Ich träumte von einer Bestie - Nina Blazon - E-Book
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Ich träumte von einer Bestie E-Book

Nina Blazon

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Beschreibung

Fleurs Welt ist das Internet. Dieser Ort bietet ihr im Gegensatz zur realen Welt Geborgenheit. Als Fleur die Wohnung ihrer verhassten französischen Großmutter erbt, wird sie mit ihrer ungeklärten Familiengeschichte konfrontiert. Auf den Spuren ihrer Ahnen reist Fleur nach Frankreich in die Auvergne. Dort stößt sie auf ein dunkles Geheimnis, das bis in die Zeit der Aufklärung zurückreicht. Dabei blickt sie auch einer Bestie ins Gesicht, die das Schicksal ihrer Familie seit Generationen überschattet. Nach dieser Begegnung wird Fleur für immer eine andere sein.

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Seitenzahl: 666

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Originalausgabe

© 2023 HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von Rothfos & Gabler Coverabbildung von Sarah Jarrett / Arcangel E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck ISBN E-Book 9783749905515www.harpercollins.de

Tag und Nacht

Der Jäger hat schöne Hände. Sie sind glatt und makellos, kein einziges Haar wächst auf den Handrücken. So schmal und feingliedrig, wie sie sind, könnten sie vielleicht sogar die Hände einer Frau sein. Meine Augen haben sich an die Nacht gewöhnt, im Mondlicht erkenne ich jedes Detail. Ich sehe das Eisen des Gewehrlaufs wie dunkles Wasser glänzen und sogar die Silberintarsien in Form von drei Lilien im Holz über dem Abzugsbügel – blank poliert und ebenso mondhell wie die Hände. Nur das Gesicht des Jägers bleibt auch diesmal verborgen. Zu tief kauert er im Mitternachtsschatten einer Tanne. Lediglich ein Innehalten verrät, dass er mich entdeckt hat. Es ist nur eine Verschiebung in den Schatten, die Pause im Atmen, die ich aus der Stille des Waldes deutlich heraushöre, eine Verdichtung der Atmosphäre, in der die Gefahr als Gänsehaut auf meinem Körper fühlbar wird. Ich weiß nicht, warum meine Sinne all das wahrnehmen können, schließlich bin ich kein Tier. Ich bin einfach nur ich.

Unter der Tanne verrät die Ahnung eines Raschelns eine vorsichtige Gewichtsverlagerung. Ich halte den Atem an, spüre die Hitze von Adrenalin in die Muskeln schießen. Der Puls pocht in meinen Armen und in den Fingern, die sich in Moos und Totholz krallen. Über die Lichtung hinweg starrt der Jäger mich an. Ich spüre es. Weiß es. Und höre den Schuss, während ich mich schon herumwerfe und in die Richtung fliehe, aus der ich gekommen bin. Ich warte auf den Schmerz, der mich straucheln und stürzen lässt, doch die erste Kugel hat mich verfehlt. Während ich fliehe, frage ich mich, warum ich mich auf Händen und Füßen durch das Unterholz kämpfe. Ich bin viel schneller, wenn ich mich aufrichte und renne. Es ist Unrecht, flüstert es in mir. Ich bin doch kein Jagdwild. Aber der Mann mit den schönen Händen wird mich jagen, solange noch Atem in mir ist. Der zweite Schuss lässt einen Tannenast bersten. Splitter und Nadeln regnen auf meine nackten Schultern. Harzduft und der beißende Rauchfleischgeruch von verbranntem Schießpulver hüllen mich ein, als ich wieder auf alle viere falle. Und während sich Schritte nähern, starre ich keuchend vor Entsetzen auf meine Hände. Denn es sind nicht länger meine Hände. Sie sind kompakt und fingerlos, dicht mit Fell bedeckt. Wie die Pfoten eines Tieres.

*

»Iris«, flüstert jemand an meinem Ohr. »Iris, wach auf!«

Eine Berührung an meiner Schulter lässt mich heftig zusammenzucken, dann verblasst der Wald zu einer Wand mit weißer Raufasertapete, an der ein zerkratztes Snowboard lehnt. Es riecht nach kalter Pizza und neben mir liegt Simon, auf seinen Ellenbogen aufgestützt, im schmalen Gesicht eine Kissenfalte, die sich quer über seine Wange zieht. Ich bin noch in seiner Wohnung?, denke ich benommen. Und warum ist es hier so hell? Auf dem Regal über dem Bett springen die Ziffern auf dem Radiowecker auf Punkt sieben Uhr. Erschrocken will ich hochfahren, doch auf der Stelle wird mir schwindelig, glühende Mücken verengen mein Sichtfeld und so sacke ich wieder in die Kissen zurück, zittrig und atemlos, als wäre ich immer noch auf der Flucht.

»Hey, langsam.« Simon streicht mir über den Arm. »Das muss ja ein schlimmer Albtraum gewesen sein.«

Ich muss mich räuspern, um sprechen zu können. Immer noch rast mein Herz. »Keine Ahnung, ob es ein Albtraum war.«

»Willst du mir im Ernst erzählen, dass du nichts mehr davon weißt?« Er mustert mich so aufmerksam, dass ich unwillkürlich die Decke bis zum Kinn hochziehe. »Du hast gewimmert und so wild gezuckt, als wäre jemand hinter dir her«, fügt Simon hinzu. »Ehrlich gesagt, wirkst du immer noch, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

»Kann schon sein«, murmle ich. »Ich erinnere mich nie an meine Träume.« Ich weiß nicht, ob er mir glaubt. Doch für berechtigte Zweifel kennen wir einander noch nicht genug, also wird mein Lover für heute mit dieser Ausrede leben müssen. Mein Lover. Die Bezeichnung habe nicht ich mir ausgedacht. Meine Mitbewohnerin Renate nennt ihn so, seit ich mich zum zweiten Mal mit ihm verabredet hatte.

Er sieht mich immer noch zweifelnd an. Hastig weiche ich seinem Blick aus und reibe mir die Nacht aus dem Gesicht. »Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.«

»Keine Sorge. Das hast du nicht. Der Hund tigert bereits seit einer Stunde hellwach in der Wohnung herum.«

Und so lange liegst du schon wach neben mir und beobachtest mich, während ich schlafe?

Verstohlen prüfe ich, ob ich mein Top noch trage. Dabei gibt es keinen Grund, nervös zu werden. Schließlich bin ich freiwillig hier. Gestern hatten wir uns in einem kleinen Szeneclub in Simons Viertel verabredet. Wenig Licht, viel Theke, pulsierende Bässe, die im Zwerchfell zu spüren waren. Tanzen, bis wir kaum noch Atem für unsere Küsse hatten. Blicke und Berührungen, die dazu führten, dass ich Simons Einladung zu ihm nach Hause nur zu gerne gefolgt bin.

Doch hier im Morgengrauen fühle ich mich nun wirklich wie in einem Albtraum, und zwar in einem von der Sorte, in dem man sich plötzlich ohne Kleidung auf einem öffentlichen Marktplatz wiederfindet. Wie konnte ich hier nur einschlafen?

Simons vollgestelltes Schlafzimmer wirkt nun fremd und so verblasst wie eine alte Fotografie. Unter dem Fenster reihen sich seine Architekturmodelle, die er auf Instagram perfekt ausgeleuchtet in Szene setzt. Im spärlichen Kerzenlicht hatten die Miniaturgebäude heute Nacht wie verwunschene Feenhäuser gewirkt. Ohne diesen Weichzeichner erkennt man deutlich die Strukturen von Styropor und die Staubschicht auf den Moosgummi-Rasenflächen der Vorgärten. Mein sandfarbener Blazer und die helle Seidenbluse liegen vor der Modellsammlung, als hätte Gullivers Braut sie vor einer Siedlung einfach auf dem Boden zurückgelassen – zusammen mit überdimensionierten Pizzakartons und einer halb vollen Flasche Rotwein. Simons Glas ist leer, der Wein, den er mir eingeschenkt hat, dagegen völlig unberührt. Ich trinke nie, wenn ich noch fahren will.

Simon mustert mich immer noch so intensiv, dass ich mich trotz der hochgezogenen Decke nackt fühle. Ja, ich weiß schon, warum ich niemals bei einem Mann übernachte. Es gibt nichts Intimeres als Tageslicht – vor allem, wenn zwei Menschen einander bisher noch nie bei Tag begegnet sind. In der sachlichen Helligkeit des Morgens fallen unter Simons Augen Schatten und tiefere Linien um den Mund auf. Hier sieht man ihm an, dass er siebenunddreißig ist. Und ehrlich gesagt, gefällt er mir so besser als in der Rolle des jungenhaften Idealisten, die er bei unseren Treffen spielt. Was das Tageslicht ihm gerade von mir enthüllt, kann ich nur vermuten. Falscher Ort, denke ich. Falsche Zeit. Zu früh. Und schon gar nicht beim dritten Date. Nervös zupfe ich den langen Pony und das fransig geschnittene Seitenhaar zurecht. »Lass doch«, sagt Simon sanft. »Es steht dir gut, wenn die Haare nicht so viel von dir verbergen.«

Er streicht mir ein paar glatte Strähnen hinter das Ohr und betrachtet mein Gesicht. »Ich … habe dich gestern nicht danach gefragt. Aber hast du dich mal verbrannt?«

»Ja. Vor Ewigkeiten.« So beiläufig wie möglich setze ich mich auf und kämme das Haar mit den Fingern nach vorne, bis es wieder fällt, wie es soll: Stirn, Wangen und Hals bis zu den Schlüsselbeinen umspielend.

»Das muss eine krasse Verbrennung gewesen sein«, setzt Simon vorsichtig hinzu. »Hattest du einen … Unfall oder so?«

Ich halte seinem Blick stand, obwohl mein Herz bis zum Hals schlägt. Wären wir verliebt, wäre das hier der Moment, an den wir uns später erinnern würden. Weißt du noch? An unserem ersten gemeinsamen Morgen?Du hast lange gezögert, aber dann hast du es mir doch erzählt.

Doch genau das ist mein Problem mit Tageslicht. In der Nacht zählt nur die Gegenwart, aber der Tag fordert Vergangenheiten ein. Und Nähe beginnt erst dort, wo wir aufhören, nur Timelines und zurechtgelegte Storys zu teilen, und damit anfangen, uns unsere Geschichten zu erzählen. Die wahren Geschichten, nicht nur die Vorzeigeschatten. Und in den Sekunden, in denen das Schweigen immer länger wird, sehne ich mich tatsächlich danach. Doch wenn ich eines weiß, dann das: Manchmal endet Nähe, wo Wahrheit anfängt.

»Sorry, habe ich etwas Falsches gesagt?«, bricht Simon die Stille.

»Nein, alles gut. Ich … rede nur nicht oft darüber.«

Sein Blick zuckt sofort zum Stehkragen meines Oberteils. Die elastische Spitze bedeckt zur Hälfte meinen Hals. Simon beginnt offenbar nach einem Muster zu suchen, nach der Matrix, die meine Zurückhaltung erklärt. Ich weiß sehr wohl, welchem Bild ich nach außen hin entspreche. In jedem Hollywoodfilm gibt es eine auf mich zugeschnittene Rolle. Die Braunhaarige, deren Pony sogar die Augenbrauen verdeckt. Eine Unscheinbare in hochgeschlossener Bluse, die meist als beste Freundin der Heldin auftritt. Jemand, der die Kunst beherrscht, mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Bisher war ich für Simon die Frau, die lieber zuhört als spricht und es nicht mag, wenn im Schlafzimmer Licht brennt. Ein stilles Wasser, das ihn dennoch überrascht hat – mit lakonischem Humor, ihrer Art zu tanzen und zu küssen und vielleicht auch mit der Tatsache, dass sie schon gestern mit zu ihm gegangen ist. Nun fragt er sich, warum ich mein Top heute Nacht auch dann anbehalten habe, als die Teelichter schon verloschen waren. Verbergen sich unter dem Stoff möglicherweise weitere Narben?

Simon schluckt. Es ist ihm anzusehen, wie unbehaglich ihm zumute ist. »Sorry, ich wollte nicht neugierig oder aufdringlich sein. Und im Grunde geht es mich ja auch nichts …«

»Es ist nicht halb so dramatisch, wie du vielleicht denkst. Drei Stichworte: Teenager, Alkohol, Silvesterraketen.«

Zwei Lügen in drei Worten. Das ist beachtlich, sogar für ein Pokerface wie mich. »Autsch.« Er verzieht ehrlich mitfühlend das Gesicht, »Das tut mir leid, Iris.«

Er zieht mich an sich und küsst die zu glatte Haut der Narbensichel, die sich von meinem Ohr bis über den Kinnbogen zieht. Hier spüre ich die Berührung seiner Lippen nicht, lediglich seinen Atem auf der Wange nehme ich wahr. Ich schließe die Augen, vergrabe meine Nase an Simons Hals und atme seinen Duft tief ein. Das ist das Verrückte daran, jemandem so nahe zu sein: dass man einen Geruch, einen Mund, ein Lachen lieben kann, obwohl man den anderen im Grunde noch gar nicht kennt.

Draußen in der Küche kratzt geräuschvoll Blech über Steinfliesen. Sicher der Futternapf, den Simons Hund über den Boden schiebt. »Wunderbar, jetzt sind auch meine Nachbarn wach.« Simon seufzt und setzt sich auf. Beim Aufstehen streift seine Hand an meinem Arm entlang. Die Berührung ist sanft, absichtslos, einfach eine Liebkosung. Sie weckt in mir die Sehnsucht nach einem Wir, das auch im Tageslicht Raum bekommt.

»Weißt du was?«, sagt er, während er sich streckt. »Ich füttere Fetti von Baskerville, dann mache ich uns Frühstück. Isst du gerne Omelette?«

Ich schaue zum Wecker, als müsste ich wirklich abwägen. Und obwohl es sich feige anfühlt, schüttle ich den Kopf. »Ich kann leider nicht bleiben, Simon.«

»Warum nicht?«

Weil ich für diese Bühne einfach keinen Text habe? Weil Mut noch nie meine Stärke war? Weil Drei meine Unglückszahl ist? »Weil … ich längst schon zu Hause sein sollte.«

»Verschweigst du mir etwa, dass dort ein Mann und zwei Kinder auf dich warten?«

»Drei Kinder«, kontere ich im selben Tonfall. »Und zwei Männer. Nein, im Ernst, Simon: Auf mich wartet nur Arbeit.«

»Heute?« Er schüttelt irritiert den Kopf. »Seit wann haben Behörden am Sonntag geöffnet?«

»Ich habe mir ein Projekt mit nach Hause genommen.«

Simon sieht mich an, als würde er überlegen, ob ich ihn auf den Arm nehme.

»Du verlässt ohne Frühstück fluchtartig meine Wohnung, weil du dich sonntagmorgens freiwillig mit Statistik-Datenbanken beschäftigen willst? Wirklich eine dezente Art, jemandem mitzuteilen, dass er ein lausiger Liebhaber ist.«

Ich sollte auf das Spiel einsteigen. Doch die scharfzüngige Ironie unserer Abende wirkt im Tageslicht wie ein leeres Echo. Langsam sollte ich wirklich von hier verschwinden.

Wie aufs Stichwort surrt es in meiner Umhängetasche. Sie liegt zusammengesackt auf dem Nachttisch zwischen der Wand und einer Designerlampe. Ich muss ewig wühlen, bis ich das Smartphone darin finde.

Und die ganze Zeit steht Simon nur vor dem Bett und mustert mich auf diese wache, fragende Art, die mich noch nervöser macht, als ich ohnehin schon bin. Er scheint darauf zu warten, dass ich rangehe, stattdessen prüfe ich nur kurz die Nummer und lehne den Anruf ab. Dann hangle ich nach meiner Jeans, die zusammengeknüllt am Fußende des Bettes liegt. »Das nächste Mal bleibe ich. Versprochen.«

»Okay«, sagt Simon gedehnt. »Irgendeine Chance, dass du wenigstens noch einen kurzen Kaffee trinkst?«

»Ein andermal. Ich … habe wirklich viel zu tun.«

»Ach komm schon, Iris. Es ist ein Kaffee, keine Geiselnahme. Hey, ich bin einer der Guten!«

Und damit bringt er mich nun doch zum Lächeln. Stell dich nicht so an, höre ich im Geiste Renate sagen. Menschen trinken Kaffee miteinander, wo ist das Problem? Natürlich gibt es kein Problem. Dennoch kostet es mich viel, einfach zu nicken. »Also gut, überredet. Einen Kaffee.«

»Überredet?« Simon schnaubt ein fassungsloses Lachen. »Wow! Wirklich schmeichelhaft.« Er sieht aus, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er gekränkt sein soll, aber dann schüttelt er den Kopf und steigt über die Reste des Pizzagelages, um seinen Hund zu füttern.

Ja, Simon ist vermutlich wirklich einer der Guten. Und das schließe ich nicht aus den Beiträgen, die er im Internet likt. Aber vor vier Wochen war er zur Hochzeit seiner Jugendliebe eingeladen. Auf Instagram präsentieren sich der Bräutigam und Simon wie Brüder, einander locker die Arme um die Schultern gelegt. Natürlich kann auch das nur Inszenierung sein, aber wenn man weiß, wie man Querverbindungen filtert und wertet, dann schimmert das Muster eines Lebens hindurch, das Simon bei mir vergeblich zu finden versucht.

An der Tür dreht er sich noch einmal um. »Ich weiß noch nicht einmal, wie du deinen Kaffee magst.«

»Mittelstark, keine Milch, zwei Löffel Zucker.«

»Na, das ist doch ein Anfang!« Er zwinkert mir zu und schenkt mir das Lächeln, in das ich mich auf seinem Tinder-Profilbild verguckt hatte. Offen und völlig unverstellt. Und als ich es nun erwidere, glost in meiner Brust eine vorsichtige Wärme: die Möglichkeit, dass es mit uns doch etwas Richtiges werden könnte.

*

Die Anruferin von eben war meine Mutter. Da ich nicht rangegangen bin, hat sie gleich noch eine SMS geschickt: Wir sind gestern gut angekommen, ruf mich zurück. Was zwischen den Zeilen bedeutet, dass sie bei mir zu Hause den Speicher des Anrufbeantworters schon komplett mit dem Bericht über den Kurzurlaub auf Rügen gefüllt hat.

»Rocky, nein!«, höre ich Simon draußen rufen. Krallen klacken auf Parkett. Hundemarken klimpern und noch während ich aufblicke, drängt sich eine Mischung aus XXL-Hirtenhund und schwarzem Flokati durch die Tür, springt aufs Bett und – stürzt sich auf mich. Pfoten, groß wie Unterteller, schrappen über meine Oberschenkel, die Tasche rutscht mir von den Knien, Kugelschreiber und Autoschlüssel fallen auf den Boden. Hundeatem schlägt mir ins Gesicht, dann lappt mir eine nasse Zunge über Kinn und Mund.

»Rocky, aus!«, ruft Simon. »Runter vom Bett!«

Doch da habe ich Rocky schon reflexartig abgewehrt. Leider etwas zu resolut. Der massige Hund verliert das Gleichgewicht und reißt dabei den filigranen Nachttisch um. Simon kann gerade noch sein Surfboard abfangen, bevor es auch noch kippt und die Modellhäuser in Trümmer legt. Aber meine offene Tasche landet auf dem Parkett und hinterlässt eine Spur aus Kugelschreibern und losen Münzen. Rocky hat sich aufgerappelt. Glas klirrt, als der riesige Hund sich schüttelt und die halb volle Weinflasche und auch ein Glas zum Kippen bringt.

»Oh, Shit!« Simon packt ihn am Halsband und zerrt ihn von den Scherben des Weinglases weg. Ich renne in die Küche und hole Tücher, um den verschütteten Wein aufzuwischen. Als ich zurückkomme, hat Simon den Hund schon aus dem Schlafzimmer bugsiert.

Meine Tasche hat nur Hundesabber abbekommen, aber der Leinenblazer und die Bluse sehen aus wie etwas, das man an einem Tatort erwarten würde. Rote Flecken tränken den Stoff. Die Laune vergeht mir endgültig, als ich die Buchsendung entdecke, die ich gestern auf dem Weg zur Bar noch aus meinem Postfach abgeholt hatte. Das dünne Päckchen ist aus der Tasche gerutscht und liegt nun in der Lache von Wein. Ich schäle die durchweichte Verpackung herunter, schnappe mir in der Eile den noch trockenen, sauberen Blusenärmel und versuche damit zu retten, was zu retten ist. Doch der Wein hat sich bereits in das goldgeprägte Leinen des Buchrückens gesogen.

»Mann, das hätte schiefgehen können mit den Glasscherben«, sagt Simon beim Hereinkommen. Sorgfältig schließt er die Tür hinter sich. »He, was ist los? Du bist ganz blass.« Er setzt sich zu mir aufs Bett. »Hat Rocky dich erschreckt? Gestern sagtest du doch, du hast keine Angst vor Hunden.«

»Das heißt nicht, dass ich es mag, wenn mir fünfzig Kilo Kampfgewicht auf den Schoß springen.«

Simon seufzt und fährt sich mit den Händen durch das Haar. »Tut mir wirklich leid, Iris. Rocky ist aufdringlich, aber so schlimm führt er sich normalerweise nicht auf und … oh nein.« Er starrt auf die ruinierte Bluse. »Na toll, auch das noch. Gib her, ich weiche sie ein.«

»Nicht nötig, ich muss heute ohnehin waschen.« So gut es geht, rolle ich den Stoff mit den nassen Stellen nach innen zusammen und stopfe alles in das Seitenfach meiner Tasche. Rasch will ich auch das Buch verstauen, doch Simon hat bereits einen Blick auf das Titelbild erhascht. »Was ist das?«

»Nichts.«

»Zeig doch mal! Oder ist es ein Geheimnis?«

Seltsamerweise fühle ich mich ertappt. Nur zögernd hole ich das Buch wieder hervor. Wenigstens ist das Titelbild auf der Vorderseite nicht mit Wein befleckt. Es ist ein Kupferstich-Motiv und zeigt eine junge Frau mit einem Wolf, der auf zwei Beinen geht.

»Oje, der Einband hat auch etwas abbekommen?« Jetzt sieht Simon ehrlich zerknirscht aus. »Ich weiß nicht, wie ich mich noch entschuldigen kann. Das ist ein antiquarisches Buch, stimmt’s?«

»Leider ja.« Der Gedanke, wie viele Jahrzehnte lang das Märchenbuch Generationen von Kindern und Käufern unbeschadet überstanden hatte, macht mich traurig und auch wütend – und zwar ausschließlich auf mich selbst. In der viel zu langen Pause hört man draußen das Klicken von Rockys Krallen auf Parkett, dann ein Winseln und ein Kratzen an der Schlafzimmertür.

»Ist das auf dem Titelbild Rotkäppchen?«, fragt Simon zaghaft.

»Le Petit Chaperon rouge«, antworte ich. »Die ältere französische Version des Märchens von Charles Perrault.«

»Und ein älteres Rotkäppchen, als ich es von dem Märchen kenne. Wie alt ist sie da auf dem Cover? Achtzehn?«

»Eher vierzehn. Die Brüder Grimm haben später aus dem Teenager ein Kind gemacht und auch das Ende umgedichtet. Die französische Version hat nämlich kein Happy End für das Mädchen.«

»War wohl keine so gute Idee, als Lolita in einem sexy Kleidchen durch den Wald zu spazieren.« Es ist typisch Simon, dass er versucht, die Stimmung mit einem schrägen Witz aufzulockern. Doch diese Art von Spruch behagt mir nicht. Ich ziehe meine Tasche heran und räume das hintere Seitenfach aus, um Platz für das Buch zu schaffen. Dabei spüre ich, wie Simon mich von der Seite prüfend mustert. »Ich hätte nie gedacht, dass ein Technik-Nerd wie du sich für Märchen interessiert.«

»Und ich hätte nie gedacht, dass jemand wie du Lolita-Witze lustig findet.«

»Du tust es schon wieder!«

»Was? Deinen Humor anzweifeln?«

»Nein. Aber immer, wenn es mal um dich geht, weichst du mit Gegenfragen oder Themenwechseln aus. Und am Ende des Tages haben wir wieder mal nur über mich geredet.« Er schenkt mir ein Lächeln. »Sorry, es war wirklich ein blöder Spruch. Aber jetzt noch mal die ganz einfache Frage: Warum kaufst du dir alte Märchenbücher?«

Zwei Möglichkeiten: Ich behaupte, ich hätte das Buch für Renates Enkelsohn oder irgendein fiktives Patenkind gekauft. Oder ich rede zur Abwechslung wirklich einmal über mich. »Ich … finde Märchen einfach interessant. Und wenn ich im Antiquariat zufällig auf eine besondere Ausgabe stoße, kaufe ich sie.«

»Weil die Antiquariate zufällig voller Bücher in französischer Sprache sind?«

Simon zieht die Stirn kraus. Sie ist schon vertraut, diese Geste der Irritation darüber, dass ich ihm ausweiche. Ja, Simon weiß weniger über mich als ich über ihn. Zum Beispiel, dass ich gar nicht Iris heiße. Der Name, der in meinem Pass steht, klingt zart, pastellfarben, nach einem ätherischen Frühling in Paris. Und er passt heute ebenso wenig zu mir wie damals, als ich zwölf war und mir wünschte, auf dem Pausenhof unsichtbar zu sein. Ich weiß außerdem, dass Simons jüngere Schwester Laura heißt und Rocky ein Rescue-Hund aus Rumänien ist. Unter dem Hashtag #rockydokey ist er auf Insta zu finden. Ich weiß, dass Simon das Surfboard gebraucht gekauft und nie benutzt hat, obwohl er auf seinem Tinder-Profilfoto damit am Strand posiert. Vor allem aber weiß ich vieles von ihm, was er niemandem erzählt. Ja, das Deep Web ist ein Friedhof toter Träume. Und jemand wie ich muss dort nicht tief graben, um auf ihre Knochen zu stoßen.

»Ich sammle Märchenbücher in allen Sprachen«, breche ich schließlich die Stille. »Vor allem solche mit Originalillustrationen.«

»Du magst Grafiken?«

»Mir geht es nicht um die Zeichnungen an sich, sondern um die historischen Ursprünge von Märchen. Den wahren Kern, der in den Geschichten steckt. Manchmal sieht man davon etwas in den unzensierten frühen Zeichnungen, die näher an der Urfassung sind.«

Ich blättere zu der Illustration, die der Grund dafür war, dass ich diese Ausgabe aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert haben musste. Sie zeigt eine Bauernstube. Vor dem Bett stehen klobige Sabots – Holzschuhe – und auf einer Truhe ist Kleidung abgelegt, die sich exakt einer Zeit und einer Region in Frankreich zuordnen lässt. Doch Simon interessiert ein ganz anderes Detail: »Der Wolf und Rotkäppchen liegen ja zusammen im Bett!«

»Ja, das wurde in der Grimm’schen Fassung zensiert. Bei Perrault überredet der Wolf das Mädchen, sich auszuziehen und sich zu ihm zu legen. Das ist die eigentliche Moral des Märchens: Lass dich nicht von fremden Männern ansprechen. Denn selbst wenn sie sich verführerisch und freundlich geben, können sie doch Wölfe sein.«

Simon legt den Kopf schief und betrachtet die zarten Linien von Rotkäppchens bloßen Schultern. Sie sind die einzige Andeutung von Nacktheit, und mehr braucht es auch nicht, um ihre Verletzlichkeit zu zeigen.

»Ich sammle auch alte Zeichnungen«, sagt Simon. »Hauptsächlich Konzeptskizzen von historischen Gebäuden. Sieht ganz so aus, als hätten wir etwas gemeinsam.«

Weniger, als du vermutest, Simon, denke ich bei mir.

»Was sind denn die Ursprünge von Rotkäppchen?«, will Simon wissen.

Ich klappe das Buch zu. »Nichts, was man kleinen Kindern erzählen sollte.«

»So schlimm?«

»Na ja … Forscher sagen, das Motiv des Verschlingens geht auf symbolisch-kannibalische Stammesriten in der Frühgeschichte der Menschheit zurück. In manchen Versionen der Geschichte isst Rotkäppchen sogar, ohne es zu wissen, vom Fleisch ihrer Großmutter.«

Mein Lover lacht. »Kein Wunder, dass du schlecht träumst.«

Nun, ich könnte ihm noch viel mehr über das Wolfsmotiv erzählen. Über Söldner, die im achtzehnten Jahrhundert nach einem verlorenen Krieg gegen England geächtet in den französischen Wäldern lebten und als »Wolfsmänner« bezeichnet wurden – und auch über die Cyberwölfe und Rotkäppchen unserer Zeit. Das ist das Faszinierende an Märchen: Sie tragen ihre DNA bis in unsere Gegenwart.

»Was ist mit Die Schöne und das Biest?«, will Simon wissen. »Meine Nichten stehen auf den Film. Aber der Ursprung hat vermutlich nichts mit diesem Disneykitsch zu tun, oder?«

Während Rocky draußen krallenklickend den Flur auf und ab trottet, stelle ich mir vor, wie die Schöne in der Urfassung des Märchens voller Angst auf die Raubtierschritte des Ungeheuers lauscht und sich für die Frage wappnet, die das Tier ihr Abend für Abend mit einem immer bedrohlicheren Knurren stellt: Willst du mit mir schlafen? Aber natürlich gibt es auch eine nichtentaugliche Version.

»Kommt darauf an, welche Vorlage man betrachtet. Eine der Inspirationen für das Märchen war eine reale Geschichte. Die echte Belle hieß Catherine und war eine Bedienstete am Hof von Katharina di Medici. Auf Befehl ihrer Herrin musste sie einen Mann namens Petrus heiraten. Man achtete darauf, dass die Braut ihn erst am Altar zu Gesicht bekam. Laut Augenzeugen war es ein solcher Schock für sie, dass sie in Ohnmacht fiel.«

»Wow, wie sah er denn aus?«

»Nicht wie eine Kreuzung aus Bison und Löwe wie bei Disney. Aber nach damaligem Verständnis wurde Petrus nicht als Mensch angesehen, sondern als tierhafter ›wilder Mann‹. Er entsprach diesem Bild, weil sein Körper und sein Gesicht von Haar bedeckt waren.«

Simons Brauen zucken hoch. »Dann war er also einer dieser Freaks mit dem Werwolf-Syndrom?« Er grinst mich von der Seite an und tippt mit dem Zeigefinger auf den aufrecht gehenden Wolf auf dem Märchenbuch.

»Menschen wie Petrus sind für dich also Freaks?«, frage ich kühl.

Simon sieht mich an, als würde er erwarten, dass ich gleich doch noch lache. Aber selbst wenn ich meinen Ärger überspielen wollte, könnte ich es nicht.

»Na ja, solche Leute, die früher wegen ihres Aussehens auch im Zirkus aufgetreten sind, wurden halt so bezeichnet«, erklärt Simon. »Die Frau mit Bart, der Elefantenmensch, siamesische Zwillinge …«

»Genau: früher! Kein Grund, sie heute so zu nennen.«

»Meine Güte, Iris. Ich wollte dich doch nur ein bisschen aufziehen. So weit kennst du mich doch inzwischen, dass du weißt, dass ich niemanden als Freak betrachte.«

Warum sagst du es dann? Diese Antwort liegt mir schon auf der Zunge, aber ich beherrsche mich und packe nur das Buch in die Tasche. Die Pause dehnt sich, während Simon mich völlig verwirrt mustert.

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«, fragt er. »Du bist sauer, weil ich mich nicht politisch korrekt ausgedrückt habe? He, es war ein Witz!«

»Ich … mag solche Bezeichnungen einfach nicht. Ganz egal, wie sie gemeint sind.«

»Dann dürftest du auch nicht mehr ins Internet gehen. Was glaubst du, wer da alles als Freak oder Monster bezeichnet wird? Manche nennen sich doch sogar selbst so und verdienen auch noch Geld damit.«

»Und deshalb ist es in Ordnung?« Ich muss mich beherrschen, ruhig zu sprechen. Längst rast mein Herz und das Blut ist mir in die Wangen geschossen.

Simon runzelt die Stirn. »Willst du mir jetzt wegen eines Wortes eine Diskussion aufdrücken?«

»Es geht nur darum, dass … Worte etwas bedeuten. Und dass wir den Zirkus am Leben halten, wenn wir solche Begriffe für Menschen verwenden, die sich ihr Schicksal nicht ausgesucht haben. Leute wie Petrus können sich nicht einmal mehr dagegen wehren.«

Ich kann Simon nicht verübeln, dass er mich nun anstarrt, als wäre ich hier der »Freak«. Ja, für ihn muss es wie eine Überreaktion wirken. Und vielleicht übertreibe ich ja wirklich, aber ich fühle mich, als hätte ich Petrus ausgeliefert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Wenn ich deshalb auf jemanden so wütend sein sollte, dann wohl nicht auf Simon, sondern nur auf mich selbst.

»Dann bist du also die Retterin der verlorenen Seelen?«, fragt Simon.

»Für mich hat das einfach etwas mit Anstand zu tun«, sage ich. »Selbst wenn Menschen wie Petrus längst tot sind, ändert es doch nichts daran, dass sie immer noch eine Würde besitzen.«

Simon holt scharf Luft. Zwar hält er meinem Blick stand, aber er presst die Lippen zusammen, als müsste er sich mühsam eine sarkastische Bemerkung verkneifen. Wieder wünschte ich, ich wäre heute Nacht nach Hause gefahren. Denn auch das ist das Schwierige an Tageslicht: Es zeigt den Menschen, in den man sich so gerne verlieben würde, in einem härteren Licht. Und damit auch mit schärferen Schatten. Was sicher auch für Simons Bild von mir gilt.

»Von mir aus …«, murmelt er genervt und steht auf. »Es ist echt noch zu früh am Morgen, um mich von dir als Minderheiten-Basher angreifen zu lassen. Ich brauche jetzt einen Kaffee.«

Im Bett erklingt gedämpftes Surren. Bei Rockys Überfall ist mein Handy zwischen den Decken gelandet. Als Simon mein Smartphone aus der Ritze zwischen Matratze und Bettrahmen fischt, leuchtet eine SMS auf dem Display. Simon ist sicher niemand, der absichtlich in fremden Nachrichten herumschnüffelt, aber es ist kaum möglich, den Kurztext nicht mit einem flüchtigen Blick zu erfassen.

Fleur, wo bist du? Ich stehe vor deiner Tür.♥Küsse!

Sogar Rocky scheint zu spüren, wie die Stimmung endgültig auf den Gefrierpunkt sinkt. Man hört nicht einmal mehr sein Winseln hinter der Tür.

»Arbeit am Sonntag, hm?«, bemerkt Simon und reicht mir das Smartphone.

Ich wünschte, ich würde nicht rot werden. »Und bei ihm heißt du Fleur?«, setzt er kühl hinzu. »Interessant. Hast du für jedes Dating-Profil einen anderen Namen?«

»Nein.« Was die Wahrheit ist.

»Und wer ist dann der Typ, der auf dich wartet? Es ist doch ein Mann, stimmt’s?«

»Ja, schon, aber …«

»Ist er deine Beziehung?«

Unter anderen Umständen hätte ich jetzt gelacht. Aber zum zweiten Mal an diesem Morgen verliere ich den Halt. Es ist nicht nur die direkte Art von Simons Frage, es ist der harte, fremde Unterton, der in seiner Stimme mitschwingt. Simon wertet mein Schweigen offenbar als Eingeständnis. »Na, wenn das nicht lustig ist!«, sagt er sarkastisch. »Ausgerechnet du hältst mir eine Moralpredigt über Anstand! Mir hast du erzählt, du seist Single, Fleur. Oder soll ich dich weiter Iris nennen?«

Sein Ton ist laut geworden, Wut schwelt darin. Und ich weiß, wie es wirken muss, dass ich seinem Blick ausweiche. »Fleur ist mein richtiger Name. Aber im Internet … trete ich nie unter meinem Realnamen auf.«

»Warum? Weil du in Wirklichkeit ein Undercover-Cop bist?« Er lacht verächtlich auf. Das kannte ich an Simon auch noch nicht.

»Verschiedene Gründe«, antworte ich. »Unter anderem berufliche, ja. Es wird nicht gern gesehen, wenn die Mitarbeiter privat auf Social Media aktiv sind.«

Was so ziemlich das Gegenteil der Wahrheit ist.

Simon holt sehr tief Luft. »Das hier ist aber nicht das Internet. Und auch nicht dein Büro. Es ist mein Schlafzimmer. Wir haben die Nacht zusammen in meinem Bett verbracht. Wir kennen uns außerdem schon seit zwei Wochen und zumindest ich habe dir schon mein halbes Leben erzählt. Und während dieser ganzen Zeit lügst du mir vor, Single zu sein und hältst es nicht mal für nötig zu erwähnen, wie du mit Realnamen heißt? Aber andererseits würde dein Freund ja sonst herausfinden, dass du mit anderen …«

»Ich habe nicht gelogen! Und Max hat nichts – gar nichts! – mit uns beiden zu tun.«

»Na, schön zu wissen, dass er Max heißt!«

Ich halte den Atem an. Simons Zorn entfacht etwas in mir, das ich schon sehr lange nicht mehr gespürt habe. Etwas zwischen Flucht und Erstarrung. Und seltsamerweise fühle ich mich, als wäre ich wieder im Wald, den Blick des Jägers auf mich gerichtet.

»Warum ist es eigentlich so schwer, aus dir auch nur ein einziges klares Wort rauszukriegen?«, fährt Simon mich an. »Sag doch einfach, was Sache ist! Oder denk dir wenigstens eine Lüge aus, die glaubwürdig klingt. Ist Max vielleicht dein schwuler Nachbar, der dir Küsschen schickt? Oder ein stalkender Ex, der am Sonntagmorgen vor deiner Tür steht?«

Rocky beginnt wieder an der Tür zu kratzen. Mach endlich den Mund auf, flüstert es in mir. Aber mir kommt es vor, als wären die Worte, die ich sagen müsste, ein gefrorener Klumpen in meiner Kehle. Ich wende mich ab und packe die Tasche zusammen, als ließe sich die Büchse der Pandora jetzt noch schließen.

»Herrgott, was wird das hier, Fleur?«, bricht es aus Simon heraus. »Sind wir für dich nur ein One-Night-Stand? Ich hätte einfach verdammt noch mal gerne gewusst, woran ich mit dir bin!«

»Ich weiß es noch nicht!«, entfährt es mir ebenso laut.

Simon schluckt, aber er fängt sich sofort wieder. »Tja, da haben wir ja schon wieder was gemeinsam«, erwidert er frostig.

Spätestens jetzt müsste ich ihm von mir erzählen, von meinem Leben hinter den Spiegeln. Aber ich schaffe es einfach nicht. »Ich … muss los, Simon.« Ich springe auf und suche meine Sachen zusammen. Simon sagt kein Wort mehr. Schließlich geht er aus dem Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Gleich darauf klappen draußen Schranktüren, Dielen knarzen unter Schritten. Als ich endlich meine Schuhe gefunden habe und noch zögere, den weintriefenden Blazer über das Top zu ziehen, kommt Simon wieder herein, in Jeans und Hemd, an der Leine einen Rocky, der sich vor Freude kaum einkriegt. »Ich gehe mit dem Hund raus. Zieh einfach die Tür zu, wenn du gehst. Ach ja, und hier, Rotkäppchen!« Schon im Gehen greift er ein rotes T-Shirt von dem Stuhl neben der Tür und wirft es mir zu. »Gib es mir irgendwann wieder zurück. Oder auch nicht.«

Hinter dem Spiegel

Selten war ich so froh, mich in mein Auto verkriechen zu können. Und Kriechen ist wörtlich gemeint. Die Schienen des Fahrersitzes sind angerostet und so verkantet, dass im Moment nur die Einstellung »Brust an Lenkrad« funktioniert. Mein Vater macht sich gerne darüber lustig, dass ich diesen uralten gebrauchten Lada fahre. »Jemand, der nur auf Datenautobahnen unterwegs ist, braucht doch keinen Geländewagen«, spottet er. Er hat recht, aber ich mag das Auto, das ich schon seit Studienzeiten habe. Vielleicht, weil es mich an eine Phase in meinem Leben erinnert, in der zum ersten Mal alles möglich schien. Und natürlich, weil es mich davor bewahrt, mit den Öffentlichen nach Hause zu fahren – aufgewühlt, zittrig und in einem roten Sportshirt, das mich sichtbarer macht, als ich es jetzt ertrage. Der Rückspiegel zeigt wirres Haar und wunde Augen. Als mein Handy vibriert, zucke ich zusammen. Ich weiß nicht, ob ich hoffen soll, Simons Nummer auf dem Display zu sehen. Aber es ist nur meine Mitbewohnerin. »Guten Morgen, Renate«, murmle ich ins Telefon.

»Wo treibst du dich denn noch herum?« Ihr Lachen geht in einen Husten über, der sie jeden Morgen plagt, obwohl sie schon seit Jahren nicht mehr raucht. »Rate mal, wer hier gerade reingeplatzt ist.«

»Ich weiß, tut mir leid. Max hat mir nicht gesagt, dass er vorbeikommt.«

»Natürlich nicht«, gibt Renate tadelnd zurück. »Hält der Rumtreiber es jemals für nötig, sich rechtzeitig anzumelden?«

Löffelklimpern erklingt, das Zurückschieben eines Stuhls und dann ist Max da, mit seiner guten Laune und seiner Leichtigkeit, die sogar durch die Leitung zu spüren ist. »Frau Faber ist sauer, weil ich sie aus dem Bett geklingelt habe. Sag mal, stimmt es, was Renate erzählt? Du hast jetzt einen festen Freund?« Die Frau im Rückspiegel atmet sehr tief durch. Vielen Dank, Frau Faber. »Warum weiß ich nichts von ihm?«, bohrt Max weiter.

»Weil du Renate nicht jedes Wort glauben solltest. Warum fällst du so früh bei uns ein?«

»Ach stimmt, du konntest den AB ja gar nicht abhören. Moms hat mir geschrieben, dass du heute auch zum Mittagessen kommst. Und da dachte ich, ich springe in Frankfurt aus dem Nachtzug, hänge mich spontan bei dir dran und fahre gemütlich im Auto weiter.«

Ich hätte mir denken sollen, dass die verpassten Anrufe meiner Mutter etwas zu bedeuten haben. Vermutlich hat sie mir sogar den Menüplan auf den Anrufbeantworter gesprochen.

»Da hast du leider Pech, Max. Ich komme heute nicht mit zum Essen, ich habe zu tun. Tut mir leid, du wirst zum Bahnhof zurückgehen und mit dem nächsten Zug weiterfahren müssen.«

»Oh, fuck!«, rutscht es ihm heraus. Es klackt und ich sehe ihn vor mir, wie er mit dem Kaffeelöffel gegen den Küchentisch klopft, als würde er nervös morsen. Max kann so einiges, aber niemals seinen Unwillen verbergen. »Und wenn du mir den Lada leihst, Fleur?«

»Dein Ernst? Wie lange hast du deinen Führerschein? Sechs Wochen? Außerdem muss ich morgen Getränkekisten holen.«

Er seufzt. »Na, toll, jetzt habe ich mein ganzes Zeug umsonst durch die halbe Stadt geschleppt.«

»Dann schick mir das nächste Mal eine Nachricht, bevor du ohne Vorwarnung aus dem Zug steigst. Lass die schweren Sachen bei mir. Ich bringe sie mit, wenn ich zum Hochzeitstag unserer Eltern komme.«

Das Morsen hört auf. »Okay, danke. Trotzdem schade, ich hätte dich heute gern gesehen. Sag mal, geht es dir gerade gut?«

Diese Frage ist ernst gemeint. Max verschwendet nie Zeit mit Small Talk, bei ihm geht es immer um alles.

»Blaugrau«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Grüß Mama, ich melde mich.«

»Mach ich. Und … ich umarme dich ganz fest, Große.«

Ich lächle noch, als ich aufgelegt habe. So ist es, wenn man einen kleinen Bruder hat, der ein menschlicher Seismograf für Stimmungen ist.

*

Renate verschluckt sich fast am Kaffee, als ich vierzig Minuten später in unsere Küche komme. »Es geschehen ja noch Wunder«, ruft sie und mustert mich ungeniert.

»Kein Grund auszuflippen«, erwidere ich. »Es ist nur ein geliehenes Shirt, kein Verlobungsring. Meine Bluse hat Weinflecken abbekommen.«

»Weinflecken, soso.« Ich wünschte, sie würde nicht so großmütterlich süffisant lächeln. »Rot steht dir jedenfalls viel besser als deine langweiligen Mausfarben«, fährt sie fort. »Wenn du so etwas öfters tragen würdest, bräuchtest du Männer bestimmt nicht mehr mühsam im Internet zu suchen.«

Boomer-Logik. Das würde Max jetzt sagen. Renate stammt noch aus der analogen Ära, als man sich im Tanzschulkurs in den späteren Ehemann verliebte und Schmuserock-Kassetten hörte. Wie eine verblasste Aura umgibt sie ein Hauch dieser Zeit – erkennbar in Form ihres Faibles für Silbermuster und Leoprint-Oberteile und in der Art, wie sie ihr getöntes Haar à la Prinzessin Diana frisiert.

»Ist noch Kaffee da?«, frage ich.

»Sag bloß, er hat dir kein Frühstück gemacht?« Renate beugt sich vor und schenkt mir die letzte Tasse aus der Kanne ein. Ihre goldene Brillenkette klickt gegen die Perlenohrringe. Renate ist die Art von Frau, die sogar dann Schmuck und Lippenstift trägt, wenn sie in Morgenmantel und Jogginghose am Küchentisch ihre Zeitung liest. Sie ist die dienstälteste Sekretärin einer Realschule und im letzten Teilzeit-Arbeitsjahr vor ihrer Rente. Vor einem Jahr haben ihr Mann und sie sich den Traum vom Ruhestandshäuschen auf dem Land mit Gartenschaukel für den Enkel erfüllt. Und da das Häuschen weit hinter dem Westerwald liegt, wohnt Renate ihr letztes Arbeitsjahr über bei mir und fährt über die verlängerten Wochenenden nach Hause.

Max hat es mit dem Waschmittel übertrieben, Hosen und Shirts ertrinken in Schaum. Neben der Waschmaschine stehen sein Outdoor-Rucksack, eine Gitarre und ein ausgebeulter Trolley, groß genug, um die Leiche eines Wrestlers darin zu verstecken. »Er wollte seine Sachen tatsächlich in dein Arbeitszimmer stellen«, sagt Renate. »Das habe ich ihm aber sofort ausgetrieben!«

»Danke. Ich habe ihm schon hundertmal gesagt, dass mein Büro tabu ist.«

»Männer«, antwortet Renate nur. »War er auf Weltreise oder warum braucht er so viel Gepäck?«

»Er war mit einem Freund ein paar Wochen in Spanien und hat noch Bekannte in Verona besucht. Der letzte Urlaub, bevor sein Freiwilliges Soziales Jahr beginnt.«

Renate schnaubt. »Na, hoffentlich lernt dein kleiner Prinz dann auch, richtig Wäsche zu waschen. Und sein Frühstücksgeschirr aufzuräumen«, setzt sie mit einem tadelnden Blick auf seinen verkrümelten Frühstücksplatz hinzu. Ich räume Max’ Gedeck kommentarlos ab und dann – endlich – macht der Kaffee diesen Katastrophenmorgen etwas heller.

»Du sieht aus, als hättest du heute Nacht nicht viel Schlaf abbekommen«, bemerkt Renate. »Kann es etwa sein, dass sich da zur Abwechslung etwas Ernsteres anbahnt?«

»Kann es sein, dass du etwas zu neugierig bist?«

Renate lächelt nur vielsagend und mustert mich über den Rand ihrer Lesebrille hinweg. »Jedenfalls scheint dir wirklich etwas an ihm zu liegen. Da habe ich ein Auge für.« Renate-Logik. Dagegen kommt man nicht an. »Habt ihr beiden heute noch etwas vor?«, bohrt sie weiter.

»Du meinst, mein Rechner und ich? Ja, ich will noch eine Festplatte sichten.«

Das war die falsche Antwort. Renate zieht die Brauen zusammen. Ihre Zornesfalte lässt sie wie eine strenge Politikerin wirken. »Siehst du eigentlich jemals so etwas wie Natur aus der Nähe? Wir haben so wunderschöne, sonnige Herbsttage. Wie wäre es mal mit einem Spaziergang im Wald?«

Die ehrliche Antwort wäre: Die Wälder meiner Albträume reichen mir vollauf. Ehe ich auch noch tagsüber und freiwillig in die Natur gehe, laufe ich lieber barfuß einen Marathon auf heißem Asphalt. »Ich habe eine Allergie gegen Herbstlaub.«

Renate schnaubt nur und schüttelt den Kopf, als wäre ich ein hoffnungsloser Fall. »Bevor ich es vergesse«, sagt sie nach einer Weile. »Darf dich morgen eine meiner Mütter anrufen?«

Eine meiner Mütter bedeutet übersetzt die Mutter eines Schülers. So wie der Arbeitsplatz für Renate meine Schule ist, und die wilde 5a meine Fünftklässler.

»Worum geht es denn?«

Renate fängt bei Adam, Eva und der Erfindung von Digitalfotografie an. Ich unterbreche sie nicht, obwohl ich mir schon nach zehn Sätzen zusammenreimen kann, was passiert ist.

»Gib mir die Telefonnummer«, sage ich. »Ich rufe die Mutter noch heute an.«

»Das ist doch nicht nötig. Mach dir keinen Stress, das hat wirklich bis Montag Zeit.«

Oh nein, das hat es nicht. »Ist schon in Ordnung. Wie heißt die Schülerin?«

Renate zögert. »Jennifer Lesnik.« Sie hat die einzigartige Gabe, vielsagend an ihrem Kaffee zu nippen. Selbst ihr Schweigen hat viele Vokabeln, aber ich bin gut darin, den Subtext zu ignorieren. Nach ein paar Minuten hält sie es nicht mehr aus. »Weißt du, ich will wirklich nicht wie deine besorgte Großmutter klingen. Aber pass auf, dass dein Leben dir nicht davonläuft. In deinem Alter hätte ich meinen Sonntag nicht ohne Not mit Arbeit verbracht.«

»In meinem Alter warst du längst mit deinem Kurt verheiratet und hattest drei Kinder.«

»Einer musste sie ja kriegen«, kontert Renate trocken. »Von deiner Generation ist da ja nicht viel zu erwarten. Sieh dich an: Statt dir heute mit deinem Simon einen schönen Tag zu machen, hockst du am Computer und beschäftigst dich bestimmt wieder mit Schmutzseiten.« Ihr angewidertes Schnauben bringt mich zum Lächeln. Renate ist alles andere als ein zartes Gemüt, aber die Tatsache, dass ich auf vielen Rechnern Pornosammlungen finde, hat ihr Vertrauen in unbescholtene Familienväter offenbar nachhaltig erschüttert.

»Jetzt ist es also schon mein Simon? Und irre ich mich oder opferst du dein Wochenende, um Excel-Tabellen für Unterrichtspläne zu erstellen?«

»Bei mir ist das etwas anderes«, gibt Renate verärgert zurück. »Auf mich wartet zu Hause nur noch ein unrasierter, wehleidiger Rentner, der nichts mehr mit sich anzufangen weiß. Glaub mir, dagegen ist ein Sonntag am Laptop die reinste Erholung.«

Dann sind wir also schon zwei, die sich mit ihrer Arbeit vor ihrem Privatleben drücken, denke ich bei mir. Ich versuche mir vorzustellen, wie es sein muss, in ihrem Alter zum ersten Mal ein wirklich eigenes Zimmer zu haben. Sie war achtzehn, als sie von der Schulbank weg heiratete – natürlich den Jungen, den sie seit der neunten Klasse küsste. Aus ihrem Elternhaus zog sie am Tag der Hochzeit direkt in die Einliegerwohnung im Haus der Schwiegereltern. Zehn Monate später war sie Mutter. Seitdem folgte ihr Leben einer geraden Linie mit vorbestimmten Etappen. Frauen wie Renate haben die Zügel fest in der Hand und halten eisern die Spur, damit die Familie sich sicher und gehalten fühlen kann. Doch je länger sie bei mir wohnt, desto öfter schimmert hinter dem Bild der ikonischen Gattin und Großmutter eine Frau durch, die vielleicht nicht einmal ihr Kurt kennt. Eine, die ihre Nase in den Wind ihrer späten Freiheit hält und vorsichtig wittert. Und die sich möglicherweise fragt, ob es ihr wirklich genügt, für den Rest des Lebens in einem Garten auf dem Land zu sitzen.

*

Wie jeden Morgen nehme ich meine Kaffeetasse mit ins Bad. Rituale sind meine Art, Abstand zwischen mich und einen verunglückten Start in den Tag zu bringen. Als ich das Licht anmache, überrascht mich das Rot im Spiegel. Im kalten LED-Licht wirkt es lebendig wie eine frische Wunde. Aber ich verstehe, was Renate vorhin meinte. Das Rot bringt alles an mir auf eine beunruhigende Art zum Leuchten. Fast kann ich die Hitze der Farbe auf der Haut spüren. Ich habe diese andere Fleur lange nicht mehr gesehen. Gefangen auf der anderen Seite des Spiegels sieht sie mich mit diesem Licht in den Augen an, das mir längst schon fremd geworden ist. Und trotz allem, was dieses Licht birgt, tut es gut zu wissen, dass es noch existiert. Ich fahre mit den Fingerspitzen über mein Brustbein, folge der Empfindungsspur dieser Berührung und lege die Hand dann auf die Spiegelfläche, genau an die Stelle, wo Fleurs Herz ist und das Feuer brennt, das Bedrohung und Heimat zugleich ist.

Doch das Spiegelglas an meiner Hand bleibt kühl, die Brust meines Ebenbildes ist starr und ohne Atem, und alles, was zwischen uns hallt, ist die Leere hinter den Masken meiner Nächte.

Mein Haar knistert, als ich mir Simons Shirt über den Kopf ziehe. In meinem weißen Top fühle ich mich sofort weniger nackt. Es ist, als könnte ich aus der Sichtbarkeit zurücktreten, einsinken in die Sicherheit der Nicht-Farben. Eine Weile schließe ich die Augen und atme nur, finde endgültig zurück aus dem Wald, dann ziehe ich auch noch meine eigenen Sachen aus und suche nach Wattepads zum Abschminken. Simon hat falsch vermutet. Ich trage keine einzige Narbe unter dem Top. Aber hätte er heute Morgen meinen Pony von der Stirn zurückgestrichen, dann wäre ihm aufgefallen, dass die Narbe an meiner Kieferlinie nicht mein einziger Makel ist. Auf den ersten Blick erinnert die Textur der Haut über der linken Braue an eine schlecht verheilte Entzündung. Ich brauche nicht viel von der speziellen Reinigungslösung, um das wasserfeste Narben-Make-up zu entfernen. Zum Vorschein kommt ein Archipel von Inseln aus rosaweißer Haut, die wie entfärbt wirkt und sich unter meinen Fingerspitzen kühl und leblos anfühlt.

Schwellen

Der Rotwein-Fleckenlöser ist ein Geheimtipp von Renate. Bisher scheint er den Schaden auf dem Leineneinband des Buchs nur zu mildern, nicht zu beheben. Aber zumindest erinnern die Flecken nun nicht mehr ganz so sehr an Blut. Es wird nicht einfach werden, für den Neuzugang Platz im Bücherschrank meines Schlafzimmers zu schaffen. Die Regale biegen sich unter Märchen-Ausgaben, die meisten davon in französischer Sprache. Und auch die Pinnwand über meinem Bett ist voll von Kopien mit historischen Daten und Recherchefakten zu einzelnen Märchen. Irgendwo unter diesen Sedimentschichten aus Papier muss noch das Bild sein, das ich vor Monaten angepinnt habe. Ich finde den Ausdruck unter einem Artikel über japanische Begräbnisriten der Edo-Zeit.

Das Porträt aus dem späten 16. Jahrhundert zeigt ein Ehepaar. Der Mantel des Mannes leuchtet in einem auffallenden Paradiesvogelblau. Die zarte Frau, die schräg hinter ihm steht, wirkt in ihrem schwarzen Kleid und der ebenso schwarzen Haube fast durchscheinend. Vielleicht hat der Maler diesen Effekt bewusst gesetzt, um den Gegensatz zwischen den beiden noch deutlicher zu machen: Catherine als zivilisierte zarte Blüte neben ihrem Ehemann, dem »Tier«. Auf diesem Porträt erinnert Petrus Gonsalvus mit seinem behaarten Gesicht und dem ernsten, grimmigen Blick tatsächlich an eine Gestalt zwischen Wolf und Mensch. Aber seine Frau sieht ihn ganz anders: Ihre Hand ruht auf seiner Schulter. Diese offen zu Schau gestellte Zuneigung ist ein herber Bruch mit den damaligen Konventionen solcher Porträts. Man gab seine Gefühle nicht öffentlich preis. Und auch heute berühren mich Catherines Mut und ihre Stärke, ihre Liebe für Petrus mit dieser zärtlichen Geste der ganzen Welt zu zeigen.

*

Renate hat es sich nicht nehmen lassen, als Dankeschön für meinen Gefallen Max’ Wäsche aufzuhängen und mir neuen Kaffee zu kochen. Im Arbeitszimmer erwartet mich eine volle Tasse. Der Kaffeeduft vermischt sich mit dem synthetischen Geruch von Teppich und Kunststoff. Und wie gewohnt beruhigt mich diese Mischung bis in die letzte Nervenfaser. Das ist mein eigentliches Zuhause: drei unabhängige Arbeitsplätze und Systeme, ein Dutzend externer Festplatten, Laptops und fünf Monitore, alles auf zwei Glastische verteilt und bei Bedarf miteinander vernetzbar. An den Wänden und unter dem Fenster reihen sich abschließbare Metallschränke. Ich liebe die Nüchternheit von Glas und Stahl, das bilderlose Weiß der Wände und den lichtgrauen Teppich. Das Einzige, was aus diesem strengen Rahmen fällt, ist die kleine Statue einer Vierge Noire – einer Schwarzen Madonna –, die auf einem Archivschrank steht. Ursprünglich saß ein Jesuskind auf ihren Knien, doch die antike Figur ist beschädigt, das Kind verloren gegangen. Auch die Vergoldung der Marienkrone ist kaum noch vorhanden. Mit ihrem ausgebleichten gelben Mantel aus echter Seide wirkt die Madonna in dem Zimmer wie ein Fremdkörper, eine Zeitreisende aus dem achtzehnten Jahrhundert. Doch diese Figur ist das einzige Element, das die monochrome Klarheit des Raumes bricht.

Max nennt mein Büro nur »Raumschiff Hacker-Surprise«. Dabei ist Cyberkriminalität gar nicht meine Arena. Ich gehöre nicht zur IT-Feuerwehr, die von Firmen gebucht wird, um Cyberangriffe abzuwehren und Schäden und Leaks in der Unternehmenssoftware zu reparieren. Werde ich von jemandem privat nach meiner Arbeit gefragt, erzähle ich nur, dass ich in der Datenverarbeitung für städtische Behörden tätig bin. Erstens klingt das langweilig genug, damit niemand nachfragt. Und zweitens stimmt es zu einem gewissen Teil. Zu neunzig Prozent besteht meine Arbeit darin, gelöschte oder beschädigte Dateien wiederherzustellen oder Passworte zu entschlüsseln, die jemand vergessen oder mit ins Grab genommen hat. Oft ist es das Nachlassgericht, in dessen Auftrag ich Festplatten nach Kontodaten, Vermögenshinweisen oder Kryptowährung durchforste. Im Auftrag von Privatleuten kümmere ich mich um den digitalen Nachlass Verstorbener, lege Social-Media-Existenzen still, kündige Mitgliedschaften und Daueraufträge, lösche Profile und Sonstiges, was kein Zombiedasein im Netz führen soll. Manchmal bezahlen mich Leute auch einfach nur dafür, dass ich grenzwertige Partyvideos soweit wie möglich aus dem Internet tilge, bevor Personalchefs auf sie stoßen. Nur selten suche ich im Rahmen erweiterter Polizeiermittlungen auch nach Fotos von Hehlerware auf den Geräten Verdächtiger, sichere Beweisvideos oder rekonstruiere Mails und Dateien, die schnell noch gelöscht wurden, bevor die Polizei mit dem Durchsuchungsbefehl an der Haustür stand. Es ist erstaunlich, wie viele Kriminelle denken, Datenspuren zu verwischen, wäre leichter, als Leichen verschwinden zu lassen.

Während der Anrufbeantworter die Nachrichten abspult, checke ich Mails und starte nebenher eine erste Recherche zu Jennifer Lesnik. Auf dem einzigen Laptop, den ich nur privat nutze, erwartet mich eine Flut von Urlaubsfotos meiner Eltern. Augenmaß war noch nie die Stärke meines Vaters. Mit verkniffenen Augen und windroten Nasen stehen meine Eltern vor einem diagonalen Ostsee-Horizont. Mein Vater ist unrasiert und wirkt in seinem alten Parka und mit seinem wüsten Fünftagebart wie einer der sozial verwilderten Ermittler aus schwedischen Noir-Krimis. Meine zierliche Mutter scheint in diesem schiefen Selfie-Winkel hinter seiner massigen Brust zu verschwinden. Ihre dunkelbraunen Locken sind vom Herbstwind völlig zerzaust, aber sie strahlt eine Schönheit aus, die schärfer und klarer hervorkommt, je älter sie wird.

Weder Max noch ich haben ihre feinen Züge geerbt. Mit seinem glatten Haar, dem breiten Mund und den geraden Brauen ist Max ganz der Vater. Nur die schmale Statur hat er von ihr. Vermutlich neige ich deshalb immer noch dazu, ihn als »unseren Kleinen« zu sehen.

»… oder du hast gerade die Kopfhörer auf und hörst deshalb das Telefon nicht«, hallt die Stimme meiner Mutter immer noch vom Anrufbeantworter. »Max kommt nun doch schon heute mit dem Nachtzug zurück und ich dachte mir, es wäre schön, wenn du auch etwas Zeit hättest und vielleicht spontan zum Essen kommst …« Wie immer, schöpft sie den ganzen Speicher aus. Ich habe jede Menge Zeit, dabei den zerkratzten Laptop anzuschließen, den ich mir heute vornehmen will. Ich krame gerade nach einem Verbindungskabel, als mein Handy surrt. Mein Herz macht einen Satz beim Gedanken, dass es vielleicht Simon ist. Stattdessen leuchtet die Festnetznummer meiner Eltern im Display auf. »Hi Mama.«

»Schatz, na endlich! Warum hast du nicht zurückgerufen?«

»Ich habe dir doch vorhin eine Nachricht geschickt.«

»Oh, ach so, mein Handy ist noch im Koffer.« Sie lacht. »Max hat schon aus dem Zug angerufen und Bescheid gesagt, dass du heute arbeiten musst. Wie schade! Aber am Dienstag kommst du doch zu unserem Hochzeitstag? Papa freut sich schon so auf dich …« Während sie weiterredet, checke ich den Status einer laufenden Suche. Die Software, die seit gestern nach einem siebenstelligen Passwort sucht, ist immer noch nicht fündig geworden. Manchmal hat man Glück und landet einen schnellen Treffer, dann wieder dauert es zwanzig Stunden, bis die Brute-Force-Attacke ein Ergebnis liefert – oder zuweilen auch nicht liefert.

Am anderen Ende der Leitung wird meine Mutter von dem Schrillen der Türglocke unterbrochen. »Augenblick, ich bin gleich wieder da. Sprich derweil mit Papa.«

Es raschelt, dann murmelt seine tiefe Stimme: »Hallo Blume.« Es ist selten, dass er mich noch bei diesem Kindernamen nennt. Meistens dann, wenn er mich wirklich vermisst. Und auch heute fühlt es sich an wie eine überraschende Umarmung. »Schon wieder Arbeit?«, stellt er in seiner mürrischen Art fest. »Ist es wenigstens ein halbwegs interessanter Fall?«

»Du weißt, dass sich meine Kunden auf Diskretion verlassen.«

»Und du weißt, dass neutrale Hinweise ohne Namens- und Ortsbezug nicht der Geheimhaltung unterliegen.«

Wie Max gerne sagt: Leg dich nie mit einem pensionierten Cop an.

»Na schön: Privatauftrag einer Witwe. Zufrieden?«

Natürlich nicht. Wäre er ein Jagdhund, würde er jetzt die Spur aufnehmen. »Wonach suchst du? Schulden, Geschäfte, Doppelleben? Ist sie Alleinerbin?«

»Noch mehr ›neutrale Hinweise‹, Roland?« Es ist auch selten, dass ich ihn mit seinem Vornamen anrede. Im Grunde nur dann, wenn er sich bei einem Nein so offensichtlich taub stellt. Ich höre an seinem Ausatmen, dass er schmunzelt. »Schon gut. Deine Mutter will dich noch mal sprechen.«

»Fleur?«, ruft sie in mein Ohr. »Die Nachbarin will irgendwas von mir. Ich muss aufhören.«

»Alles klar, Mama. Bis später.«

Aber sie verabschiedet sich nicht sofort. In der langen Pause kann ich spüren, wie sie nach möglichst beiläufigen Worten sucht. »Keine Sorge. Ich bin nicht allein hier«, komme ich ihr zuvor. »Renate ist übers Wochenende dageblieben.«

Nachdem sie aufgelegt hat, starre ich eine ganze Weile auf das Display, bis ich den Mut aufbringe, nachzusehen. Keine Nachricht von Simon, nur zwei neue Beiträge auf Instagram: Rocky beim Morgenspaziergang und ein Foto, das wie eine Installation zum Thema Eifersuchtsdrama wirkt. Rotwein auf Parkett und unsere zwei Weinkelche. Seinen Kelch hat Simon aufgestellt, mein zerbrochenes Glas liegt auf der Seite. Die Scherben sind so arrangiert, dass sie das Sonnenlicht fangen. Simon hat ein Stück Küchenpapier kunstvoll zu einer Rosenblüte geformt und zwischen die Scherben gelegt. »Beauty and Beast«, lautet der Text. Hashtag #Whoiswho. Ich weiß, was mein Bruder jetzt sagen würde. Für Max ist alles federleicht und einfach. Man streitet sich, doch man macht immer den ersten Schritt, man bittet um Verzeihung oder verzeiht, man schickt sich digitale Küsse. Weil die Welt ein guter Ort ist und alle Menschen Sternenstaub. Andererseits – habe ich etwas zu verlieren? »Hallo Simon«, tippe ich. »Es tut mir leid wegen heute Morgen. Ich bin wirklich Single und treffe auch niemand anderen. Aber du hast recht, ich mache es Menschen nicht leicht, mich kennenzulernen. Zum Beispiel hätte ich dir erzählen müssen, dass ich einen Bruder habe. Er ist vierzehn Jahre jünger als ich und heißt Max. Es ist schwer zu erklären, warum ich dir nicht einmal etwas so Selbstverständliches erzählen konnte und stattdessen einfach geflüchtet bin …« Ich halte inne. Mein Finger schwebt über dem Tastenfeld. Eine Ewigkeit atme ich nur meinen zu schnellen Herzschlag nieder. Dann lösche ich alles bis auf die ersten zwei Sätze und drücke auf Senden.

*

Bei der Mutter von Renates Schülerin geht nur der Anrufbeantworter ran. Ich gebe meine Festnetznummer durch, dann schalte ich das Telefon auf Lichtsignal und lese das Protokoll des Vorgesprächs mit der verwitweten Kundin durch. Alle Fakten und Daten inklusive meiner Randnotizen zu Geburtsdaten, Hobbys und Haustieren – all das, was Leute für gute Passworte halten. Die Frau, die mir den Laptop übergab, heißt Claudia Kolowski. Dreißig Jahre Ehe, Haus und Hund, zwei erwachsene Söhne. Bei unserem Treffen hatte sie alle Tränen über den plötzlichen Tod ihres Mannes schon geweint. Geblieben ist nur Fassungslosigkeit. Was sie inzwischen weiß: dass ihr Mann sechs Monate vor seinem Herzinfarkt ohne ihr Wissen die Lebensversicherungen gekündigt und sämtliche Festgeldanlagen aufgelöst hat.

Was sie nicht weiß: wohin dieses gemeinsam für die Rente angesparte Geld verschwunden ist.

Sein Laptop liegt wie eine verschlossene Muschel vor mir. Vielleicht birgt sie eine Perle, vielleicht nur Salzwasser und Sand. Ich checke noch einmal die schriftliche Vereinbarung über das, was ich mit den Daten machen darf und was nicht. Doch diese Auftraggeberin will es wirklich wissen und hat alle Kreuze gesetzt.

»Also dann, Herr Kolowski«, sage ich.

In Märchen spielen Schwellen eine besondere Rolle. Ob als Dornenhecke oder Tür aus Pfefferkuchen – alle markieren sie den Übergang in eine Welt, in der die Gesetze von Zeit und der gewohnten Realität ausgehebelt sind. Meine Schwelle ist das Aufsetzen des Noise-Cancelling-Kopfhörers. In der Stille streiche ich mit den Händen an den Kanten des Laptops entlang. Wie bei jedem Mal durchrieselt meine Fingerspitzen ein Kribbeln – als würde Strom durch alle Nervenfasern gleichzeitig fließen und im Kopf alle Lichter anknipsen. Von einem Moment auf den anderen bin ich fiebrig wach und ruhig zugleich. Und mit dem Öffnen des Deckels lasse ich auch Simon an der Schwelle zurück.

*

In Filmen ist das Suchen eines Passworts meist ein Countdown des Todes. Der Ermittler benötigt dafür seine ganze Intelligenz und Kombinationsgabe, während im Hintergrund die Digitaluhr die Sekunden zur Bombenexplosion herunterzählt. In der Realität gleicht meine Arbeit eher der eines Schlüsseldienstes. Man braucht das Wissen über alle Arten von Schlössern und passendes Werkzeug. Nur dass meine Werkzeuge Namen wie »John the Ripper« oder »Aircrack-ng« tragen und aus Bits und Bytes bestehen. Viele Tools brauchen nur Sekunden, um Millionen möglicher Kombinationen von Zeichenketten, Wörtern und sonstigen Codes durchzuprobieren. Erst einmal starte ich die klassische »Wörterbuchattacke«, die durchtestet, ob ein Passwort irgendwo in Dutzenden von Sprachen zu finden ist.

Aber eines muss man Dieter Kolowski lassen: Offensichtlich hat er seine Hausaufgaben gemacht. Alle anderen Rechner des Hauses hatte er nur mit den Namen seiner Söhne geschützt, aber auf diesem Laptop befindet sich etwas, das er unbedingt vor fremden Augen verbergen wollte. Also ist nun Geduld gefragt.

Das Telefonsignal blinkt auf, kaum dass ich den nächsten Suchlauf gestartet habe. »Frau Martin?«, ruft eine atemlose Frau in den Hörer. »Sandra Lesnik hier. Danke für ihren Anruf vorhin. Ich … Wir waren nur kurz außer Haus.«

»Kein Problem, Frau Les…«

»Ich bin so froh, dass ich Sie anrufen darf! Renate sagte uns, Sie kennen sich mit dem Internet aus. Hat Sie Ihnen erzählt, was passiert ist?«

»Sie sagte mir, dass ein Privatfoto Ihrer Tochter in ein Schülerforum gelangt ist.«

»Gelangt?« Frau Lesnik schnaubt. »Jenny hat das Bild selbst verschickt! An einen Jungen aus ihrer Klasse. Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, wie leicht Fotos weiterverbreitet werden können!« Diesen Tonfall kenne ich nur zu gut. Es ist die Mischung aus Löwenmutter-Blutrausch und blanker Wut auf das eigene Kind. Außerdem gehört Frau Lesnik zu den Eltern, die sich auch noch selbst Vorwürfe machen. »Im Grunde ist es nur meine Schuld. Sie ist zwar schon fünfzehn, aber ich kenne sie ja und hätte wissen müssen, dass sie noch viel zu unreif ist, um verantwortungsvoll mit einem Smartphone umzugehen …« Während sie erzählt, verschaffe ich mir einen Überblick über die ersten Ergebnisse der Online-Recherche zu Jennifer/Jenny Lesnik. Ich glaube nicht, dass Renate das Foto gesehen hat, das seit gestern auf der Plattform kommentiert wird. Sonst wäre sie sicher endgültig vom Glauben abgefallen. Offenbar stand Jennifer schon vorher nicht auf der Sonnenseite der Klasse und wurde im Forum mit verletzenden Spitznamen gemobbt. Jetzt ist sie endgültig Beute der Hyänen.

»In letzter Zeit erkenne ich meine Tochter kaum wieder, wissen Sie?«, gellt Frau Lesniks Stimme aus dem Lautsprecher des Telefons. »Sie war immer ruhig und freundlich. Und auf einmal ist sie wie verwandelt und macht nur noch Probleme. Sie hat mehrmals die Schule geschwänzt. Sie ist frech und unverschämt und außerdem lügt sie, und wenn ich sie frage …«

»Danke, Frau Lesnik. Ich denke, ich habe jetzt die Fakten, die ich brauche.«

»Entschuldigen Sie bitte«, sagt sie jetzt leiser. »Ich … Wir sind nur alle sehr angespannt.«

»Das ist nach einem solchen Übergriff auch verständlich. Was haben Sie denn bisher wegen des Fotos unternommen?«

»Mein Mann hat es gleich gemeldet. Es sollte eigentlich schon längst aus dem Forum gelöscht sein. Und ich habe natürlich sofort die Eltern von Jennys Mitschülern angerufen. Renate war außerdem so nett, noch gestern Abend privat mit der Schulleitung zu telefonieren. Gleich morgen wird es dazu ein Krisengespräch mit den Lehrkräften und der Schulpsychologin geben.«

Schön, wenn das allein helfen würde. »Haben Sie mit einer Beratungsstelle oder der Polizei gesprochen?«

»Polizei?« Frau Lesnik holt erschrocken Luft. »Nein … Wir …. Es geht doch nur um Schüler. Mein Mann wird das mit dem Jungen selbst regeln. Und auch dafür sorgen, dass seine Eltern …«

»Frau Lesnik, ganz abgesehen davon, dass das hier kein harmloser Schülerstreich ist: Im Internet tickt die Zeit sehr schnell. Sie sollten sich professionelle Unterstützung holen, bevor das Foto sich auch auf anderen Plattformen verbreitet.«