des Fadens. Was glaubt ihr, wie schnell die Ringe weg sind und sie alles wieder zuwachsen lässt.« Grenzenlos ist der Optimismus dieser Amerikaner.
Doch weil dem Spießer jede Ideologie fremd ist, neigt er auch im Fall der Intimrasur zum menschenfreundlichen Kompromiss. Warum sich mit seiner Frau wegen der schönsten Hauptsache der Welt in die Haare geraten, wenn man beides haben kann? Wenn die Geliebte unseres Herzens darauf besteht, in aller Offenheit zu zeigen, was sie hat, warum soll sie nicht wenigstens zur Verzierung ein rechteckiges Büschelchen am oberen Rand stehen lassen – wie jene Amerikanerinnen, die diese Frisur etwas frivol ihren »Landestreifen« nennen? Oder wie die Französinnen, die in diesem Fall von »Metro-Ticket« sprechen, der Pariser U-Bahn-Fahrkarte, die man erst in den Schlitz des Drehkreuzes stecken muss, wenn man auf den Bahnsteig gelangen will.
Womit wir wieder in der Schweiz wären. Dortzulande umschreibt man das unbehaarte weibliche Geschlecht mit dem Kosewort »Kässeli« – ein Spardöschen, in dessen Schlitz der Eidgenosse nach Tages Arbeit seine mühsam verdienten Fränkli schiebt. Es gibt keine bodenständigeren, liebenswerteren und fantasievolleren Spießer als die Schweizer.
Grund Nr. 10
Weil sie die idealen Liebhaber sind
Fassen wir die bisherigen neun Gründe zusammen, so kommen wir allein schon rein rechnerisch zu dem Resultat: Es gibt keinen besseren Liebhaber als den Spießer. Weil er Tugenden wie Toleranz, Edelmut, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, literarischen Geschmack, Wohlerzogenheit, Reinlichkeit, Heimatliebe und Kompromissbereitschaft in sich vereinigt, ist er der Traummann jeder Frau, die eine langfristige erotische Partnerschaft wünscht – wobei die Betonung auf »langfristig« liegt. Mit einem Wort: Der Spießer ist der Zehnkämpfer der Erotik.
Zwar mag es die eine oder andere Frau geben, die in schwachen Stunden einem Ausbund an Wohlerzogenheit wie Eberhard einen etwas animalischeren Partner vorziehen würde. Doch wie schnell, gebe ich solchen Damen zu bedenken, nützt sich eine holzschnittartige Formulierung wie Ellis »Fick mich, du Sau« ab – umso mehr, als sie keinem Vergleich mit Eberhards menschlich vornehmem »Diese Frau ist ungeschützt« standhält. Und ist denn jene Miniatur von Korkenzieher, die ein Schwein – von »Sau« will ich gar nicht erst reden – zwischen seinen Hinterläufen versteckt, wirklich die weibliche Idealvorstellung vom männlichen Geschlecht? Ich denke, dass sich Elli da ein bisschen vergaloppiert hat und vertraue darauf, dass Eberhard sie rasch wieder aus dieser Sackgasse herausführen konnte.
Das dürfte ihm umso leichter gefallen sein, als er, Spießer, der er ist, noch zwei weitere Prädikate eines solchen Idealmanns besitzt: Ritterlichkeit und Beharrlichkeit. Nur ein wahrer Gentleman hat die Moral, selbst in einer so würdelosen Position wie der am Andreaskreuz eines Folterkellers immer nur an die Schutzlosigkeit seiner Angebeteten zu denken. Mit seiner beharrlichen Mahnung hat er Elli vor Läusen, Tripper oder noch Schlimmerem bewahrt. Zumindest hoffen wir das.