1940. Die versunkene bürgerliche Welt -  - E-Book

1940. Die versunkene bürgerliche Welt E-Book

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Beschreibung

Hans Gmelin beginnt nach 1933 die Zeit, in der er sonst juristische Veröffentlichungen verfasst hätte, wegen der fehlenden Meinungsfreiheit im Dritten Reich für die Niederschrift einer ausführlichen handschriftlichen Autobiographie aufzuwenden. Der zweite Band schildert die Zeit als außerordentlicher Professor in Kiel und als Ordinarius an der kleinen hessen-darmstädtischen Ludwigsuniversität in Gießen, wo er bis zu seinem Tod Professor für öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt auf Staatsrecht bleiben wird. Als Liberaler in der DVP gelingt ihm nicht der Sprung in ein Landes- oder gar Reichsparlament, und so kann er die Weimarer Verfassung kaum beeinflussen, wird aber als Regierungsberater der hessen-darmstädtischen Regierung deutliche Spuren in deren Verfassung von 1919 hinterlassen

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Hans Gmelin 1940, Quellenband 2,

Ordinariat und Erster Weltkrieg, 1912 bis 1920.

Die Quellenbände 1 und 3, und der Biographieband des Herausgebers erscheinen in gleicher Ausstattung. Auf dem Umschlag vorn ist die Bearbeitung eines Atelierbildes unbekannter Herkunft

Inhalt des zweiten Bandes:

Einleitung

I.

Letztes Freiburger Semester, 1912/13

II.

Professor in Kiel und Gießen

III.

Berufung nach Gießen

IV.

Übersiedlung nach Gießen

V.

Die Kollegen an der Universität Gießen. Ein Portrait der akademischen Welt

VI.

Berufliche Tätigkeit in Gießen

VII.

Planung einer bosnischen Siedlungsgesellschaft, 1913

VIII.

Reise nach Vevey, April 1913

IX.

Zeit des Ersten Weltkriegs, 1914-1918

X.

Reise nach Oberstdorf August /September, 1914

XI.

Kriegswirren in Günterstal 1915

XII.

Freiwilliger Zivildolmetscher im Kriegsgefangenenlager Gießen 1915/16

XIII.

Von Krieg und Frieden

XIV.

Belgisches Generalgouvernement, Brüssel 1915-1918

XV.

Thronjubiläum des Großherzogs, 14.3.1917 – samt Glosse

XVI.

Die Reise nach Bern April 1917

XVII.

Bericht über flämische und französische Sprache 1918

XVIII.

Belgische Besatzungsfreuden in Brüssel

XIX.

Entwurf einer Kolonialverfassung für Belgien

XX.

Rückblick auf die verfassungs- und sprachenrechtliche Arbeit in Belgien

XXI.

Im April 1918 zurück in Gießen

XXII.

Vortragsreise nach Brüssel

XXIII.

Rückblick auf die juristische Arbeit in Belgien

XXIV.

In Deutschland zurück

XXV.

Reise nach Oberbayern September 1918

XXVI.

Revolutionswirren in Universität und Stadt Gießen unter ihren Arbeiter-und Soldatenrat

XXVII.

Änderungen der Parteienlandschaft

XXVIII.

Beratungen zum Wahlrecht für die verfassungsgebende Versammlung in Hessen

XXIX.

Diskussion um den ersten Preuß’schen Entwurf zur Weimerer Reichsverfas-sung, Januar bis März 1919

XXX.

Die hessische Landesverfassung

XXXI.

Berlinreise im Auftrag der DVP, April 1919

XXXII

Grundstückskauf in Gießen

XXXIII.

Mitarbeit an der hessischen Verfassung

XXXIV.

Trostpflaster: Stadtverordneter in Gießen ab Juni 1919

XXXV.

Militär in Auflösung

XXXVI.

Gesellschaftliches Leben in der Krise

XXXVII.

Die badische Revolution

XXXVIII.

In Gießen, ab Mitte Oktober 1919, Kunst und Weihnachten

XXXIX.

Die Nachkriegszeit, Politischer und persönlicher Neubeginn

XL

Stadtverordneter, Universitätsprofessor und Sohn

XLI.

Wie ich Martha Meili kennenlernte

XLII.

Gießen, satirisch

Literatur

Jahresübersicht

Abbildungsverzeichnis

Detailliertes Verzeichnis der Überschriften des 2. Bandes

Index

ausgewählter Personen

Hans Gmelin, 1878 - 1941

Einleitung des Herausgebers zum 2. Band des Quellentextes, 1912 bis 1919

Kurz nachdem Hans Gmelin 1913 das lang ersehnte Ordinariat, eine bezahlte Professur für Öffentliches Recht, an der Ludwigsuniversität Gießen erlangt hat, beginnt der Erste Weltkrieg. Vor dem Krieg hatte Hans Gmelin in der politischen Welt Profil gezeigt. Auch in seinem Fach: Insbesondere das Kolonialrecht hat es ihm angetan: Er studiert bei den erfahreneren Kolonialstaaten Frankreich und Belgien, was dort rechtlich für deren Kolonien verfasst wurde und befasst sich im Hinblick auf Belgien auch mit den rechtlichen Grundlagen der Staatssprachen.

Zwei wissenschaftliche Werke hatte er in Planung, als der Erste Weltkrieg ausbricht: Ein umfangreiches Werk zum Kolonialrecht und eine große Arbeit zur Geschichte europäischer Verfassungen. Das erste scheitert, weil Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg 1919 keine Kolonien mehr hat und das zweite daran, dass die Materialbeschaffung mittels augedehnter Reisen für den Angehörigen einer Kriegspartei, die verloren hat, nicht mehr darstellbar ist.

So nützt es Hans Gmelin auch nichts, dass es ihm gelungen ist, während des Krieges nach Belgien berufen zu werden, wo er für die politische Abteilung des Außenministeriums im Rahmen des deutschen Generalgouvernements tätig werden darf: Die deutschen Besatzer nutzen die traditionelle Unterdrückung der Flamen durch die Wallonen, um für das Nachkriegsbelgien – freilich im Falle des Sieges – eine Kolonialverfassung vorzubereiten, in der eine Union eines flämischen und eines wallonischen Landesteils vorgesehen ist, die ähnlich wie Österreich-Ungarn funktionieren soll. Im Wesentlichen werden die beiden Landesteile, die möglichst an den Interessen der deutschen Nachbarn orientiert sein sollen durch den König zusammengehalten. Im Brüssel der Kriegsjahre trifft sich die Crème de la Crème des deutschen

Staatsrechts, um diese Rechtsgrundlage für die folgende Friedenszeit zu zimmern, auch wenn bei dem tatsächlich erfolgenden Kriegsausgang alles umsonst war und der flämische Bevölkerungsteil – wohl auch wegen seiner Nähe und Kollaboration mit den deutschen Besatzern – noch Jahrzehnte warten muss, bis seine Interessen in Belgien beachtet werden.

Nach Ende des Krieges wirft sich Hans Gmelin sofort auf die rechtstaatliche Ordnung des neuen Staates, er tritt in die Deutsche Volkspartei, DVP, ein und bemüht sich, Einfluss auf die Gestalt der Weimarer Reichsverfassung zu nehmen, indem er gegen deren ersten Entwurf des Berliner Staatsrechtlers Hugo Preuß, DDP, eine Kritik veröffentlicht und eine Staatsrechtlertagung der föderalen Süddeutschen in Würzburg organisiert, ohne damit etwas zu bewegen.

Zugleich bemüht er sich auch um die Mitarbeit in der Verfassungsgebenden Versammlung, in Hessen-Darmstadt, aber da er von seiner Partei nicht berufen wird, bekommt er Einfluss allein durch die Beratung der hessischen Landesregierung, was aber nicht ohne Folgen bleibt. So gelingt es ihm, die hessen-darmstädtische Landesverfassung, die aus anderen bereits vorher beschlossenen Verfasssungen kompiliert wurde – besonders von Baden und Württemberg – so zu verändern, dass ein Einfluss der Arbeiter- und Soldatenräte auf das Landesparlament ausgeschlossen wird. Da er der einzige Staatsrechtler im Sold von Hessen-Darmstadt ist, ist er für einige Zeit ein wichtiger Faktor für die rechtliche Verfasstheit des demokratischen Volksstaats Hessen.

Der zweite Band endet, als er seiner späteren Ehefrau, Martha Meili, im Jahre 1920 begegnet.

Wiesbaden, im April 2024,

Ralf-Andreas Gmelin

Memoiren von Hans Gmelin

I. Letztes Freiburger Semester, 1912/13.

Das nie geschriebene Buch

über Verfassungsgeschichte, 1912

Als ich aus Bosnien zurückgekehrt war, wurde mir eine neue literarische Aufgabe gestellt: Der Freiburger Historiker, Geheimer Rat Meinecke1, mit dem ich im V.d.A. viel zusammenarbeitete, forderte mich als Herausgeber des Handbuchs der mittelalterlichen und neueren Geschichte auf, eine Verfassungsgeschichte der europäischen Staaten seit 1815 zu schreiben. Ich erklärte mich dazu bereit und so schloß ich am 18. November 1912 den Verlagsvertrag mit dem bekannten Verlage Th. Oldenbourg in München: Ich sollte das Werk bis Ende 1917 abliefern und außer 12 Freiexemplaren je 80 Mark pro Druckbogen erhalten. Das Werk ist leider nicht zustande gekommen. Nicht als ob ich die Arbeit nicht in Angriff genommen hätte. Ich habe mehr als einen Anlauf dazu unternommen und die Verfassungsgeschichte einer Anzahl von Staaten, darunter Belgien, die Schweiz, Rußland, Italien einige deutsche Staaten, niedergeschrieben. Doch fühlte ich, da ich zu umständlicher, allzu gründlicher Darstellung neige, von Anfang an durch den engen Rahmen von 576 Seiten, der später nur geringfügig erweitert wurde, beengt. Entscheidend aber war, daß ich infolge des Weltkriegs und seiner Folgeerscheinungen nicht mehr in der Lage war, das erforderliche Material über die auswärtigen Staaten zu sammeln. Ich bewirkte daher 1917 während des Krieges eine Fristverlängerung bis drei Jahre nach Kriegsende. Als in der Nachkriegszeit die Hoffnung auf Wiederherstellung von Beziehungen zu den bisherigen Feindstaaten geschwunden war und die materiellen Verhältnisse sich derart verschlechtert hatten, daß an Stoffsammlung im Ausland gar nicht zu denken war, ersuchte ich im Jahre 1920 Meinecke um Lösung von der eingegangenen Verpflichtung. Er bat mich indes, an der übernommenen Aufgabe festzuhalten und bewilligte mir 1922 eine Verlängerung der gestellten Frist bis 1926 in der Annahme, die Beziehungen zum Ausland möchten sich bis dahin soweit bessern, daß ich die nötigen Studien ausführen könne. Diese Beziehungen besserten sich allerdings, aber mittlerweile vereitelten die mit der Entwertung verbundenen Verluste die Möglichkeit einer umfassende Stoffsammlung im Ausland. Auf meinen wenigen Auslandsreisen, nach der Schweiz, Italien, Türkei, Griechenland, versäumte ich nie, nach verfassungsrechtlichen Quellen zu forschen und einiges davon mitzubringen. Aber alles dies war und blieb Stückwerk. Dazu kam, daß ich weder in dem Ort meiner Amtstätigkeit noch in Freiburg, wo ich die meisten Ferien verbrachte, bei den kleinen Verhältnissen der dortigen Universitätsbibliotheken genügend Material für mein Buch finden konnte, endlich sprach noch mit, daß ich in der Zeit von 1920 bis 1933 infolge der damals hohen Studentenziffer durch berufliche Arbeit voll in Anspruch genommen war. Den Ausschlag gab schließlich die nationale Revolution. Denn im Dritten Reich war kein Verständnis zu erwarten für die Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, die im Wesentlichen vom Geist des Liberalismus erfüllt war. Daher ließ ich den letzten mir gesteckten Termin (1935) ungenützt verstreichen und so blieb das Buch ungeschrieben, das mein Hauptwerk hätte werden können, wenn die politischen Dinge sich in normalen Bahnen entwickelt hätten,

Sonst weiß ich von dem Wintersemester 1912/13, meinem letzten Freiburger Semester nicht viel zu berichten. Ich las wiederum Staatsrecht, Völker-recht und europäische Verfassungsgeschichte. Auch politisch und für den V.d.A. betätigte ich mich politisch, indem ich an der nationalen Versammlung in Offenburg teilnahm, in der Ortsgruppe des V.d.A., indem ich meinen Dank für den mir bewilligten Reisezuschuß abstattete durch einen, von Lichtbildern begleiteten Vortrag über meine bosnische Reise.

1913.

Gesellschaftliches und Bundestagung des V.d.A.

Gesellschaftlich machte ich wenig mit. Oder wenn ich eine Einladung annahm, zog ich mich recht solid um elf Uhr zurück, um die letzte Tram nach Günterstal noch zu erreichen. Es wurde leider bald ruchbar, daß ich mir nur wenn ich mich gut unterhielt, ein Auto2 leistete. Zwei solcher gelegenheiten bildeten ein kostümierter Abend des Studentinnenvereins in Form einer ... (Hier fehlt ein Abschnitt)

Selbstzweifel und Verzweiflung

... noch nichts über deutsche Rechtseinrichtungen geschrieben hatte. Ich war mir auch der Mängel meiner Vortragsweise bewußt. Als ich mich darüber mit meinem Kantorowicz aussprach, meinte er nicht unzutreffend: Es fehle mir die Freude am eigenen Wort. Ich besaß freilich nichts von der selbstgefälligen Eitelkeit, mit der Kantorowicz seine eigenen Äußerungen bewunderte, sonder litt eher an Minderwertigkeitsbewußtsein, das sich mit zunehmender Erfolglosigkeit steigerte. Da ich glaubte, meine Laufbahn als gescheitert ansehen zu müssen, so lebte in mir der schon früher gelegentlich geäußerte Gedanke der Auswanderung wieder auf. Ich habe ihn auch meinem Freund Collas gegenüber durchblicken lassen, als ich ihm von meiner bosnischen Reise und von der Basler Enttäuschung berichtete. Er riet mir dringend davon ab.... Und in der Tat: Die Stunde kam!

Aufenthalt in Lugano und der Ruf nach Kiel 1913

Nach Berufung Professor Erich Kaufmanns3 auf ein Ordinariat nach Königsberg war das Extraordinariat für öffentliches Recht an der Universität Kiel frei geworden. Am 7. Januar 1913 teilte mir mein Freund Eritz Schulz, damals Dekan der dortigen juristischen Fakultät vertraulich mit, daß meine Chancen günstig stünden, denn ich hätte keine ernsthaften Konkurrenten. Auch gab er mir die Vorlesungen an, die ich im Fall der Berufung zu halten hätte: Staatsrecht, Rechtsentwicklung in Preußen, Übungen im Staats- und Verwaltungsrecht. Damit begann für mich eine Zeit qualvollen Wartens, dessen Spannung durch die zur Geduld mahnenden Briefe meines Freundes nur noch gesteigert wurden.

Am 2. Februar schrieb er mir: „Primo loco Kandidatur sicher! Definitiver Beschluß 8. Februar. Verlieren Sie nicht die Geduld, es geht nicht schneller.“ Am 8. Februar beschloß die Fakultät die Liste, in der mein Name an erster Stelle, Schönborn, Heidelberg , Jerusalem, Jena an dritter Stelle aufgeführt war. Die Fakultät brachte absichtlich immer Dozenten nichtpreußischer Universitäten in Vorschlag, weil nach ihren Erfahrungen die preußische Regierung an erster Stelle genannte nichtpreußische Kandidaten zu übergehen pflegte, wenn Mitbewerber preußischer Universitäten auf der Liste standen, die sie zuerst versorgen wollte. Fritz Schulz setzte mich am 14. Februar von dem Stand der Sache in Kenntnis. Zu meinem Plane, vor Ablauf der Ferien nach Lugano zu gehen, meinte er, daraus werde wohl nichts werden, da ich ja die Berufungsverhandlung erwarten müsse. Es war eine harte Geduldsprobe, als zwei mir nahestehende Fakultätsmitglieder Rufe nach auswärts erhielten, vor allem mein verehrter Freund und Lehrer Richard Schmidt, der einem Rufe nach Leipzig folgte, und der Extraor-dinarius Ringler, der einen Ruf nach Erlangen annahm. Schon malte ich mir aus, wie einsam ich mich nach dem Weggang dieser beiden alten Freunde in Freiburg fühlen würde. Man kann sich denken, in welcher Stimmung ich an der Abschiedsfeier teilnahm, die am 4. März, ich glaube im Hotel Viktoria, zu Ehren der drei Wegberufenen, Schmidt, Ringler und des nach Bonn berufenen Keltisten Thurneysen4 stattfand. Ich erinnere mich noch, daß ich, als Ringler in seiner Dankrede davon sprach, er habe bei den Wegberufungen anderer das unangenehme Gefühl gehabt, er sei der ruhige Pol in der Erscheinungen Flucht.

Als der April heranrückte, ohne daß ich etwas von Berlin hörte, machte ich mich mit dem Gedanken vertraut, daß auch diesmal meine Hoffnungen scheitern würden. Um mich von trüben Gedanken abzulenken, trat ich nun doch meine beabsichtigte Reise nach Lugano an. Doch war der Aufenthalt nicht dazu angetan, meine Stimmung zu heben, da meist kaltes, bald windiges, bald regnerisches Wetter herrschte. Doch malte ich trotz des ungünstigen Wetters mehrere Ölskizzen, so den noch recht winterlichen Blick auf die Abtei von Sorengo. Oder dunkle Zypressen vor dem Muzzana See. Dann die Kirche von Albogasio mit der zu ihr emporführenden, von Ölbäumen gesäumten Treppe.

Als ich vom Mussaner See zurückkehrte, fiel aus dem zu meiner Rechten überhängenden Gesträuch etwas auf die Straße herab: Es war eine ca. eineinhalb Meter lange schwarze Viper5, die sich vor mir zischend über die Straße schlängelte. Diese Viper, die in Deutschland nur in der Gegend von Waldshut vorkommt, ist ungleich gefährlicher als die Kreuzotter.6 Ich wohnte in Lugano zuerst in dem mir von früher her bekannten Hotel Caldellari, aber da mir das allzu italienische Essen dort nicht bekam, siedelte ich bald nach der einer Deutsch-Schweizerin gehörenden Pension Ruesch über, die höher gelegen war, etwas unterhalb des Bahnhofs. Gesellschaft fand ich gar keine, denn Frau Staatsrat Battaglini, die Freundin meiner verstorbenen Tante Anna, der ich einen besuch abstatten wollte, weilte um jene Zeit in Mailand, sodaß ich nur den alten Staatsrat traf. Da war mir willkommen, daß Mitte April Onkel Gustav Döll mit seiner Frau und seiner Tochter Klara eine Pension in Castagnola aufsuchte. Bei ihnen suchte ich Zuflucht vor schlechtem Wetter und trüber Stimmung. Auch meine Mutter kündigte ihr Kommen an, aber ich riet ihr wegen des schlechten Wetters von der Reise Abstand zu nehmen, denn ich dachte selbst an baldige Rückreise. Indes ließ sich meine Mutter nicht abschrecken und tauchte am Morgen des 20. April 1913 in Lugano auf. Wir unternahmen nun noch entweder allein oder mit Dölls zusammen einige Ausflüge in die Umgebung. So nach Dino, einem Nest in dem Tal nördlich von Lugano, oder von S. Mamette aus nach dem wie ein Schwalbennest oben am Berg klebenden Castello. Endlich, am 28. April langte ein Telegramm meines Freundes Schulz an, daß die Berufung erfolgt sei. Ich antwortete, telegraphisch, daß ich die Berufung annehme, aber das Eintreffen eines mir aus Günterstal gemeldeten Schreibens aus Berlin in Lugano abwarten wolle. Anderen Tags kam dieses Schreiben, es war von Elster7, dem Hochschulreferenten im Kultusministerium, un-terzeichnet. Er enthielt die Mitteilung, daß ich für das erledigte Extraordinariat in Kiel „mit“ in Vorschlag gebracht sei und stellte die Anfrage, ob ich geneigt sei, unter den aus einer anliegenden Vereinbarung ersichtlichen Bedingungen der Berufung und zwar, worauf man größten Wert legte, noch zum bevorstehenden Sommersemester Folge zu leisten. (unklarer Anschluss)

...zum Extraordinarius in Kiel abwarten wollte. Da die Ernennung – datiert vom 2. Mai 1913 über Freiburg am 7. Mai eintraf, konnte ich nun meinen Verzicht auf die venia legendi in Freiburg erklären. Zu meiner Berufung erhielt ich von Freunden und Bekannten herzliche Glückwünsche. Ich will hier nur wenige anführen, weil sie von Freunden stammen, die an meiner Laufbahn besonderen Anteil nahmen. Allen voran beglückwünschte mich mein Lehrer Richard Schmidt, der sicher als Fürsprecher bei meiner Berufung mitgewirkt hat: „Das war wirklich einmal eine Herzensstunde ... Die ganze Zeit über, da ich hier in Leipzig sitze, ... hatte ich mit Bangen an Sie gedacht, mir ausgemalt, wie auch nur eine längere Stockung der Angelegenheit auf Ihre Stimmung wirken werde, und auch in der letzten Zeit in Freiburg hatte diese Sorge sehr auf mich gedrückt, weit mehr als ich Ihnen ge-genüber Wort haben wollte. Nun bin ich um so befriedigter. Die gute Sache hat doch wieder einmal sich behauptet, und Sie können Ihrer Zukunft nunmehr mit Gemütsruhe entgegensehen – ja im Endergebnis sind Sie jetzt in Preußen weit besser aufgehoben, als Sie es in Basel gewesen wären.“ Nicht minder warm schrieb mir Erich Kaufmann, mein Vorgänger auf dem Kieler Lehrstuhl: „Ich empfinde es als Genugtuung, daß Ihnen endlich die längst verdiente Anerkennung zuteil wird, und freue mich, daß gerade Kiel, dessen Fakultät ich viereinhalb Jahre angehörte, die Ehrenpflicht erfüllt hat, Ihnen endlich den Weg zu weiterem akademischen, der hoffentlich nun auch bald kommen wird, bereitet hat.“

Meine Mutter uns ich waren glücklich, daß ich nun die Unsicherheit der akademischen Laufbahn überwunden hatte. Auch Dölls freuten sich herzlich mit uns, vor allem Onkel Gustav. Nun hätten wir gerne noch einige Tage die herrliche Landschaft von Lugano in umgewandelter Stimmung genossen, aber die Pflicht rief. Bereits in der Nacht, nachdem das Schreiben Elsters eingtroffen war, kehrten wir nach Freiburg zurück (29./30. April 1913), wo ich in aller Eile meine Sachen packte, sodaß ich bereits am 2. Mai die Reise nach Kiel antreten und am 5. Mai dort die Vorlesungen eröffnen konnte. Nicht ganz einfach gestaltete sich die Loslösung von der Universität Freiburg, nachdem ich mich von Lugano aus telegraphisch dem Dekan der Juristischen Fakultät, Prof. Partsch, meine Berufung nach Kiel gemeldet hatte, teilte ich ihm während meines kurzen Aufenthalts in Freiburg noch mündlich mit, daß ich die Berufung angenommen habe und am Abend nach Kiel abreisen werde. Kaum daß ich dort war, forderte mich Partsch telegraphisch zum Verzicht auf die venia legendi in Freiburg auf. Ich hatte diese noch hinausgezögert, da ich meine Ernennung <zunächst abwarten wollte>.

Natürlich sagte ich zu und unterzeichnete die Vereinbarung. Ich war so froh, endlich eine Lebensstellung zu erhalten, daß ich gar nicht daran dachte, zu verhandeln oder gar Bedingungen zu stellen. Bei der Abfassung meines Schreibens half mir Onkel Gustav, der als Ministerialreferent im Kurialstil sehr bewandert war. Außer dem Schreiben sandte ich noch eine telegraphische Annahmeerklärung an Geheimen Rat Elster, obwohl die Gehaltsverhältnisse eines Extraordinarius nicht gerade glänzend waren, denn der Jahresgehalt betrug 2.600 Mark. Aber dazu trat der Wohnungsgeldzuschuß 920 Mark, und eine Kolleggeldgarantie von 1.200 Mark, die übringens in den juristischen Fächern durch die eingehenden Kolleggelder überschritten wurde. Gehalt, Wohngeld und Kolleggeld zusammengenommen, konnte man mit einer Jahreseinnahme von 5 bis 6.000 Mark rechnen, für einen Junggesellen sicher ausreichend. Allerdings mußte man die in Kiel besonders hohen Steuern berücksichtigen. Aber ich fragte nach alledem gar nicht.

1 Friedrich Meinecke (* 30. Oktober 1862 in Salzwedel; † 6. Februar 1954 in Berlin) war ein deutscher Historiker und Universitätsprofessor in Straßburg, Freiburg und Berlin. Er wurde „in der Zeit der Weimarer Republik und den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik und wohl noch mehr im westlichen Ausland als der führende Repräsentant der deutschen Geschichtswissenschaft angesehen“. Er gilt als Begründer des Ansatzes der Ideengeschichte. Wikipedia, 5.12.2023.

2 Im Sinne eines Taxis.

3 Erich Kaufmann (* 21. September 1880 in Demmin; † 11. November 1972 in Heidelberg) war als Jurist einer der führenden Staats- und Völkerrechtler der Weimarer Zeit und der frühen Bundesrepublik. Der Jurist bezog in dem Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre Stellung gegen den positivistischen Neukantianismus. Kaufmann war ein Verfechter des klassischen Naturrechts und ein Befürworter einer ontologischen und metaphysischen Betrachtungsweise des Rechts. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der evangelische Kaufmann wegen seiner Herkunft aus einer Familie jüdischen Glaubens als „Jude“ verfolgt. Besonders aktiv war dabei sein Konkurrent, der Juraprofessor Carl Schmitt. Kaufmann verlor seine berufliche Existenz und musste 1938 ins Ausland flüchten. Vgl. Wikipedia, 6.12.2023.

4 Eduard Rudolf Thurneysen (* 14. März 1857 in Basel; † 9. August 1940 in Bonn) war ein Schweizer Sprachwissenschaftler und einer der bedeutendsten Keltologen. Wikipedia, 6.12.2023.

5 Wenn es eine Viper war, dann wohl eine der seltenen schwarzen Aspis-vipern.

6 Das Gift der Aspisviper ähnelt dem der Kreuzotter (Vipera berus), ist jedoch im Falle intravenöser Injektion nur halb so stark. Auch liegt der Giftvorrat der Aspisviper mit 9-10 mg etwa beim Minimum des Vorrats einer Kreuzotter. Dennoch kann ein Biss im Extremfall für den Menschen auch tödlich sein. Vgl. Wikipedia, 6.12.2023.

7 Ludwig Hermann Alexander Elster (* 26. März 1856 in Frankfurt am Main; † 30. Dezember 1935 in Jena) war ein deutscher Nationalökonom und Verwaltungsbeamter, der von 1897 bis 1916 als Referent für das Hochschulwesen am preußischen Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-angelegenheiten wirkte. Wikipedia, 6.12.2023.

II. Professor in Kiel und Gießen

Außerordentlicher Professor in Kiel, 1913

Mein Aufenthalt in Kiel beschränkte sich auf ein einziges Semester, auf ein an und für sich schon kurzes Sommersemester. So war ich kaum drei Monate in Kiel. Über diesen kurzen Abschnitt habe ich auch verhältnismäßig wenige Quellen, da meine Mutter beinahe die Hälfte der Zeit, sechs Wochen, bei mir in Kiel weilte, so habe ich ihr nur sechs Briefe und einige Ansichtskarten geschrieben. Und weil ich beruflich stark in Anspruch genommen war, sind die Briefe kürzer gefaßt als die meiner Studentenzeit. Also muß ich diese etwas dürftigen Nachrichten aus dem Gedächtnis zu ergänzen versuchen.

Ankunft in Kiel, Wohnung und Verpflegung

Nach der Nachtfahrt von Freiburg nach Hamburg am 2./3. Mai 1913, stieg ich in Hamburg gleich in den Zug nach Kiel um. Die letzte Stunde der Fahrt, durch die von Kühen belebte und von der Sonne beleuchtete Wiesenlandschaft war nicht ohne Reiz. In Kiel, wo ich gegen zehn Uhr eintraf, holte mich Freund Schulz am Bahnhof ab und führte mich in Holsts Hotel am Schloßgarten, wo ich ein Zimmer belegte. Dann bewirtete mich Schulz in seiner Wohnung mit Kakao und brachte mich zur Universität, damit ich den Anschlag meiner Vorlesungen machen konnte. Den Abend verbrachten wir in einem feinen Restaurant, um dort meine Ankunft mit Sekt zu begießen.

Zunächst handelte es sich darum, die Wohnungsfrage zu lösen. Meine Wegberufung aus Freiburg gab offenbar Anlaß, daß mehrere Anfragen an uns ergingen, ob wir unser Haus in Günterstal verkaufen wollten. Ich war damals einem Verkauf nicht abgeneigt, aber glücklicherweise zerschlugen sich diese schon angeknüpften Verhandlungen an den z.T. etwas naiven Wünschen der Kauflustigen. Im Zusammenhang mit diesen Verhandlungen tauchte natürlich die Frage auf, ob meine Mutter zu mir nach Kiel ziehen sollte. Ich sprach mich in meinen Briefen dagegen aus, einerseits, weil das rauhe Klima Kiels meiner Mutter, die zu Lungenkatarrh neigte, nicht bekömmlich gewesen wäre, andererseits weil ich die Ferien in Freiburg verbringen wollte, um die Verbindung mit Süddeutschland nicht zu verlieren. Gleichwohl wollte ich eine mit eigenen Möbeln zu möblierende Vierzimmerwohnung mieten, groß genug, um darin vorübergehend auch meine Mutter aufnehmen zu können.

So machte ich mich auf die Wohnungssuche. Aber da die Auswahl sehr gering war – die einzige mir zusagende Wohnung lag sehr weit draußen im Norden, in der Prinz-Heinrichstraße und wurde nicht auf den 1. Juli frei – so beschloß ich, die Wohnungssuche später wieder aufzunehmen und mich vorerst mit möblierten Zimmern zu begnügen. Ich mietete solche in einem großen Hause, das wie das Herrenhaus eines Gutshofs aussah. Es lag gegen-über der kasernenartigen Marineakademie, daher viele Marineoffiziere in dem Hause wohnten. Sein verwahrloster Garten stieß an das aus hübschen Laubbäumen bestehende Dusterebrooker Gehölz und die Universität war zu Fuß oder mit der Tram bequem zu erreichen.

Jedes Stockwerk war durch einen breiten Gang durchschnitten, auf den die zum Teil sehr großen Zimmer gingen. Die Weiträumigkeit war das einzig Vornehme, denn im übrigen machte das Haus mit den braungestrichenen Holzriemenböden und altmodischen Möbeln einen etwas heruntergekommenen Eindruck. Ich hatte ein riesengroßes Wohnzimmer und ein anstossendes Schlafzimmer. Was mich sehr störte, waren die Abortverhältnisse. Ich bin entschieden hellseherisch veranlagt. In Lugano hatte ich kurz vor meiner Berufung einen schrecklichen Traum: Daß in einem Ort an der montenegrinischen Grenze eine gewisse Örtlichkeit, die ich aufsuchen wollte, nur aus einem Sitzbrett und einem darunter gestellten Krug bestand. Ich hatte keine Ahnung, daß diese Einrichtung, von der ich nie etwas gehört hatte, wirklich existierte, nämlich in Kiel, nur daß unter dem Sitz kein Krug, sondern eine Blechtonne stand, die samt Inhalt alle drei Tage abgeholt und durch eine aus Gott weiß welchem Haushalt stammende andere Blechtonne ersetzt wurde. Gegen Ende der drei Tage war es ein zweifelhaftes Vergnügen, über dem mannigfaltigen Inhalt und seinen hochgetürmten Papieren zu schweben. Auf alle Fälle war namentlich im Sommer der vom Tönnchen ausgehende bis in die Zimmer drängende Geruch unausstehlich. Diese vorsintflutliche und gesundheitsgefährdende Einrichtung bestand übrigens in ganz Kiel. Es gab weder Kanalisation noch Gruben. Der Grund lag in Rücksichten auf die Marineverwaltung, die nicht zuließ, daß die Abwässer in die als Kriegshafen dienende Kieler Förde geleitet wurden. Obwohl die Stadtverordnetenversammlung dank dem in Kiel auch für die Kommunalrechte geltenden allgemeinen Wahlrecht überwiegend aus Sozialdemokraten bestand, fügte sie sich völlig den Wünschen der Marineverwaltung, damit ja keine Werften oder andere Einrichtungen, die den Arbeitern Brot und der Stadt Steuereinnahmen brachten, anderswohin verlegt würden.

Was ich in Kiel vorzüglich fand, war das Essen, namentlich mundete mir bei Holst eine gemischte Fleischplatte, die trotz ihres niederen Preises an Mannigfaltigkeit und Menge nichts zu wünschen übrig ließ. Wahrscheinlich tat ich im Essen zu viel des Guten, denn gegen Ende des Semesters bekam ich eine starke Magenverstimmung, die mich zum Fasten zwang.

Meine Vorlesungen

Meine berufliche Tätigkeit war einfach: Da mir wegen der späten Berufung nicht zugemutet werden konnte, neun Vorlesungen aus dem Ärmel zu schütteln, brauchte ich weder Rechtsentwicklung in Preußen zu lesen, noch Übungen abzuhalten, sondern durfte mich aufs Staatsrecht beschränken. Ich hatte etwa 50 Hörer, die das Kolleg fleißig besuchten. Infolge der verspäteten Berufung wurde ich noch nicht zu den Referendarprüfungen zugezogen, was ich sehr begrüßte, denn ich hätte Arbeiten auch aus mir fremd gewordenen juristischen Fächern beurteilen müßen, in die ich mich erst wieder einarbeiten mußte. So hatte ich wenig beruflich zu tun und umso mehr Zeit, um die von mir für den Winter angekündigten Vorlesungen vorzubereiten, darunter zwei neue Gebiete: Kirchenrecht und allgemeine Staatslehre.

Meine Fakultätskollegen

Die Kieler Juristische Fakultät bestand damals – abgesehen von den emeritierten – aus sechs Ordinarien und sieben Nichtordinarien. Das jüdische Element war stark vertreten, denn es zählte unter den Ordinarien drei Volljuden, Kleinfellner, Pappenheim und Liepmann, unter den Nichtordinarien zwei, auch mein Vorgänger, Erich Kaufmann, war Jude. Ein Schuß jüdischen Blutes kreiste auch in den Adern meines Freundes Fritz Schulz. Triepel, der Ordinarius für öffentliches Recht, also mein nächster Fachkollege hatte eine Jüdin zur Frau. Dabei zeigte er eine streng konservative Gesinnung. Sein Äußeres, etwas gerötete Gesichtsfarbe, Brille, schwarze Haare und kleines schwarzes Schnurbärtchen ließ ihn freilich ... erscheinen. Als Landsmann meines Lehrers. Richard Schmidt, mit dem er eng befreundet war, besaß er den sprudelnden Geist des Sachsen, dazu ausgesprochenen juristischen Scharfsinn. Während meines Kieler Semesters sah ich ihn selten, da schon seine Berufung nach Berlin spielte8, aber ich bin ihm später näher gekommen. Ich danke Triepel manche Anregung, sowohl aus persönlichem Verkehr wie auch aus seinen Schriften, namentlich aus seiner Abhandlung über die Kompetenzen des Bundesstaates und die geschriebene Verfassung in den Staatsrechtlichen Abhandlungen für Paul Labend, 1906, und seine Schrift über „Unitarismus und Förderalismus im Deutschen Reiche“, 1907.

Von den übrigen Fakultätskollegen stand mir durch sein Fach Prof. Niemeyer9 am nächsten, da er das Völkerrecht pflegte. Er galt als besondere Autorität im internationalen Privatrecht. Aber Niemeyer war schier unsichtbar, denn er vermied es, im Dozentenzimmer zu erscheinen, weil er mit einer Anzahl von Kollegen auf gespanntem Fuße stand. Daher traf ich ihn in Kiel nur ein einziges Mal, auf der Treppe der Universität, was er dazu benutzte, mir für meinen Besuch zu danken. Bei diesem Besuch hatte sich Prof. Niemeyer als echter Sonderling <erwiesen>: Er hatte sich eine Villa jenseits der Förde erbauen lassen, damit ihn ja keiner der Kollegen belästigen konnte. Eines Sonntags fuhr ich mit dem Dampfer hinüber und kam unangefochten durch den parkähnlichen Garten bis zur Villa. Als ich aber anläutete, ertönte verdächtiges Bellen und Knurren und kaum, daß das Mädchen geöffnet hatte, sprang mich ein großer Bernhardiner an. Dabei fiel mein Zwicker herunter, sodaß das Glas zerbrach und ich mit meiner Kurzsichtigkeit nicht ohne Mühe wieder heimfand. Man soll eben Einsiedler nicht stören.

Von den übrigen Kollegen erwähne ich noch Kleinfellner, damals Rektor, der Prozeßrecht las. Seine temperamentlose Art und sein klagender Tonfall ließen nicht vermuten, daß er ein Bayer war. Pappenheim10, der eine Vertreter des Bürgerlichen Rechts, war ein kleines Jüdchen mit einem Knebelbärtchen und bellender Stimme, der einem Schweinchen nicht unähnlich sah und daher von den anderen als das Pappenschwein bezeichnet wurde. Dagegen zeichnete sich der andere Jude, Liepmann11, ein sehr scharfsinniger Prozessualist durch hohe Gestalt, regelmäßige, geradezu edle Gesichtszüge aus. Unter den Nichtordinarien waren einige überständig und daher vergrämt, sodaß man ihre Gesellschaft nicht gerade aufsuchte. Von ihnen stach Wedemeyer12, etatsmäßiger Extraordinarius für bürgerliches Recht, durch sein sicheres Auftreten ab. Blond und groß, ein echter Niedersachse, zu dem seine welfische Gesinnung ganz gut paßte. Zum Erstaunen meiner preussischen Kollegen, verstand ich, der Süddeutsche, mich gerade mit dem verschlossenen Hannoveraner gut, vielleicht deswegen, weil wir auch politische Berührungspunkte fanden. Er machte mich mit national-liberalen Führern Kiels bekannt.

Gesellschaftlicher Verkehr

Der gesellschaftliche Zusammenhang unter den Kieler Dozenten war nicht so entwickelt wie an anderen Universitäten. Man pflegte nämlich nur bei den Mitgliedern der eigenen Fakultät Besuche abzustatten, den anderen

Dozenten sandte man nur seine Karte, es sei denn, daß man eingeladen sein wollte. Aber gerade dieses Auslesen mißfiel mir, man legte mir nahe, bei Martzius Besuch zu machen, der Geselligkeit in großem Maßstab pflegte, aber ich unterließ den Besuch. In Kiel erlebte ich es, daß mir ein Kollege einen Gegenbesuch machte, den ich gar nicht besucht hatte. Er war dann nicht wenig erstaunt, als ich seinen Gegenbesuch „erwiderte“. An größeren Gesellschaften habe ich in Kiel nur wenige < erlebt >... Es folgen Beispiele Am häufigsten traf ich mich natürlich mit meinem Freunde Fritz Schulz. Da er ebenfalls Junggeselle war, aßen wir wenigstens Mittags zusammen im Holst. Gewöhnlich in Gesellschaft des jungen Privatdozenten für Sanskrit, des Juden Strauß. Dieser erhielt im Lauf des Semesters einen Ruf an eine indische Universität. Darum lud er, um Abschied zu feiern, seine nächsten Bekannten, darunter auch Schulz und mich, in die in der Nähe meiner Wohnung gelegenen Seebadeanstalt auf acht Uhr „zu einem Glase Bier“ ein. Da mir unbekannt war, daß diese Wendung soviel wie „zum Abendbrot“ bedeutete, aß ich zu Hause zu Abend und begab mich so gegen halb neun Uhr hin. Wie erschrak ich, als ich merkte, daß die anderen seit acht Uhr mit dem Essen auf mich gewartet hatten. Um den üblen Eindruck zu verwischen, hieb ich in das reich gestaltete Nachtmahl kräftig mit ein. So um elf Uhr dachte ich mich sachte nach Hause zu drücken. Aber ich wurde bei diesem Flucht-versuch erwischt und mußte nun, mit den Anderen in ein Auto verpackt in eine richtige Kellerkneipe im Stadtinneren fahren, wo es allerlei Schnapsmischungen zu versuchen gab. Nachher wäre ich gerne nach Hause gepilgert. Aber ich wußte ja gar nicht, wo wir gelandet waren, sodaß ich auch in nüchternem Zustande unmöglich den Heimweg gefunden hätte. So mußte ich nolens volens noch mit in ein Lokal, wo man bei Pilsner und Kaffee den Morgen herandämmern ließ. Dort trafen wir den Privatdozenten Balla13, einen Theologen, einen richtigen Nachtwandler, denn er pflegte bei Tag zu schlafen, am Spätnachmittag zu früstücken, um Mitternacht sein Mittagsbrot einzunehmen, dann zu arbeiten und von vier bis sechs Uhr im Bierhaus zu weilen, bis er dann bei Sonnenaufgang sein Nachtlager aufsuchte. Von sonstigen Kollegen lernte ich eigentlich nur den Historiker Rachsal (?) kennen, den ich öfter im Holst traf. Der dicke Mann mit seinem trist herab-hängenden Kinnbart machte ganz den Eindruck eines alten Junggesellen. Und doch war er, wenn auch nur kurze Zeit, verheiratet gewesen, und er konnte den Tod seiner Frau lange Zeit nicht verwinden, denn hinter seiner burschikosen Wurschtigkeit verbarg sich eine empfindsame weiche Seele. Öfter forderte er mich auf, mit ihm noch einen Schoppen zu trinken und ich folgte ihm gern, denn ein Gespräch mit ihm über politische oder historische Fragen bedeutete für mich immer reichen Gewinn. Nur einmal mußte ich ihm seine Bitte abschlagen, da ich einem Vortrag beiwohnen wollte. Da knurrte er höchst ungnädig: „Es ist eine Geschmacklosigkeit, einen Vortrag zu hören und eine noch viel größere, einen Vortrag zu halten.“ Am Tage meiner Ankunft bemerkte ich auf dem Schreibtisch meines Freundes Schulz die Photographie einer jungen Dame, die mir zu der Bemerkung Anlaß gab, daß er wohl das Junggesellenleben aufgeben wolle. Aber Schulz winkte kräftig ab, denn ein Professor müsse „Werklein“ schreiben, indes, ich war doch auf der richtigen Spur. Denn gegen Ende des Semesters tauchte im Holst ein Fräulein Plaut auf, Assistenzärztin in der Inneren Klinik. Sie stammte aus einer angesehenen und reichen Judenfamilie. Die Dame war mir nicht unbekannt, es war die kleine schwarze Teufelin, mit der Freund Schulz auf dem akademischen Ball in Freiburg beinahe ununterbrochen getanzt hatte. Nun lag der Zusammenhang klar und ich war daher nicht überrascht...

Allerhand Veranstaltungen Silberhochzeit des Prinzen Heinrich

Zum Regierungsjubiläum des Kaisers am 16. Juni fand in der Universität eine Feier statt, bei der der Staatswissenschaftler Prof. Harms14 die Festrede hielt. Ich muß gestehen, daß es mir nicht ganz leicht fiel, der Feier beizuwohnen, weil ich mit der persönlichen Politik des Kaisers in vielen Punkten nicht übereinstimmte. Dagegen folgte ich gerne einer Einladung des Prinzen Heinrich. Mit Frack und Zylinder angetan, kam ich unbehelligt ins Schloß. Ohne daß mich einer der Wachposten, Diener oder Hofbeamten nach meiner Einladungskarte gefragt hätte, konnte ich eine Anzahl von Sälen durch-schreiten, bis ich mit einem Male in dem ziemlich dunklen Raum vor dem prinzlichen Paar stand. Ich wandte mich unter Angabe meines Namens an den Adjutanten, der mich dem hohen Paare vorstellte, indem er einen ganz unverständlichen Namen murmelte. Der Prinz gab mir die Hand, brachte aber in seiner Schüchternheit kein Wort hervor, sondern schob nur seine bärtige Schnauze mehrmals nach vorn. Dagegen zog mich die Prinzessin, eine Schwester meines späteren Landesherren, des Großherzogs von Hessen und der unglücklichen Zarin, als sie hörte, daß ich Süddeutscher sei, in ein Gespräch, aus dem etwas wie Heimweh nach Süddeutschland herausklang. Nachdem ich noch meinen Glückwunsch angebracht hatte, begab ich mich in einen anstoßenden Saal und im Andrang der Offiziere und Beamten, erholte ich mich bei einem Glas Sekt von dem stolzen Bewußtsein, einem richtigen Hohenzollern die Hand gedrückt zu haben.

Kieler Woche

Natürlich nahm ich während des Aufenthalts in Kiel den Eindruck unserer damals mächtigen Kriegsflotte in mich auf. Wenngleich ich keine Gelegenheit fand, ein Kriegsschiff zu besichtigen, so doch schon den Anblick von Schiffen. Häufig begegnete ich auf Dampferfahrten in der Förde Torpedobootsflotillen, die gewöhnlich streng ausgerüstet je drei und drei neben einander fuhren oder die damals noch kleinen und gebrechlichen Unterseeboote, oder ich beobachtete Schießübungen der großen Schiffsgeschütze, die sie auf ausrangierte Panzerschiffe anstellen. Aber das prächtigste Bild gewährte doch die Vereinigung des größten Teils der Kriegsflotte in der Bucht zur Zeit der Kieler Woche: Die in mehreren Reihen aufgestellten Linien-schiffe und Panzerkreuzer zwischen denen der Kaiser unter dem Dröhnen des Kaisersaluts hindurchfuhr. Das Salutschießen spielte sich ganz anders ab, als an Land: Nicht als eine deutliche bedächtige Folge von einzelnen Schüssen, sondern als rasendes Geknalle, das nur wenige Sekunden dauerte. Denn jedes Schiff suchte in möglichst kurzer Zeit die üblichen zehn Schuß zu lösen. Da alle zu gleicher Zeit zu feuern begannen, so herrschte ein furchtbares Dröhnen, die Luft war derart erschüttert, daß man das Gefühl hatte, ununterbrochen Stöße gegen den Magen zu bekommen. Gleich nach Beginn des Schießens waren die Schiffe in dicke Rauchwolken getaucht, durch die nur die Blitze der Schüsse leuchteten. Das Salutschießen genoß ich öfter, denn in jenen Tagen besuchte der König von Italien den Kaiser auf der Durchfahrt nach Schweden. Da der König um Mitternacht abfuhr, ging ohne Rücksicht auf Ruhebedürfnis von Kranken das Salutschießen mitten in der Nacht los.

In der Kieler Woche weilte nicht nur meine Mutter in Kiel. Auch mein Vetter Herrmann Gmelin, damals Ingenieur bei der Vulkanwerft, kam von Hamburg zu kurzem Besuch herüber. In alter Lustigkeit stellte er sich aus meinem Sofa und einigen Sesseln ein etwas fragwürdiges Lager her. Anderentags beteiligten wir uns an einer Fahrt, für die die Universität einen Dampfer gemietet hatte, um den Dozenten und deren Angehörigen den Anblick der Segelregatta zu ermöglichen. Das Wetter war so ungünstig wie nur möglich. Es regnete und es herrschte eine Flaute, daß die Segelboote überhaupt nicht von der Stelle rückten. Aber plötzlich setzte eine frische Brise ein, mit einem Mal kam Leben in die Boote, und bald flogen sie mit unheimlicher Geschwindigkeit dahin. Verblüffend waren namentlich die Wendungen, die um bestimmte Bojen herum ausgeführt werden mußten. Ehe man sichs versah, steuerten die Boote in andrer Richtung. Das schlechte Wetter tat der guten Laune meines Vetters keinen Eintrag. Beinahe zu ungeniert spielte er den Seekranken, daß ihm der Retter beistehen wollte und redete, auf einem Treppenhäuschen sitzend allerlei große Töne. Auch nachher, als wir im Holst bei gutem Essen und Wein zusammen saßen, entwickelte er eine lärmende Münchener Fröhlichkeit, die nicht ganz nach dem Geschmack meines Freundes Fritz Schulz war.

Klima, Stadt und Umgebung

Von dem Kieler Klima war ich anfangs entsetzt, denn es herrschte immer Wind: Entweder Westwind, dann regnete es und war kalt, oder ein schneidender Ostwind, dann war es trocken, aber erst recht kalt, und das im Mai. Erst Ende Mai trat mildere Witterung ein. Im Sommer gab es dann schöne warme Tage und vor allem wunderbare Nächte, in denen es so hell blieb, daß man noch in später Nachtstunde lesen konnte. Aber eigentlich kann ich über das Kieler Klima gar nicht mitreden, denn ich lernte die Kehrseite der hellen Sommernächte, die das Gemüt tief bedrückende Dunkelheit der Winterzeit, die dem Tageslicht nur zwischen zehn Uhr und drei Uhr mittags Raum gibt, nicht kennen.

Uber die Stadt Kiel brauche ich nicht viel zu schreiben, denn sie bietet wenig Sehenswertes. Selbst die Hauptgebäude, wie das Schloß oder die Universität, haben keinen künstlerischen Wert. Das Einzige, was mir imponierte, war die Fischhalle15, in der so verschiedenartige Fische ausgeboten wurden. Viel mehr bietet die Umgebung Kiels. Leider machte ich in das seenreiche Hinterland nur einen einzigen Ausflug: Nach Kirch-Barkau, der aber durch schlechtes Wetter beeinträchtigt war. Sonst zog es mich natürlich mehr auf die Förde. Wie häufig fuhr ich mit einem der kleineren Dampfer, die dem

Verkehr auf der Förde dienen, nach den kleinen Erholungsorten, die sich an der Ostseite der Bucht reihen, nach Mönkeburg, Kitzeburg, Möltenort oder Laboe und erging mich am Strande oder in dem schmalen Waldsaum an der Küste. Nach der etwas nüchternen Westseite kam ich seltener, doch besuchte ich selbstverständlich einmal die Schleusen des Nordostseekanals und an einem Sonntag nach einer durch Zahnwurzelentzündung verursachten schlaflosen Nacht, wanderte ich von dem langweiligen Festungsstädtchen Friedrichsort nach Schilksee und dann am Strand zurück, wo viel Leute badeten oder sich sonnten. Da es an diesem Freibadeplatz manchmal etwas ungebunden zuging, hatten Streifen der Marine für sittliches Betragen zu sorgen. Meine Ausflüge machte ich mit meiner Mutter, sonst allein, nur ganz selten kam Fritz Schulz mit. Oft nahm ich Bücher und Arbeiten mit und suchte mir ein Plätzchen in der bewaldeten Düne, von wo ich über die Förde blicken konnte. Größere Ausflüge zur See unternahm ich nur zwei: Einen nach Sonderburg mit meiner Mutter und einen nach Kopenhagen mit Fritz Schulz. Über den Ausflug nach Sonderburg fehlt es mir an Notizen. Ich erinnere mich nur, daß wir nach stundenlanger Fahrt auf dem gedrängt vollen Sonntagsdampfer in Sonderburg erst den Ort mit seinen an holländische Dörfer erinnernden kleinen Häuschen durchschritten, dann der Küste entlang zum Süderholz, einem dürftigen Wäldchen gingen und nachdem wir umgekehrt waren, über die Schiffsbrücke hinüber auf die Düppeler Höfe stiegen, von denen sich uns ein weiter Blick über die Halbinseln und Buchten des Festlandes und der Insel Alfen bot. Und daß auf der nächtlichen Rückfahrt auf dem Dampfer sich die tanzenden Paare ewig zur damaligen Schlager- Melodie „Püppchen, du bist mein Augenstern“ drehten.

Reise nach Kopenhagen

Die Reise nach Kopenhagen traten Schulz und ich in den Pfingstferien, am 13. Mai an. Nach einer halben Stunde hatte der Dampfer die Förde durch-messen. Noch lange sah man die holsteinische Küste, und kaum war sie verschwunden, tauchte schon zur Linken die dänische Insel Langeland auf, die nun den Dampfer stundenlang begleitete, während die Insel Laaland nur ganz vorübergehend emporstieg und bald wieder unseren Blicken entschwand. Um viertel nach drei Uhr stiegen wir in Korsör an Land und durchfuhren in eindreiviertel stündiger Bahnfahrt von Staub und Ruß be-lästigt die Insel Seeland. Im Zug hörten wir nur noch Dänisch reden. Als der Schaffner die Fahrkarten mit einem „Mangen tak“ zurückgab, stellte Fritz Schulz fest, daß das Dänische wirklich gesprochen wurde. Er hatte mich nämlich ausgelacht, weil ich aus einer kleinen Grammatik und aus einem Sprachführer „Taler De Dansk“ mir die Anfangsgründe des Dänischen angeeignet hatte, und gemeint, daß in Dänemark jeder deutsch spräche.

In der Tat ist die Kenntnis des Deutschen weit verbreitet16, aber trotzdem erwies sich eine wenn auch noch so elementare Kenntnis der Landessprache als nützlich. In Kopenhagen stiegen wir in dem guten und preiswerten Ternbrane (?) Hotel in der Nähe des Bahnhofs ab. Den Abend verbrachten wir im „Tivoli“, dem originellen Stadtpark, der zugleich der Erholung, der Volksbelustigung und der Volksbildung dient. Während in einem Saale ein ernstes Orchesterkonzert gegeben wird, spielten in den Kiosken vier bis fünf Musikkapellen. Auf einer ins Freie gehende Bühne wird eine lustige Posse aufgeführt, dicht daneben produzieren sich Kunstreiterinnen. Neben der Schießbude stand die Spielhölle mit Rößleinspiel und Roulette, dann gab es eine ins Wasser auslaufende Rutschbahn, die wir von der harmlosen Lustigkeit der Dänen angesteckt, ebenfalls bestiegen. Auch ein Theaterstück sahen wir uns an, verstanden aber von dem ganzen Lustspiel eigentlich nur die Bezeichnung Dansk-Amerikana. Daß auch für die leiblichen Bedürfnisse gesorgt war, lässt sich denken. In der war eigentümlich, daß Speisen in aller-kleinsten Mengen verabreicht wurden. Daher konnte man aus der Speisekarte, auf der man durch einen Bleistiftstrich die gewünschten Speisen kennzeichnete, sich für billiges Geld ein außerordentlich mannigfaltiges Essen zusammenstellen.

Mittwochmorgen ergingen wir uns im Ørstedsparken und im Botanischen Garten im Westen der Altstadt und besichtigten das an das Christiansborg-Slot17 gebaute Thorvaldsen-Museum18. Es entsteht der Eindruck, dieses Museum befriedigte uns wenig, einerseits weil unter den Originalwerken eine ganze Anzahl geschmackloser Gipsfiguren19 2a0ufgestellt ist, andererseits weil der klassizistische Stil in seiner Geschlecktheit und Langeweile uns doch recht fremd geworden ist. Dagegen waren wir begeistert von der Ny Carls-berg Glyptotek, deren wertvolle Werke von einem Brauer namens Jakobsen20 gesammelt und der Stadt geschenkt worden sind. Es enthielt außer antiken Bildwerken eine reichhaltige Sammlung französischer Skulpturen, wie man sie in solcher Vollständigkeit auch in Paris nicht sehen kann. Ich erwähne nur die Jeanne d’Arc von Chapu als kniendes ins Gebet versunkenes Mädchen mit herbem Gesichtsausdruck dargestellt. Einen halbwüchsigen Knaben mit Mandoline, florentinischer Sänger von Dubais, eine reizende zierlich sitzende Mignon von Aigelin und den von Lebenslust und Ausgelassenheit sprühenden Genius des Tanzes von Carpeanoe (?). Auch Meunierund Rodin sind gut vertreten. Kopenhagen als Stadt rief mir verschiedene andere Stadtbilder wach: Die breiten Straßen, die die Altstadt umziehen, erinnern mich an die äußeren Boulevards in Paris, dieselben Autos, dieselben in Paris selbst verschwundenen Omnibusse. An den stillen Kanälen um das alte Schloß herum fühlte ich mich in eine niederländische Stadt versetzt. Überhaupt ist bei der Börse wie auch bei anderen Ziegelbauten der niederländische Renaissancestil bewußt zum Muster genommen. Die kuppelgeschmückte Marmorkirche wirkt wie eine Kopie vom Pariser Invalidendom und das Schloß Amalienborg daneben könnte ebenso gut in Wien stehen. Das Mitte des 18. Jahrhunderts erbaute Schloß Amalienborg besteht eigentlich aus vier getrennten Palästen, die durch Kolonnaden mit einander ver-bunden, einen achteckigen Platz umsäumen. Es bildet mit seiner steifen Würde und doch reichen Gliederung einen köstlichen Rahmen für die dort täglich aufmarschierende altmodische Wachtgarde (Vagtparaden), bei der die Soldaten in blaugrauen Uniformen mit gekreuztem weißen Lederzeug und riesigen schwarzen Bärenmützen wie ein Bild aus napoleonischer Zeit wirkt.21 Im übrigen bestimmten zwei Züge das Straßenbild Kopenhagens. Einerseits die ungeheure Menge von Radfahrern beiderlei Geschlechts, für die besondere Fahrstraßen angelegt sind. Andererseits die Unzahl von Fahnen, denn auf Staatsgebäuden, an Wirtshäusern, Läden, auf leeren Plätzen, in den Gärten, auf Bedürfnisanstalten, überall wehte der Danebrog. In dieser Sucht, die Flagge zu zeigen, äußerte sich ein gestiegenes vielleicht der Sorge um die Unabhängigkeit entsprungenes Geltungsbedürfnis.

Am Nachmittag des 14. Mai wollten wir an die Küste nach Klampenborg hinausfahren. Flugs sprangen wir auf die uns bezeichnete, schon in voller Fahrt befindliche Tram auf, als mir ein Windstoß meinen Hut vom Kopfe riß. Also sprangen wir gleich wieder ab. Nun recht bemerkte ich, daß mir auch mein goldener Zwicker wahrscheinlich im Vorderperron der Tram heruntergefallen war. Meine Bemühungen, im Fundbüro der Straßenbahn den Zwicker wieder zu bekommen, waren erfolglos. Von Klampenborg aus sahen wir über den von Schiffen belebten Sund hinüber auf die schwedische Küste.

Am 15. Mai wohnten wir morgens im Riksdags-Gebäude einer Sitzung der internationalen Seerechtskonferenz bei. Dabei entwickelten zwei Franzosen eine bei ihnen sonst seltene Gewohnheit, denn sie übersetzten ihre schön und sachlich in französischer Sprache vorgetragenen Ausführungen in fließendes, gut gesprochenes Englisch. Ein nach ihnen redender Deutscher zeigte leider nicht dasselbe Geschick. Am Nachmittag führten wir wenig aus, da es regnete. Folgenden Morgen schien wieder die Sonne, sodaß sich die Rückfahrt nach Kiel wieder zu einem Genuß gestaltete.

Die Begegnung mit der Stadt Gießen ist für Hans Gmelin keine Liebe auf den ersten Blick. Sie erscheint ihm gegenüber Heidelberg oder Freiburg unbedeutend und die Landschaft rings um seine neue Heimstatt zunächst weniger attraktiv als der Schwarzwald bei Freiburg. Mit den Jahren hat er allerdings die Mittelgebirgslandschaft Hessens zu lieben gelernt und er wird bis zu seinem Tod in Gießen bleiben.

Das Bild zeigt die Schwarzweißwiedergabe einer Ölskizze von H.G., mit einem Blick vom Schiffenberg Richtung Gleiberg, Vetzberg und Dünsberg über das Gießener Becken: „Gleiberg bei Gießen, Juli 1914.“

8 Heinrich Triepel, der als einer der größten Staatsrechtler seiner Generation gilt, blieb auch nur von 1909 bis 1913 in Kiel und wechselte dann nach Berlin.

9 Theodor Hugo Edwin Niemeyer (1857 – 1939) war ein deutscher Völker-rechtler und Hochschullehrer. Im Dreikaiserjahr 1888 promovierte und habilitierte er sich, 1893 wurde er Extraordinarius an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und 1894 Lehrstuhlinhaber für Römisches und Zivilrecht. 1907/1908 war er Rektor. Von 1894 bis 1907 lehrte er Internationales Recht an der Kieler Marineakademie. 1912 Professur für Internationales Recht und Kolonialrecht umgewandelt. 1915 gründete er Niemeyers Zeitschrift für internationales Recht. Vgl. Wikipedia, 7.3.2023.

10 Max Pappenheim (1860-1934), deutscher Hochschullehrer für Deutsches Recht und Handelsrecht.

11 Moritz Liepmann (1869 – 1928) war Rechtswissenschaftler und erster Kri-minologieprofessor an der Universität Hamburg. Gehörte er dem Seminar Franz von Liszts an und habilitierte sich 1897 in Halle für Rechtsphilosophie, Strafrecht und Strafprozess. 1902 Extraordinarius an Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 1910 ordentlicher Professor. Er unterrichtete auch an der Marineakademie und -schule (Kiel). Einem breiten Publikum wurde Liepmann bekannt durch seinen Kampf gegen die Todesstrafe in seinem Gutachten für den Juristentag 1912. 1919 nahm er den Ruf auf einen Kriminologie-Lehrstuhl an die neugegründete Universität Hamburg an. Liepmann war evangelisch! Vgl. Wikipedia, 7.4.2023.

12 Werner Wedemeyer (* 17. Oktober 1870 in Hameln; † 23. Mai 1934 in Kiel) war ein deutscher Rechtswissenschaftler. In Göttingen zum Dr. iur. pro-moviert, ein Jahr später habilitierte er sich. 1908 an Christian-Albrechts-Uni-versität Kiel berufen. 1923/24 und 1924/25 Rektor der CAU. Schwerpunkte: Bürgerliches Recht, Römisches Recht, Zivilprozess- und Arbeitsrecht. Nach Reichstagswahl März 1933 gehörten Wedemeyer und Walther Schücking zu den Professoren, deren Entlassung von der Studentenschaft und der Presse gefordert wurde. Wedemeyer stand zur Weimarer Republik und zu seinem angefeindeten und verfolgten Freund Hermann Kantorowicz. So unter Druck gesetzt, ersuchte Wedemeyer schon am 22. Mai 1933 um seine Entlassung, die am 7. Juni erfolgte. Ein Jahr später starb er mit 63 Jahren. Vgl. Wikipedia, 7.4.2023.

13 Emil Balla (* 6. Februar 1885 in Potsdam; † 11. Juli 1956 in Marburg) war ein deutscher lutherischer Theologe. Wikipedia, 1.4.2024.

14 Bernhard Harms (1876 – 1939) studierte nach einer Buchbinderlehre Staatswissenschaften in der Tradition der Historischen Schule. Nach Promotion und Habilitation Privatdozent in Tübingen, 1908 Professur in Kiel. Unter-stützt vom Preußischen Kultusministerium und städtischen Kaufleuten sowie von der Reichsmarine, der Industrie und aus Kolonialkreisen gründete Harms im Februar 1914 das Königliche Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Kaiser-Wilhelm-Stiftung. Vgl. https://www.ifw-kiel.de/de/institut/ueber-das-ifw-kiel/geschichte/praesidenten-des-ifw-kiel/bernhard-harms.

15 Die Fischauktionshalle war 1913 erst drei Jahre alt und bewährte sich nicht. 1966 sollte sie sogar abgebrochen werden. Heute beherbergt sie das Schifffahrtsmuseum Kiel (seit 1978). Vgl. Schiffahrtsmuseum Kiel, (Art.) Wikipedia, 8.4.2023.

16 Heute wird der Anteil der Dänen, die deutsch sprechen mit 28 Prozent angegeben.

17 Die Insel Slotsholmen.

18 Errichtet 1838 bis 1848.

19 Dies sind die Originale, nach denen die Gußkopien angefertigt wurden!

20 1888 stiftete Carl Jacobsen (Carlsbergbrauereien) eine Sammlung der Öffentlichkeit und ließ von 1891 bis 1897 die Ny Carlsberg Glyptotek für die modernen Skulpturen und Gemälde errichten. 1899 bis 1906 zweite Bauphase an der Rückseite des bereits bestehenden Museums für die antike Kunst errichtete. Vgl. Wikipedia, 8.4.2023.

21 Auch heute noch: Die Wurzeln der Leibgarde reichen bis 1658 zurück. Von Rosenborg aus marschieren die Garden täglich von der Kaserne in Richtung Amalienborg, wo sie um 12 Uhr ihre Kameraden ablösen. Die Uniform der Leibgarde mit der Bärenfellmütze hat sich über 300 Jahre entwickelt, die charakteristischen blauen Hosen werden seit 1822 getragen. Vgl. https://www.kongernessamling.dk/de/amalienborg/slotspladsen/

III. Berufung nach Gießen

Am 18. Juli reiste meine Mutter aus Kiel ab, um sich zur Hochzeit meines Müncheners Vetters Erwin Gmelin zu begeben, die in Frankfurt stattfand. Ich war ebenfalls herzlich eingeladen worden, aber ich mußte leider ablehnen, weil ich fürchtete, daß die ernstliche Magenverstimmung, an der ich damals litt, durch die Teilnahme an dem Feste sich derart verschlimmern werde, daß ich meine Vorlesungen einstellen mußte. Dies wollte ich aber unter allen Umständen vermieden, weil damals ein neuer Ruf schwebte. Prof. Wilhelm von Calker22, der Vertreter des öffentlichen Rechts in Gießen, erhielt einen Ruf auf das durch den Weggang Triepels nach Berlin frei werdende Ordinariat in Kiel. Ich begrüßte diese Berufung, weil ich überzeugt war, daß ich mich mit von Calker gut verstehen werde, der ebenfalls in Freiburg Privatdozent gewesen und gleich mir ein Schüler von Richard Schmidt war. Daß ich selbst für seine Professur in Gießen in Betracht kommen könnte, kam mir damals nicht in den Sinn. Erst später fielen darüber Andeutungen, und am 26. Juli teilte mir von Calker vertraulich mit, daß an-deren Tags der Senatsvorschlag an die hessische Regierung gelangen werde, der mich primo loco als seinen Nachfolger vorschlage. Er fügte hinzu, als künftiger Kieler müsse er wünschen, daß es der preußischen Regierung möglich sei, mich in Kiel zu halten, als heutiger Gießener habe er den entgegengesetzten Wunsch. 22

Vor meiner Abreise aus Kiel traf natürlich noch keine Entscheidung ein. Ich packte nur vorsichtshalber alle meine Sachen in Kisten ein und ließ sie einstweilen in meinem bisherigen Hause, damit sie mir nachgesandt werden könnten, falls der Ruf käme. Am 1. August nachmittags halb drei Uhr verließ ich Kiel und kam anderen Morgen um acht Uhr in Karlsruhe an. Den Vormittag verbrachte ich bei Dölls und im Museum. Als ich am Nachmittag nach Freiburg gefahren war, fand ich dort bereits ein Schreiben des hessischen Ministeriums des Innern vor. Darin benachrichtigte mich der Hochschulreferent, Ministerialrat Weber, daß ich von der Ludwigsuniversität Gießen für die durch die Wegberufung von Calkers frei werdende ordentliche Professur für öffentliches Recht in Vorschlag gebracht sei, und frag, ob ich bereit sei, dem Ruf Folge zu leisten. Als Gebiete meines Lehrauftrags waren Staats-, Verwaltungs-. Kirchen- und Völkerrecht aufgeführt. Ferner wurden mir die geltenden Gehaltsverhältnisse (4.500 bis 6.500 Mark Jahresgehalt bei vierjährigem Aufrücken, Wohnungsgeld für Unverheiratete 260 Mark)... mitgeteilt.

Reisen nach Darmstadt und Berlin

Bereits am 4. August 1913 begab ich mich nach Darmstadt, um bei Ministerialrat Weber zu erklären, daß ich den Ruf annehmen wolle, sobald mich das preußische Ministerium von meinem bisherigen Posten entbunden hät-te. In der folgenden Nacht reiste ich mit meiner Mutter nach Berlin. Dort gewährte mir der stellvertretende Hochschulreferent die Entlassung aus dem preussischen Staatsdienst, sodaß ich nun Ministerialrat Weber telegraphieren konnte: „Da preußische Regierung mir Ausscheiden aus der Kieler Professur bewilligt, nehme ich Ruf nach Gießen an.“ Die Entlassung selbst wurde mir durch Schreiben vom 3. September 1913 (von Naumann unterzeichnet) erteilt. Erst nach Vorlage dieser Urkunde erhielt ich das bereits am 16. August vom Großherzog Ernst Ludwig unterzeichnete Ernennungsdekret.

Über die Reise nach Berlin besitze ich keine Notizen, doch kann ich aus meinem Ausgabenbuch und aus dem Gedächtnis ihren Verlauf einigermaßen rekonstruieren: Der erste Vormittag war dem Besuch im Ministerium gewidmet. Am zweiten besichtigten wir morgens das Schloß und nachmittags die Ausstellung, die namentlich gute Portraits aufwies, ein Bild Bethmann-Hollwegs von Rudolf Schulte23, das den Reichskanzler in sorgenvoller Haltung vorzüglich wiedergab. Der dritte Tag brachte uns recht mächtigen Arger, denn wir ließen uns beim Friseur als echte Provinzielle allerlei Toilettengegenstände und Haarwasser aufschwätzen, für die wir eine unwahrscheinlich hohe Summe zahlen mußten. Aber als neugebackener Ordinarius grämte ich mich weiter nicht. Der Nachmittag aber söhnte uns mit der Reise wieder aus, da wir die zauberhafte Umgebung Potsdams bei schönstem Wetter genossen. Bereits in der folgenden Nacht fuhren wir nach Gießen, um meinen Vorgänger von Calker aufzusuchen und mich meinen künftigen Kollegen vorzustellen. Leider hatte ich keine Zeit, mich auf die Wohnungssuche zu begeben, denn ich mußte schon anderen Tags nach Freiburg zurückkehren, wo ich bei den dort veranstalteten Ferienkursen für Ausländer Vorlesungen übernommen hatte.

Ferienkurse in Freiburg

Auch diesmal erfreuten sich die Freiburger Ferienkurse eines ausgezeichneten Besuchs, etwa 400 Teilnehmer. Hatten das Jahr zuvor hauptsächlich Franzosen teilgenommen, so waren diesmal vor allem Italiener beiderlei Geschlechts vertreten. Auch die von mir abgehaltenen Vorlesungen über die staatsbürgerlichen Rechte der Deutschen waren sehr gut besucht, ich habe – ausgenommen vor der Verwaltungsakademie in Darmstadt – nie vor einer so zahlreichen Hörerschaft Vorlesung gehalten. Auch an einzelnen Ausflügen, die einige Dozenten (Fritz Schulz, Götze, Valentin) mit den Kursteilnehmern unternahmen, beteiligte ich mich, z.B. z.B. ins Glottertal und nach Titisee. Bei diesen Spaziergängen unterhielt ich mich viel mit einigen italienischen Lehrerinnen, besonders Frl. Sola aus Mailand, die mir durch ihre hübsche Erscheinung wie durch Witz und Geist gefiel. Die Gespräche wurden natürlich, weil eben die Ausländer sich im Deutschen üben wollten, nur in dieser Sprache geführt.

Da ich durch die Ferienkurse in Freiburg festgehalten war, und mich daher nicht um Wohnungssuche in Gießen kümmern konnte, reiste meine Mutter am 13. August nach Gießen und sah verschiedene Wohnungen an. Das An-gebot war recht dürftig, nur so ist es zu erklären, daß sich meine Mutter für eine Wohnung entschied, die sich zwar durch die Nähe der Bibliothek empfahl, aber höchst unpraktisch eingeteilt war, weil einige Zimmer in einem anderen Stockwerk lagen. Kaum heimgekehrt reute es meine Mutter, es gemietet zu haben, und wir waren froh, gegen ein Abstandsgeld von 70 Mark von dem Vertrag zurücktreten zu können. Dann mieteten wir telegraphisch eine Parterrewohnung, die meine Mutter ebenfalls besichtigt hatte.

Reise nach Pontarlier

Anfang September verbrachte ich noch eine Woche in der Schweiz. Natürlich fuhr ich wieder zunächst nach Bern zu meinem Vetter Adolf, der mich mit gewohnter Herzlichkeit für einige Tage aufnahm, dann war ich für einige Tage bei Roncas in Fleurier zu Gast und machte einen Abstecher nach Pontarlier, wo damals Marguerite Ronca ihren Bruder Charles, der dort als Zahnarzt wirkte, die Haushaltung führte. Pontarlier ist ein langweiliges, äußerst rückständiges Nest von 10.000 Einwohnern, das nur im Sommer et-was Leben dadurch empfing, daß vier Artillerieregimenter dort ihre Sommerübungen abhielten. Aber die landschaftliche Umgebung, namentlich in der Nähe der Schweizer Grenze ist äußerst reizvoll, und Marguerite zeigte mir einiges davon ... Es folgen Ausflüge...

Anschaffung von Hausrat

Im Übrigen beschäftigte ich mich in jenen Wochen mit der Vorbereitung meiner Vorlesungen und mit der Beschaffung meines Hausrats für meinen Junggesellenhaushalt. D. h. Junggesellenhaushalt ist eigentlich zu wenig gesagt, denn da ich mit meiner Mutter zusammen in Gießen wohnen wollte, ohne doch den Haushalt in Günterstal aufzulösen, bedurfte ich eines ebenso vollständigen Haushalts, wie wenn ich mich verheiratet hätte. Das kam mir später zustatten, als ich mich zu einer Zeit verheiratete, in der Neuanschaffungen auf große Schwierigkeiten stießen.24 Meine Ausstattung vom Jahre 1914 kostete nicht weniger als 5.350 Mark; darunter Möbel 3.430 Mark, eine Schwarzwälder Uhr 104, Vorhänge 231, Teppiche 284, Lampen 298, Weißzeug 226, Bettzeug 292, Tafelgeschirr 113, Küchengeschirr 119 Mark. Die meisten Möbel kaufte ich in dem Möbelhaus von Scherer in der Kaiserstraße, besonders vorteilhaft ein Biedermeierzimmer mit einem Sofa, zwei Sesseln und zwei Schränken für 1080 Mark.

Nachbar Popp

Außer diesen Vorbereitungen für meine Übersiedlung nach Gießen nahm uns der Bau auf dem Nachbargrundstück sehr in Anspruch. Im Frühjahr hatte sich nämlich ein neuer Käufer für den anstoßenden Bauplatz, ein schon älterer Herr namens Popp aus Hamburg gebürtig, der Jahre lang als Kaufmann in Japan tätig gewesen war <gefunden>. Wie das erste Mal lehnte ich es ab, mich sofort über die Ausübung meines Vorkaufsrechts auszusprechen. Aber Herr Popp ließ sich durchaus nicht abschrecken, mit echt hanseatischer Beharrlichkeit wartete er den Ablauf der Erklärungsfrist ab und begann dann zu bauen. Ich ärgerte mich gleich darüber, daß die Bauhütte unmittelbar an meinem Geländer errichtet wurde und es hätte wenig gefehlt, so hätte ich fußend auf meine eingetragene Abstandsgerechtigkeit, eine einstweilige Verfügung beantragt, um die Verlegung der Bauhütte zu erreichen. Zum Glück bewog mich Kollege Honiger, den ich um Rat frug, von diesem unbedachten Schritt Abstand zu nehmen, denn ich hätte im Fall es zum Rechtsstreit gekommen wäre, sicherlich verloren, weil die Abstandsgerechtigkeit sich nur auf dauernde Bauten bezog. Dagegen drang ich durch in der Anwendung meiner Ansprüche in Bezug auf das Haus selbst. Architekt Wildmann, der die Villa erbaute, hatte geglaubt, die Bestimmungen der Bauverordnung, danach Vorsprünge und Erker an einem Hause noch 1,50 Meter über die von öffentlichem Recht bestimmten Baufluchtlinien und Abstände hinausreichen dürfen, vorausgesetzt, daß sie eine bestimmte Breite nicht überschreiten, kämen auch für private Dienstbarkeiten zur Anwendung. Das traf jedoch nicht zu. Und so mußte er den gegen unser Haus gerichteten Eingangsvorbau und den nach Westen vorspringenden Erker entsprechend den im Grundbuch eingetragenen Abstandsgerechtigkeiten auf unseren Einspruch zurückrücken, was in der Aussicht schon einiges ausmachte. Selbstverständlich habe ich meine Ansprüche sofort gestellt, als die Pflöcke für den Bau gesteckt worden waren und ich durch Abmessung mit dem Bandmaß die Abweichung von den vereinbarten Linien festgestellt hatte, sodaß meinem Nachbarn aus der Änderung keine Unkosten erwuchsen.

Viel mehr Scherereien entstanden um den Aufgang an der Valentinstraße. Kraft der zwischen mir und Peter abgeschlossenen Verträgen hatte Herr Popp als Käufer des anstoßenden Bauplatzes nicht nur das Recht, den von uns angelegten Weg als Zugang zu seinem Grundstück zu benutzen, sondern durfte durch den an der Westseite unsres Gartens herlaufenden noch im Eigentum von Peter stehenden Zweimeter-Streifen und den im Gemeineigentum stehenden Abhang für die Legung der Kanalisation benützen.

Die Angelegenheit der Böschung

Ich hatte gleich Bedenken gegen diese Kanalisation des Pöppschen Anwesens nach dieser Seite, weil das Grundstück Popps tiefer lag als das unsrige und daher der Kanalgraben, um das nötige Gefälle nach der Valentinstraße zu bekommen, besonders tief eingeschnitten werden müßte. Vergeblich erhob ich beim Bezirksamt Einwände. Die Genehmigung der Kanalisation wurde in der beantragten Richtung genehmigt. Daß aber meine Bedenken nicht grundlos gewesen waren, zeigte sich alsbald. Denn kurz, nachdem wir in Gießen eingezogen waren, im November stürzte ein großer Teil der Böschung herunter. Da durch den Schutt ein Teil der Valentinstraße gesperrt wurde, erhielten Peter und ich als Miteigentümer vom Bezirksamt die Auflage, die herabgestürzten Erdmassen zu beseitigen und die Böschung durch eine Stützmauer in geeigneter Weise zu festigen. Sofort reiste meine Mutter nach Freiburg, um die Angelegenheit an Ort und Stelle zu ordnen. Ich konnte sie leider nicht begleiten, da die Vorlesungen bereits begonnen hatten. Zuerst ging ich mit der Absicht um, Herrn Popp zu der Wiederherstellung des Abhangs heranzuziehen, da es höchst wahrscheinlich war, daß das in den noch offenen Kanalisationsgraben eingedrungene Regenwasser zu der Senkung der Böschung beigetragen hatte. Aber die von mir zu Rate gezogenen Sachverständigen waren der Auffassung, daß sich die Ursache schwer nachweisen lasse, und so unterließ ich auf Rat des Rechtsanwalts die Stellung von Ansprüchen. Also blieben Peter und wir allein für die Beseitigung des polizeiwidrigen Zustandes haftbar und zwar entsprechend den Eigentumsanteilen Peter zu drei, ich zu einem Viertel. Freilich hatte ich nach dem mit Peter geschlossenen Vertrag vom 1. Oktober 1911 die Kosten für den Wegebau allein zu tragen, aber vorbehaltlich der Überwälzung der Hälfte der Kosten auf den Käufer der nächsten Parzelle. Da jedoch Peter Herrn Popp