1940. Die versunkene bürgerliche Welt 3 -  - E-Book

1940. Die versunkene bürgerliche Welt 3 E-Book

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Beschreibung

Der dritte Band der Lebenserinnerungen von Hans Gmelin führt uns in dessen Glanzzeit als Berater der hessen-darmstädtischen Landesregierung bei der Verfassung für einen demokratischen "Volksstaat". Er zeugt von der Gründung seiner Familie, vom Erwerb eines Eigenheims und dann der Machtergreifung des Nationalsozialismus, der alle Träume von einer künftigen Rechtssicherheit im deutschen Sprachraum und darüber hinaus wegfegt. Diese umfangreiche Biographie verdankt sich dem inneren Exil von Hans Gmelin, der die Zeit, die er früher auf juristische Fachveröffentlichungen aufgewendet hatte, nun in die handschriftliche Verfassung seiner Lebensgeschichte steckt. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs starb Hans Gmelin, ohne Hoffnung auf die Erneuerung rechtssicherer Verhältnisse, als der Nazi-Terror in Deutschland kaum auf Widerstand traf.

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Inhalt der Gliederungspunkte1:

Vorab

I. Ausflug in die Schweiz

II. Sommer 1920: Dienstagskranz

III. Verlobung und Hochzeit

IV. Bei Vetter Hermann dem Salon-Bauern

V. Rötteln, Gießen und Karlsruhe,

VI. Das Abenteuer vom Kölner Hauptbahnhof

VII. Verlobungsfeier und Hochzeit, Okt. 2020

VIII. Gedicht zur Hochzeit 1920 von Karl Döll

IX. Die Hochzeit in Rötteln am 27. November 1920

X. Verregnete Hochzeitsreise 30. November 2020

XI. Neues Familienleben

XII Inflationszeit in Gießen im Sommersemester 1921

XIII. Urlaub im Vogelsberg

XIV. Sohn Ulrichs Geburt am 4.11.1921 und erste Zeit

XV. Einladung zur Vereinigung der Staatsrechtslehrer

XVI. Gründung der Vereinigung der Staatsrechtslehrer, 13./14. Oktober 1922

XVII. Familienleben, Gießen ab Jahresende 1922

XVIII. Inflationsfolgen 1923

XIX. Sohn Günters Geburt am 11.7.1923 und erste Zeit

XX. Einführung der Rentenmark

XXL Sorge um Fortbestand der Universität

XXII. Die Reise nach Italien März / April 1924

XXIII. Reichtagswahlen - und Sommersemester 1924

XXIV. Semesterferien 1924

XXV. Zweite Italienreise nach Venedig ab 12. September 1924

XXVI. Wintersemester 1924/25

XXVII. Staatsrechtlertagung Leipzig, 8./9. März 1925

XX.VIII. Krankengeschichten Gießen ab April 1925

XXIX. Dritte Reise nach Italien 1.-23. September 1925

XXX. Wintersemester 1925 / 26

XXXI. Staatsrechtlertagung in Münster, 28./29. März 1925

XXXII. Krankengeschichten ab Mai 1925 / 26

XXXIII. Ausschuß für internationales Binnenschifffahrtsrecht Berlin, 12.-15. April 1926

XXXIV. Sommersemester 1926

XXXV. Rede zur Weimarer Reichsverfasssung in Nauheim,

Demokratie und Diktatur.

11.August 1926

XXXVI. Reise nach dem Orient, Türkei und Griechenland September 1926

XXXVII. Wieder in Deutschland ab Oktober 1926

XXXVIII. Vorbereitung und Finanzierung eines Eigenheims

XXXIX. Der Hausbau rückt näher; Sommersemester 1927

XL. Baubeginn am 5.7.1927

XLI. Reise an den Genfer See Sept 1927

XLII. Zurück zur Baustelle am Nahrungsberg

XLIII. Das Wintersemester 1927/28

XLIV. Innenausbau und Baudekoration im Januar 1928

XLV. Das Ende der Baustelle

XLVI Ab Oktober 1928 in Gießen

XLVII. Familienurlaub in Lugano Mitte April 1929

XLVIII. Staatsrechtlertagung in Frankfurt am Main, 25./26. April 1929

XLIX. Literarische Beiträge und Kirchenfinanzierung im Sommersemester 1929

L Abschied von Günterstal, Semesterferien 1929

LI. Festschrift für Richard Schmidt

LIL Das Buch über die Weimarer Reichsverfassung

LIII. 1930 Verkauf des Günterstaler Hauses, Hessische Finanznot, Landeskirche

LIV. Führerschein auf BMW Dixi 1930

LV. Heiliger Abend 1930

LVI. Die politische Lage am Ende des Jahres 1930

LVII. Die politische Lage 1931

LVIII. Die politische und wirtschftliche Lage Sommer 1931

LIX. Erstarken der NSDAP im Landtag, Nov. 1931

LX. Reise nach Nordwestdeutschland, August 1932

LXI. Wie es im III. Reich zu dieser Autobiographie kam

LXII. Erschütterter Rechtsstaat, Brie an Adolf Mayer 1934

LXIII. Der Rennklub als Gesamtsenat

LXIV. Weitere Not der juristischen Fakultät

LXV. Reise in den Osten Deutschlnads bis Ostpreußen

LXVI. Wissenschaft und Nationalsozialismus in Theorie und satirischer Praxis (1937)

LXVII.

Das politische Manifest von H.G

LXVIII. Lehrtätigkeit im Krankenstand

LXIX Sommerreise nach Hausverkauf 1938

LXX. Politische Spekulation und Reisebericht

LXXI. Kurz vor Kriegsbeginn

LXXII. Ernste Gesundheitseinschränkungen

LXXIII. Krise und Bronchialkatarrh 1940

LXXIV. Letzte Zukunftsplanungen 1940

LXXV. Verhältniswahl und Gelenkrheumatismus 1940

LXXVI. Das Verhältnis zwischen Außen- und Innenpolitik in Geschichte und Gegenwart, Frag. 1941?)

Verzeichnis der Jahreszahlen

Literatur

Index

ausgewählter Personen

Abbildungsverzeichnis

1 Eine Liste mit allen Zwischenüberschriften findet sich ab Seite 877.

VORAB

Auch bei der Lektüre des dritten Bandes der Lebensbeschreibung von Hans Gmelin ist es wichtig, sich den Abfassungszeitpunkt von 1934 bis ca. 1940 vor Augen zu halten. Bei einer Betrachtung des nationalsozialistischen Deutschlands erwarten wir heute bei einem, der nicht dafür war, deutlich klarere Worte gegen das Regime und seine Verbrechen. Dabei ist zum Einen zu beachten, dass Hans Gmelin mindestens sein „Politisches Manifest“ in diesem nachgelassenen Manuskript für seine beiden Söhne schreibt. Er weiß, dass diese seit Jahren in ihren Schulen der Propagandawirkung ihrer Lehrer ausgesetzt sind. Auch gehören zu seinen eigenen Quellen die ideologisch gefärbte Berichterstattung im Dritten Reich, wie an den Gedanken über die „Nacht der langen Messer“ 1934 deutlich wird. Und schließlich hat der Holocaust, das barbarischste Verbrechen des Nationalsozialismus und gleichgeschalteteter Organe noch nicht stattgefunden, wohl aber die systematische Verdrängung jüdischer Mitbürger aus öffentlichen Ämtern, die Gmelin auch benennt, zumal viele seiner Freunde betroffen sind. - Mit diesen Vorüberlegungen kann der nachfolgende Text halbwegs gerecht gelesen werden. Für uns Nachgeborene unerträglich ist der Alltagsrassismus, der in diesem Zeitalter zwar viele befallen hat, den man aber aus heutiger Sicht dennoch kaum ertragen kann. Hans Gmelin, der Augen- und Fami-lienmensch beurteilt – darin sehr modern – nach dem äußeren Bild. Leider fällt ihm dabei nicht auf, dass seine Vorurteile gegen die anderen von ihm selbst immer wieder konterkariert werden. Oft benennt er die jüdische Herkunft eines Menschen als Grund für schlechte Eigenschaften, um sich an anderer Stelle über einen engstirnigen Antisemitismus zu amüsieren. Durch seinen Bekannten, Eugen Fischer, dem Chefrassisten der NSDAP, bekam diese Haltung auch noch den Schein des wissenschaftlichen Rechts, da dieser den Rassismus anthropologisch herleitete. Manche Formulierung gegen fremde Kulturen und Personen jüdischer Herkunft bleiben dennoch unerträglich und unverzeihlich, zumal viele der besten Freunde Gmelins jüdischer Herkunft waren.

Zuletzt ist noch zu beachten, dass der Autor dieser jahrelang zusammengetragenen Erinnerungen von Proustscher Intensität in einer prekären Situation steckt:

Er kann nichts mehr veröffentlichen, weil für ihn der NS-Staat das Ende der Meinungsfreiheit bedeutet. Das, was er Studenten beibringt, entspricht ei-ner NS-Studienordnung, die nicht seinen Vorstellungen entspricht. Er sitzt in dem mittlerweile wegen seiner NS-Orientierung verhassten Gießen und kommt von dort nicht mehr weg. Der interne NS-Druck ist in dieser kleinen Universität besonders bedrückend und unausweichlich. Hans Gmelin ist verbittert, zumal er sich seit dem Tod seiner Mutter 1934 auch heimatlos fühlt. Gießen war erträglich, solange er ein-, zweimal jährlich „nachhause“ nach Freiburg fahren konnte. Nach dem Tod der Mutter und dem Verkauf des Häuschens in Hinterzarten gibt es keinen Grund mehr, dorthin zu fahren. Dieser Gedanke war ihm schwer erträglich.

Der Gießener Enkel von Hans Gmelin hat sich immer gefragt, warum dieser sich nach seinem Tod in seiner verhassten Geburtsstadt Karlsruhe hat bei-setzen lassen. Die Antwort ist vermutlich einfach: Weil er Gießen unter dem Eindruck von Denunzianten und NS-Anpassern noch mehr gehasst hat.

Wiesbaden, im Mai 2024,

Ralf-Andreas Gmelin

Memoiren von Hans Gmelin 3

1920.

I. Ausflug in die Schweiz

Am Pfingstsonntag konnte ich natürlich keine dienstlichen Besuche ausführen. Daher nützte ich den Tag zu einem Ausflug in die sächische Schweiz. Um zehn Uhr fuhr der Dampfer, auf dem es von Pfingstausflüglern wimmelte, an der Brühlschen Terrasse ab, die Fahrt ging an den hügeligen Villenvororten Dresdens vorbei und an dem sich schön aufbauenden Pirna (sprich „Bürna“) vorüber dem Sandsteingebirge zu, das das Elbtal zwischen felsigen Höfen einklemmt. In Rathen am Fuß der Bastei stieg ich aus. Nach einem Imbiß folgte ich dem Amselgrund, einer engen von Wald erfüllten Schlucht, in der ich seltsame Felsgebilde sah, aber alles in kleinem Maßstabe. Es sieht aus, wie wenn man Stücke der Dolomiten auf die Ebene gesetzt hätte. Nun stieg ich zur Linken zur Bastei hinauf. Die steil aufragenden Felstürme könnten schon Achtung einflößen, und es kann einer an ihnen schon das richtige Kraxeln erlernen, aber die Natur ist doch zu sehr bezwungen, denn ein bequemer Weg führt an ihm empor und über eine tiefe Schlucht zwi-schen zwei Felstürmen führt gar eine breite Brücke. Vollends wird einem die Illusion des Hochgebirges geraubt durch die Masse sonntäglich geputzter Großstädter und allerlei Verkaufsstände, zwischen denen man des Weges zieht. Doch das alles darf einem die Freude an den prächtigen Ausblicken auf die steilen Felsmauern und auf die ruhig an ihrem Fuß dahinfließende Elbe nicht vergällen. Nach zweistündiger Wanderung, über den Felsenkamm und zum Schloß wieder durch eine Schlucht kam ich nach Wehlen. Nach Genuß echt sächsischen Kaffees fuhr ich mit dem Dampfer in zweieinhalb Stunden nach Dresden zurück. Noch lange grüßten die über das Hochplateau herausragenden Tafelberge herüber. Pfingstmontag besuchte ich morgens die Gemälde-gallerie. Sie ist bekanntlich eine der bedeutendsten Sammlungen und besonders berühmt, weil sie die sixtinische Madonna enthält. Dieses Werk, so sehr es mich durch seine duftige Malweise überraschte, fesselte mich übrigens nicht so sehr, daß ich nicht daneben auch andere Bilder würdigte: So einen herben Mantegna, „Heilige Familie“, oder die sogenannte „Schöne Gärtnerin“2 – Madonna mit Jesus und Johannes – eine prächtige Dreieckskomposition, ganz im Raffaelschen Sinne, selbst wenn das Werk nicht von ihm stammt. Oder verschiedene Tiziansche Gemälde, vor allem der Zinsgroschen; dann die Madonna des Bürgermeisters Meyer von Holbein dem Jüngeren, jenes Werk, dessen sich eine so gute Kopie in Darmstadt befindet, daß sie lange Zeit dem Dresdner Original die Echtheit streitig machte.3 Oder die von überfeinerter Kultur und aristo-kratischem Hochmut erfüllten Bildnisse der Henriette von Frankreich und Karls I. von England von van Dyk4, dann wieder Werke der holländischen Schule, wie der in düsterer Gewitterstimmung gehaltene Judenfriedhof Ruysdaels, oder endlich Bilder der spanischen Schule, wie die unschuldsvolle Heilige Agnes von Ribera. Leider war der Genuß der Kunstwerke stark beeinträchtigt durch die Menge der Besucher, die durch die Säle strömte. Die Gemäldegallerie ist in dem von Semper Mitte des 19. Jahrhunderts erbauten Museum untergebracht. Es bildet die eine Seite des Zwingers und fügt sich im Hochrenaissancestil erbaut, ganz glücklich in den Rahmen des Zwingers ein. Der Zwinger selbst mit seinen Gallerien und Pavillons machte auf mich einen geradezu festlichen Eindruck. Nicht minder gefielen mir die anderen Bauten aus der Barockzeit, die Hofkirche und die quadratische kup-pelbekrönte Frauenkirche. Am Nachmittag machte ich bei verschiedenen Stadträten Besuche, ohne jedoch jemanden anzutreffen.

Marta und Hans 1922 im Atelier des Photographen Uhl, auf dem Tisch der zweite Band von Oswald Spenglers „Untergang des Abend-landes“ (1922), einer geschichtsphilosophischen Spekulation, die viel-leicht zur Staffage des Ateliers gehörte, dessen Titel aber in Deutsch-land unheilvolle Wirkung – entgegen den Absichten ihres Autors entfaltet hatte. Mit herzlichem Dank an Hansjörg Ulf Schneider für die Rettung und Verarbeitung der Photoplatte und bei Christian Pöpken vom Gießener Stadtarchiv für die freundliche Überlassung.

Erst am Dienstag, den 25. Mai konnte ich meine Aufgabe ausfuhren: Mor-gens machte ich dem zweiten Bürgermeister Kretschmer und dem Stadtrat Arras meine Aufwartung, nachher dem Stadtrat Temper in einem städti-schen Büro jenseits der Elbe. Gegen Abend hatte ich längere Bespre-chungen mit Dr. Frey, dem Bewerber um die Gießener Beigeordnetenstelle. ... Fortsetzung unklar

2 Nach der deutschen digitalen Bibliothek ist dies eine Kopie des 18. Jahrhunderts („vor 1749“) von dem Original, das Raffael gemalt hat und das im Louvre zu sehen ist.

3 Der Dresdner Holbein-Streit ist wohl in der Gegenrichtung entschieden. Die Darmstädter Madonna gilt als das Original, auch wenn sie heute nicht mehr in Darmstadt hängt; die Dresdner Madonna ist eine Kopie. Emil Major schrieb sie 1910 dem Maler Bartholomäus Sarburgh zu und datierte die Entstehung auf zwischen 1635 und 1637. Vgl. Wikipedia, 24.7.2023.

4 Anthony van Dyck, Portrait der Königin Henriette...

II. Sommer 1920: Dienstagskranz

Durch meine Hilfstätigkeit im Kreisamt, andererseits durch Dekanats- und sonstige Universitätsgeschäfte (in den Juli fielen nicht weniger als vier Fakul-tätssitzungen und zwei Senatssitzungen), dazu kamen zwei Vorträge im nationalliberalen Verein. Trotzdem fand ich noch Zeit, einige Rennklubausflüge mitzulaufen. Auch mit dem Malkasten zog ich aus, denn am 17. Juni malte ich die alte Stauferburg Münzenberg von dem gegenüber liegen-den Steinberg5 6 aus.

Ende Mai besuchte uns mein Vetter Otto Gmelin, der spätere Schriftsteller. Dies gab Anlaß zu mehreren Ausflügen. In jenem Sommer führte mich Kollege Rosenberg6 am 6. Juni in den Dienstagskranz ein, einem Unterhaltungsclub älterer Herren. Er bestand schon seit dem Jahre 1825 und verei-nigte Vertreter aller möglichen Berufe, Universitätsprofessoren und Stu-dienräte, Richter und Verwaltungsbeamte, Bürgermeister und Offiziere, Ärzte und Apotheker, Bankdirektoren und Industrielle. Aus dem dama-ligen Mitgliederbestand nenne ich nur den Forstwissenschaftler Geheimrat Wimmenhan (?)7, der trotz seines hohen Alters...

5 Erhebung mit Felsenmeer östlich von der Burg Münzenberg.

6 Leo Rosenberg (* 7. Januar 1879 in Fraustadt, Provinz Posen; † 18. Dezember 1963 in München) Nach Studium der Rechtswissenschaft 1900 an der Universität Breslau promoviert. Prägte die nach ihm benannte Rosenbergsche Formel, nach der im Grundsatz jeder die Beweislast für das Vorliegen der ihm günstigen Tatsachen trägt. Nach Habilitation 1906 in Göttingen ab 1912 Extra-ordinarius, ab 1916 Ordinarius und 1926/1927 Rektor an Universität Gießen. 1932 o. Professor an Universität Leipzig. Wegen seiner jüdischen Herkunft 1934 zwangsweise in Ruhestand. Überlebte die nationalsozialistischen Verfolgungen.

III. Verlobung und Hochzeit

In Freiburg: Die Zeit bis zum „Verlobungstag“, Dienstag, 31. August 1920

Anderen Tags erkrankte ich an Grippe, die wohl durch die Erkältung und die Darmverstimmung in Römerkessel, zum Teil wohl auch durch Aufregung ausgelöst wurde. Zu Hause fand ich einen übrigens ganz farblosen Kartengruß von Frl. Meili aus München vor. Aber wenige Tage nach mei-ner Rückkehr traf eine Karte mit den Worten: „Es wird eine freudige Über-raschung sein,“ die einen Brief ankündigte. Da wußte ich, daß sie sich ent-schieden hatte, ihr Leben mit dem meinen zu verbinden. Anderen Tags erhielt ich den Brief bereits. Sie teilte mir darin mit, daß sie ihren früheren Bräutigam – von dem sie sich bereits ein Jahr zuvor losgesagt hatte – endgültig abgeschrieben habe. Marthel8 erklärte sich bereit, meinen Antrag anzunehmen. Sie glaubte, daß der große Altersunterschied keine Rolle spie-len werde, weil wir uns verstünden. Noch am gleichen Tage, am 31. August, der unseren Verlobungstag bedeutet, dankte ich meiner Braut telegraphisch für die glückbringende Nachricht und sandte ihr einen dankerfüllten Brief. Ich schrieb vom Bett aus, denn der Arzt ließ mich nicht aufstehen, bevor das Fieber geschwunden war, natürlich eingeschrieben aus lauter Angst, die wichtige Nachricht könne verlorengehen. Mein Brief zeugt von großer Un-geduld, denn ich schlug vor, den Zeitpunkt der Hochzeit möglichst nahe zu rücken und bat meine Braut, ihre Stelle bei Goossens möglichst rasch aufzu-geben. Ich lud sie ein, sich bei uns in Günterstal zu erholen, dann mit uns und ihrer Mutter nach Gießen zu fahren zur Inspizierung meiner Wohnung, um sich zu über-zeugen, daß wir nicht viel zur Ergänzung meines Haushalts beschaffen müßten. Vor allem aber nahm ich eine Verlobungsfeier in Aussicht. Am folgenden Tag hielt ich brieflich bei meinen Schwiegereltern um die Hand ihrer Tochter an. Wiederum konnte ich – wie mein Brief vom 3. September zeigt – ihre Zusage kaum abwarten und doch hatte ich, da meine Braut alsbald ihren Eltern schrieb, schon am 4. September die Zustimmung meiner Schwiegereltern, von meiner Schwiegermutter geschrieben, da mein Schwiegervater gerade eine Reise hatte antreten müssen. In mei-nem Brief hob ich hervor, daß ich Marthel auf den zwischen uns beste-henden großen Altersunterschied hingewiesen habe, daß aber Marthel in ihm keinen Hinderungsgrund für gegenseitiges Verständnis erblickte. Ich legte auch offen meine Einnahmen dar, um auch in dieser Hinsicht keine Illusionen hervor-zurufen. Doch gab ich der Hoffnung Ausdruck, daß Marthel in den ange-nehmen gesellschaftlichen Verhältnissen Gießens sich wohlfühlen werde und daß sie im Kreise der Frauen meiner Kollegen vor dem Gefühl der Ver-einsamung bewahrt bliebe und daß die mannigfaltige Umgebung Gießens ihre Freude an der Natur befriedigen werde.

War ich vor allem bestrebt, über mein Alter und über meine materiellen Verhältnisse keine falschen Vorstellungen zu erwecken, so fürchtete meine Schwiegermutter, die Bildung Marthels könne mir vielleicht nicht genügen. Das war eine unnötige Sorge. Wenn meine Verwandten früher gelegentlich äußerten, ich werde einmal eine „Gstudierte“ heiraten, so waren sie völlig auf dem Holzweg. Mein Sinn stand nicht nach übergebildeten eman-zipierten Frauenzimmern. Was ich brauchte und wünschte, war eine Lebensgefährtin, die den Pflichten einer Hausfrau und einer Mutter genügen konnte, die aber darüber hinaus mir in allem ein treuer Kamerad zu werden versprach. Dazu war keine abgehobene Bildung vonnöten. Übrigens ging Marthels musikalische Vorbildung über den üblichen Durchschnitt hinaus, indem sie nicht nur das Violinspiel erlernte, sondern auch im Klavierspiel, namentlich durch häufiges vierhändig spielen mit ihrer Schwester Friedel, eine beneidenswerte Fertigkeit gewonnen hat, sodaß sie mich später beim Violinspiel trefflich begleiten konnte.

Die Ehefrau Marta Meili

Es mag am Platze sein, hier einiges über die Familie meiner Frau einzu-stellen. Meine Schwiegereltern waren Schweizer und zwar besaßen beide die zürcherische Staatsangehörigkeit. Die Familie meines Schwiegervaters soll aus Graubünden stammen, worauf auch sein ausgesprochen dinarischer Gesichtstypus hinweist. Er war bäuerlicher Herkunft, noch sein Großvater betrieb die Landwirtschaft, aber da sein Bauernhof abbrannte, so mußten die Söhne sich nach anderen Beschäftigungen umsehen. Der Vater meines Schwiegervaters erbaute eine kleine Fabrik, die ebenfalls dem Feuer zum Opfer fiel. Auch dadurch geriet er in bedrängte Verhältnisse. Mein Schwiegervater, streng religiös erzogen, wollte ursprünglich den Beruf des Missio-nars ergreifen, aber die Notlage seiner Familie zwang ihn, darum besuchte er die Webschule in Zürich und übernahm schon in jungen Jahren die Leitung einer Webfabrik in Gütersloh9 in Westfalen (1894).

Im Laufe des Sommersemesters entsprang der flüchtigen Eisenbahnbekanntschaft mit Frl. Meili ein regelmäßiger Briefwechsel, der schließlich zu einem Bund fürs Leben führte. Dem Briefe Marthels vom 2. Februar 1920, ließ ich erst Ende April, am 25., einen allerdings recht ausführlichen folgen, in dem ich ihr von unserem Garten in Günterstal und von meiner Geige erzählte. Die Antwort ließ auf sich warten. Marthel hatte am 15. Februar eine Stelle in der Familie eines Aachener Großindustriellen angenommen – sie hatte dessen beiden Mädelchen im Alter von sechs und acht Jahren zu betreuen. Als die beiden an Scharlach erkrankten, hatte sich Marthel angesteckt, wenn auch die Krankheit bei ihr nicht zu vollem Ausbruch kam. Seelische Kämpfe spielten herein – die Überwindung einer früheren Ent-täuschung. So kam es, daß sie mir nach flüchtiger Karte erst am 20. Juni einen Brief sandte, in dem es mich besonders ansprach, daß sie aus seeli-scher Not Trost in der Natur suchte. Von da ab vertrauten wir uns immer mehr über unser Leben, unsere Anschauungen und unsere Angehörigen an. Als mir Marthel am 4. Juli schrieb, „Sie haben mich durch Ihre wohltu-enden, liebevollen Worte zu einem viel froheren, heitereren Menschen gemacht,“ da fühlte ich, daß ich den Weg zu ihrem Herzen finden konnte. Um Marthel kennen zu lernen, lud sie meine Mutter, die damals gerade in Gießen weilte, für einige Tage ein. Leider konnte Marthel der Einladung nicht Folge leisten, da sie in jenen Tagen ihre Schützlinge nach Tutzing am Starnberger See zu begleiten hatte. In dem Briefe, den ich der Einladung meiner Mutter beilegte, ließ ich durchblicken, daß ich gelegentlich eines Ausflugs mit meiner Mutter ihren Eltern einen Besuch abstatten wolle. Marthel teilte dieses Vorhaben, ihren Eltern mit, denn sie schrieb mir in einem späteren Briefe, daß ihre Mutter sich auf unseren Besuch freue. Da die Dekanatsgeschichten mich noch über den Semesterschluß hinaus in Gießen festhielten, so konnte ich mit meiner Mutter, die seit dem 13. Juli wieder in Gießen weilte, erst am Freitag, den 12. August nach Freiburg reisen.

Bereits am Freitag, den 13. August bat ich die Eltern Marthels um die Erlaubnis, ihnen an einem der nächsten Tage mit meiner Mutter unsere Aufwartung machen zu dürfen. Am folgenden Tage, dem Samstag, traf die Draht-Nachricht ein, daß sie uns am Sonntag erwarteten. Ich retourierte telegraphisch, daß wir mit dem 3:00 Uhr Zuge nach Lörrach kämen. In Wirklichkeit aber reisten wir schon mit dem Morgenzuge, wanderten nach Tumringen und stiegen bei einförmig bedecktem Himmel hinauf zum Röttler Schloß. Auf dem Wege sahen wir das malerische Kirchlein, in dem später die Trauung stattfinden sollte und schauten hinab zu der, von meinem künftigen Schwiegervater geleiteten Seidenfabrik, der Geburts-stätte Marthels.10 Nachdem wir nach Lörrach zurückgekehrt waren und dort gegessen hatten, begaben wir uns zum Dreiuhr-Zug an den Bahnhof. Wir suchten nun zu erraten, wer von den Leuten, die sich nach und nach in Erwartung des Zuges an der Sperre einfanden, wohl Herr Meili sein mochte, rieten aber ganz daneben, denn nicht er, sondern Frau Meili er-schien an der Bahn: Als der Zug eingetroffen war, verließ ich mit meiner Mutter den Bahnhof. Da schritt eine schwarzgekleidete Dame auf uns zu und frug, ob wir Frau Gmelin und ihr Sohn seien. So lernte ich meine künftige Schwiegermutter kennen. Sie war im eigenen Gefährt gekommen, um uns abzuholen. Begleitet war sie von ihrer Tochter Friedel, die in einem weißen, ziemlich kurzen Kleide sehr jung aussah, sodaß ich sie auf etwa 17 Jahre schätzte. Als wir in dem Wagen verstaut waren, die beiden Mütter auf den Vorder-, wir beiden anderen auf den Rücksitzen, sagte ich Friedel, ich hätte ihre ältere Schwester kennen gelernt, denn ich hatte Marthel für ca. 23jährig gehalten. Darum fiel ich aus allen Wolken, als Friedel mich ver-besserte: „Meine jüngere Schwester.“ Erst nachher erfuhr ich, daß Marthel beinahe 20, Friedel 22 Jahre zählte. Gleich nach Beginn der Wagenfahrt brach ein starker Regenguß los. Während die Mütter durch das Wagen-dach einigermaßen geschützt waren, wurden Friedel und ich, trotzdem ich den Regenschirm über uns beide hielt, pudelnaß geregnet. In der Fabrik, in der damals Meilis zwei Stockwerke des Wohnflügels bewohnten, begrüßte uns Vater Meili.

In Martas Röttler Elternhaus

Wir saßen den ganzen Vormittag bei einander und wurden vorzüglich bewirtet, erst mit Kaffee, später mit Wein, wobei uns völlig in Vergessenheit geratene Genüsse, wie Weißbrötchen, Milch und Schweizer Käse bereitet wurden. So saßen wir mit Meilis gemütlich plaudernd, nur einmal durch ei-nen kräftigen Donnerschlag aufgeschreckt. Im Wechselgespräch gaben wir uns gegenseitig, allerdings noch mit einer gewissen Zurückhaltung, Einblick in unsere Lebensverhältnisse und gedachten auch Marthels, an die mir Meilis Grüße auftrugen. Erst gegen neun Uhr fuhren wir wieder von Lörrach ab und kamen gegen elf Uhr in Günterstal an.

Nun beschloß ich, Marthel dort aufzusuchen, die Reise durfte ich nicht zu sehr verzögern, weil die Familie, bei der sie war, schon bald Tutzing wieder verlassen wollte. Da ich die Absicht hatte, dem Zusammentreffen mit Marthel, sie möglicherweise schon um ihre Hand zu bitten, so hatte ich es für passend gehalten, mich bereits vorher ihren Eltern vorzustellen. Schon am übernächsten Tage, den 17. Oktober, reiste ich nach Tutzing ab. In aller Morgenfrühe ging ich zu Fuß an den Wiesenbahnhof, um mit dem Fünf-uhrzug über Donaueschingen nach Konstanz zu fahren. Nach fünf-stündiger Dampferfahrt, während deren Regen mit Sonnenschein wech-selte, erreichte ich um fünf Uhr Lindau. Nach einer Stunde ging mein Zug, der erst zu später Stunde, um halb elf Uhr in München eintraf. In dem überfüllten Wagen unterhielt ich mich mit zwei Studentinnen und einem Berliner Gerichtsassessor. Dieser reiste nach München, um sich dort mit seinem ehemaligen Schatz aus seiner Studentenzeit zu treffen. Und richtig holte ihn dieses Mädchen an der Bahn ab, begleitet von einem andern Mädchen, die auf den folgenden Sonntag gerne ein Stelldichein mit mir verabredet hätte, doch verzichtete ich auf dies lockende Abenteuer, da es zu meinen Verlobungsabsichten nicht so ganz paßte. Da in München die Ho-tels überfüllt waren, blieb mir nichts übrig, als ein Dreibettzimmer mit dem Gerichtsassessor zu teilen, in dem übrigens sein Schatz nicht mitübernach-tete. Der Berliner kam erst spät, als ich längst ins Bett gegangen war und als ich am Morgen des 18. Oktober das Zimmer verließ, schlief er noch fest. Nach kurzer Bahnfahrt kam ich in Tutzing an. Unterwegs wäre mir beinahe ein Unfall zugestoßen. Eben noch hatte ich aus einem der Fenster des Wa-gengangs hinausgesehen und war in das Abteil zurückgetreten, da kamen auf einem vorüberfahrenden Güterzug schwere Baumstämme ins Rutschen und durchstießen im Vorbeistreifen sämtliche Fenster des Wagenganges, sodaß Splitter bis in das Abteil hereinflogen. In Tutzing schaute ich nach Frl. Meili aus. Ich wunderte mich aber nicht, denn schließlich konnte ich nicht erwar-ten, daß sie mich an der Bahn abholte. Als mir aber im Hotel Simson, wo Goosens Aufenthalt genommen hatten, die Auskunft zuteil wurde, Frl. Meili habe sich mit Familie Goossens auf einen Tagesausflug begeben, wurde ich doch etwas stutzig, denn ich glaubte darin ein Abwinken zu erkennen. Nun, ein Unglück kommt nicht allein. Infolge eines Bremsenstichs waren mir Handgelenk und Arm angeschwol-len, weshalb ich mich zum Bader begab, der ja in Bayern eine Art niederer Heilgehilfe ist, und mir dort den Arm mit in essigsaure Tonerde getränkter Binde verbinden ließ.

Dann fuhr ich mit dem Dampfer nach Seeshaupt, aß dort in einem Garten am See und suchte nach einem das Malen lohnenden Platz am See. Der war nicht so einfach zu finden, weil zwischen der Straße und dem See ein Vil-lengrundstück am andern lag. Schließlich bot sich mir ein bildliches Motiv bei Seeseiten. Gegen Abend wanderte ich weiter durch den Park nach Bern-ried, um von dort mit der Bahn nach Tutzing zurückzufahren. Als ich vor dem Stationsgebäude in Bernried auf einer Bank saß, gesellte sich mir ein einfach gekleideter Mann bei, der offenbar vom Fischen kam. Bald entspann sich ein Gespräch zwischen uns. Ich klagte ihm mein Leid, natürlich nicht gerade meinen Liebeskummer, aber meine Wohnungssor-gen, nämlich, daß ich nicht wisse, wo ich am Abend mein Haupt hinlegen solle. Denn ich hätte einer Bekannten in Tutzing meine Ankunft ange-zeigt, und sie um Bestellung eines Zimmers gebeten, nun habe ich aber meine Bekannte nicht angetroffen, wisse also nicht, ob sie mir ein Quartier besorgt habe. Ich habe daher auch mir kein anderes Zimmer suchen kön-nen. Doch mein Nachbar, ein Kaufmann aus Tutzing, der offenbar viel wohlhabender war, als sein schäbiger Anzug vermuten ließ, wußte Rat, indem er mir anbot, falls ich nichts bekäme, in seiner Wohnung auf dem Diwan zu nächtigen. Aber als wir in Tutzing anlangten, sprang dem Kauf-mann ein munteres Mädel entgegen. Da entschuldigte sich dieser, daß er mich nun leider nicht aufnehmen könne, weil dieses Mädel, seine Mün-chener Nichte, den Diwan beanspruche. Doch war es dem Kaufmann pein-lich, mich auf die Straße zu setzen. Darum führte er mich zu einem Hand-werker, der noch über ein freies Zimmer verfügte. Mit dem schloß ich einen verzwickten Vertrag, daß ich das Zimmer nähme, wenn ich nicht bis abends neun Uhr darauf verzichtete. So gesichert frug ich von neuem im Hotel Simson nach Fräulein Meili. Doch ich erhielt Bescheid, die Herr-schaften seien von ihrem Tagesausflug noch nicht zurückgekehrt. Aber in dem Augenblick trat Frl. Meili auf und begrüßte mich herzlich. Tatsächlich hatte sie am Morgen Goossens an die Bahn begleitet, sodaß das Hotelper-sonal angenommen hatte, sie werde an dem Ausflug teilnehmen. Am Bahn-hof hatte sie mich erwartet, aber da unsere Bekanntschaft im Zuge eine sehr flüchtige gewesen war, hatte keins das andre erkannt. Als ich am Mor-gen im Hotel nachgefragt hatte, war sie noch nicht dorthin zurückgekehrt und nun wartete sie eben, bis ich mich wieder einstellte. Unser erster Gang führte zu jenem Handwerker, bei dem ich das nur bedingt belegte Zimmer freigab, denn Fräulein Meili hatte – meinem Wunsch gemäß – in einem Gasthaus „König Ludwig“ ein Zimmer für mich belegt. Im Gastzimmer des Hotels verbrachten wir den Abend. Da konnte ich Frl. Meili von unserem Besuch bei ihren Eltern berichten. Am anderen Morgen, den 19. Oktober 1920, malte ich morgens eine kleine Skizze, bevor ich mich mit Frl. Meili am Seeufer traf. Am Nachmittag wanderten wir über Zeismering nach Bernried, unter heißer Sonne auf staubiger Straße, sodaß wir uns gerne über die Wiesen einen Pfad suchten. Marthel sah in ihrem weißen Kleid mit rotem Gürtel und roter schmetterlingsförmiger Kravatte recht jugend-lich, beinahe kindlich aus und dieser Eindruck verstärkte sich noch, wenn sie von den die Wiesen trennenden Gattern heruntersprang. Anfangs unterhielten wir uns gut, aber je näher wir Bernried kamen, desto einsil-biger wurden wir, denn ich spähte vergebens nach der Gelegenheit, mein Herzensanliegen vorzubringen und Marthel wich aus, weil sie mein Verfah-ren merkte. So gelangten wir nach Bernried, ohne daß ich mich hätte erklä-ren können. Am Rathaus in Bernried lasen wir eine in drolligem Deutsch abgefaßte Anzeige über Verlust eines Schirmes, die uns völlig aus dem Kon-zept brachte. Auch als wir nachher in einem Wirtsgarten Kaffee tranken, war mir der Zufall nicht hold, denn ich wartete vergebens auf den Abzug der um uns herumsitzenden Gäste. Endlich war es leerer geworden, da brachte ich – übrigens gar nicht in gewählter Sprache- sondern in recht ein-fachen, beinahe ungeschickten Worten meinen Herzenswunsch vor. Marthels Antwort lautete so unbestimmt und so wenig ermutigend, daß ich sie als Ablehnung auffaßte, obwohl sie nicht so gemeint war.

Bangen um Marthas Antwort

Dabei hätte ich mir doch selbst sagen müssen, daß ein junges Mädchen nicht ohne reifliche Überlegung und nicht ohne mit ihren Eltern Fühlung genom-men zu haben, über ihre Hand verfügen sollte. Aber damals war ich solchen Erwägungen nicht zugänglich. Und so verflossen die Stunden, die ich mit Marthel gegen Abend im Park von Bernried und am andern Morgen im „König Ludwig“ in Tutzing zubrachte, in etwas gequälter Stimmung. Dann verabschiedeten wir uns, denn Goossens standen im Begriffe abzureisen. Da zudem schlechtes Wetter eintrat, schrieb ich meiner Mutter, daß ich am übernächsten Tage nach Freiburg heimzukehren gedenke. Nach Tisch fuhr ich nach München zurück. Dort machte ich bei meinen früheren Hauswirten, Familie Hörpfer, Besuch, aber ich traf nur die verheiratete Tochter an, ihre Mutter war mittlerweile ihrem Herzleiden erlegen. Folgenden Mor-gen, am 21. August, streifte ich drei Stunden lang durch die Kunstausstellung im Glaspalast, ohne Frl. Meili zu treffen, die zur selben Zeit in der Ausstellung weilte.

Die Ausstellung zeigte viele gute und Durchschnittsleistungen, aber kaum ein hervorragendes Werk. Natürlich achtete ich vor allem auf die Landschaften. Namentlich fesselte mich eine Ansicht von Konstantinopel von Zeno Diemen Im Vordergrund das blaue Meer, dann aufsteigend die Stadt, in rosafarbenen Duft getaucht und darübetr eine ins Ungeheure getürmte Wolke. Dann ein Bild von Kreyßig, Blick auf die Zugspitze. Im Vorder-grund einige geradezu greifbare Tannen, die Durchblick auf eine Wiese gewähren, dann schwarzbraun Wald und das Gebirge gewähren Durchblick zwischen den Bäumen. Das Bild mit dem für Kreyßig charakteristischen Eigenschaften, mit dem Spachtel aufgetragene Farben interessierten mich ebenso wie der Preis, 8000 Mark in der Entwertung, weil ich in Gießen bereits einen Kreyßig erworben hatte. In der Ausstellung kaufte ich einige Lose, natürlich lauter Nieten. Nachher erwarb ich in der Kunstsammlung Hager eine Radierung und einen farbigen Steindruck. Da ich mich bedrückt fühlte, wollte ich nicht gleich nach Freiburg zurückkehren. Vielmehr be-schloß ich, meinen Vetter Hermann am Lech aufzusuchen. Denn bei ihm durfte ich von meinen Gefühlen nichts anmerken lassen, sondern mußte den unempfindlichen jovialen, etwas mürrischen Junggesellen weiterspielen.

7 Text wegen ausziehender Tinte verderbt.

8 „Marthel“ als Verkleinerungsform der „Marta“ hat den Zweiten Weltkrieg nicht überlebt. Nur wenige alte Bekannte nannten sie danach noch so...

9 Der Geburtsort von Marta Meili.

10 Kein Stück: Marta wurde in Gütersloh geboren...

IV. Bei Vetter Hermann dem Salon-Bauern ab 22. September 1920

Abends um sechs Uhr reiste ich von München nach Landsberg ab, wo ich um 8:12 Uhr eintraf. Mit Mühe und Not fand ich Unterkunft im Hotel zum Mohren und wurde in der Nacht häufig durch Schnaken, Mäuse und krähende Hähne gestört. Um bei meinem Vetter Hermann nicht unange-meldet ins Haus zu fallen, übernachtete ich in Landsberg. Noch bevor ich von München abreiste, zeigte ich ihm meine Ankunft für den folgenden Morgen an. Am Morgen des 22. Septembers langte ich nach halbstündiger Fahrt in Asch an. Als ich aus dem Zuge stieg, erblickte ich meinen Vetter Herrmann und neben ihm unerwarteterweise Vetter Otto Gmelin, den spä-teren Schriftsteller, der in seiner trockenen Art bemerkte: „Da ist ja der Hans.“ Herrmann war nicht etwa gekommen, um mich abzuholen, denn er hatte mein Telegramm noch nicht erhalten, sondern hatte Otto und dessen Frau nach Asch begleitet, die mit dem Zug abfahren wollten, um einen Aus-flug nach Peistenberg auszuführen. Nun kehrte Hermann mit mir nach sei-nem Hofe zurück, unterwegs begegnete uns der Postbote, der mein Telegramm bei sich trug. Das Gut meines Vetters lag etwa eine halbe Stunde von Asch entfernt in dem sogenannten Römerkessel, einer kleinen, aus mehreren zerstreut liegenden Bauernhöfen bestandenen Siedlung. Sein Hof war wie die anderen Höfe der dortigen Gegend ein langgestrecktes Haus, dessen eine Hälfte Scheune und Stallung umfaßte, während die andre Wohnungen enthielt. Das Haus stand mit der Schmalseite an der in unmittelbarer Nähe vorüberziehenden Straße, der Teil mit den Stallungen dieser zugewandt, sodaß die Wohnräume von der Straße ab nach Süden und Westen zu lagen. Der größte Teil des Gutes erstreckte sich vor diesem Wohnteil nach Westen, erst eben, dann ansteigend, lauter Wiesengelände, auf dem die fünf oder sechs Kühe meines Vetters weideten. Unter diesen Kühen war eine, die „spann“ wie die Bauern sagten. Denn sie blieb, von den andern gemieden, immer allein. Links vom Eingang des Wohnteils lag die große Hauptstube, die vor allem als Eßzimmer diente. Sie war durchaus städtisch eingerichtet, in ihr standen außer dem großen Eßtisch der Schreibtisch meines Vetters und seine Bücherregale, die viel kunstgeschichtliche und literarische Bücher und wertvolle Werke über den Weltkrieg enthielten, denn mein Vetter konnte sich damals die Anschaffung solcher Bücher noch leisten, weil er in der Zeit der Entwertung seine landwirtschaftlichen Erzeugnisse zu guten Preisen absetzen konnte. Oft fuhr er mit Butter beladen mit dem Rad nach München und kehrte mit Büchern zurück. An den Wänden des Zimmers prangten hübsche Stilleben, von der Hand seiner Frau gemalt. Mein Vetter besaß auch wertvolle Radierungen des Künstlers Rudolf Sieck mit dem er befreundet war. Im Obergeschoß reihten sich die einfach möblierten Schlafkammern, auch ein Zimmer, in dem mein Vetter allerhand Liebhabereien pflegte, z.B. mit einer mühevollen Strichelmanier mit fertiger Tusche Federzeichnungen, meist Gebirgslandschaften, von überraschender Tiefenwirkung schuf. Dagegen stand sein Cello verstaubt und offenbar nicht mehr benutzt in der Ecke. So sehr es anzuerkennen ist, daß mein Vetter und seine Frau sich auch im Landleben durch künstlerische Betätigung und Lesen guter Bücher vor dem Verbauern bewahren, so lag doch in solchem Verhalten eine gewisse Gefahr für das wirtschaftliche Gedeihen seines Gu-tes. Äußerlich zwar hatten sich Hermann und seine Frau ihrem Beruf völlig angepaßt. Hermann sah in seinen Lederhosen, bestickten Hosenträgern, Strumpfstulpen, die Knie und Knöchel freiließen und groben Schuhen nicht wie ein Salontiroler, sondern wie ein waschechter oberbayrischer Bauer aus. Auch in Klang und Ausdrucksweise seiner Sprache wußte er sich auf die bäuerliche Umgebung einzustellen. Bei der landwirtschaftlichen Arbeit griff er fest zu, wenn er es sich auch nicht versagen konnte, etwa während des Drehens an der Zentrifuge oder bei Betreuung des Viehs in einem Buch zu lesen. Seiner Frau11 dagegen fiel die Umstellung offenbar schwerer. Sie glaub-te, die Bäuerin durch möglichst nachlässige Kleidung, natürlich Dirndl-Kostüm, markieren zu müssen. Aber sie kümmerte sich nicht viel um ihren Haushalt, geschweige denn um die Landwirtschaft. Nicht einmal an das Frühaufstehen gewöhnte sie sich an. Sie blieb eben die echte reichlich schlampige Künstlerin Schwabinger Prägung12. Auch die beiden Buben im Alter von sechs und vier Jahren wuchsen wie das Unkraut auf. Da sie sich noch nicht selbst anzuziehen vermochten, kam es vor, daß sie pudelnackt auf der Bildfläche erschienen, da spielte ich eben das Kindermädchen und zog die Kinder an, so gut ich es als alter Junggeselle vermochte. Da die Frau als Arbeitskraft ausfiel, brauchte mein Vetter umso mehr fremde Hilfskräfte, eine Köchin, eine Magd und einen Knecht. Das war für das kleine Gut untragbar, zumal diese oberbayrischen Mägen sich nicht mit Gemüse begnügten, sondern recht herzhafte Kost verlangten, wie Fleisch und Mehl-speisen, namentlich Knödel. Daher belief sich der Jahresbedarf meines Vet-ters an Brotfrucht auf 16 Zentner, während das Gut nur drei bis sechs Einnahmen brachte. Es ist für den Städter nicht leicht, das verspürte ich, als ich beim Aufstapeln des Heus in der Scheuer zu helfen suchte und nament-lich, als ich mich an die Butterbereitung machte. Stundenlang drehte ich im Schweiße meines Angesichts an der Zentrifuge, ohne dabei zu lesen, aber die Butter wollte sich nicht ballen. Die Magd empfand darob ein menschliches Rühren, denn während wir bei Tische saßen, drehte sie die Butter fertig. Bei meinem Vetter genoß ich zum ersten Mal seit Jahren wieder Butter und Milch, außerdem gab es Käse und prächtige Mehlspeisen. Die Folge war, daß mein Darm gegen diese ungewohnt nahrhafte Kost revoltierte. Es versteht sich von selbst, daß ich diese gute Verpflegung nicht umsonst genoß, sondern gleich anderen Verwandten, die bei Hermann einkehrten, diese eine mässige Vergütung leistete. In nächster Nähe des Guts meines Vetters lag das Wirtshaus Römerkessel. Hermann und ich erwogen halb im Spaß, halb im, Ernst den Plan, dieses Anwesen – es sollte 7.000 Mark kosten – für die Familie Gmelin zu erwerben und es als Familienmuseum und Erholungs-stätte für die Familie einzurichten. Der Name hätte nicht nicht schlecht ge-paßt, da unsere Familie der Sage nach aus Rom stammen soll. Der Kaufwäre in Anbetracht der folgenden Geldentwertung gar nicht so dumm gewesen, obwohl sich das Haus, das im 16. Jahrhundert erbaut wurde – wie wir bei einer Besichtigung feststellten – in völlig verlottertem Zustand befand mit durchgebrochenen Böden und vermodertem Holzwerk. Denn der Wert der dazu gehörigen Grundstücke hätte die Anlage reichlich gelohnt. Auf der anderen Seite des Wirtshauses sah man zum Bach hinab, der als ein reißender Fluß von gletschergrüner Farbe in tiefer breiter Schlucht zwischen Geröllhalden von kleinen Tannen bestanden dahin floß. In der Ferne ragte der blaue Pleistenberg auf. Sowohl diese Aussicht wie auch die Ansicht des Hauses meines Vetters skizzierte ich, dabei in meinem dünnen Sommer-überzieher fröstelnd, denn der häufige Regen hatte spürbare Kälte gebracht. Am 24. August unternahm ich mit der Bahn einen Ausflug nach Schongau, einem nach dem Gebirge gelegenen kleinen Städtchen, das in Mauerring, Türmen und Gassen viel von seinem mittelalterlichen Gepräge erhalten hat. Die Fahrt dorthin dauerte eine dreiviertel Stunde. Ich besichtigte den Ort und bestieg eine kleine Anhöhe in der Nähe, um einen Überblick zu gewinnen. Dann gabs nichts mehr zu sehen, daher ich schon um drei Uhr wieder im Zug nach Römerkessel zurückkehrte. Trotz des regenreichen Wetters hielt ich noch zwei Tage aus, da noch Hermanns Bruder Erwin auf dem Rückweg von einer Gebirgsreise erwartet wurde. Am Abend des 26. September kam er denn auch, mit Rucksack und Eispickel bepackt, in strömendem Regen völlig durchnäßt, auf seinem Rade an. Wir vier Vettern - denn auch Otto war mit seiner Frau noch zugegen – verbrachten einen vergnügten und gemütlichen Abend mit einander. Das letzte Mal, daß wir vier Vettern vereint waren, das letzte Mal auch, daß ich Hermann sah. Dabei wurde ich als der einzige Junggeselle unter ihnen- wie üblich – wegen meines Hagestolzentums geneckt. Als ich entgegnete: „Ich heirate einmal eine Neunzehnjährige“, sagte Vetter Hermann, der natürlich keine Ahnung hatte, daß daran etwas Wahres sein könnte: „Do host recht, da hat unser einer doch aa no was davon.“ Am anderen Morgen, den 27. September, geleitete mich Hermann noch nach Diessen, von wo ich bereits um 6:40 Uhr abfuhr. In Kauferring stieg ich um nach Lindau, dort hatte ich gleich Anschluß an den Dampfer über den Bodensee, auch in Konstanz war nur eine Stunde Aufenthalt, sodaß ich abends gegen elf Uhr in Freiburg-Wiehre ankam.

11 Wanda Charlotte Marie von zur Mühlen 1886-1962, aus Dorpat gebürtig.

12 Stammte aber aus Estland.

V. Rötteln, Gießen und Karlsruhe,

September/Oktober 1920

Am 2. September machte ich ihr den veränderten Vorschlag, auf den 15. September zu kündigen. Darauf zuerst nach Gießen zu kommen, um dort mit uns zusammenzutreffen und von dort mit uns nach Günterstal zu reisen. Aber es ließ sich nicht so einrichten. Zwar faßte Marthel am 5. September den Mut, Frau Goossens ihren Schritt mitzuteilen. Doch hielt es Marthel nicht für möglich, ihre Stelle vor dem 1. Oktober aufzugeben. Dieser Nachricht, die doch immerhin einen guten Schritt weiter bedeutete, folgte von meiner Seite ein höchst nüchterner Brief, was sich daraus erklärt, daß ich ihn in Freiburg in der Hauptpost schrieb und ich fürchtete, eine heitere Be-rühmtheit zu erlangen, wenn es jemand einfiele, die den Postlöschblättern anvertrauten Zärtlichkeiten in ihrer Spiegelschrift zu veröffentlichen.

Da meine Schwiegermutter den Wunsch geäußert hatte, über Aussteuer-fragen mündlich mit uns zu verhandeln, reisten meine Mutter und ich am 8. September nach Rötteln. Zunächst trat freilich ein für jene Zeit bezeichnendes Hindernis ein: Der Zug, mit dem wir um 11:25 Uhr von Freiburg abfuhren, blieb schon in Müllheim wegen eines Maschinenschadens liegen. Was mir sehr peinlich war, da meine Schwiegereltern uns in Lörrach erwarteten. Immerhin traf nach halbstündigem Warten eine Hilfslokomotive aus Freiburg ein, daß wir den Anschluß in Leopoldshöhe noch erreichten und nur mit viertelstündiger Verspätung in Lörrach anlangten. Dort holten uns mein Schwiegervater und Friedel mit dem Kutschchen ab, während meine Schwiegermutter uns in Rötteln erwartete. Etwas später traf die ältere Tochter Selma ein, aus Karlsruhe zurückkehrend. Wir waren alle tiefbewegt, uns zum ersten Mal als Verwandte begrüßen zu können und tauschten das nicht mehr passende „Sie“ gegen das initimere „Du“, sodaß ich mich bald so hei-misch fühlte, wie wenn ich schon lange zu dieser Familie gehörte. Nach dem Kaffee zeigte uns die Schwiegermutter den Garten, das Federvieh, das starke Fohlen und den an der Fabrik vorbeifließenden Kanal13, in dem Marthel so gerne schwamm. Auf der Tagesordnung standen obenan Aussteuerfragen. Aber ich bekümmerte mich nicht viel darum, ich überließ diesen Gegen-stand gerne den Müttern. Umsomehr beschäftigte mich der zweite Punkt der Verhandlung, nämlich der Plan für die nächsten Wochen und die Fest-setzung der Hochzeit. Wir beschlossen – alles ohne Zustimmung der Hauptbeteiligten, nämlich Marthels – daß entsprechend meinen Wünschen meine Mutter und ich in der folgenden Woche nach Gießen reisten, und daß ich am 18. September Marthel in Köln abholen sollte, um zusammen nach Gießen zu fahren, wo die beiden Mütter und Friedel uns erwarten wollten. Nach der am 26. in Günterstal abzuhaltenden Verlobungsfeier bis Semesterbeginn sollte Marthel einige Wochen bei uns verbringen. Die Hochzeit nahmen wir für Ende November in Aussicht. Mit diesen Plänen und Überlegungen verfloß der Nachmittag recht angenehm, wenn ich es auch schmerzlich empfand, daß Marthel in unserem Kreise fehlte. Um acht Uhr verließen wir Rötteln, reichbedacht mit Schweizer Käse, Brot und Birnen. Bis Haltingen gab uns Friedel das Geleit. Sie wirkte damals dort als Lehrenn.14

Nun schien es uns angebracht, einstweilen wenigstens die nächsten Verwandten und Freunde von unserer Verlobung in Kenntnis zu setzen, als ich noch in Günterstal an Grippe zu Bett lag. Als eben meine Verlobung perfekt geworden war, weilte meine Cousine Elsa bei uns, auf der Wohnungs-suche, da ihr Mann Karl Jäckle, als Landgerichtsdirektor nach Freiburg versetzt worden war. Natürlich brachte sie auch wieder einmal das Heiraten zur Sprache. Als ich nun sehr wahrheitsgemäß sagte, ich heirate nur eine Neunzehnjährige, hielt sie mir vor, daß das erstens eine große Dummheit sei, und daß zweitens eine Neunzehnjährige mich gar nicht mehr nähme. Es läßt sich denken, daß die Nachricht von meiner Verlobung in der Hirschstraße in Karlsruhe bei Dölls und bei Jäckles wie eine Bombe einschlug. Der Eindruck spricht am besten aus dem Glückwunschbriefe Karl Jäckles: „Das war eine freudige Überraschung. Der Großvater (Onkel Gustav) vergaß für einige Zeit die wahren und eingebildeten Leiden, die Großmutter (Tante Luise) strahlte trotz Venenenzündung, Fieber und Schmerzen, Else, Klara, Traudel, Gretel, Tante Anna rannten zu den Großeltern Döll zur „Aussprache“, Dutzende von Fragen schwirrten durch die Luft: „Wo hat er sie kennen ge-lernt?“- „Wie alt ist sie wohl?“ – „Wie wird sich die Theres dazu stellen?“ – „Was wird aus den Katzen werden?“ – „Und daß sie nicht einmal irgend etwas haben merken lassen.“ In der Tat schrieb mir der alte Onkel Gustav, in dessen Leiden damals eine vorübergehende Besserung eingetreten war, persönlich einen Glückwunschbrief. Es war der letzte Brief von seiner Hand. Und auch von anderen Verwandten und Bekannten liefen die Glückwün-sche ein, von dem Patenonkel Adolf Mayer, von den Vettern Adolf (Döll), Otto und Hermann, von Cousine Marguerite, von meinem Lehrer Prof. Richard Schmidt, von Gießener Kollegen wie Rosenberg, Mittermeier und Grolman, von dem Jenaer Kollegen Hans Albrecht Fischer, von meinem alten Parteifreund Uibel. Meist sprach aus ihnen die aufrichtige Freude darüber, daß ich hartgesottener Junggeselle doch noch den Weg zur Ehe gefunden hatte. Mein verehrter Freund und Lehrer Richard Schmidt: „Eine größere Freude hätten Sie mir nicht machen können, auch nicht mit dem geistreichsten, dicksten und gelehrtesten Buch.... Anschluss unklar

... führten uns naturgemäß an die Hauptpunkte der Umgebung: Die Liebigshöhe, den Gleiberg und der Schiffenberg. Den Schiffenberg bestiegen wir allein, weil meine Schwiegermutter der Ausflug auf den Gleiberg stark ermüdet hatte. Am 19. September kamen Rosenbergs und Kahles15 zu uns zum Nachtessen. Freund Kahle schrie vor Überraschung und Freude hell auf, als ich ihm meine Braut vorstellte. Am 22. September nahmen wir an einer großen Gesellschaft bei Roloffs teil. Dabei gab es allerlei musikalische Genüsse. Auch erschien, vom Frl. Bauer an den Vordergarten geführt, ihr festlich geschmückter Kater Peter, um uns im Namen des Katzengeschlechts zu huldigen. Er trug folgendes Gedicht an seinem Halsbändchen:

Auf scheuen Katzenpfoten

O Brautpaar hold und milde!

Entsendet mich als Boten

Die edle Katzengilde.

In unsern Katzenseelen

Herrscht eitel Freud und Wonne:

Der Gönner will sich vermählen

Die Braut ist schön wie die Sonne.

Noch mehr: Auch sie liebt die Katzen

Für uns bleibts beim Alten doch

Wir klatschen in die Tatzen,

Miau! Das Brautpaar hoch!

Im Übrigen war unsere Zeit durch die Ergänzung meiner Ausstattung in Anspruch genommen; wir bestellten die noch erforderlichen Möbel meist bei der Firma Stückrath. Am 24. September fuhr Marthel nach Aachen zurück in Begleitung von Friedel, die am Vorabend in Gießen angekommen war. Auch ich verließ Gießen mit beiden Müttern bereits um 8:14 Uhr. Meine Schwiegermutter fuhr nach Basel durch, meine Mutter und ich da-gegen legten wieder einen Aufenthalt in Darmstadt ein und fuhren erst ge-gen Abend weiter. Und zwar ich bis Freiburg, während meine Mutter über den Sonntag in Karlsruhe blieb und dort unseren für Ende der Woche vorgesehenen Besuch vorbereitete.

Es spielte sich ungefähr nach dem von meiner Mutter entworfenen Programm ab, wenn auch nicht ganz so, wie ich es Marthel in einem Brief am 26. September ausmalte: „Meine Mutter hat uns in Karlsruhe so eifrig vor-gearbeitet, daß wir dort überhaupt nichts mehr zu denken und ich glaube, auch nichts mehr zu reden brauchen. Eine stumme Verlobung vor den Karlsruher Verwandten dürfte wohl die angemessenste Zeremonie sein... Bei wem, in welcher Reihenfolge und zu welchen Stunden wir zu erscheinen haben, das ist alles schon festgelegt, beim Geigenonkel Demke beginnend und bei Dölls endigend. Zu unserer Erleichterung sind verschiedene Halb-tanten an einzelne dieser Stationen kommandiert... Vielleicht sollte ich die Entstehungsgeschichte unserer Verlobung in Schreibmaschinendruckschlägen mitbringen, damit ich jedem Interessenten einen in die Hand drücken kann. Es würde zur Abkürzung unserer Besuche zweifellos viel beitragen...“ – „dann sind wir für die Karlsruher verschwunden und gehen mit Friedel noch ein Stündchen in den Stadtgarten, um uns beim Anblick der Affen und sonstigen entfernten Verwandten von der anstrengenden Familienbesichtigung zu erholen...“

13 Der parallel zur Röttler Straße verlaufende Mühlgraben „Teich“.

14 Diesen Beruf wird sie bis zu ihrer Pensionierung zusammen mit ihrem späteren Mann, Otto Krumm in Brombach ausüben.

15 Paul Ernst Kahle (* 21. Januar 1875 in Hohenstein; † 24. September 1964 in Bonn) protestantischer Theologe und Orientalist, Mitherausgeber der Biblia Hebraica von Rudolf Kittel. 1894. Studien in Berlin, London, Cambridge und Oxford, Zweites Theologisches Staatsexamen. 1903 –1908 Pfarrer in Kairo,. 1909 Habilitation in Halle für semitische Philologie 1909 bis 1914 Privatdozent für orientalische Sprachen in Halle. 1918 Ordinarius in Gießen. Ehe mit Marie Gisevius. Fünf Söhne (Wilhelm, Hans, Theodor, Paul Junior und Ernst). 1923 folgte Paul Kahle einem Ruf nach Bonn. Aus politischen Gründen relegiert, 1939 ins englische Exil. Vgl. Wikipedia, 4.2.2024.

VI. Das Abenteuer vom Kölner Hauptbahnhof

Samstag 18.9.1920

Die nächsten Wochen verliefen leider nicht ganz nach dem von uns in Rötteln ausgeheckten Programm, da Frau Goossens Marthel auch noch für den Rest des Oktobers beanspruchte. Immerhin verbrachten wir doch einige Tage zusammen. Meine Mutter und ich reisten am 16. September von Freiburg ab. Von ein bis sieben Uhr hielten wir uns in Darmstadt auf, weil ich als Dekan eine Besprechung mit dem Hochschulreferenten hatte. Den Rest der Zeit benutzten wir dazu, in den Geschäften von Aller und Trier Möbel und Teppiche auszusuchen und das Ausstellungsgebäude zu besu-chen. Abends um elf Uhr trafen wir in Gießen ein, wo unsre treue Therese die Wohnung gehütet hatte. Der Freitag verlief mit Vorbereitungen für den Besuch. Mit einem Rosenstrauß ausgestattet verließ ich Gießen am folgenden Tag bereits um 6:25 Uhr morgens und kam um 1:08 Uhr in Köln an. Meine Braut mußte aus Aachen schon angelangt sein. Ich fand sie jedoch nicht, denn auf dem in einem Bogen verlaufenden Bahnsteig herrschte ein furchtbares Gedränge, das durch Aufmarschieren mehrerer Kompanien schottischer Infantrie noch mehr verwirrt wurde. Also ging ich zur Bahn-sperre hinaus, kehrte dann auf den mittlerweile entleerten Bahnsteig zurück, graste die anderen Bahnsteige ab, forschte im Bahnhofsrestaurant, aber alles Suchen war vergebens. Nun bekam ich es mit der Angst zu tun. Da ich fürchtete, meiner Braut könne etwas zugestoßen sein, telegraphierte ich nach Aa-chen. Dann speiste ich im Restaurant Neumayer gegenüber dem Bahnhof. Zu dem um halb drei Uhr abgehenden Zug, mit dem ich mit meiner Braut nach Gießen fahren wollte, erschien ich wieder auf dem Bahsteig und rannte mit meinem Rosenstrauß von Abteil zu Abteil. Wieder vergebens. Ich hatte das Gefühl, nachgerade von den Reisenden, die mitleidig aus den Fenstern blickten, als komische Figur belächelt zu werden. Nun telegraphierte ich an meine Mutter, daß ich Marthel nicht gefunden habe, aber mit dem Abendzug nach Gießen kommen werde. Denn Marthel konnte ja mittlerweile allein nach Gießen gefahren sein. Zum Zug von 3:44 Uhr bezog ich wieder meine Wache. Aber als ich eben wieder den ganzen Zug entlang-gelaufen war, stand meine Braut vor mir. Wir umarmten uns etwas oberflächlich; wir hatten gerade noch Zeit, die schon recht ramponiert aussehenden Rosen am Bahnsteig-Brunnen zu begießen, dann hieß es einsteigen. Damit wir ungestört blieben, hatte ich Fahrkarten zweiter Klasse genommen. Aber das Abteil blieb bis Siegen reichlich gefüllt, erst von da ab waren wir allein. Draußen ging, als der Zug ins Dilltal hinabbrauste ein starkes Gewitter nieder. Auch als wir um halb zehn Uhr in Gießen einfuhren, regnete es noch in Strömen. Leider stand kein Wagen da, denn der war zum vorgesehenen Zug an die Bahn gekommen. Also mußten wir durch den Regen nach Hause patschen. Dort begrüßte uns meine Schwiegermutter, die nach Tisch in Gießen ange-kommen war. Indes meine Mutter fehlte. Sie war an die Bahn gefahren, um uns abzuholen und mich zu trösten, falls ich allein käme. Aber wir hatten sie verfehlt. Nun wollte meine Schwiegermutter nach meiner Mutter suchen. Mit Mühe redete ich ihr dies Vorhaben aus, sonst hätte ich schließlich noch die Polizei anrufen müssen, damit sie meine Schwiegermutter ausfindig machte. Schließlich kam meine Mutter. Aber über den Wirrwarr vergaß ich, meine Braut offiziell der Therese vorzustellen, was diese mir ernstlich übel nahm. Als wir endlich beim Nachtmahl saßen, überreichte ich Marthel einen kleinen Siegelring, den ich für sie hatte herstellen lassen, als Verlo-bungsangebinde.

An den folgenden Tagen waren die Vormittage Besuchen bei Kollegen ge-widmet, Rosenbergs, Roloff, Zycha, Eger, Mittermeier, während wir nachmittags Spaziergänge unternahmen. Überall wurde meine Braut herzlich aufgenommen. Dabei machte Frau Mittermeier den etwas schaurigen Vor-schlag, ihre Tochter solle meiner Braut in Korporationen einführen, damit sie mit den Studenten tanzen könne, wovon natürlich meine Braut nichts wissen wollte.

Am 19. September besichtigten wir auch das kleine Museum. An jenem Ta-ge gingen wir zum ersten Mal per Arm. Es kam mir sehr drollig vor, meinen Männerschritt dem Getrippel meiner Braut anzupassen....

Am Samstag, den 30. September kam ich um halb drei Uhr wieder nach Karlsruhe, speiste im Bahnhofsrestaurant und erwartete dann den um 3:14 Uhr einlaufenden Zug, mit dem Marthel und Friedel eintrafen. Diesmal fand ich Marthel wirklich. Während Friedel sich zu der ihr befreundeten Familie Altmayer begab, führte ich meine Braut zu Tante Anna, die uns mit Kaffee bewirtete. Dann besuchten wir die nächsten Verwandten und Bekannten, zuerst Dölls, wo uns Onkel Gustav am Tisch sitzend empfing. Er richtete Worte des Abschieds an uns. Da sich Onkels Zustand etwas gebessert hatte, glaubte ich nicht, daß es das letzte Mal sei, daß ich ihn sah16.1 S7o war es auch mit dem alten Geigenonkel Demke und seiner Frau, Tante Ida, die wir nach Dölls besuchten. Der alte Präsident ..., den wir leider nicht antrafen, ist später gestorben. Nachdem wir noch bei Altmayers, den Bekannten Marthels, vorgesprochen hatten, kehrten wir zum Abendbrot zu Tante Anna17 zurück, wo Marthel übernachtete, während ich bei Freund Schnitz-spahn Unterkommen fand. Anderen Morgen, den 1. Oktober 1920, holte ich Marthel bei Tante Anna ab, dann trafen wir uns mit Friedel, um zum Stadtgarten zu gehen. Bereits um 10:15 Uhr reisten wir drei zusammen ab, Marthel und ich bis Freiburg, während Friedel nach Rötteln weiterreiste. Wie freute ich mich, meiner Braut unser schönes Heim in Günterstal zeigen zu können. Die nächsten Tage verflossen mit allerlei Besorgungen in Frei-burg. So kauften wir bei Lodholz unsere Trauringe und ließen uns von Photograph Ruf aufnehmen. In der Stadt besuchten wir vor allem die Ver-wandten, Onkel Karl Döll und Tante Minna, sowie die eben jetzt nach Freiburg gezogene Familie Jäckle. Ferner unsere Freunde, den später schon für das Wintersemester 1921/22 nach Wien berufene Chemiker Prof. Fromm und meinen alten Lehrer und Fachkollegen, Prof. Rosin, die mit meiner Mutter befreundete Frau Wallach, meinen ehemaligen Studienfreund Melchior, sowie die Mutter meines Freundes Fritz Schulz.Auch die Günterstaler Nachbarn suchten wir auf. Heinburg, Scheurer, den Arzt Dr. Levy und Kollegen Cohn.

16 Gustav Döll stirbt am 27.11.1920.

17 Die Frau des bereits verstorbenen Bruders von Johanna Gmelin, Franz Karl, Anna, geb. Wagner (1861-1945)

VII. Verlobungsfeier und Hochzeit

Oktober / Novemeber 2020

Als Marthel am 20. Oktober nach Rötteln zurückgekehrt war, mußte ich als ungeduldiger Bräutigam noch fünf Wochen ohne meine Braut zu sehen, aushalten. Ich verkürzte mir diese Wartefrist, indem ich meiner Braut täglich Briefe sandte. Sie schrieb mir weniger häufig, weil sie an und für sich das Briefeschreiben nicht besonders liebte, ferner weil sie weniger erlebte und weil sie durch die dringenden Arbeiten an ihrer Aussteuer noch mehr in Anspruch genommen war als ich durch Berufsgeschäfte. Um die Stimmung jener Tage wieder zu wecken, will ich – natürlich nur bruchstück-weise – Teile dieses Briefwechsels wiedergeben.

Er begann mit einem Briefe, in dem ich meiner Braut zu ihrem auf den 23. Oktober fallenden Geburtstag glückwünschte: „Der Schritt aus dem zwei-ten ins dritte Lebensjahrzehnt ist an sich schon bedeutungsvoll und nicht umsonst setzt der Gesetzgeber das Alter der Volljährigkeit auf diesen Zeitpunkt oder doch in seine Nähe. Aber für Dich bedeutet der Eintritt ins dritte Jahrzehnt nicht bloß den Abschluß der Kindheit, sondern die Vollendung Deines Daseins überhaupt, stehst Du doch im Begriff, den Beruf zu ergreifen, für den die Frau recht eigentlich geschaffen ist. Die Ehe... Aus der Kindheit heraus sogleich zur reifen Frau werdend überspringst Du sozu-sagen die Jugend. Aber ich glaube: Heute bedeutet dies keinen zu harten Verlust. Denn die Vergnügungen der Jugend sind heute nur ein netter Ab-glanz dessen, was sie einstens waren, und die unerfreulichen Zeitereignisse werfen einen Schatten über sie. Aber schließlich bedeutet der Eintritt in die Ehe doch nicht nur Verzicht auf Lebensgenuß und Übernahme harter Pflichten. Denn wenn es heute überhaupt noch ein ungetrübtes Glück gibt, wo anders wird es zu finden sein, als im Schoße der eigenen Familie? Aber trotz allem bringst Du große Opfer, indem Du nun den Lebensbund mit mir eingehen wirst. Ich werde versuche, wenigstens einen Teil dieser Dankesschuld abzutragen, indem ich mich bestrebe, mit Dir zusammen das Schöne und Edle unserer Kultur zu pflegen und Dir so einen Ersatz zu bieten für die Zerstreuungen der Jugend.“

Am 3. Oktober 1920 fand unsere Verlobungsfeier statt: Morgens sollten wir die Schwiegereltern, Friedel und Selma am Bahnhof in Freiburg ab. So waren wir ein kleiner Kreis nächster Angehöriger beim feierlichen Mittagsmahl. Nachmittags erschienen noch die Verwandten, Jäckle und Karl Döll mit ihren Angehörigen, sowie die uns befreundeten Familien Cohn und Familie Levi, dieser Gelegenheit überraschte uns Onkel Karl mit folgendem köstlichen Hochzeitsgedicht:

VIII. Gedicht zur Hochzeit 1920

von Karl Döll

Ein Hochschulmann von reiferen Jahren

Ist jüngsthin mit der Bahn gefahren.

Wie’s nun so manches Mal trifft ein,

Saß er im Abteil nicht allein,

Und mit dem tiefsinnvollen Lesen

Ist’s wieder einmal nichts gewesen.

Zumal ein Mägdleinangesicht

Schief nüber ihm ins Auge sticht.

Dazu ein zweiter unentwegt

Im Brummbaß fest sein Schlaflied sägt.

„Sie Herr, am Platz hier seh‘ ich schlecht

Zum Schnarchen ist er aber recht!“

So meint in seiner Seelenqual

Der Ein‘, „drum wechseln wir einmal!“

„Ist mir schon lieb,“ knurrt drauf der Ander‘,

Vollzieht sofort das Platzgewander,

„Schon besser wärs. Ich läg' im Bett.“

Mit diesen sanften Klagetönen

Tät er sich mit dem Tausch versöhnen.

„Ach’s ist doch, wahrlich, zum Empören,

Bei Deutschen stets vom Fraß zu hören.

Drum, lassen wir die deutschen Schwächen,

Wir wollen von was Feinrem sprechen.“

So schlängelt jetzt der Hochschulmann

Sich an die schöne Maid heran.

Indes er nicht verschmäht – aus Gnade

Von zarter Hand die Schokolade.

Nach jener schnöden Volksverachtung

Versinkt er gleich in Herzensschmachtung

Und war bald schwerstens liebeskrank.

Ein Glück, daß sein Schok’ladendank,

Den er im Schweren der „Letzte“ schrieb,

Von selber zu der „Rechten“ trieb,

Sodaß bald ohne Notgefahr,

Der Leitungsdraht in Ordnung war!

Auf diesem flogen dann im Nu,

Sich liebentbrannt die Herzen zu.

Zwar gabs noch manche Schwulitäten,

Und öfter war der Hans in Nöten.

Ich nenne nur so beispielsweis‘

Die Starenberger Sehnsuchtsreis‘.

Im Sommer selbst aufs Eis gegangen,

Gar ungestüm vorüberblitzt,

Obgleich sie an dem Fenster sitzt!

Auch damals, als im Reis’gedränge

Sein schmachtend Herz trieb in die Enge,

In Köln, allwo der würdge Herr,

Mit Rosenbündeln zentnerschwer,

Den Bahnsteig überdüftete,

Die Amorflügel lüftete.

Und doch, trotz allem Süßgeflöte,

Die Liebste fand gar reichlich späte,

Grad pfiff zum letzten Mal das Roß,

Als er sie an sein Herze schloß.

Sie waren beide zu behend,

Im Liebesrausch umnanderg’rennt,

Um dann bei besserem Regenklatschen

Hernach doch, plötzlich, eins zwei drei,

Ist es mit aller Not vorbei.

Der allgewaltge Katzenbund

Gibt freuddurchschnurrt sein Jawort kund,

die Theres aber strahlt im Glanz:

Das Bräutle g’fallt mer wie mein Hans.

Vorläufig ist die Brautfahrt aus.

Sie sitzen still im Pfipfenhaus.

Drum eh‘ die Scheidestunde schlägt,

Der einzige Wunsch uns treu bewegt:

Möchte doch trotz allem Reisetreiben

Das Glück bei Euch stets seßhaft bleiben.

Die Rötteler Angehörigen kehrten am Abend nach Rötteln zurück, wäh-rend meine Braut noch bis zum 6. Oktober blieb. Bereits am 9. Oktober folgte ich ihr nach und verbrachte fünf Tage im Hause meiner Schwieger-eltern. Nachmittags stiegen wir zur Burg hinauf und statteten am Abend dem Nachbarn meiner Schwiegereltern, Haffners, einen Besuch ab. Herr Haffner besaß die an den Garten der Fabrik anstoßende große Walzen-mühle. Haffners waren Schweizer wie meine Schwiegereltern. Er ein freundlicher Herr mit weißem Knebelbart, sie eine etwas zarte Dame von feinem Gesichtsschnitt. Am anderen Tag waren wir bei ihnen zum Thee geladen. Wir trafen dort Frau Fabrikant Stöhr und ihren Sohn, einen ehemaligen bayrischen Chevaulegers18. Dieser fristete, nachdem er den Heeresdienst aufge-geben, sein Dasein als Angestellter einer Weberei. Auch in der Ehe hatte er wenig Glück, denn er heiratete erst eine ländliche Wirtstochter und nachdem diese Ehe geschieden war, eine Tippdame. An jenem Nachmittag huste-ten Marthel und ich um die Wette, da wir beide erkältet waren. Kein Wun-der, daß Frau Stöhr gegenüber meiner Schwiegermutter Bedenken wegen meiner Gesundheit äußerte. Wir stellten uns auch dem Bürgermeister Ohm in Tumringen vor, weil er das Eheaufgebot und später die Eheschließung vorzunehmen hatte. Seine geographischen Vorstellungen reichten nicht weit nach Norden, denn er frug, ob Gießen nördlich oder südlich von Frank-furt läge. Anderen Tags, am 11. Oktober besuchten wir Dekan Holder-mann, dem unsere Trauung oblag. Er war ein eifriger Demokrat, der seine politische Gesinnung auch in seine Predigten einfließen ließ. An diesem Morgen fuhren wir noch nach Lörrach, weil Marthel ihr Brautkleid bei dem Frl. Thoma probieren mußte. Am Nachmittag malte ich von der Wohnung der Schwiegereltern aus das köstlich gelegene Kirchlein von Rötteln, unser Traukirchlein, im Duft und in der Farbenpracht der Herbststimmung. Am 12. Oktober unternahmen wir einen Ausflug über den Paß der Lucke nach Ötlingen, einem Dörfchen, das hoch über dem Rheintal gelegen, weite Aussicht auf Basel, den Schweizer Jura und ins Oberelsaß bietet. Wir tranken dort edle Markgräflersorten, die mich in so heitere Laune versetzten, daß ich auf dem Heimweg beinahe mit einem Ehepaar zusammenstieß. Am näch-sten Tag kam meine Mutter mit der Marthel und ich <konnte> am Abend nach Günterstal zurückkehren. Marthel blieb nun noch zehn Tage bei uns. Leider habe ich für diese Woche keine Notizen. Ich weiß nur, daß wir kurz vor Marthels Abreise bei Jackies eingeladen waren. Da sang meine Nichte Gretel mit zartem Stimmchen Lieder.

Am 17. November waren meine Mutter und ich zum Musikabend bei Roloffs