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»Der Lärm der Vögel erzählt von einem Lebenskreis, den wir nicht mehr kennen, aber umso mehr vermissen.« Nach über zwanzig Jahren in Berlin zieht Carsten Kluth mit seiner Familie aufs holsteinische Land in das ehemalige Haus seines Großvaters. Eine Gelegenheit, sich Platz zu schaffen – und die Miete zu sparen, die man sich in der Hauptstadt als fünfköpfige Familie ohnehin nicht mehr leisten kann. Er kennt das Stück Land seit seiner Kindheit, nun beginnt er es von Neuem zu entdecken. Staunend beobachtet er die Pflanzen, Moose, Pilze, Flechten und Insekten um ihn herum: das Kriechende Fingerkraut, die Hufeisen-Azurjungfer-Libellen, die Bachröhrenwürmer, den Kleinen Wiesenknopf … Carsten Kluths Beschreibungen entwickeln einen eigentümlichen Sog hinein in die Tiefen der Natur, deren Formen und Farben selten dem Bild entsprechen, das wir uns gewöhnlich von ihr machen. Besonnen und dennoch mit Hingabe schildert er, wie sich seine Umgebung über das Jahr hinweg verändert – und versucht sie dabei mit allen Sinnen zu erfahren. Carsten Kluth zeichnet dabei ein ganz eigenes, poetisches Bild der Natur. Eine Einladung, die Natur in all ihren Facetten neu zu entdecken »Die Farben wandern von den Bäumen auf den Boden. Unterm Birnbaum das Braunschwarz der Birnbaumblätter, unterm Walnussbaum ein fröhliches Gelb, ein glimmend rotgelber Teppich unter der alten Kirsche, hellgelbes Gestöber der Birken. In den Himmeln ein Flimmern der Verzweigungen, wie die Mündungsgebiete großer Flüsse. Der Sommer ist die aquarellistische Jahreszeit, der Winter zeichnet; dazwischen die Unentschiedenen.«
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Seitenzahl: 393
HarperCollins®
Copyright © 2021 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Covergestaltung: KUZIN & KOLLING, Büro für Gestaltung, Hamburg Coverabbildungen: Hannah Kolling E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749950102
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»In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts.«
Horkheimer/Adorno,Dialektik der Aufklärung1
Gegenüber dem Haus, jenseits der Kreisstraße, öffnet sich eine sechs Meter tiefe Kerbe, in die sich der Entwässerungsbach des Dorfes ergießt. Bis auf die letzten fünfzig Meter ist dieses Tal mit Eschen, Buchen, Eichen, Kirschen, Weiden, Ahorn, Weißdorn und Holunder bewachsen, von denen einige sechzig, siebzig Jahre alt sein mögen. Dazwischen an der Böschung zur Straße Haseln, Pfaffenhütchen, Brombeeren, Efeu mit pfostendicken Lianenkörpern, die sich wie Würgeschlangen an die Bäume klammern, dreißig Meter in die Höhe kriechen und im Winter als gigantische Figuren vor ihren kahlen Stützen sichtbar werden. Dann kommen der Sumpf, die Erlen und wenige Eschen, die mehr Nässe vertragen als die meisten anderen Bäume. Die Erlen strecken ihre Wurzeln ins Wasser und fühlen sich wohl, die Eschen nehmen es mit Gleichmut hin, ihre Wurzeln sind wie verschüttete Tinte auf einer Tischplatte, ein ausgedehntes, unüberschaubares Geflecht, das weit vom Stamm mit mächtigen Wülsten aus dem Boden steht und ihnen Halt gibt. Die anderen Bäume verlieren ihn und stürzen um, sie ersticken, wenn das Wasser steht, sie keimen erst gar nicht. Im Sumpf herrschen Erlen, Eschen und die Brunnenkresse.
Bis zum Tod des Urgroßvaters gab es diesen Wald nicht. Noch heute heißen die zehntausend Quadratmeter im Osten der »Busch«, weil damals alle sieben Jahre alles auf den Stamm gesetzt wurde. Sieben Jahre wartete man, dann schnitt man wieder, stapelte die Stämme auf der Auffahrt vor dem Haus, verarbeitete sie übers erste Jahr, lagerte ein, verbrannte die Scheitchen im Kachelofen und in der Küche; dort konnte man das dünne Holz gut gebrauchen. Mein Urgroßvater zog in den 1920er-Jahren in dieses Haus. Alle seine Kinder wurden vorher im alten Hof gegenüber geboren, seine Frau starb jung, im Kindbett, er überlebte sie um fast fünfzig Jahre. Sieben mal sieben Jahre, stelle ich mir vor, siebenmal den Busch auf den Stamm gesetzt, siebenmal den Berg aus dünnem Holz verarbeitet, siebenmal zugesehen, wie sich ein neuer Busch bildete. Siebenmal. So ging der Rhythmus, bis auf Öl und Kohle und noch später auf Gas umgestellt wurde. So wurde es mir erzählt. Das Zyklische und das Lineare. Der Kreis und die Linie.
Einmal besuchten uns alte Freunde in der ersten Januarwoche mit ihren Kindern. O., mit dem ich aufgewachsen war, schlief schon eine ganze Weile lang schlecht. Er brauche Ruhe und Entspannung. Am ersten Morgen ihres Aufenthaltes tranken wir Kaffee, dann gingen wir in das kleine Wäldchen jenseits der Kreisstraße und begannen, abgestorbene Eschen zu fällen, die nicht dicker waren als ein Männeroberschenkel, wir schnitten morsche Haselstämme und Hainbuchen. Um die Mittagszeit schwitzte der Freund so stark, dass er trotz Minusgraden ohne Jacke weiterarbeitete. Nach dem Mittagessen fällten wir weitere Eschen, eine Kirsche, noch ein paar Haseln, dann räumten wir auf, bis es dämmerte. Am Spätnachmittag fuhren wir nach Lübeck, nur O. nicht, der es sich vor dem offenen Kamin bequem machte. In der zweiten Nacht schlief er besser. Am nächsten Tag nahmen wir uns zwei Eschen vor, die ebenfalls abgestorben, aber doppelt so dick waren, und wir fällten eine Wildkirsche, die vom Sturm in eine Eiche gedrückt worden war. Wir entasteten die Bäume, zerkleinerten die Stämme, wobei mal der eine, mal der andere sie anhob und ein schon gesägtes Rundstück darunter schob, während der andere die Motorsäge hielt. Wir benutzten eine Stihl mit einem Halbmeterblatt. Wir hatten eine große Bügelsäge, eine große Axt. Wir hatten eine Schubkarre für die Holzstücke, um sie auf die andere Seite über die Kreisstraße zum Holzschuppen zu bringen, wo wir sie stapelten, um sie später spalten zu können. Dann und wann entdeckten wir eine besondere Form im Holz: einen dreibeinigen Hocker, ein Gesicht, ein vielarmiges Monster, und bewahrten sie auf. Man findet dauernd etwas. Man riecht das frisch gesägte Holz, man spürt die Kälte an den Wangen wie einen Orden, das Gewicht des Holzes zieht einen durch die Stunden. An diesem Tag fuhren wir am Spätnachmittag nach Travemünde, nur der Freund nicht, der sich wieder ein Feuer im Kamin machte, einen Grog aufgoss und Gitarre spielte. In der Nacht schlief er durch und wurde erst um neun wach. Drei weitere Tage gingen wir in das Wäldchen, arbeiteten dort jeden Tag etwa sechs bis acht Stunden. Es war kalt, aber erst am letzten Tag fiel Schnee und deckte die Spuren zu, die wir hinterlassen hatten, die Späne des frischen Holzes, die Aststückchen, die Rindenblättchen, unsere Fußabdrücke, die Schleifspuren der Äste, die ich in den Wald zog, wo ich sie schichtete, während die Freunde das gesägte Holz in die Schubkarre luden und im Hühnerhagen aufstapelten. Kirschholz, dessen Rinde wie Haut war, lange Haseln, Eschenholz, das durch den Pilz noch dichter und härter wird, weil die Bäume ihre Adern von innen verstärken, um den Pilz an einer Ausbreitung zu hindern, wodurch sich aber ihre Fähigkeit vermindert, Wasser nach oben zu leiten. Nach fünf Tagen sah man im Wald und an der Böschung wenig von unserer Arbeit, dafür prangten auf der Hausseite fünf Reihen Rundholz, gut acht Kubikmeter. Genug, um im nächsten Jahr den Kachelofen täglich und den offenen Kamin dann und wann zu heizen. Der Freund schlief gut und tief. Als sie abreisten, war der nächste Besuch schon abgemacht.
Was war es, das meinem Freund den Schlaf wiedergeschenkt hat? Man möchte sofort sagen: die Arbeit, die Erschöpfung. Oder: der Wald. Man kann heute Waldkuren machen, man liest, dass die Japaner schon eh und je ein Wort besaßen, das »Walddusche« bedeutet. Oder war es das Brennholzmachen, vielleicht in Kombination mit dem Verbrennen des Holzes am Nachmittag und Abend? Holzmachen ist in allen seinen Schritten eine Übung in Achtsamkeit und Meditation; wie man den Baum ansägt, die Kerbe setzt, damit er – hoffentlich – in die geplante Richtung fällt, das erfordert Aufmerksamkeit, aber gleichzeitig ist das Entasten, das Kleinsägen, das Transportieren, Stapeln und Spalten von Holz eine repetitive, rhythmische Arbeit, die den Körper zum Schwingen und der Seele Ruhe bringt. Und da ist noch etwas anderes: Beim Holzmachen wird man in einen Zusammenhang gestellt, der vollkommen sinnvoll ist. Es ist kalt, im Holz ist Wärme, man hat die Wärme vor sich, man muss sie in handhabbare Portionen teilen und sie zum und am Ende ins Haus bringen. Holzmachen ist befriedigend direkt, so wie Essen oder Ernten oder Sex, es ergibt einen ganz unmittelbaren, einfachen und umfassenden Sinn, wie es sonst nur noch wenige Tätigkeiten tun, und das mit den einfachsten Mitteln: dem eigenen Körper, ein paar Werkzeugen, alles an einem Ort, der tief in uns allen steckt, den die Zellen und Nerven sofort erkennen: im Wald. Dazu kommt die Kette an Ereignissen, in deren Gesamtheit man nun ein Teil ist: Sonnenlicht, das aus der Mitte unseres Planetensystems heraus in etwa elf Minuten die Erde erreicht hat, wird von Bäumen in Holz mit durchschnittlich 3,2 Kilowattstunden Wärmeenergie pro Kilogramm umgewandelt. Wir trugen also in diesen fünf Tagen im Januar nicht nur knapp zwei Tonnen Holz über die Straße, einen kleinen Teil der Sonne, sondern auch etwas über 6.000 Kilowattstunden, eine Menge, mit der ein Jahr lang vielleicht nicht das ganze Haus, aber ein guter Teil davon beheizt werden kann. All das ließ meinen Freund besser schlafen.
Nichts ist natürlich, das Land ist überzogen von Spuren. Zweimal die Woche treffe ich mich zum Joggen im Riesebusch vor einer nicht mehr existierenden Burg, auf deren einstmaliges Vorhandensein kaum noch etwas hindeutet, nur Wellen auf einem Hügel voller Buchen, von der Schwartau umflossen, die zwischen der Hobbersdorfer Mühle und Bad Schwartau nicht mehr begradigt, ausgehoben, von hineingestürzten Bäumen gesäubert wird. Dreimal war einer der zwei Wege, die zum Dorf führen, schon überschwemmt, dreimal waren die beiden Brücken bis zur Unterkante ihres Gewölbes gefüllt mit schlammigem Wasser, einmal sogar waren beide Wege vom Wasser übernommen worden, so wie die Wiesen am Fluss, der sich auf fünffache Breite ausgedehnt hatte. Durch die Nässe, die das ganze Jahr nicht schwand, verloren die Bäume der Niederung an Halt, neigten sich erst und stürzten schließlich in den Fluss. In wenigen Monaten veränderte sich dieser, es war die Geschwindigkeit, die so erstaunlich war. Nicht so schnell, wie es Weisman in manchen Kapiteln von »Die Welt ohne uns«2 schildert, aber doch eindrücklich. Wenn wir jetzt auf den Hängen laufen und ins Tal und auf die Sumpfwiesen, die Schilfflächen sehen, dann sind die Drainagen deutlich erkennbar, aber auch die Einbrüche des Flusses, die Spuren der Überschwemmungen, Äste, Schlick und Gestein, das sich anlagert und Ufer bildet. So haben die Menschen von der Burg im Riesebusch herabgeblickt und die, die innerhalb eines Palisadenzaunes davor siedelten. Vor achthundert Jahren war dort, wo jetzt mächtige Buchen und Eichen stehen und ein paar Douglasien, die vielleicht etwas über hundert Jahre alt sind, kein Wald, und der Wald um die Burg herum war licht und luftig, weil die Tiere hineingetrieben wurden. Wahrscheinlich glaubten die Menschen, dass es bis zum Jüngsten Tag immer so sein würde. Die Wälder waren größer und belebter, voller, Schweine und Menschen wanderten unter den Kronen großer Bäume. Das Unterholz, das Dickicht der Räuber, Aussteiger, Aufwiegler, war wahrscheinlich nicht viel ausgedehnter als heute und trotzdem allgegenwärtig in den Erzählungen, den Ängsten und Träumen. Menschen lebten in den Wäldern, sie passten auf das Vieh auf, sie verbrannten die Wälder zu Kohle, sie tanzten in den Wäldern, sie zogen sich in die Wälder zurück wie sich heute die Menschen in die Therapien und Yogakurse und Kurkliniken zurückziehen, dann kamen sie wieder und jeder wusste, gut, der ist im Wald gewesen. Das ist der ganze Unterschied, aber er ist gewichtig, denn heute kann sich der Mensch nur zum Menschen zurückziehen, es ist eine ganze Dimension verloren gegangen, ein ganzer Teil des Menschen ist nicht mehr zugänglich, der Wald selbst ist Teil des Menschen geworden, er ist Bestandteil der Freizeit, der Ökonomie, des Naturschutzes, aber nicht mehr Ort der Sammlung. Seit ich mit dem Freund durch den Wald laufe, habe ich keinen einzigen Menschen stillsitzen gesehen. Keine Zwiesprache gibt es, nur Funktionskleidung und rote Gesichter und Personal Fitness Coaches und heimliche Paarungen.
Hier und da und dort, überall strecken sich die Früchte der gigantischen Netzwerker, der heimlichen Koordinatoren dieser Welt an die Luft, der Pilze, die die abenteuerlichsten Formen annehmen, uringelbe Becher, neonrote Terrassen, hausschuhbraune Fladen, steinhart, voller Grundstoff für Detonationen spiritueller und ganz handfester Art.
Wie wundersam die Allgegenwart der Motoren ist, wie kurz ihre Herrschaft erst dauert, zeigen ältere Fotos von Pferdeschlitten, Fahrradfahrern, Kindern, die im Straßenschnee spielen, Fußgängern auf der schneebedeckten Fahrbahn der noch nicht ausgebauten Straße. Verwirrend, diese Unordnung, das Kurvige, sich Vermengende. Wie oft kam ein Auto durch? Noch in meiner Kindheit waren vorbeifahrende Autos, wenn schon nicht mehr Ausnahme, so doch besonders genug, dass wir innehielten. Kam eine Feuerwehr vorbei oder ein Krankenwagen, dann rannten wir nach vorne. Niemand rennt heute mehr. Das Spektakel ist der Normalfall, die Ruhe die Ausnahme. Gibt es in diesem Land einen Ort, an dem noch nicht mal entferntes Rauschen des Verkehrs zu hören ist? Keine Laubbläser, keine Sägemotoren, keine Dudelmusik?
Als Andrea Hejlskov3 mit ihrer Familie mitten im Winter zu einem Kapitän genannten Mann in die schwedischen Wälder zieht, müssen sie zunächst für Brennholz sorgen. Weil sie es sofort verheizen müssen, kommt ausschließlich Totholz infrage. Wenn man totes Holz braucht, gibt es in diesen Jahren vor allem Eschenholz. Hymenoscyphus pseudoalbidus oder Falsches Weißes Stängelbecherchen heißt der Pilz, der aus Japan eingeschleppt, 2002 erstmals in Europa beobachtet und nachgewiesen wurde und nun nach der Ulme, die in unserer Gegend ebenfalls durch einen Pilz in den 1990er-Jahren flächendeckend getötet worden ist, die nächste klassische Baumart Mitteleuropas an den Rand des Aussterbens bringt. Im Fall der Esche hat möglicherweise der Klimawandel etwas damit zu tun, wie meistens auch der globale Handel, der eben auch ein globaler Austausch von Krankheiten ist, ob für Bäume, Tiere oder Menschen.
Im Frühjahr sah es nach der ganz großen Katastrophe aus, so wie bei den Ulmen, als innerhalb von drei Jahren der halbe Wald kahl gewesen war. Aber Eschen treiben fast als letzte Bäume aus, und als der Frühsommer kam, wurden die meisten Bäume doch grün, wenn auch häufig eigentümlich buschig und schütterer als sonst.
Hier ist es die Wipfelsonne, so beginnt es im Januar, wenn durch die kahlen Stämme des Buschs der rote Ball überm Horizont auftaucht. In der Stadt war es die Pannierstraßensonne, dann die Firstsonne, die Ende Januar ab zehn Uhr ein paar Viertelstunden lang Hoffnung gab. In der Stadt strahlte die Sonne aus Richtung Moskau in die Westostachse und schob den Wind vor sich her, der sich in die Stirnhöhlen fraß; hier liegt die Sonne gegen den Wind, der aus Westen, von der Nordsee her drückt. Bringt er Wolken, dann strahlt der Himmel auf dem Weg zur Kita und schon der Junge weiß, dass das schlechtes Wetter bedeutet. In Berlin war die Kälte trocken, hier ist sie feucht, durchdringt alles, legt die Blätter schwer auf den Boden, bildet Morast, der nach Moder riecht, wenn man ihn lüftet. Der Moder ist mir vertraut, wie auch der harte Lehm, der den Löss grundiert auf den Ebenen hinter der Alb, wo ich herkomme. Im Norden und Süden ist die Luft klarer, der Boden fester, das Auge findet leichter Halt. In Berlin ist der Boden sandig, haltlos, im Sommer ist die Luft erfüllt von feinem Staub, der sich in die Augen und in die Lungen setzt. In diesen Sommerstaub hatte ich mich verliebt, je weiter Richtung Osten, desto drängender und schmerzhafter wurde dieses Gefühl von Weite und Verständnislosigkeit und Tändelei. Ahnung einer Welt des plötzlichen Umschlags vom Brüten in die Aktion, einer Welt, in der die Grenzen unsicher werden, in der die Menschen sich in Wölfe und Kiefern und Mücken verwandeln und wieder zurück.
In einem alten Gartenbuch verweist Dahl auf die schöne Möglichkeit, in thematisch unterschiedenen Gärten ganz eigenartige Kombinationen von Pflanzen anzubauen. Am schönsten führt er die Idee eines Hexengartens aus, in dem er, inspiriert von mittelalterlichen Spekulationen über die Inhaltsstoffe der Flugsalben, ein paar Quadratmeter für die Aufzucht von Schierling, Kalmus, Kriechendem Fingerkraut, Mohn, Eisenhut, Tollkirsche, Nachtschatten, Schwarzem Bilsenkraut, Taumel-Lolch und Stechapfel im Garten reserviert.4 Diese Sammlung einiger der giftigsten und berauschendsten Pflanzen unserer Vegetationszone wird es natürlich niemals in einen Garten schaffen, der von Kindern bespielt und von Müttern überwacht wird (auch wenn niemand diese Pflanzen erkennen, geschweige denn beim Anblick um deren Giftigkeit wissen würde). Eiben stehen in Privatgärten neben Sandkästen, Goldregen hängt über Spielhäusern, Maiglöckchen locken in Gartenecken, Oleander wiegen sich in Kübeln auf Terrassen – überall sind giftigste Pflanzen ganz selbstverständlich dabei, aber wehe, irgendwo am Gehölzrand wächst ein Fliegenpilz – oder ein Flugsalbengarten wird bekannt.
Weiß der Vegetarier, dass die Pflanze in den meisten ihrer Teile nicht gegessen werden will und sich deshalb mit allen nur denkbaren Abwehrwaffen wappnet, worunter die Gifte wohl das allgemeine Mittel der Wahl sind? Mit einigen Pflanzen hat der Mensch einen unheimlichen Pakt geschlossen: Gegen Pflege, Schutz und Weiterverbreitung darf er ungestraft zugreifen und die Gifte herauszüchten, zumindest in Maßen, ohne dass die Pflanzen sich eine Alternative suchen. So geht es den Karotten, den Kartoffeln, den Gräsern, dem Obst, dem Kohl, dem Salat. Es sind Bündnisse, die etwas Unangenehmes haben, so wie manche Freunde in ihren Ehen verschwinden, sich aber in ihren Kindern, in ihrem gesellschaftlichen Einfluss ausbreiten, vom Gestutztwerden auf andere Weise profitieren. Nie hätte das chilenische Gewächs, die Kartoffel, ihren Siegeszug um die ganze Welt ohne den Menschen antreten können; trotzdem bleibt selbst die gekochte oder frittierte Knolle dem Menschen in gar nicht so großen Mengen giftig. Und so geht es mit allen Pflanzen, die der Mensch domestiziert hat; sie halten still, solange es ihnen nützt, sie führen den Menschen an der langen Leine, berauschen, beruhigen, erregen, nähren, heilen ihn, damit er sie weitertrage, ihnen einen Vorteil verschaffe. Manchmal kommt sich der Mensch dann allmächtig vor, spricht vom Anthropozän, dabei bedürfte es nur eines anderen Bündnisses, eines Konkurrenten, eines Außerirdischen, einer intelligenten Maschine, einer radikalen Veränderung der Umwelt, die den Pflanzen etwas Besseres oder einfach nur schieres Überleben anbieten könnte, und schon wäre es mit der Herrlichkeit der Gattung Homo sapiens vorbei.
Das Jahr beginnt mit dem ersten Grün, das sich überall aus dem Boden schiebt: den lang gezogenen, umgedrehten Herzen des Bärlauchs, den vertikalen Schlangenmünden der Narzissen, den Stäbchen der Traubenhyazinthen, den Büscheln der Schneeglöckchen, die dazu schon erstes, noch eingerolltes Weiß leuchten lassen. Gleich der nächste Schritt aber sind die Wolken, die in den kahlen Wäldern auf einmal hängen wie eine verirrte Nebelwand, nur lebendiger, gelbgolden, das sind die Haselkätzchen, die schon im Vorjahr gebildet, sich nun bald öffnen werden, sobald sich die weiblichen Blüten, die oberhalb der männlichen an den Ästen sitzen, in, hier ist keine Übertreibung möglich, herrlichstem Purpurrot öffnen, eine Pracht, die man suchen muss, denn die Blüte ist bis auf den Griffel versteckt. Fährt ein leichter Wind durch einen großen Haselbusch, können Wirbel von goldenem Staub die Luft für Momente trüben; später im Jahr variieren die Weiden dieses visuelle Spiel akustisch; auch hier muss man nahe heran, um das Summen und Brummen der Insekten zu hören, die eine blühende Weide zu Zehntausenden besuchen. Das nahe Stillstehen – eine gewinnbringende Fertigkeit hier bei uns.
Aus dem Badezimmerfenster gesehen verläuft die Spur von links unten aufwärts, bis sie aus dem Bild, das der Fensterrahmen begrenzt, herausführt. Die Spur hat die Form eines schräg gelegten S; sie entspringt zwischen Waschküche und Kräutergarten, nähert sich der Terrasse des Wintergartens und dem großen Johannisbeerstrauch an, dann führt sie in die Mitte des Rasens zwischen altem Kirsch- und nicht so altem Glockenapfelbaum und dem Falschen Jasmin, läuft in dieser Kurve auf den zerfallenen Gartenzaun und die daraus hervorgeschossenen Hofschlehen zu, einer Kreuzung aus Schlehe und Pflaume, bevor sie sich neben den Schneeglöckchenfeldern zum Hühnerhagen wendet. Weiter kann ich ihr von hier aus nicht folgen, aber ich weiß, dass sie sich an der Feuerstelle gabelt: Ein matschiger Weg führt weiter nach links, erst hinunter in den Graben, in dem die Weide steht, die keine fünfzehn Jahre alt, aber schon ein mächtiger Baum ist, kurz davor, morsch zu werden und dicke Äste zu verlieren, auf dass sie im Matsch neue Wurzeln schlagen, eine ihrer Fortpflanzungsarten, die nur noch abseits der vom Menschen bearbeiteten Flächen funktioniert, dort aber zu Weidenwäldern führen kann, einer Gemeinde von Klonen, gewissermaßen eine krankheitsanfällige Sackgasse, wenn auch eine gebietsweise äußerst erfolgreiche (und, man ziehe die Analogie zum Menschen oder zum Tier: Was wäre das für ein Wesen, das, Körperteile verlierend, sich fortpflanzt? Wäre das schrecklich? Oder ein Grund zur Hoffnung?); dann geht es zum Feld hinauf, das jetzt kein Feld mehr, sondern ein Rasen (Mischung Berliner Tiergarten) mit einem Teich darin ist, abgetrennt durch einen Jägerzaun, der Kinder wegen, unserer, der Enkelkinder des ehemaligen Bauern, aber am wahrscheinlichsten der guten Nachbarschaft wegen, die dem Volksmund zufolge von Zäunen profitiert. Dann an diesem Zaun entlang bis zum Ursprung des Bachs. Dort verliert sich der Weg im Gestrüpp, bis er ein wenig weiter hinten wiederauftaucht, schwierig zu erkennen, aber den Füßen intuitiv zu eigen, schlängelt er sich am Bach entlang bis zu einer der Hütten, die die Kinder hier und da aus alten Brettern errichten. Hier ist diese Abzweigung wirklich zu Ende, ein Pfad ist kein Pfad mehr, wenn es beliebig viele Wege neben ihm gibt, wenn keine vorzügliche Benutzung erkennbar ist. Geht man zurück, dorthin, wo sich der Weg gegabelt hat, dann steht man vor einem ähnlichen Problem: Mehrere Möglichkeiten tun sich auf, kein Pfad, eine Fläche bietet sich an, die aber hier und da wieder Wege gebiert, dann, wenn die Umgebung nichts anderes zulässt oder der Untergrund es vorgibt. Solcherart Pfade folgen der Topografie genauso wie sie dem glitschigen Untergrund ausweichen, aber auch herabhängenden Ästen (wie bei der zweiten Rechtskurve des s-förmigen Wegstücks) oder Winden, Schneeglöckchenbüscheln oder Arealen zu freien Sichtfeldern für die Nachbarn, die Kinder, den Partner, Zonen der Schutzlosigkeit, denen der Pfad ausweicht. Wege legen sich nicht auf Landschaften (oder Gärten), sie werden gelegt von den Landschaften (oder Gärten), sie werden gefordert. Menschen formen Landschaften, wie das Wort selbst schon anzeigt. Aber geschaffen wird das Land nicht nur dem menschlichen Willen nach, sondern den Anforderungen, die es an den Menschen stellt, den Gelegenheiten, die es anbietet. Der herabhängende, den Pfad zur Kurve zwingende Zweig des Apfelbaumes ist eine solche Gelegenheit, die den geraden Weg versperrt. Solche Landschaften sind häufiger an obskuren Rändern zu entdecken: an Bahndämmen, auf Baustellen wie in Baulücken, an Uferrändern, in Parkanlagen, wo sich Trampelpfade schräg zwischen die vorgesehenen Wege schieben. Asphalt und Stein weisen ebensolche Wege auf, sie sind nur nicht sichtbar, so wie die virtuellen Wege in den Codes ablesbar sind, in den Statistiken. Ein Land zu verstehen, mag durch das Abwandern seiner Wege nicht am allerschlechtesten gelingen, wobei die Erkenntnisse von der Art der Wege abhängen. Spontane Pfade durchs Gelände zeigen etwas anderes, sie sind in höherem Grad Geplänkel zwischen Welt und Mensch als gepflasterte oder geteerte, also geplante Wege oder Straßen, und diese wiederum mehr als Gänge durch die Virtualität.
Beim Einräumen der Holzscheite vom letzten Jahr in den kleinen Schuppen, aus dem ich sie dann während des kommenden Winters ins Haus holen werde, entdecke ich auf einem Kirschholzscheit einen beigefarbenen Puschel, groß wie ein Fingerglied, von watteartiger Konsistenz. Ein Pilz, denke ich zunächst, dann aber, bei genauem Hinsehen, zeigt er sich am Boden durchsetzt mit kleinen Kügelchen von gleicher Farbe. Vielleicht das Gelege einer Spinne? Einer Raupe? Ich bringe das Scheit in die Werkstatt und nehme mir vor, es bald zurechtzusägen und den Teil mit dem Puschel in ein Schraubglas zu tun, um zu sehen, was möglicherweise daraus schlüpfen wird. Das eine tun, aber schon an anderes denken – Darwin war so sicher nicht, aber ich habe auch nicht vor, eine Theorie zu entwickeln. Ich beobachte, lasse mich leiten. Die eine Beobachtung führt zum nächsten Gedanken, von der tierischen zur pflanzlichen Wucherung. Ja, zu Pflanzen, deren Gesamtheit den meisten Menschen als eine Wucherung erscheint, die aber einfach bloß in einer kleineren Dimension bereitstellen, wovon die meisten Menschen träumen. Der Winter ist die Jahreszeit der Moose, Flechten und Pilze und hier draußen im Garten, drüben in der Klamm oder bei meinen Läufen durch den Riesebusch begegne ich überall diesen weltenschöpfenden Pflanzen. Weltenschöpfend, weil sie wie kaum eine andere Pflanze nicht nur sich selbst, sondern eine ganze Landschaft darstellen, eine ganze Welt. Cladonia fimbriata, die Trompetenflechte, die ich am um 90 Grad gedrehten Wurzelstock eines vor Jahren von Wind und Wasser umgedrückten Baumes emporwachsen finde, stellt dem Betrachter eine Szene wie aus einem Science-Fiction-Film vor Augen: Gleichmäßige graugrüne Türmchen erheben sich und enden in ebenmäßigen Schalen, in denen bequem ein kleines Raumfahrzeug parken könnte. Eine andere Vertreterin, die jeder von Steinfugen in Gehwegplatten kennt, ist Tortula muralis, das Mauer-Drehzahnmoos, das ursprünglich auf Kalkfelsen wuchs, aber auch nichts gegen den Beton der Mauern, Gehwege, Parkhäuser hat. Auch nicht besonders viel gegen den Ruß in der Großstadtluft, weswegen nicht nur in Stuttgart mit Mooswänden zur Luftreinigung experimentiert wird und man vorgefertigte Mooswandelemente für das eigene Wohnzimmer kaufen kann. Jeder mit wenig Platz und einem schattigen Eckchen sollte sich ein Tortula besorgen und eine Lupe. Aus der Nähe betrachtet, sieht man einen exotischen Wald, eine eigentümliche Wiese oder etwas ganz anderes, in jedem Fall eine ganze Landschaft. Auf einem Brocken herabgefallenen Mauerwerks wächst es vorzüglich, solange man es feucht hält. Ergänzt man das Biotop um ein totes Stück Holz, dann lockt man Verwandte an; fügt man außerdem ein paar Blätter, im Herbst mitgebracht, zerbröselt an den Rand dazu, kann man mit dem Beobachten beginnen. Hat man keinen Balkon, dann kann man ein Stück Moos samt Stein oder Holz in ein Glas legen, ein wenig Wasser dazugeben und experimentieren. Keine volle Sonne, nicht zu warm – und dann einfach beobachten. So hat man den eigenen Wald in einem Marmeladenglas und versteht möglicherweise gleichzeitig ein wenig die Welt aus der Moosperspektive. Unsere Städte, diese sehr schnell wachsenden, kalkhaltigen Kleingebirge voller geeigneter Wuchsflächen, sind ein Geschenk an Tortula und Konsorten. Das mag ein wenig beruhigen, wenn man gerade einen Artikel über Bodenversiegelung oder die Luftverschmutzung in den Städten liest.
Wirklichkeit der Selbstversorgung. Wer weiß schon, woher der Strom kommt, der das Wasser für den Kaffee erhitzt? Das ist eines der vielen Geheimnisse, die innerhalb eines halben Jahrhunderts um uns herum erwachsen sind. Überall kappen wir Verbindungen, wir merken es nicht einmal. Alles ist so neu, überall Gespenster. Im Warmhaltefach des Ofens steht der Teekessel. Zweimal am Tag fülle ich ihn nach, mindestens eineinhalb Liter heißes Wasser schütte ich täglich aus ihm in den Wasserkocher, der mit 1600 Watt die letzte Differenz überbrückt, bis das Wasser kocht. Es ist nicht viel, aber jeden Tag spare ich auf diese Weise 0,07 kWh, etwa zwei Cent, nicht viel, aber immerhin 26 kWh im Jahr, etwa 0,5 Prozent unseres Stromverbrauchs, nicht ganz acht Euro. Das hört sich schwäbisch an, ist aber eigentlich nur ein kleines bisschen mehr an Sein, denn ich weiß, wie diese acht Euro entstanden sind, und das ist eine ganze Menge.
Und schon beginnt der Kopf nach weiteren Nischen zu suchen, weiteren Orten der Mäßigung, des Eigenen, und es macht überhaupt nichts, dass das Ersparte eines Vierteljahres ohne Probleme in einer einzigen Berliner Nacht wieder zum Teufel geht.
Die Rinde des Eschenholzes, das ich Ende des Monats zu verfeuern beginne, ist durchlöchert von Anobiumpunctatum, dem Gemeinen Nagekäfer, besser bekannt als Holzwurm. Das Holz ist mit Staub bedeckt. Löst man die Rinde ab, eröffnet sich ein Labyrinth aus kurvigen Gängen. Nur ab und zu findet man eines der Tiere außen sitzen. Wie Tortula ist auch dieses Wesen dem Menschen auf der Spur, denn es ernährt sich fast ausschließlich von Totholz. Holzstapel und verbautes Holz liebt es, vorzugsweise in feuchten, kühlen Räumen. Ursprünglich war es Teil der Putzkolonnen, die tagein, tagaus am Aufräumen sind. Es gibt die Müllproduzenten und die Müllwerker. Dieses Tierchen verhindert, dass die Erdoberfläche unter einer Schicht aus Tod versinkt. Es zerkleinert unermüdlich, verarbeitet Material, damit andere es weiterverarbeiten können. Leise und effizient setzt diese Wertvernichtungskette ihr Werk fort, wie die Fliegen und die Bakterien und die Pilze, Agenten der Entropie allesamt, Vertreter der Ruhe, der Gleichheit, des Friedens auf Erden. Denn den Krieg beginnen nicht diejenigen, die ihre Eier in Leichen legen, nicht die, die Kot fressen, sondern die, die Bücher schreiben oder Musik, die Bilder malen und Paläste bauen, die forschen und Gott erfinden. Mit Flammenwerfern, schreibt Nossack5, mussten die Leichenräumer durch die rauchenden Trümmer Hamburgs sich die Wege freibrennen, durch die Wolken riesiger Schmeißfliegen, die von den Leichenbergen aufstoben. Fingerlange Maden krochen darüber, riesige Ratten huschten drum herum. Die Flammen waren unerlässlich, um die Toten bergen zu können, ohne zu ersticken, ohne zu erblinden vor der Unzahl an Insekten, die auch in ihnen den Tod witterten.
Nackt liegt das Land, eine in sich eingezogene Nacktheit, die Stillleben produziert, wo man auch hinsieht. Blättergerippe, wie zur Faust geballtes Laub, ein bleicher Kieferknochen, verblasste Hortensienblüten am Strauch, leuchtend rote Hagebutten. Hier und da bückt sich der Mensch und birgt einen Schatz, nutzt einen Moment, sich zu öffnen. Solche Funde sind nicht immer flüchtig, manche verbringen Jahre und Jahrzehnte in einem Winkel, in einer Kiste, einer Tasche, in einem Karton. Findet man jetzt ein im Überfluss des Vorjahrs in ein Buch gelegtes Rosenblatt, reicht schon der Anblick, um den Geruch lebhaft – nicht zu erinnern, nein, wahrzunehmen. Der Dunkelheit draußen setzen die Dinge Netze aus Erinnerungen entgegen. Man hätte Blütenblätter sammeln und auf Flaschen ziehen müssen, die man dann zusammen mit Freunden am Ofen bei Wein geöffnet hätte.
Kein Mensch kennt den Torpor aus eigener Erfahrung, diese Fähigkeit der winterschlafenden Säugetiere, den Kreislauf stunden- bis monateweise auf ein Minimum herunterzufahren, keine oder kaum noch Nahrung zu sich zu nehmen, selbst auf Flüssigkeit lange verzichten zu können. Am nächsten kommt der Mensch diesem Zustand sicherlich über den Umweg der seelischen Zerrüttung, dann nämlich, wenn ihn die Niedergeschlagenheit erstarren lässt, ein Stupor, ein Zustand der Bewegungslosigkeit, des fehlenden Antriebs. Eine Freundin schrieb einmal über die Tage, an denen sie auf dem Sofa saß und nicht in der Lage war, die Vorhänge zu öffnen, der Stoffwechsel der Seele heruntergefahren. Ein Tier im Torpor hat in diesem Zustand Chancen, den Winter zu überleben (allerdings sterben trotzdem die meisten Mäuse und kleinen Vögel, ganz zu schweigen von den Insekten in ihrer Winterstarre, die vom Tod nur durch ein wenig Zucker geschützt sind, der den Frost in den Arterien bis zu einigen Minusgraden verhindern kann); ein Mensch im Stupor überlebt schon den Sommer kaum ohne Hilfe, den Winter gar nicht. Der menschliche Körper produziert ununterbrochen Wärme, und der Mensch kann diese Wärme durch Kleidung, Decken, Hauswände zu einem guten Teil davon abhalten, für immer verloren zu gehen, und muss doch ab einem gewissen Punkt zusätzliche Wärme erschaffen, sobald er sich in Gebieten aufhält, die seine Körpertemperatur langfristig absenken. Mit einem Wort: Er braucht Holz, das er verbrennen kann, und in diesem Bedürfnis liegt einer der großen Unterschiede zwischen dem Mängelwesen Mensch und dem vollständigen Tier. Der Mangel an tierischen Überlebensfähigkeiten und der Ersatz, den der Mensch findet, das ist gerade das spezifisch Menschliche. Es sind die Ausdifferenzierungen, die jede Ersatzhandlung erfährt, die den Menschen besonders machen und seine – oft verderbliche Art – der Naturformung bedingen. Wie weit es ist von einem offenen Lagerfeuer bis zu einem modernen Kamin mit einem Wirkungsgrad von 90 Prozent! Das Tier muss sich einverleiben, was der Mensch außer sich verwandelt, um sich im Prozess der Verdauung und der Verbrennung zu wärmen. Nichts ist an einem Ofen natürlich. Ein Ofen, das darin brennende und wärmende Holz, das Wissen um Feuer, Rauchgase, Trocknungsmethoden, das alles sind urmenschliche Eigenschaften. Dem Tier und seinen Methoden begegnet der Mensch nur am Tiefpunkt seiner Existenz, in der Krankheit. Im Menschen ist die Evolution nach außen getreten, in die Beziehung, in die Geheimnisse der Zusammenhänge, in die Wissenschaft und in die Institutionen.
Der Kobold, der in einen Ahornast gefahren ist und sein Bild erstarrt zurückgelassen hat, steht seit einem Jahr auf einer Ecke meines Schreibtisches. Die Wärme hat ihn getrocknet, die Trockenheit gespalten, aber immer noch sieht man sein faltiges, ärgerliches Gesicht und die aufgerissenen, muskulösen Hinterbacken mit dem offenen Anus. Überall findet der aufmerksame Blick solche Nachbilder der Waldbewohner, meist Gesichter, seltener vollständige Körper. Beim Gang durch die Wälder entdeckt man überall Spuren, manche stabiler als andere. Wenig Gemeinsamkeiten haben sie; faltig sind sie meist, schlecht gelaunt oft, manchmal sind ihre Gesichtszüge grausam, verächtlich, hinterhältig. Warum die Bäume diese Fähigkeit besitzen, Momente einzufangen, weiß niemand, aber sie besitzen sie und bezeugen so eine Welt, die ansonsten nur den Empfindungen wirklich ist, wenn eine plötzliche Wut, ein schadenfroher Gedanke, eine Intrigenmöglichkeit uns ereilt. Auch im Menschen blitzen diese Züge regelmäßig auf, werden aber nur sehr unzureichend konserviert.
Die Au ist seit dem Sommer außer Rand und Band. Wo sie am Wald entlangfließt, da fallen die Bäume reihenweise, sie löst das Erdreich, erstickt die Wurzeln, und die Stürme tun ein Übriges. Das Wasser der Au ist schlammig, schmutzig beige rollt es durchs Tal. An den Brücken gurgelt es in wilden Strudeln. Einer der beiden Wege, die zum Dorf führen, war dieses Jahr ein halbes Dutzend Mal überschwemmt. Selbst wenn das Wasser zurückgeht, passt es nicht mehr in den alten Lauf. Es ist so viel Wasser da, die Wiesen sind überschwemmt, die Au hat viele breite Arme. Ein Fluss ist viele. Überall schickt er seine Botschafter vor, lässt sie auskundschaften, wo es sich auszubreiten lohnen könnte, wo die Schwachpunkte sind. Ein Fluss ist nicht, sondern wird. Jeder Regenschauer, jedes bisschen Schnee, die Ausscheidungen der Sterne, der Tau. Immer wieder fließt das Wasser der Au in die Trave, die Ostsee, verdunstet, steigt, ballt sich zu Wolken, regnet übers Land. Der Regen, der Tau, der Dunst – die Moleküle, die in Kühen und in Menschen, im Wein und im Speichel der Widerworte gewesen sind, alle fließen, sickern, brausen erneut in die Au, testen die Hänge und überwälzen die Sümpfe.
Immer und immer wieder.
Auf einem Schild im Riesebusch, das vor dem Betreten des dahinterliegenden Weges warnt, weil aus Renaturierungsabsicht keine forstliche Wegesicherung mehr unternommen wird, wird spekuliert, dass die menschlichen Spuren, vor allem der Weg selbst, bald nicht mehr zu erkennen sein werden. Selbst da, wo sich der Mensch zurückzieht, über- oder unterschätzt er sich. Dieser Weg wird noch sehr lange zu sehen sein, so wie die Wälle der alten Burg noch nach achthundert Jahren zu sehen sind, so wie in dem amerikanischen Ostküstenwald die Protagonisten in Updikes Erzählungen Spuren ihrer Vorgänger in Form von lang gezogenen Hügeln finden, die wie Narben Gewesenes im Wald verdecken.
Lange und halb vergessen lag es, bis ich ihm wiederbegegnet bin, ein Gedicht über eine Handvoll Schneckeneier, die ich vor nicht ganz vier Jahren auf der Datsche in Treptow beim Kompostwenden gefunden hatte. War es so kalt gewesen, dass ich den ganzen Winter über nicht an den Haufen gegangen war? War die Erinnerung an den einmal dort vom Freund aufgespießten Igel so frisch? Wie auch immer, ich arbeitete mich mit der Grabgabel langsam vor und fand etwa in der Mitte, eher am Rand eine Kugel, groß wie ein Tischtennisball, die wiederum aus lauter kleinen, blendend weißen Kügelchen bestand. Nie zuvor hatte ich Schneckeneier gesehen, diese hier, wie ich später herausfand, von einer Nacktschnecke stammend. Ich wusste nicht, was ich da vor mir hatte, aber gleich fiel mir ein, dass die alte Weisheit, kein eiweißhaltiges Leben halte es im Innern eines Komposthaufens aus, weil die Temperaturen dort angeblich über 70 Grad ansteigen, nicht stimmt. Aber wie meistens, wenn mir eine Erkenntnis dämmert, hatte diese schon jemand vor mir gehabt, in diesem Fall niemand Geringeres als Darwin, der den Mythos vom sterilisierenden Komposthaufen einfach durch die Entnahme von zwei Händen Komposterde erledigte, die er in steriler Anzuchterde keimen ließ und sämtliche beobachtbaren tierischen und pflanzlichen Spezies auflistete.
Wie meistens, wenn ich einen Fund mache, steckte ich ihn ein, um ihn später weiter zu beobachten. In der Praxis vergesse ich meistens, was ich eingesteckt habe, außer, es handelt sich um kiloschwere Steine oder verfaulende Früchte, wie neulich die gefrorenen Früchte eines der Ginkgobäume vor dem Bundeswirtschaftsministerium, die im Bus auf dem Weg zum Hermannplatz plötzlich wie eine Tasche voll ungewaschener Socken rochen, als sie aufzutauen begannen. Mit den Schneckeneiern, schon bevor ich sie als solche sicher erkannt hatte, musste ich vorsichtiger verfahren. Die Konsistenz meines Fundes ähnelte überdimensionierten Kaviarkügelchen, sie waren bestimmt sehr empfindlich, und ich konnte mich nicht überwinden, eine davon platzen zu lassen. Also verstaute ich sie in einem leeren Instantkaffeeglas und nahm sie mit nach Hause, wo ich sie in eine Ecke des Schreibtischs stellte, sie nachmittags den Kindern zeigte, um dann jeden Tag ein paarmal hineinzusehen. Dann, ein oder zwei Wochen später schlüpften die ersten winzigen Schnecken. Ich machte gleich mehrere unter dem Deckel aus, vielleicht waren sie über Nacht aus den Eiern gekrochen. Ich nahm den Deckel ab und betrachtete sie, halbtransparent, die Organe erahnbar. Ich gab ihnen ein welkes Salatblatt, klickte den Deckel wieder zu, zeigte auch diese neue Entwicklung den Kindern – und dann vergaß ich das Glas langsam. Nicht sofort, aber nach und nach. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf, die Schneckenkinder fraßen, was sie fanden, dann war es vorbei. Als ich das Glas entsorgte, war von den Schneckchen nicht mehr geblieben als einige Schleimspuren am Glasrand.
Noch viel später lieh ich das Schnecken-Buch von Florian Werner aus.6 Im ersten Sommer auf dem Land sammelte ich so viele Schnecken ein und grub so viele Eier aus, dass der Zauber verflog. Zu Unrecht, denn ein Wunder bleiben diese Tiere mit ihren rein von Muskelkraft und Säften erhaltenen Hydroskeletten ohne Zweifel: kriechende Schwellkörper, vollkommen kontrollierte, bewegliche Ganzkörperpenisse, wie Werner schreibt.
Ist man erst mal dabei zu beobachten, findet man überall den mit Experimenten beschäftigten Menschen. Aus Lupinen soll europäisches Eiweiß werden, Sojaersatz. Man muss ihnen nur die Bitterkeit herauszüchten und schon könnten die Blumen, die jedes Jahr wie Harlekine an den Böschungen der Autobahn stehen und die letztes Jahr hier bei uns von den Schnecken ratzekahl aufgefressen wurden, den Feldern dieses Landes einen provenzalischen Farbton verpassen, ein blaueres Blau noch als das des Lavendels.
Im Wald entdecke ich Zunderschwämme an kranken Buchen. Hart wie Stein sind sie, wenn man darauf klopft. Irgendwann einmal werde ich versuchen, einen abzuschneiden und ihn zu entnehmen. Im Netz findet man komplizierte Herstellungsverfahren für die sogenannten Feuerschwämme, aber vielleicht geht es auch einfacher.
All das sind tastende Versuche, eine vergangene Geisteshaltung zu verstehen. So hoch spezialisiert wie heute sind wir noch nicht sehr lange. Und Spezialisierung, so notwendig sie auch ist für eine komplexe Gesellschaft, ist der Rückzug in die Höhle. Ins Vertraute, zu dem, was man noch kennt, erkennt, überhaupt noch sehen kann. Immer weniger sehen, das ist nicht, was ich will. Mehr sehen will ich, direkter leben. Anfassen können. Heute entfernen sich Realität und Wirklichkeit, indem wir die Wirkungen wahrnehmen, aber immer weniger verstehen. Und weil wir die Wirkungen der Dinge, ihren wilden Tanz, nicht mehr verstehen, ihn noch nicht einmal mehr fühlen, werden die Magier wiederkommen, denen wir dann vertrauen müssen, weil wir es nicht mehr anders wissen und können.
In die Wälder gehen, in den Garten, Erde greifen, Früchte, Wucherungen ist das Gegenrezept. Die Dinge durch Anschauung, Anordnung und Mischungen in Schwingung versetzen, sie mit menschlichem Geist aufzuladen. Auf solche Art, im Greifen, geschieht das Begreifen.
Am 3. Februar fusselten die ersten Flocken im Licht am Holzstall, den darauffolgenden Tag schneite es frühmorgens. Der Tag blieb weiß, aber auf zurückhaltende Art. In der Nacht auf den 5. Februar schneite es weiter, diesmal waren es fünf Zentimeter Neuschnee. Der Winter ist endlich da, nach einem langen, unentschlossenen Anlauf. Aber es ist ein anderer Winter, als er es im Dezember gewesen wäre oder im Januar, jetzt, da die Schneeglöckchen in Sträußen unter den Büschen stehen und zusehen, wie sich die Elemente spreizen.
Wir sind am Ende der Neugier. Der Schnee wurde angekündigt durch das Reiben eines Hochs im Norden und eines Tiefs im Süden und kam verlässlich. Das Wetter ist eine Lage, die bewältigt werden muss. Uns wird eine Aufgabe gestellt, die abgearbeitet werden will. Kinder helfen für Momente, wenn sie einen zu einer Schneeballschlacht drängen oder zum Bau von Schneemännern; in solchem Spiel muss dann nichts mehr bewältigt werden, darin erhebt man sich auf eine ebenbürtige Ebene. Die Edda berichtet von Skadi, der Göttin des Schnees, der Jagd und des Skifahrens, die ihr Element liebte, die weiten, klaren Landschaften, die Lichteffekte in der Kristallunendlichkeit. Sie war mit Njörd, dem Gott des Meeres verheiratet, eine unglückliche Verbindung, denn Skadi mochte das Meer so wenig wie Njörd den Schnee und die heulenden Wölfe der Berge. Das Paar versuchte es mit abwechselnden Wohnsitzen, was Skadi so zur Verzweiflung brachte, dass sie das Ehebett entzweibrach und sich dessen Latten als Skier unter die Füße schnallte, um so schnell als möglich zurück in den Schnee zu gelangen. Die alten Geschichten waren vielleicht schon immer weniger am Glauben als an der Verbindung interessiert – so wie der angekündigte Schnee für seinen Zauber die Nacht und das schwache Morgenlicht brauchte. Sie waren interessiert am Sinn, der zuallererst darin lag, das Beste daraus zu machen, sich einzulassen auf das Äußere. Vorpsychologische Zeiten waren das, durchlässige Zeiten. Skadi, die über die Schneeflächen streift, während ihre Cousine, die Lichtgöttin Brigid, schon ihr erstes Fest gefeiert hat, in der Nacht vom ersten auf den zweiten Februar. Die Göttinnen greifen ins Weite und ins Tiefe, auf den Straßen der kleinen Stadt aber sitzen die Menschen in beheizten Höhlen.
Ein Bild aus Gartenfarben malen. Winterträume. Für das Blau könnte ich die Beeren der Mahonie nehmen oder des Schwarzen Holunders, die beide an der Straße wachsen. Verschiedene gelbe Farbtöne würden Rainfarn, Schafgarbe, Ringelblume, Wiesen-Kerbel, Schöllkraut oder die innere Rinde der Mahonie liefern. Helena Arendt empfiehlt auch die Kanadische Goldrute, die Nemesis der Teltower Datschenbesitzer.7 Sumpfdotterblumen stehen am kleinen Teich und im sumpfigen Teil des Busches, sie sollen angeblich einen orangenen Farbton ergeben, genauso wie Mädchenauge und die einfache Zwiebel. Zum Grünfärben soll die Brennnessel dienen, von der hier mehr als genug sprießt. Blutweiderich wächst ebenfalls am Bach und Teich, er ergibt einen Rotton. Der rote Amarant genauso wie die Rote Bete aus dem Gemüsebeet, Himbeeren und Johannisbeeren sind weitere Rotlieferanten. Braune Töne schenken die Walnussschale, der Dost, der sonst als Oregano auf die Pizza kommt, die Pfingstrose und das Schöllkraut, das hier wie überall an Wegrändern wächst und an seinem orangefarbenen Milchsaft zu erkennen ist, der angeblich von Schwalbeneltern dazu benutzt wird, die geschlossenen Augen ihres Nachwuchses zu öffnen. Schwarz schließlich färbt die Rinde der Edelkastanie (aus deren Früchten man auch Waschpulver machen können soll) und die der Eiche. Alle diese Pflanzen wachsen in einem Umkreis von fünfzig Metern um mich herum. Oder vielmehr werden wachsen. Und die Frage ist, oder viele Fragen sind, wann sind sie reif zum Ernten der Farben und wie ernte ich, wie extrahiere und trenne ich die Farben von den nicht gewünschten Pflanzenstoffen, das Fasrige vom Flüssigen, das Färbende vom nur Nässenden. Wie mache ich die Farben haltbar, welche mische ich beispielsweise mit Asche, welche sind aus sich selbst heraus stabil, denn wenn ich malen will oder färben, dann müssen alle Stoffe ja gleichzeitig vorhanden sein.
Nicht, dass ich wüsste, was ich malen sollte.
Nicht, dass mich das sonderlich interessieren würde, angesichts der Tatsache, dass sich Garten und Grundstück als ein großes Depot einer Farbenmanufaktur erweisen könnten.
Der stöhnende, knirschende See. Das ächzende Eis, das wie ein gespanntes Drahtseil singende Eis, das grollende, donnernde Eis, das gurgelnde Wasser, seiner Metamorphose schmerzhaft bewusst. Das singende, klatschende, jubelnde Wasser auf dem weichenden Eis. Der raschelnde, wiederkehrende, wieder fliehende Winter. Das Wasser in seinen tausend Formen, dieses unergründliche Element, das Wasser in seiner magischen, alles grundierenden Dipolarität. Der See, der Gefährte, der See, die Schatzkammer, der Austeiler, der Geizhals, der Verschwender, der See, der Maler, der Lockende, der Verderbende, der alles Verwischende, alles auf sich Ziehende, der See, die zerstoßene, zerflossene, aufgeweichte Symphonie. Der tönende See, der krachende, berstende, knirschende See. Der summende, knicksende, pfeifende, wirbelnde, klackernde See, das Monster, die Sirene, die klare Jungenstimme, die Stimme der Liebe, der Weite, das Schaben der Winde, das Heulen der Hexen, das Gurgeln der Ungeheuer, das Zerschmettern der Wellen unter den Rümpfen des Wahns, das heisere Heulen der Wölfe an seinen Ufern, das Zischen des Hasses, des Zerreißens von gläsernem Eis, die Erinnerungen der Kristalle, die Zwischenzeiten des Staubes, das Kreischen der Motorschlitten der Fischer, das Motorenwummern der schweren SUVs der Oligarchen, das trockene Ploppen der Schüsse und Korken, die Töne der Trunkenheit, das Pfeifen der Egos, die Rufe der Männer beim Sprung ins Eisloch, das Pochen der Herzen, das Pulsen des Blutes, das Flüstern der Gedanken.
Das Krächzen eines Raben über flaschengrünen zentimetertiefen Pfützen. Das Flüstern, Reiben und Stauben der Haselkätzchen (gibt’s die da?), die Schreie, das Schreien, der eine Schrei, das Bild, die Bilder, der See, der Frühling, die Wärme, das Blut, das in Fingerspitzen und Eichel schießt. So, stelle ich mir vor, war’s, als Tesson8 ein halbes Jahr in Sibirien am Baikalsee gelebt hat, all diese Töne, die Laute, das Japsen. Zusammengedrängt in einem Gefühl und gedämpft ist alles auch hier, an dem kleinen See des Bauern gegenüber, den er im Spätsommer hat ausbaggern lassen, als »gestaltendes Element der Hofanlage«, wie er mir erklärte, umfasst mit einem Jägerzaun auf unserer und mit billigen Baumarktelementen auf seiner Seite, dazu Rasen. Kaum einmal geht einer ans Ufer von drüben, das Wasser lockt nicht, das Wasser ist Gefahr, ist Teil eines Ensembles. Einmal, im Januar, verlor der See innerhalb weniger Tage fast einen Meter Wasser, als ob er sich davonmachen wollte; er hatte eine alte Drainageleitung entdeckt und geöffnet, sprudelnd erschien er auf unserer Seite, lustig quoll er auf wie ein bräunlicher Pudding im Bachlauf. Der Nachbar kam später auf das Grundstück, ohne zu fragen, ihm gehört zwar nicht, was er betritt, er ist aber souverän auf diesen 30 Hektar rund um sein Haus. Er fängt den See wieder ein, Tage später ist das Rohr entfernt und der See läuft wieder voll. Ich erzähle ihm von Tessons Tagebuch und dem See in Sibirien und welche Sprache dort gesprochen wird. Es ist auch seine Sprache, leiser, weniger dramatisch, aber mit ähnlichem Vokabular. Jetzt, nach Einbruch der Kälte, zieht sich am Nachmittag eine dünne Folie über die Wasserfläche. Sie erstarkt über Nacht, schmilzt in Teilen an den Tagen ein, wie Zinn auf dem heißen Löffel verschwindet das Feste in sich selbst, so wie der Trunkene in sich selbst verschwindet. Gibt es ein Wort für das kalte Wasser, das nicht gefriert? Das seltsamste der Elemente. Das Eis ist nicht begehbar, aber es schabt und kratzt und bewegt sich, es ist das gleiche Element, auf einer anderen Bühne zwar, aber mit dem gleichen Potenzial.
Die Kälte zieht am Ofen, der jetzt zwei Stunden weniger die Wärme hält. Bis zum Morgen sinkt die Temperatur im Flur auf 16, im Wohnzimmer auf 18 Grad ab. Ich verbrenne nun so viel Holz, dass der Kessel kocht, ich höre ihn sieden, und die Räume sind bald selbst auf Schreibtischhöhe 25 Grad warm. Ich sitze im T-Shirt am Schreibtisch, draußen minus 6 Grad. Ein Geruch wogt in den Raum hinein, ein Gewebegeruch, pflanzliches, tierisches und menschliches Gewebe. Aber der Geruch braucht auf zweierlei Art die Wärme als Trägermedium, den Pheromonen Beine zu machen und den Körper aufnahmefähig. Die Kinder kommen herein, ich hänge Schneehosen, Jacken, nasse Handschuhe, Schals und Mützen auf die Ofenklappen, stelle die Schuhe darauf, braue eine Atmosphäre aus Skikeller und 1970er-Jahren.
Draußen die Sonnenfarben des Februars, dieser milde Überdruss, diese Verheißungen der kommenden warmen Tage, dieses Gefühl, nicht vollkommen gemeint zu sein, dieser Moment, in dem ich erkenne, dass andere besser dazu geeignet sind, die Gelegenheiten zu packen und bis zur Neige auszukosten, diese Zeigerfarbe für Vollständigkeit und Fülle, die so schon über jedem Winterhorizont meines Lebens gestanden hat.
Vor ein paar Tagen habe ich begonnen, das Holz zu spalten, das wir im Januar geschlagen haben. Ich genieße es, gehe langsam vor, habe ein Wort mir selbst geschenkt: Zwei Würfe spalte und stapele ich jeden Tag, wobei ein Wurf genau der Menge entspricht, die man vom Rundholzstapel aus zum Hackklotz mit beiden Händen werfen kann, ohne außer Atem zu geraten. Ich achte auf meinen Atem. Wann ist es genug? Wann ist es noch ein Wurf, wann etwas anderes, wann ist es noch kein Wurf? Die Wörter schweben in Wolken aus Erfahrung, Vorurteilen, Erlebnissen, jedes Wort ist wie die DNA einer Zelle, die zusammen mit vielen anderen Zellen einen Körper bildet.
Zwei Würfe sind unter der frühen Februarsonne gehackt und aufgestapelt, bis diese hinterm Feld versinkt.