1979 - Jägerin und Gejagte - Val McDermid - E-Book
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1979 - Jägerin und Gejagte E-Book

Val McDermid

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Beschreibung

Um die Wahrheit ans Licht zu bringen, muss sie sich ins Herz der Finsternis wagen: »1979 – Jägerin und Gejagte« ist der erste Fall für Investigativ-Journalistin Allie Burns von Bestseller-Autorin Val McDermid. Schneestürme, Stromausfälle, Streiks und ungeklärte Todesfälle: Der Winter 1979 beschert Schottland ein Debakel nach dem anderen. Für die junge Journalistin Allie Burns sind schlechte Nachrichten jedoch die einzige Chance, über etwas anderes als Familiendramen und Babywunder zu berichten und vom »Boys' Club« der Zeitung endlich ernst genommen zu werden. Mit ihrem Kollegen Danny Sullivan kommt Allie tatsächlich einer potenziellen terroristischen Bedrohung auf die Spur – und sie schmieden einen Plan, bei dem jeder Schritt ihr letzter sein könnte … Die vielfache internationale Bestseller-Autorin Val McDermid hat mit der investigativen Journalistin Allie Burns eine Thriller-Heldin erschaffen, die jedes Risiko auf sich nimmt, um die Wahrheit aufzudecken. »Val McDermids 1979 ist wie immer vollgepackt mit brillanten Ideen und liefert, wie ein gelungener Schnappschuss, die Essenz einer faszinierenden Zeit.« Jane Harper »Allie ist ein fabelhafter Charakter, ich folge ihr, wohin auch immer sie mich führt, und ich brenne darauf zu lesen, was sie als Nächstes tut.« Marian Keyes

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Seitenzahl: 587

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Val McDermid

1979

Jägerin und Gejagte

Ein Fall für Journalistin Allie Burns

Aus dem Englischen von Kirsten Reimers

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Schneestürme, Stromausfälle, Streiks und ungeklärte Todesfälle: 1979 bringt den Winter des Missvergnügens nach Schottland. Für die junge Journalistin Allie Burns sind schlechte Nachrichten jedoch die einzige Chance, über etwas anderes als Frauenthemen zu berichten. Sie tut sich mit ihrem Kollegen Danny Sullivan zusammen, und vom ersten Artikel an machen die beiden sich Feinde, decken Unerhörtes auf – und schmieden schließlich einen Plan, der sie mitten ins Herz der Finsternis führt ...

Inhaltsübersicht

Widmung

Zitat

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

Nachspiel

Danksagung

Meine vierzig Lieblingssongs für 1979 – Jägerin und Gejagte

Leseprobe »Das Mädchen,das denWeihnachtsmannumbrachte«

Allen Freunden, die während des Lockdowns an meiner Seite standen.

 

Insbesondere Jo.

Um es frei nach Robert Burns zu sagen:

»Wir beide paddelten durchs Meer,

pflückten den herrlichen Bärlauch.

Lass uns einen ordentlichen Schluck nehmen

auf die alten Zeiten.«

Was Mäus’ und Menschen fein gesponnen,

Geht scheitern oft

 

Robert Burns,An eine Maus

Prolog

Dicke Schneeflocken wehten ihm ins Gesicht, kalte nasse Küsse auf seinen Wangen und Augenlidern. Als es das letzte Mal einen solchen Winter gegeben hatte, war er ein kleiner Junge gewesen. Alles, woran er sich erinnerte, war, wie viel Spaß es gemacht hatte: wie er den großen Hügel hinuntergerodelt war, die Schneeballschlachten auf dem Spielplatz, Schlittschuhlaufen auf dem gefrorenen See im Park. Aber jetzt raubte ihm das Wetter den letzten Nerv. Mit dem Auto zu fahren war ein Albtraum aus Schneematsch und Eisglätte. Zu Fuß gehen war noch schlimmer. Er hatte bereits seine Lieblingsschuhe ruiniert, und jedes Mal wenn er die Socken auszog, sahen seine Zehen aus wie verschrumpelte rosa Rosinen.

Aber es gab auch Vorteile. Niemand würde je erfahren, dass er hier gewesen war. Seine Fußspuren würden innerhalb einer Stunde getilgt sein. Niemand sonst war auf der Straße. Alle Vorhänge waren fest zugezogen, um die Nacht draußen und die Wärme drinnen zu halten. Sämtliche Kinder waren zu Hause, die Winterkleidung trocknete nach einem Tag im Schnee in den Küchen über der Heizung und auf Wäscheständern. Alle drängten sich vor den TV-Geräten. Es hatte in diesem Januar schon genug Schnee gegeben, der Reiz des Neuen war verflogen. Sogar der städtische Bus, den er auf der Hauptstraße überholt hatte, war leer gewesen, ein Geisterschiff in dunkler Nacht. Die einzigen Menschen, an denen er vorbeigekommen war, waren einige wenige Unverbesserliche auf dem Weg ins Pub gewesen. Eine unheimliche Stille lag über der Seitenstraße. Der Schnee dämpfte das Brummen der Motoren der wenigen Autos, die dem Schneesturm trotzten. Er fühlte sich wie der letzte Mensch auf Erden.

Da er den Kopf gegen den Schneefall gesenkt hielt, hätte er fast sein Ziel verpasst. Erst im letzten Moment fiel es ihm auf, sodass er abrupt beidrehte und das Treppenhaus des Altbaus betrat. Er atmete tief durch und wischte sich den Schnee von den Augenbrauen.

Während er die Treppen hinaufstieg, ging er noch einmal durch, was er den ganzen Tag über geplant hatte. Es war ein Aufbruch ins Ungewisse. Vielleicht war es ein wenig spät, um darüber nachzudenken, wie er seine Zukunft sichern konnte, aber besser spät als nie. Und er hatte einen Weg gefunden. Vielleicht sogar mehr als einen.

Es würde nicht leicht sein. Alles andere als rechtschaffen. Aber er hatte etwas Besseres verdient.

Und heute Abend wurde abgerechnet.

1

Es hatte übel begonnen und wurde immer schlimmer. Schneestürme, Streiks, Tote, die nicht begraben werden konnten, Stromausfälle, Terrordrohungen und Showaddywaddys Greatest Hits auf Platz eins der Albumcharts. 1979 war eine Abfolge von Katastrophen. Es sei denn, man war Journalistin wie Allie Burns. Für Leute wie sie waren die schlechten Nachrichten für andere das verheißungsvolle Klingeln verlockender Möglichkeiten.

 

Allie Burns schaute aus dem Zugfenster, das allgegenwärtige Weiß wurde nur aufgelockert durch eine Reihe von Telegrafenmasten. Wundersamerweise waren sie auf einer Seite dunkel, geschützt vor dem plötzlichen Schneegestöber, das der stürmische Wind auffegte. Regungslos stand der Zug auf den Gleisen, die Fahrt war aufgrund der Schneemengen mittendrin unterbrochen worden. Sie warf Danny Sullivan, der ihr gegenübersaß, einen Blick zu. »Wie kommt es eigentlich, dass der Winter Schottland immer zum Stillstand zwingt?«

Er gluckste. »Genau wie bei Mord im Orient-Express. Wir stecken in einem Zug in einer Schneewehe fest.«

»Nur ohne den Mord«, stellte Allie fest.

»Okay, nur ohne den Mord.«

»Und den Luxus. Und die Cocktails. Und Albert Finney mit Haarnetz.«

Danny verzog das Gesicht. »Ti-ti-ti. Man könnte meinen, du gehörst zur Textredaktion und fummelst an meinen Kommas und an den Partizipien mit falschen Bezügen herum.«

Allie lachte. »Ich hab keine Ahnung, was ein Partizip mit falschem Bezug ist. Und ich bezweifle, dass du das weißt.«

»Früher mal. Zählt das?«

Sie versanken wieder in Schweigen. Sie hatten sich zufällig am zweiten Tag des Jahres auf dem eiskalten Bahnsteig der Haymarket Station getroffen, Kollegen, die zum Arbeitsplatz zurückkehrten, nachdem sie die Silvesterfeiertage mit der Familie verbracht hatten. Vor vielen ihrer Redaktionskollegen hätte sich Allie lieber hinter einer der Säulen auf dem Bahnsteig versteckt, aber Danny war der am wenigsten widerwärtige von ihnen. Falls er zutiefst sexistisch, rassistisch und fanatisch religiös war, verbarg er es zumindest gut. Und sie musste zugeben, dass sie nach all den Tagen mit ihren Eltern ausgehungert war nach einer Unterhaltung mit jemandem aus ihrer Welt. Am ehesten war ihr das noch mit der ersten Zeitung des Jahres gelungen: Berichte über das Internationale Jahr des Kindes, einen drohenden Lkw-Fahrer-Streik und den Blusenausverkauf bei Frasers.

Sie hatte sich mit ein paar alten Schulfreunden im Pub getroffen, aber das war nicht viel besser gewesen. Die Unterhaltung hatte ungelenk und hölzern begonnen, war auf das vertraute Gebiet gemeinsamer Erinnerungen geschlittert, um dann zu versiegen in einer Sackgasse voller Tratsch über Leute, an die sie sich nicht erinnerte oder die sie nicht kannte. Die letzten Jahre hatten sie den alten Vertrauten entfremdet.

Als der Zug aus dem Bahnhof Kirkcaldy herausgefahren war – der ersten Etappe ihrer Reise –, war es Allie wie eine gnädige Galgenfrist vorgekommen. Sie hatte pflichtbewusst ihren Eltern zugewinkt, die auf dem verschneiten Bahnsteig standen. Sie hatten sie zum Bahnhof gefahren, der acht Meilen von ihrem früheren Zuhause, einem ehemaligen Bergbaudorf in East Wemyss, entfernt lag. Allie fragte sich, ob sie ebenso erleichtert waren wie sie.

Sie hatten sich nichts zu sagen. Das war der Grund für das Unbehagen, das sie jedes Mal empfand, wenn sie nach Hause kam. Ihr war nach und nach klar geworden, dass dies immer schon so gewesen war. Als sie aufgewachsen war, hatte die tägliche Routine aus Arbeit und Schule, Pfadfindergruppe und Bowling-Club, Women’s Guild und Hockeyteam die fehlende Bindung überdeckt.

Aber dann war Allie zum Studieren nach England gegangen und war quasi auf dem Mars gelandet. Alles in Cambridge war ungewohnt gewesen: der Akzent, das Essen, die Erwartungen, die Vorurteile. Sie hatte sich schnell eingelebt. Sie hatte sich gefühlt, als hätte sie endlich ihre Leute gefunden. Drei Jahre vergingen wie im Flug, doch dann musste sie sich völlig neu orientieren.

Und jetzt, zwei Jahre nachdem sie im Nordosten Englands ein Ausbildungsprogramm absolviert hatte, war sie zurück in Schottland. So hatte sie sich das eigentlich nicht vorgestellt. Sie hatte nach London in die Fleet Street gewollt, zu einer der überregionalen Tageszeitungen. Aber der Nachrichtenredakteur in ihrem letzten Ausbildungsabschnitt war ein alter Trinkkumpan seines Pendants beim Daily Clarion in Glasgow. Und das war eine landesweite Tageszeitung, wenn man denn Schottland als eigenes Land betrachten wollte. Der Werbeslogan der Zeitung lautete: »Einer von zwei Schotten liest den Clarion.« Die Witzbolde im Haus fügten gern hinzu: »Der andere kann nicht lesen.« Strippen wurden gezogen, Angebote gemacht. Sie konnte nicht ablehnen.

Sie war fünf Jahre lang ausreichend weit weg gewesen, um ihre Besuche zu Hause auf ein Minimum beschränken zu können. Doch jetzt war es unmöglich, den bedeutsamen Tagen aus dem Weg zu gehen: Geburtstage, Familienfeiern – und weil es nun mal Schottland war, Hogmanay, die Silvesterfeiertage.

Drei Abende voller üppiger Festmahle und Musicals: Oliver!, My Fair Lady, Half a Sixpence. Sie hatte Das Apartment mit Jack Lemmon und Shirley MacLaine sehen wollen, aber nachdem ihre Mutter die kurze Zusammenfassung in der Zeitung gelesen hatte, war das sofort vom Tisch gewesen. Allie wollte die Tortur gedanklich nicht noch einmal durchleben, darum fragte sie: »Wie war dein Neujahr?«

Danny schnaubte. »Wie jedes Neujahr, seit ich denken kann. Wir haben die größte Wohnung, darum laufen alle bei uns auf. Mein Vater hat fünf Schwestern: Tante Mary, Tante Cathy, Tante Theresa, Tante Bernie und Tante Senga.«

Allie giggelte. »Du hast eine Tante Senga? Echt jetzt? Ich dachte immer, Senga ist nur ein Witzname.«

»Nein. Eigentlich ist es ›Agnes‹, nur rückwärts. Sie würde alles tun, um nicht Aggie genannt zu werden.«

»Das versteh ich. Dann waren deine fünf Tanten da?«

Danny nickte. »Fünf Tanten, vier Onkel und die entsprechenden Cousins.«

»Nur vier Onkel?«

»Ja, Onkel Paul ist bei der Arbeit ums Leben gekommen. Er wurde in einem Zolllager in Leith von einem Whiskyfass zerquetscht.« Er verzog das Gesicht. »Mein Vater meint, es hatte vielleicht was mit der beachtlichen Menge an Whisky zu tun, die Onkel Paul während des Unfalls intus hatte.«

»Ihr habt also eine große Familienparty gefeiert?«

»Jepp, wie jedes Jahr. Die Tanten machen alle das, was sie am besten können. Theresa leiht sich den großen Suppentopf von der Kirche und kocht einen Bottich Linsensuppe. Mary bereitet Potted Hough zu. Cathy backt die besten Würstchen im Schlafrock von ganz Edinburgh. Meine Mutter macht Hackbraten, Bernie bringt Früchtekuchen mit, den niemand isst, dazu Shortbread aus dem Laden, und Senga macht drei Sorten Butter-Tablet.«

»Verdammt, das ist doch mal ein Festessen.«

Danny sah nicht so aus, als würde er sich auch im Alltag traditionell schottisch ernähren. Er war schlank wie ein Windhund, hatte hohe Wangenknochen, eine schmale Nase und ein spitzes Kinn wie ein mittelalterlicher Asket. Nur seine Locken, die ihm bis auf den Kragen fielen, ließen ihn heutig wirken.

Er grinste. »Kein Scherz. Es ist genug Essen im Haus, um halb Gorgie durchzufüttern. Und genug zu trinken, um eine eigene Kneipe aufzumachen.«

»Und was macht ihr dann? Essen, trinken, Blödsinn reden?«

»Ja, nun, wir essen und trinken, und dann gibt jeder seine Kunststückchen zum Besten. Damit sind wir beschäftigt, bis es Zeit ist, den Fernseher anzuschalten wegen der Glocken. Danach legt Dad die Corries auf, und es wird ein bisschen rauer. Meist kommen dann ein paar Nachbarn, um ein gutes neues Jahr zu wünschen.«

»Klingt eher wie eine Form der Selbstverteidigung.«

Danny zuckte mit den Schultern. »Es ist ein freundlicher Abschluss. Wie ist es bei euch?«

Das Scheppern der Tür am anderen Ende des Waggons bewahrte Allie vor einer Antwort. Beladen mit Decken, schob sich der Schaffner herein und begann, diese an die wenigen Passagiere zu verteilen. »Wir werden hier noch ein bisschen feststecken«, sagte er genüsslich düster. »Wir müssen auf den Schneepflug aus Falkirk warten, und der kommt nur langsam voran, wie ich höre. Die Heizung ist ausgefallen. Bitte entschuldigen Sie das, zumindest haben wir ein paar Decken.«

Er händigte ihnen zwei graue Exemplare aus, die in ihrer groben Machart eher für Pferde als Menschen gedacht zu sein schienen. Allie wickelte sich in ihre ein und verzog die Nase angesichts des Geruchs nach Mottenkugeln.

»Ist dir kalt?«, fragte Danny.

»Nicht wirklich. Aber wenn die Heizung aus ist, wird es ziemlich schnell kühl werden.«

Er blickte sie über den geringen Abstand zwischen ihren Sitzplätzen hinweg an. »Wenn du rüberkommst und dich neben mich setzt, können wir uns die Decken teilen. Und die Körperwärme.« Er lächelte unschuldig. »Ich hab nicht vor, irgendwas zu versuchen. Ich bin nur selbstsüchtig. Schau mich an, an mir ist nichts dran. Ich leide total unter der Kälte.«

Man konnte es nicht anders sagen: Er war ordentlich eingepackt. Wanderschuhe, Cordhosen, die in feste Wollsocken gesteckt waren; ein dicker Rollkragenpullover schaute unter seinem schweren Wintermantel hervor. Wollene Handschuhe und eine gestrickte Mütze waren nachlässig in eine Tasche gestopft. Allie hatte noch nie jemanden getroffen, der besser für die Kälte gerüstet war. Da konnte nicht mal ihr Großvater mithalten, der süchtig danach gewesen war, an der frischen Luft zu sein, ganz egal wie das Wetter war. Lebenslange Arbeit im Kohlenstoß bewirkte so etwas.

»Okay«, sagte sie mit gespieltem Widerwillen. Er war vielleicht der einzige Mann in der Nachrichtenredaktion, der nicht wie ein Raubtier auftrat. Um ein guter Journalist zu sein, musste man über die Instinkte eines Raubtiers verfügen. Aber man musste auch wissen, wann man sie abstellte.

Allie wechselte den Platz. Sie wurschtelten mit den Decken herum, bis sie es geschafft hatten, sie zweilagig um sich herumzuwickeln. »In welcher Schicht arbeitest du als Nächstes?«, fragte sie ihn.

»Tagesschicht ab morgen. Und du?«

Sie verzog das Gesicht. »Ich soll heute zur Nachtschicht erscheinen. Wenn der verdammte Schneepflug nicht einen Zahn zulegt, werd ich richtig Ärger kriegen.«

»Du hast noch Zeit. Es ist gerade mal nach drei. Und selbst wenn du zu spät kommst, wirst du nicht die Einzige sein. Arbeitest du an was Bestimmtem oder nur mit dem täglichen Kleinkram?« Er sagte das mit einer Beiläufigkeit, die geradezu um eine Gegenfrage bettelte.

»Ich warte auf die nächste Geschichte, die mir auf den Schreibtisch flattert. Du weißt, wie das in der Nachtschicht so ist. Und du?«

Er lächelte. »Ich bin was Großem auf der Spur. Was Investigativem. Ich bin seit ein paar Wochen dran, wenn ich nicht gerade den Rettungswagen hinterherhechten muss. Ich hab was bei jemandem aufgeschnappt, der nicht mal geahnt hat, was er mir da erzählt, seitdem versuche ich es nachzuweisen. Meist in meiner Freizeit. Schreibknechte wie du und ich sollen solche Storys ja nicht selbst bearbeiten. Wir müssen sie der Redaktionsleitung abtreten, damit einer von den altgedienten Kerlen sich ihrer annimmt. Wir dürfen die Drecksarbeit erledigen und die Ecken abschmirgeln, aber in der Verfasserzeile werden wir nicht genannt.«

Dem ließ sich nicht widersprechen. Es gab mehrere Redakteure mit klingenden Titeln: Polizeireporter, Chefreporter, Bildungsreporter, Gerichtsreporter und noch ein halbes Dutzend weitere. Wenn jemand aus den unteren Rängen einer großen Geschichte auf der Spur war, wurde sie ihm sofort von einem der Kerle weggeschnappt, die sie für ihren Herrschaftsbereich reklamierten.

»Wie hast du es geschafft, dass sie dir nicht weggenommen wurde?«

»Ganz einfach, ich hab niemandem davon erzählt«, erwiderte Danny. »Ich halte sie unter dem Deckel, bis sie so weit fortgeschritten ist, dass niemand sie mir noch wegnehmen kann. Das ist echter Sprengstoff.«

Allie fühlte einen Anflug von Neid. Aber der richtete sich nicht gegen Danny. Es war mehr die Sehnsucht nach einer eigenen großen Story. »Worum geht es? Wann ist sie fertig?«

»Bald. Ich brauche noch die letzten Stücke des Puzzles. Am nächsten langen Wochenende mache ich eine kleine Tour in den Süden, um das letzte fehlende Teil aufzuspüren.«

Es war also nicht mehr lange hin. Die Belegschaft des Clarion arbeitete vier lange Schichten pro Woche, die so angelegt waren, dass die Mitarbeiter alle drei Wochen fünf Tage am Stück freihatten. Allie hatte noch nicht herausgefunden, wie diese Freizeit am besten zu nutzen wäre, doch noch bevor der Winter einsetzte, hatte sie das Bergwandern für sich entdeckt. Außerdem hatte sie sich zum Ziel gesetzt, sich eine eigene Wohnung zu kaufen, und sie sah schon vor sich, wie sie diese künftig dekorierte und verschönerte. »Gut für dich. Wenn du einen Schreibknecht brauchst …«

Wieder schlug die Waggontür scheppernd auf. Dieses Mal stürmte der Bahnschaffner mit hochrotem Gesicht aufgeregt herein. »Ist einer von Ihnen Arzt?« Verzweifelt blickte er sich um. »Oder Krankenschwester?«

Bevor noch jemand antworten konnte, zerschnitt der Schrei einer Frau die gespannte Stille:

»Ich bring dich verdammt noch mal um, du Arschloch!«

2

Mit offenem Mund sprang Allie auf. Ihr Blick traf den von Danny, und ohne dass sie ein Wort wechseln mussten, rannten beide zur Tür. Danny drängte sich am Schaffner vorbei und rief: »Ich bin Ersthelfer!« Allie nutzte seinen Schwung, um in seinem Kielwasser durchzuschlüpfen. Eine Frau lag auf einer der Dreierbänke; ihre Trainingshose war bis zu ihren Knöcheln heruntergezogen, Blut lief über ihre Oberschenkel und sickerte in die grobe Polsterung ein. Ein Mann stand über sie gebeugt, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen. Allie blieb wie angewurzelt stehen.

Im ersten Moment dachte sie, die Frau wäre das Opfer einer Gewalttat. Doch dann bemerkte sie die blasse Wölbung ihres Bauchs. »Sie bekommt ein Kind!« Wie bei jedem überflüssigen Kommentar wusste sie, dass sie recht hatte, noch bevor sie es ausgesprochen hatte.

Danny ging ohne zu zögern weiter, bis er neben der Frau stand. »Ich bin Ersthelfer, okay, Kumpel?«, sagte er zu dem Mann, der stolpernd ein paar Schritte zurückwich und nickte wie ein Wackeldackel auf der Hutablage im Auto eines alten Mannes.

Seit ihrem Eintreten hatte die Frau nicht aufgehört zu brüllen und zu schreien, und es hatte auch nicht den Anschein, als wollte sie das in absehbarer Zukunft tun. Danny verlagerte sein Gewicht so, dass er sehen konnte, was zwischen ihren Beinen los war, dann blickte er zu Allie. Trotz seines selbstbewussten Auftretens konnte sie Besorgnis in seinem Blick erkennen. »Halt ihre Hand«, sagte er. »Versuch, sie zu beruhigen.«

Voller Angst ob der Verantwortung schob Allie sich vorwärts und ergriff eine der wild herumfuchtelnden Hände der Frau. Sie war klamm und gleichzeitig klebrig vom Blut. Allie drehte sich zu dem Mann um, der mit kläglicher Miene dastand. »Wie heißt sie?«

»J-J-Jenny«, stammelte er. Dann wiederholte er mit festerer Stimme: »Jenny. Das Kind sollte erst in vierzehn Tagen kommen.« Er kramte eine zerknitterte Schachtel No. 6 aus seiner Jeans, schüttelte zittrig eine Zigarette heraus und zündete sie an, dann sog er den Rauch tief in seine Lungen.

»Das Baby hat da ganz andere Pläne«, murmelte Danny, zog seinen Mantel aus und krempelte die Ärmel hoch.

Mit einer Hand hielt Allie Jenny fest und schob ihr mit der anderen das dicke dunkle Haar aus dem verschwitzten Gesicht. »Alles wird gut, Jenny.«

»Was zur Hölle wissen Sie denn, verdammt noch mal«, brüllte Jenny.

»Mein Kollege weiß, was er tut.« Allie warf Danny einen flehentlichen Blick zu.

»Das stimmt.« Er lachte nervös auf. »Ich bin mit Emergency Ward 10 aufgewachsen. Liebes, ich möchte, dass Sie ein paarmal tief durchatmen. Ich kann den Kopf Ihres Babys sehen, es will unbedingt auf die Welt kommen. Aber es braucht Ihre Hilfe. Sie müssen aufhören, dagegen anzukämpfen.« Er lehnte sich vor.

Allie wollte nicht darüber nachdenken, was er da tat. Allein der Gedanke an das schleimige Blut und all die anderen Körperflüssigkeiten dort brachten ihren Magen in Aufruhr. Sie blickte zu Jenny, deren Augen sich nach hinten verdrehten wie bei einem panischen Pferd in einem Westernfilm. »Ich weiß, dass es wehtut«, sagte sie sanft. »Aber es ist bald vorbei, Jenny. Und dann halten Sie Ihr Kleines im Arm. Sie werden eine stolze Mami sein, und all dies wird Ihnen wie ein schlimmer Traum vorkommen, versprochen.«

Jenny krümmte sich plötzlich vor Schmerzen und schrie erneut, während sie Allies Hand beinah zerquetschte.

»Gut so, Jenny«, keuchte Danny. Er schwitzte inzwischen genauso stark wie die Frau. »Pressen Sie noch mal.« Er pausierte einen Moment. »Und jetzt atmen. Tief durchatmen. Ich kann eine Schulter sehen. Liebes, Sie müssen noch mal pressen. Sie können das!«

Die nächsten zwanzig Minuten waren erfüllt von Blut und Schweiß, von Jennys Stöhnen, Allies Ermutigungen, Dannys ängstlichen Blicken und zahllosen Zigaretten des werdenden Vaters. Allie wiederholte immer wieder die gleichen leeren Phrasen: »Sie machen das großartig« – »Sie sind eine Heldin, Jenny« – »Fast geschafft«. Ihr wurde bewusst, dass sich um sie herum ein Publikum versammelt hatte. Und dann hielt Danny plötzlich ein rot- und lilafarbenes Bündel in den Armen, und das dünne Greinen eines neugeborenen Kindes setzte einen Kontrapunkt zu Jennys Ächzen.

»Gut! Das haben Sie toll gemacht!«, rief Allie.

»Sie haben einen Sohn.« Danny drehte sich um, um den Mann hinter sich anzugrinsen. Dessen Knie gaben nach, und er sackte auf einen der Sitze. Tränen schossen ihm in die Augen.

»Ich liebe dich, Jenny«, rief er mit belegter, heiserer Stimme.

»Ich hasse dich immer noch«, seufzte Jenny. Aber die Wut war aus ihrer Stimme verschwunden.

Einer der Passagiere holte ein Handtuch hervor. Allie hielt ihren Blick auf Jennys Gesicht gerichtet, um bloß nicht zu sehen, was an deren anderem Ende geschah. Sie half Jenny, sich aufzurichten und sich über den Sitz nach hinten zu schieben, sodass sie sich gegen das Fenster lehnen konnte. Dann reichte ihr Danny das ins Handtuch gewickelte Baby, dessen kleines Gesicht wegen des Ansturms von Bildern, Geräuschen und Empfindungen ganz zerknautscht war.

Der Vater kam taumelnd auf die Füße und schob sich an Jennys Seite. Er kniete sich neben sie und küsste erst seinen Sohn, dann die frischgebackene Mutter. »Du bist unglaublich, Jenny«, sagte er. »Ich liebe dich. Willst du mich heiraten?«

Jenny blickte auf ihn herab, und für einen Moment sah Allie das Aufblitzen von Stahl in ihren erschöpften Augen. »Verdammt noch mal, Stevie. Wenn ich gewusst hätte, dass das ausreicht, damit du mich endlich fragst, wär ich schon vor Jahren schwanger geworden.«

Danny beugte sich vor und murmelte Allie zu: »Großartiger O-Ton. Das ist mal ein Teaser.« Er bemerkte ihre Überraschung. »Allie, das ist mindestens ein Seitenaufmacher. Vielleicht sogar eine Titelstory.«

»Wenn das so ist, dann ist es deine Geschichte«, sagte sie. »Du hast das hingekriegt.«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist eine Frauengeschichte. Du weißt, dass die Redaktionsleitung das so sehen würde.«

Er hatte recht. Sie gewöhnte sich langsam an die verquere Logik hinter der Zuteilung der Storys. Es hatte Jahre gedauert, bis Journalistinnen endlich einen Fuß in die Nachrichtenredaktionen von überregionalen Boulevardzeitungen bekamen. Irgendwann hatte es den Bossen gedämmert, dass manche Geschichten sich besser verkauften mit dem, was sie »weiblichen Touch« nannten. Allie verstand nur zu gut, warum sie angestellt worden war. Aber das bedeutete nicht, dass sie sich dem fügen musste. »Du hast den kleinen Schreihals auf die Welt gebracht«, protestierte sie.

Er blickte bedauernd auf seine blutverschmierten Hände und die Schlieren auf Pullover und Hose. »Ja, genau. Ich hab schon genug gelitten. Und du weißt, wie die Jungs in der Redaktion reagieren würden. Jedes Mal wenn sie mich sähen, würden sie sowas wie ›Ooh, Oberschwester‹ rufen, als ob ich jemand aus dieser Carry-On-Filmreihe wäre – du weißt schon: Die total verrückte Oberschwester. Außerdem muss ein Foto von dem Reporter, der vor Ort war, in die Verfasserzeile, und das könnte mir alle Undercover-Storys vermiesen. Wenn ich erst mal die Story geknackt habe, an der ich gerade dran bin, habe ich die Chance, bei den großen Investigativsachen mitzumischen. Sieh mal, Allie, du musst doch nur sagen, dass es ein geheimnisvoller Mann war, der sich geweigert hat, seinen Namen zu nennen.«

»Was? Um dann von der Redaktionsleitung angemeckert zu werden, dass ich nur die halbe Geschichte hab?«

Danny musterte die Schaulustigen. Sein Blick blieb am Schaffner hängen, der sorgsam Abstand hielt von denen, die die neue Familie beglückwünschten. Danny trat auf ihn zu. »Ich bin Reporter beim Clarion«, begann er.

Der Bahnschaffner wich einen Schritt zurück. »Ich habe nichts falsch gemacht«, beteuerte er hastig.

»Keine Bange, Kumpel, niemand denkt das. Aber wir würden uns selbst zu sehr ins Rampenlicht rücken, wenn wir einen Bericht bringen würden, dass ich in einem feststeckenden Zug ein Baby zur Welt gebracht hab. Aber wie wäre es, wenn wir sagen würden, Sie hätten das vollbracht? Sie wären der Mann der Stunde! Und es ist ja nicht so, als wären Sie nicht zu Hilfe geeilt, nicht wahr?«

Der Schaffner schaute verwirrt. »Aber all diese Leute hier haben doch gesehen, was wirklich passiert ist.«

»Die Details werden sie schnell vergessen, sie werden ihren Freunden nur erzählen, dass sie gesehen haben, wie ein Kind im Zug zur Welt gekommen ist. Meine Kollegin hier« – er deutete auf Allie – »wird die Geschichte schreiben. Jenny und Stevie ist es egal, wer die Lorbeeren erntet.«

Allie musste zugeben, dass Dannys Lächeln charmant war.

»Ich weiß nicht …«, zauderte der Schaffner.

»Vielleicht bekommen Sie eine Belobigung, eine Gehaltserhöhung oder so was.« Er drehte sich zu Allie um. »Hast du eine Kamera dabei?«

Sie nickte. »In meiner Tasche.« Sie hatte immer ihre Kompaktkamera, eine Olympus Trip 35, bei sich. Ihr erster Nachrichtenredakteur hatte ihr eingeschärft, niemals ohne aus dem Haus zu gehen. »Nie ist ein verdammter Fotograf zur Hand, wenn man einen braucht«, hatte er gesagt.

»Na, dann mal los, hol sie«, meinte Danny zu ihr. »Die wollen Fotos.«

3

Allie zog die letzte Seite ihres Artikels aus der Schreibmaschine und trennte vorsichtig die Durchschläge voneinander. Das verbrauchte Kohlepapier landete zerknüllt im Mülleimer. Die oberste Seite bekam die Redaktionsleitung, der erste Durchschlag ging an die Textredaktion, der zweite in die Bildredaktion, und der letzte – auf blassrosa Papier – war für ihre Unterlagen.

Sie verteilte die Seiten auf die vier vor ihr liegenden Stapel und las den Text ein letztes Mal.

 

Das Personal des Bahnhofs Glasgow staunte nicht schlecht, als gestern ein Zug mit einem unerwarteten zusätzlichen Passagier einfuhr.

Bei Jenny Forsyth hatten auf dem Zwei-Uhr-Zug von Waverley zur Queen Street die Wehen eingesetzt, als der Zug in einer Schneewehe feststeckte.

Dank der Geistesgegenwart von Bahnschaffner Thomas Mulrine, 47, erreichte Jenny den Bahnhof Queen Street als frischgebackene Mutter eines quicklebendigen kleinen Jungen.

Jenny, 23, und ihr Freund Stephen Hamilton, 25, waren auf dem Rückweg zu ihrem Zuhause in der White Street in Partick, Glasgow, als das Drama seinen Lauf nahm.

Schwere Schneefälle hatten die Strecke zwischen Falkirk High und Linlithgow blockiert und den Zug zum Anhalten gezwungen.

Noch bevor ein Schneepflug die festgefahrenen Waggons befreien konnte, beschloss der kleine Craig, früher als geplant auf die Welt zu kommen. Alarmiert durch Jennys Schmerzensschreie, schritt Mr. Mulrine beherzt ein und brachte ihren Sohn unter dem Beifall der Mitreisenden zur Welt.

Doch das war noch nicht genug der Aufregung: Stephen war so glücklich über die gut verlaufene Geburt seines Sohnes, dass er auf die Knie niedersank und Jenny bat, seine Frau zu werden.

Die erfreute Jenny erwiderte: »Wenn ich gewusst hätte, dass das ausreicht, damit du mich endlich fragst, wäre ich schon vor Jahren schwanger geworden.«

Der stolze Vater erklärte: »Craigs Geburtstermin war erst in zwei Wochen, darum dachten wir, es wäre okay, nach Edinburgh zu fahren, um mit Jennys Mum und Dad das neue Jahr zu feiern. Ich hätte niemals gedacht, dass sie unser Kind im Zug zur Welt bringt. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn der Schaffner nicht geholfen hätte. Er ist der Held des Tages.«

Doch Mr. Mulrine wollte nichts davon wissen, etwas Heroisches getan zu haben. »Es gehört zu meinem Job, mich um die Passagiere zu kümmern. Vorher habe ich allerdings noch nie ein Kind auf die Welt bringen müssen. Und ich hoffe, dass ich das auch nicht ein zweites Mal tun muss. Zum Glück hat meine Frau eines unserer drei Kinder zu Hause geboren, so hatte ich zumindest eine ungefähre Ahnung, was zu tun war. Aber es war eine große Verantwortung. Ich bin froh, dass alles gut gegangen ist.«

Eine halbe Stunde später war der Zug wieder frei und konnte seine Fahrt nach Glasgow ohne weitere Vorkommnisse fortsetzen.

Mr. Mulrine hatte per Funk einen Rettungswagen angefordert. Dieser stand bereit, um Mutter und Sohn ins nah gelegene Glasgow Royal Infirmary zu bringen, wo beide medizinisch untersucht wurden. Die zwei sind bei guter Gesundheit, wie das Krankenhaus verlauten ließ.

Ein Sprecher von British Rail erklärte: »Wir sind froh, dass es Craig gut geht. Dieses ganz besondere Baby erhält von uns eine Dauerfahrkarte für sein gesamtes Leben.«

 

Vierzehn Absätze; ein paar Längen. Aber es war ein ereignisloser Tag, sodass sie vielleicht damit durchkam. Sie hatte ein halbes Dutzend Fotos von der glücklichen Familie geschossen – mit und ohne einen schüchtern dreinblickenden Thomas Mulrine – und den Film bei ihrer Ankunft der Bildredaktion ausgehändigt. Inzwischen hatte sie schon die plumpen Scherze des Bildredakteurs und seiner Kleinknechte über sich ergehen lassen müssen. »Zumindest haben alle die Augen offen«, hatte er gegrummelt, nachdem er sich über die Fotos von der Weihnachtsfeier lustig gemacht hatte, die die erste Hälfte des Films füllten.

Allie lieferte ihren Artikel ab und war auf dem Weg zurück zu ihrem Platz, als Gavin, der Redakteur vom Nachtdienst, ihren Namen rief. Widerwillig ging sie dorthin zurück, wo die Ressortleiter Hof hielten. Gavin Todd sah aus wie ein dürrer Welpe. Seine Anzüge hingen an ihm herab, als wären seine knochigen Schultern Kleiderbügel. Alles an ihm war irgendwie halb fertig und weiter in Arbeit, wenn auch nicht in der richtigen Richtung: Sein Haar dünnte aus und wurde grau, und innerhalb der wenigen Monate, die Allie hier arbeitete, war seine Haltung noch gebeugter geworden. Das Verhältnis von Whisky zu Tee in der Thermoskanne, die er zum Job mitbrachte, veränderte sich immer mehr zugunsten des Alkohols. Jeden Abend, zehn Minuten nachdem die Tagschicht gegangen war, widmete er sich seinem Flachmann. Um Punkt neun Uhr brach er dann zu seiner Pause im Pub auf. Allie war ein paarmal da gewesen und hatte mitbekommen, wie er fünf große Gläser Whisky – »kleine Sonnenscheinchen« nannte er sie – in gerade mal einer Stunde kippte. Danach kaufte er meist eine Viertelliterflasche, die ihn auf Trab hielt, bis er irgendwann zwischen ein und zwei Uhr nachts das Büro verließ.

Sie beäugte ihn aufmerksam, während sie näher kam. Am Anfang einer Schicht ähnelte Gavin einem ganz normalen, vernünftigen Redakteur. Was bedeutete, man musste sich so verhalten, als würde man mit einer Handgranate jonglieren, deren Sicherheitsstift jederzeit zu Boden fallen konnte. Wenn aber der Whisky die Führung übernahm, wurden seine Sprache und seine Gedankengänge verwaschen, und die Frustration machte sich in quengeligen Beschwerden Luft.

»Dieser Artikel«, sagte er.

»Ja?« Lieber abwarten, bis man wusste, mit welchem Gavin man es zu tun hatte.

»Sie waren da, oder? Sie waren vor Ort?«

Allie nickte. »Ja, war ich.«

»Und was ist das hier?« Er schlug mit den Papierseiten gegen die Kante des Tischs. »Warum ist das kein ›Ich-Text‹? Sie sollten es melken, Burns. Die anderen Zeitungen haben die Story inzwischen auch. Das Einzige, was für Exklusivität sorgt, ist, dass Sie dort waren.«

»Aber es geht bei dieser Geschichte nicht um mich, Gav. Es geht um Jenny, den Schaffner und den Heiratsantrag.« Sie spürte einen Druck auf der Brust. Würde sie je den Dreh raushaben? Alle anderen schienen instinktiv zu wissen, wie man es machte, aber ihr fehlte dieses Bauchgefühl.

Bevor Gavin ihr weiter zusetzen konnte, erschien der Chef vom Dienst. Arnie Anderson war in so gut wie jeder Hinsicht das Gegenteil von Gavin. Korpulent und fröhlich, mit schwarzem Haar und Bart; er verbrachte seine Pausen statt im Pub lieber in der hauseigenen Kantine, wo er Suppen und Pies in sich hineinstopfte, Hausmannskost, die einen festen Platz auf der Speisekarte hatte. »Netter kleiner Text, Burns«, sagte er in seinem dröhnendem Bass.

»Hätte ein ›Ich-Text‹ sein sollen«, greinte Gavin. »Das Mädchen war da. Das ist das Exklusive.«

»Gavin, Gavin.« Arnie seufzte übertrieben enttäuscht. Mit seinem fleischigen Arm wedelte er weit ausholend in Richtung Bildredaktion. »Die Bilder, das ist das Exklusive. Das ist der Hingucker. Etwas Herzerwärmendes statt immer nur diese verdammten Schneesturmgeschichten, von denen alle die Nase voll haben. Wir ziehen das Bild über fünf Spalten. Aber wir müssen den Text auf Seite zwei weiterführen. Und das heißt, wir haben an der Seite noch genug Platz für einen zusätzlichen Artikel, in dem Sie in fünf Absätzen Ihre dramatische Zugfahrt schildern können, Burns.« Mit einem Fingerwackeln entließ er sie. »Sie sind ja immer noch da!«

Allie drehte sich um, während Arnie sich über Gavins Schulter beugte, um die Artikel in seinem Eingangskorb durchzublättern. Sie spannte einen neuen Satz Durchschlagpapier in ihre Schreibmaschine und starrte mit einer Mischung aus Angst und Hass die weiße Seite an.

»Ich brauch’s bis neun«, rief ihr Arnie zu, als er sich dem Produktionstisch zuwandte, wo die Entscheidungen über Layout und Inhalte fielen.

»Scheiße«, murmelte sie. Wie alle ihre Kommilitonen hatte sie Tom Wolfe und Joan Didion, Nick Tomalin und Truman Capote gelesen. Sie hatte davon geträumt, in die oberen Ränge des New Journalism aufzusteigen. Aber anfangs bei einer lokalen Abendzeitung und jetzt bei dieser Boulevardzeitung zu arbeiten hatte ihre Träume platzen lassen. Sogar die Reportagen waren hier boulevardesk, ein kruder Mix aus Klischees und Verkürzungen. Jeder Mensch mit Krebs »kämpfte tapfer« dagegen an; jede Frau über fünfzig war eine »vom Leben gezeichnete alte Tante«, jede unter fünfzig hatte gute Chancen, als »blondes Gift« bezeichnet zu werden. Wenn die Textredaktion mit ihrem Text durch war, war aus Craig bestimmt ein »Wunderbaby« geworden, darauf würde Allie eine goldene Uhr verwetten. Wie sollte sie ihren »Ich-Text« in diesem seichten Gewässer vom Stapel lassen?

Allie erinnerte sich an den Rat, den ihr ein älterer Kollege gegeben hatte, als sie in ihrer Anfangszeit über Verhandlungen vor dem Amtsgericht und über Ratssitzungen in Newcastle hatte berichten müssen. »Wie würden Sie Ihren Freunden im Pub davon erzählen?«, hatte er gefragt. »In neun von zehn Fällen finden Sie so den besten Einstieg.«

»Ich möchte auf keinen Fall ein Kind bekommen«, war das Erste, was ihr durch den Kopf schoss. Sie brauchte allerdings niemanden von der Textredaktion, um sich klarzumachen, dass man so keinen Clarion-Artikel anfing. Trotz der antikatholischen Haltung, die immer noch die Einstellungspolitik der Zeitung prägte, galten in diesem Zeitungsuniversum Mütter als Heilige.

Allie kramte in ihrer Tasche nach Zigaretten: Silk Cut, die Marke für jeden, der sich vormachte, weniger zu rauchen, indem er die mildeste Sorte wählte. Sie versuchte, sich auf zehn pro Tag zu beschränken, und meistens schaffte sie das auch. Heute Abend jedoch war das nicht drin, gestand sie sich säuerlich ein und zündete die Zigarette mit einem Wegwerffeuerzeug an. Noch so etwas, um Entschlossenheit vorzutäuschen: Ein Zippo wäre das Eingeständnis, dass sie auf lange Sicht Raucherin bleiben würde. Sie inhalierte tief; ihre Finger bedeckten absichtlich die kleinen Löcher, die extra ins Papier eingelassen waren, damit ein Teil des giftigen Rauchs entschwinden konnte, bevor er in die Lunge gelangte. Wem wollte sie hier was vormachen?

In der kurzen Denkpause, die ihr die Zigarette verschaffte, fiel ihr ein Einstieg ein, der vermutlich durchgewunken wurde.

»Es hätte eine ganz normale Zugfahrt werden sollen. Stattdessen wurde ich gestern auf der Strecke zwischen Edinburgh und Glasgow Zeugin eines Neujahrswunders.«

Sie hasste sich jetzt schon dafür.

Sie haute vier weitere Absätze raus, den Auftakt machte der Schrei, dann ging es mit dem Händchenhalten weiter und endete mit der vermutlich einzigen ehrlichen Aussage des ganzen Artikels: »Mein Neujahrsvorsatz? Einen Erste-Hilfe-Kurs besuchen.«

Während sie den letzten Satz getippt hatte, hatte sich Gavin hinter sie geschlichen und ihr über die Schulter gelinst. »Sie sind fast fertig? Zum Glück gibt’s sonst keine nennenswerten Nachrichten. Arnie gibt Ihnen hier eine große Chance – die Titelstory und eine zweite Seite.«

Allie zog das Durchschlagpapier aus der Schreibmaschine. »Ist fertig.«

Gavin schnappte sich den Beitrag und hetzte davon, um die Lorbeeren dafür zu kassieren, dass er den Artikel rechtzeitig für die Deadline der ersten Ausgabe ablieferte. Am Ende der Schreibtischreihen angelangt, drehte er sich zu ihr um. »Sitzen Sie nicht so rum, Burns. Machen Sie sich nützlich. Ziehen Sie los und schnappen Sie sich einen der Fahrer, um den eingehenden Notrufen nachzujagen. Denken Sie dran, Sie sind nur so gut wie Ihre letzte Titelstory.«

4

Allie war nicht die Einzige vom Clarion, die an diesem Abend mit einem Artikel kämpfte. Am anderen Flussufer versuchte Danny Sullivan in seiner Altbauwohnung im ersten Stock in Pollokshields, eine erste Fassung jener Investigativ-Story zu schreiben, die seine Karriere verändern sollte: Aus einem einfachen Schreibknecht würde jemand werden, den man ernst nehmen musste, davon war er überzeugt. Seit er an einem heißen Sommerabend vor drei Jahren voller Begeisterung Die Unbestechlichen gesehen hatte, träumte er davon, ein schottischer Woodward oder Bernstein zu werden. Am liebsten wäre er der glamourösere, adrettere Charakter, den Robert Redford verkörpert hatte; insgeheim musste er sich aber eingestehen, dass er eher Dustin Hoffmans Figur ähnelte: jemand, der in schlecht sitzender Kleidung herumschnüffelte, ruhelos auf der Suche nach der kleinsten Spur, bis alle Geheimnisse enthüllt waren. Aber in einem entscheidenden Punkt glich er sowohl Woodward als auch Bernstein: Er wusste, dass er die Zutaten einer großen Story vor sich hatte. Auf dem Papier das Optimum dabei herauszuholen war der schwierigere Teil. Besonders weil es noch ein paar klaffende Lücken gab.

Das Samenkorn der Story war ihm durch Zufall vor zwei Monaten in den Schoß gefallen. An den Sonntagen bestand Anwesenheitspflicht beim Mittagessen in der elterlichen Wohnung. Das bedeutete für Danny ein permanentes Tauschen der Schichten, verbunden mit diversen Gefallen, die er anderen dann schuldete, damit er das schaffte. Aber es war in Ordnung für ihn. Er liebte die Kochkünste seiner Mutter und verstand sich gut mit seinen Eltern. Der einzige Streitpunkt bestand darin, dass seine Mutter mitbekommen hatte, dass er nicht mehr zum Gottesdienst ging, seit er aus der elterlichen Wohnung in Edinburgh ausgezogen war. Anfangs hatte er die Arbeit vorgeschoben, aber schließlich hatte er zugeben müssen, dass er einfach nicht mehr hingehen wollte. Marie Sullivan hatte zuerst wütend reagiert, aber sein Vater hatte den Sullivan-Charme spielen lassen, sodass sie jetzt nur noch resigniertes Märtyrertum zur Schau stellte, wenn die Rede darauf kam. Sie hatte getan, was sie konnte, aber wenn Danny sich für den Pfad zur Hölle entschieden hatte, dann war das seine Entscheidung, er war schließlich alt genug.

Ärgerlich war nur, dass sein älterer Bruder Joseph sich weiterhin zum Familienglauben bekannte. Er lebte noch zu Hause und ging jeden Sonntag pflichtschuldigst mit seinen Eltern zur Kirche. Danny war sich ziemlich sicher, dass das nur ein Lippenbekenntnis war, genauso wie er vermutete, dass Joseph nur deshalb noch unter dem elterlichen Dach lebte, weil es billiger war, als sich etwas Eigenes zu suchen. Es erstaunte Danny, wie oft Josephs Job bei einer Versicherung es erforderte, dass er über Nacht wegblieb. Danny konnte sich nur vorstellen, dass das eine Ausrede für durchfeierte Nächte war. Seine Mutter hatte ihm versichert, das wäre nötig, weil Joseph sehr wohlhabende Kunden betreute, die einen persönlicheren Service verlangten. Das war eine dieser leeren Phrasen, die nichts erklärten, aber beeindruckend klangen. Joseph hatte schon immer einen Hang dazu gehabt.

Danny konnte sich nicht daran erinnern, dass er seinem Bruder je vertraut hatte. »Aalglatt« war ein Ausdruck, der extra für Joseph erfunden worden zu sein schien. Geschmeidig, gerissen und glatt wie eine Teflonpfanne – so war sein Bruder. Seine Eltern neigten dazu, im Zweifel immer zugunsten von Joseph zu entscheiden, weil er adoptiert war. Sie hatten sich jahrelang vergeblich bemüht, Nachwuchs zu bekommen, aber wie es manchmal so war: Gerade als sie ein Kind adoptiert hatten, war Marie mit Danny schwanger geworden. Ihre Entschlossenheit, Joseph niemals das Gefühl zu geben, ein Kind zweiter Wahl zu sein, ließ nach Dannys Eindruck das Pendel oftmals zu stark in die andere Richtung ausschlagen. Und mithilfe seines dreisten Charmes schienen sich die Dinge immer zu Josephs Vorteil zu entwickeln.

An einem Sonntag im November hatten sie bei Steakpastete, Kartoffelbrei und Tiefkühlerbsen über das Ende des Streiks bei Ford gesprochen. Es war eine willkommene Abwechslung gewesen, da seine Mutter beim Sonntagsmahl üblicherweise Vater Martins Predigt nacherzählte. Die Arbeiter der Autofabrik hatten ursprünglich eine Lohnerhöhung von zwanzig Prozent und eine kürzere Arbeitswoche gefordert. Das Unternehmen hatte versucht, sich auf die staatliche Lohnpolitik herauszureden, und fünf Prozent angeboten. Nach einem zähen Streik über acht Wochen hatte Ford nachgegeben und siebzehn Prozent gebilligt.

»Ich wünschte, ich würde auch so eine Gehaltserhöhung bekommen«, hatte Eddie Sullivan gesagt und Ketchup neben seinen Kartoffelbrei gekleckst. Er fuhr Lieferwagen für eine örtliche Großbäckerei, deren Besitzer sich seit Jahren dagegen stemmte, die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft zu erlauben. »Wenn das so weitergeht, verdient ihr Jungs bald mehr als ich.«

Danny vermutete, dass das längst der Fall war, aber er hatte nicht vor, seinen Vater zu demütigen. »Die Regierung versucht, die Inflation niedrig zu halten«, sagte er.

Joseph kicherte leise. »Einige müssen sich keine Gedanken über die Inflation machen. Die Klienten, für die ich arbeite, sind davor gefeit.«

Marie runzelte die Stirn. »Wie kann das sein? Wir kaufen alle in denselben Läden ein und zahlen alle dieselben Steuern. Wie können die nicht davon betroffen sein?«

Danny fand Josephs Lächeln herablassend. »Bei Paragon haben wir Wege gefunden, diese Regeln zu umgehen.«

»Es ist doch immer dasselbe«, seufzte Eddie. »Ein Recht für die Reichen, ein anderes für die Armen.«

»Das Recht ist für uns alle dasselbe«, erwiderte Joseph. »Aber wie ich schon sagte, es gibt Wege, die Gesetze zu umgehen.«

»Und wie?«, wollte Danny wissen.

Joseph tippte sich gegen den Nasenflügel. »Das ist etwas, was du nie erfahren wirst, kleiner Bruder.«

Diese Worte trafen Danny, doch er wollte am elterlichen Esstisch keinen Streit vom Zaun brechen. Besser das Pulver trocken halten und herausfinden, auf welchen krummen Wegen Joseph unterwegs war. Wenn an den Andeutungen seines Bruders etwas dran war, dann war das vielleicht eine Story wert.

Er begann mit einem Besuch des Hauptsitzes der Paragon Investment Insurance, eines imposanten georgianischen Gebäudes mit einem säulengetragenen Portikus im Herzen von Edinburghs kleinem Finanzdistrikt in der George Street. Er gab vor, der persönliche Assistent des Direktors einer Firma für Nordseeöl zu sein, und verließ das Gebäude mit einem Stapel Broschüren und diversen Werbesprüchen über die Fähigkeiten von PII, das Vermögen der Klienten abzusichern. Keine Details, aber eindeutig verlockende Versprechen.

Die Sprache der Hochfinanz beherrschte Danny nicht gerade fließend, dennoch arbeitete er sich durch die Broschüren und stellte eine Liste mit Fragen zusammen. Auch wenn die Leserschaft des Clarion selten über mehr Investments verfügte als eine Fünf-Pfund-Prämienanleihe, die eine Tante zur Geburt gekauft hatte, verfügte die Zeitung doch über einen Finanzredakteur. Peter McGovern war ein gepflegter kleiner Mann mit einer Reihe gepflegter dreiteiliger Anzüge und unauffälligen Krawatten. Das einzig Auffällige an ihm war eine überdimensionierte Brille mit dicken Rändern, die aussah wie die von Brains aus der Serie Thunderbirds. Danny verstand zwar nicht, warum ein erwachsener Mann sich in Stilfragen von einer Puppensendung für Kinder inspirieren ließ, aber jeder, wie er wollte. McGovern verbrachte seine Nachmittage zumeist im firmeneigenen Pub, das fantasievollerweise Printer’s Pie hieß. Es war eine niedrige Betonschachtel am Nordufer des Clyde mit hoch gelegenen horizontalen Fensterschlitzen, die eher für Kriegsbunker angemessen gewesen wären als für einen Ort der Entspannung. Die Klientel war eine wüste Mischung aus gut betuchten, aber schlecht gekleideten Schreiberlingen und Pennern aus dem nah gelegenen Obdachlosenasyl.

Dort traf Danny den Geldexperten der Zeitung an seinem gewohnten Ecktisch an. Er schob McGovern einen großen Famous Grouse zu und setzte sich ihm gegenüber.

McGovern sah von den rosafarbenen Seiten der Financial Times auf und runzelte die Stirn. »Wozu soll das gut sein?«, fragte er halbwegs freundlich.

»Ich brauche ein bisschen Hilfe«, sagte Danny und zog sein Notizbuch hervor, in dem er seine Fragen notiert hatte.

»Ich bin kein Tippgeber für Rennen«, sagte McGovern und verzog angewidert das Gesicht, als hätte ihn ein übler Geruch angeweht. »Und ich wäre nicht da, wo ich heute bin, wenn ich mit dem hart erarbeiteten Inhalt meines Adressbuchs freigiebig wäre.«

»Nicht diese Art von Hilfe. Ich bin da an etwas dran, und ich habe nicht die Expertise, alles zu verstehen, was ich herausgefunden habe. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir einiges davon erklären.«

»Ist es eine Story?« Jetzt war McGovern die Verbindlichkeit in Person.

»Das weiß ich, ehrlich gesagt, noch nicht. Ich muss erst noch ein Gespür dafür entwickeln, was dieser ganze Kram bedeutet.« Er tippte auf sein Notizbuch.

»Sie wollen meine Hilfe? Dann nennen Sie mich als Mitautor der Story, wenn Sie sie fertig haben.« Er faltete seine Zeitung zusammen, zog ein schmales Etui mit Henri Wintermans Café-Crème-Zigarillos heraus und zündete einen davon ostentativ mit einem goldenen Dunhill-Feuerzeug mit Schildpatt an.

Danny dachte einen Moment lang darüber nach. Er hatte die ganze Arbeit gemacht; er wollte die Anerkennung dafür nicht teilen. Aber ohne Hilfe wusste er nicht, wonach er suchen sollte oder wo er überhaupt beginnen müsste. »Mit Unterstützung von«, sagte er.

McGovern schüttelte den Kopf. »›Und‹, Bürschchen, ›und‹.«

Danny seufzte. »Okay. Sullivan und McGovern.«

McGovern bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Andersrum. Alphabetische Ordnung.«

Danny grinste. »Danny kommt vor Peter.«

Diesmal musste auch McGovern lächeln. »Okay, mein Sohn, dann lassen Sie mal sehen, was Sie da haben.«

 

Als Danny aus dem Printer’s Pie wieder herauskam, fragte er sich, ob er gerade etwas erlebt hatte, was Studenten gemeinhin als Tutorium bezeichneten. McGovern hatte sich Dannys Fragen angehört, und mit der Gelassenheit desjenigen, der sich auf vertrautem Terrain bewegt, hatte er zügig die mitgebrachten Broschüren durchgeblättert. Dann war er sie mit Danny durchgegangen, Punkt für Punkt. Die Quintessenz war, so vermutete McGovern, dass PII ausgeklügelte Möglichkeiten der Steuervermeidung anbot.

»Das ist nicht illegal. Manches segelt ziemlich hart am Wind, aber sie werden das gemeinsam mit einem teuren Treasury Counsel entwickelt haben.« Als er Dannys verwirrten Blick bemerkte, erklärte er mitleidig: »Ein Anwalt, der sich auf Steuerrecht spezialisiert hat und darauf, wie man es umgehen kann.«

»Dann ist es keine Story?«

McGovern leerte sein Glas. »Auf den ersten Blick nicht, nein.«

»Aber irgendwas ist faul daran«, beharrte Danny. »Nichts, worauf ich den Finger legen kann, aber kennen Sie dieses Gefühl, wenn man etwas aus dem Augenwinkel sieht, und wenn man sich umdreht, ist da nichts?«

McGovern nickte. »Journalistischer Instinkt. Der hat mir über die Jahre gute Dienste geleistet.«

»Also wäre ein bisschen Wühlarbeit durchaus lohnenswert?«

»Warum nicht? Sie haben nichts zu verlieren.«

»Wie packe ich das an?«

»Gehen Sie dahin, wo Sie die Spur aufgenommen haben. Und ich frage in der Zwischenzeit ein bisschen rum, was PII angeht.«

Perplex sagte Danny: »Damit hatte ich nicht gerechnet.«

»Ich auch nicht, Bürschchen, ich auch nicht.«

5

Es dauerte ziemlich lang, doch schließlich war Danny überzeugt, dass er wirklich die Art von Story am Wickel hatte, von der er geträumt hatte. In seiner Freizeit wühlte er sich durch das Artikelarchiv der Zeitung und suchte nach allem, was mit Versicherungsbetrug und Steuerhinterziehung zu tun hatte. Immer wieder stieß er darauf, dass niemand, der eine schöne Stange Geld verdient hatte, die hohen Steuern der Labour-Regierung zahlen wollte. Aber er konnte in den Artikeln nichts Anrüchiges finden, was zu den PII-Prospekten gepasst hätte. Wenn er vorankommen wollte, musste er ein bisschen tiefer graben.

Darum kratzte er am zweiten Sonntag im Dezember all seinen Mut zusammen und nutzte den Türschlüssel, den er immer noch besaß, um sich in die elterliche Wohnung hineinzuschleichen, während Joseph mit den Eltern die Messe besuchte. Er ging direkt in das Zimmer seines Bruders und öffnete den Kleiderschrank, wo Joseph, wie Danny wusste, seine Aktentasche aufbewahrte, einen schwarzen Lederkoffer, dessen Kanten mit gebürstetem Aluminium verstärkt waren. Er war ein Statussymbol, und Joseph trug ihn mit der gleichen Andacht herum wie ein Paramilitär sein halbautomatisches Gewehr.

Der Koffer war unverschlossen. Warum auch nicht? Den Eltern würde es nicht im Traum einfallen, das Heiligtum, das Josephs Aktenmappe darstellte, zu entweihen. Danny ging den Inhalt durch. Ein paar der schon bekannten PII-Broschüren. Ein Automagazin. Außerdem – schon vielversprechender – ein schmales schwarzes Adressbuch. Danny wünschte sich, er hätte eine Spionagekamera wie James Bond in 007 – Im Geheimdienst Ihrer Majestät. Er entschied, er würde bei Gelegenheit wiederkommen, um einige Kontaktdetails herauszuschreiben. Dann noch ein paar Faltblätter von Banken, die über ihren Investmentservice informierten. Er war nah daran, die Hoffnung aufzugeben, etwas Aufschlussreiches zu finden, als er auf ein einzelnes Blatt Papier mit Josephs Handschrift stieß.

 

Brian McGillivray – Jan – 100 k

Wilson Brodie – Feb – 125 k

Andrew Mutch – März – 130 k

 

Das sagte ihm nichts, aber es fiel aus der Reihe. Es war etwas, das in seinen Augen nicht zur Welt der Todesfall- und Kapitallebensversicherungen passte. Danny trug die Liste in sein Notizbuch ein. Dann suchte er die Namen im Adressbuch. Jeder von ihnen war dort verzeichnet, komplett mit Adresse, Telefon- und Faxnummer. Er notierte die Einzelheiten, dann legte er alles wieder dorthin, wo er es gefunden hatte.

Eilig verließ er die Wohnung und ging in ein Café gegenüber vom Bahnhof Haymarket, entgegengesetzt der Richtung, aus der seine Familie kommen würde, wenn sie in Kürze die Kirche verließ. Er würde rund eine Stunde mit Tee und den Sonntagszeitungen totschlagen. Auf diese Weise träfe er zur üblichen Zeit zu Hause ein, und niemandem würde etwas auffallen.

 

Zu Beginn seiner Schicht am nächsten Morgen schickte die Redaktionsleitung Danny gemeinsam mit einem Fotografen gleich zu einem Auftrag los. Sie sollten nach Falkirk fahren, um eine Familie zu interviewen, deren Auto von einem Krater verschluckt worden war, der sich über Nacht in ihrer Auffahrt aufgetan hatte.

»Verdammt heftig«, hatte der Fotograf gesagt. »Ich parke auf keinen Fall in der Nähe des Hauses.«

Der Auftrag entpuppte sich als Routinesache. Mysteriöser Krater; die Familie musste am frühen Morgen feststellen, dass ihr Auto in einem kleinen Abwassertümpel dümpelte; alle bestürzt; die städtischen Wasserwerke wiesen jede Verantwortung von sich. Sie waren rechtzeitig zurück in Glasgow, um sich schnell eine Pie und ein Bier zu gönnen, ohne dass ihr Wegbleiben größer auffiel.

Danny nutzte die Zeit, um Peter McGovern anzusprechen, der sich wie üblich mit einem Drink hinter der rosafarbenen Financial Times verschanzt hatte. »Sagen Ihnen diese Namen irgendwas?«, fragte er ohne jedes Vorgeplänkel. Dann ratterte er sie runter. McGoverns Augenbrauen wanderten immer weiter nach oben.

»Warum fragen Sie das?«

»Ich konnte einen Blick auf ein Blatt Papier werfen, das meine Quelle vor mir verbergen wollte. Diese Namen standen drauf.«

»Interessant.« McGovern wiederholte seine Café-Crème-und-Dunhill-Show. »Brian McGillivray ist der Mann hinter WestBet. Er besitzt rund vierzig Wettbüros, und er ist eine Größe auf der Pferderennbahn. Wilson Brodie hat eine Reihe von Spielhallen an der Costa del Clyde. Sie wissen schon – Bingo, Glücksspielautomaten, Flipper. Und diese albernen Greifautomaten, bei denen man nie etwas von Wert zu fassen bekommt. Andrew Mutch ist Bauunternehmer. Er hat sich auf kommunale Aufträge spezialisiert – Schulen, Altenheime, Büros. Können Sie eine Gemeinsamkeit entdecken?«

Danny kniff die Augenbrauen zusammen. »Die Geschäfte von McGillivray und Brodie basieren auf Bargeld. Beide könnten falsche Angaben zu ihren Umsätzen machen und das Finanzamt betrügen. Aber wenn Mutch für die Kommune tätig ist, dann wird alles über Rechnungen und direkte Banküberweisungen abgewickelt, oder?«

»Sie sind in der richtigen Ecke des Finanzdickichts. Mutch kann ohne große Probleme an jede Menge Bargeld kommen. Sagen wir mal, für ein Projekt brauchen Sie Baumaterial im Wert von rund hunderttausend. Sie kaufen es ganz offiziell und verkaufen es dann unter der Hand gegen einen Nachlass, und von dem eingenommenen Bargeld geben Sie ein bisschen was aus, um minderwertiges Baumaterial zu erstehen. Und schon haben Sie einen Batzen Cash, der sich nicht zurückverfolgen lässt. Das ist das, was diese drei gemeinsam haben. Bekannte, respektable Geschäftsmänner, die nach einer Möglichkeit suchen, sich aus ihren Steuerverpflichtungen herauszuwinden. Irgendeine Idee, wie sie es tun?«

Danny schüttelte den Kopf. »Aber ich glaube, es geht um große Summen. Zwischen hundert- und hundertdreißigtausend Pfund.«

McGoverns Zigarillo stoppte auf halben Weg zu seinem Mund. »Wenn Sie das belegen können, haben wir eine Story. Können Sie das?«

Danny trank den letzten Schluck seines Starkbiers. »Ich wär nicht hier, wenn ich nicht davon ausgehen würde, dass ich es kann.« Er wünschte, er wäre so selbstsicher, wie er klang. Denn die Wahrheit war, dass alles nur auf Spekulation beruhte.

 

Nach dem Gespräch hatte Danny über seine nächsten Schritte nachgegrübelt. Es war durchaus möglich, dass ein paar Drinks während der verschiedenen Familienfeierlichkeiten an den Festtagen Josephs Zunge lockern würden, aber darauf konnte er sich nicht verlassen. Außerdem wollte er keine schlafenden Hunde wecken. Sein Bruder hatte noch nie dazu geneigt, Einzelheiten über sein Leben außerhalb der vier Wände der elterlichen Wohnung auszuplaudern. Viel lieber gab er versteckte Hinweise, die ihn interessant und wichtig erscheinen ließen. Unter Druck würde er sich nie festnageln lassen. Danny wusste nicht mal, ob sein Bruder eine Freundin hatte, mit der er in seinem protzigen roten Triumph TR7 angeben konnte.

Wenn Danny etwas Belastbares ausgraben wollte, musste er was riskieren und die Quelle aufsuchen. Aber er musste den richtigen Moment abpassen, damit sein Bruder keinen Verdacht schöpfte. Dieses Jahr fiel der Heilige Abend auf einen Sonntag, was bedeutete, dass die Messe am Morgen etwas länger als sonst dauern würde, und später folgte dann noch die Mitternachtsmesse.

Danny schmiedete seine Pläne sehr sorgfältig. Am späten Samstagnachmittag rief er seine Mutter an, um ihr zu sagen, dass er für einen Kollegen einspringen müsse, dessen Tochter ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Ein bisschen auf die Tränendrüse zu drücken hatte bei Marie Sullivan schon immer gewirkt.

Am frühen Morgen des vierundzwanzigsten Dezember fuhr er über herrlich leere Straßen nach Edinburgh und parkte ein bisschen abseits der Wohnung seiner Eltern. Sein Ford Escort war völlig unscheinbar; genau aus diesem Grund hatte er ihn angeschafft, denn damit würde er bei den Observierungen, von denen er träumte, nicht auffallen. Danny rutschte so weit den Fahrersitz runter, bis er von außen kaum zu sehen war. Er wartete fast eine Stunde lang und hoffte, dass das spärliche Schneegestöber ihm nicht die Sicht verderben würde, während er immer mehr auskühlte.

Aber schließlich tauchten die drei Sullivans auf, ausgerüstet mit Schals und Handschuhen, den Kragen hochgeschlagen, um im strammen Schritt zur Kirche zu eilen. Danny wartete fünf Minuten, falls jemand etwas Wichtiges vergessen haben sollte, dann schloss er die Wohnungstür auf. Im Flur wärmte er sich einen Moment lang auf, bevor er Josephs Zimmer betrat. Sein Ziel war die Schublade im Nachtschrank, in der Hoffnung, dass sein Bruder dort immer noch seine Schlüssel aufbewahrte. Und tatsächlich: Dort fand sich der Schlüssel zum TR7 in einer Lederhülle, daneben der zum Hinterhof sowie der Wohnungsschlüssel. Und darunter lag ein weiteres Schlüsselbund. Zwei Sicherheitsschlüssel, einer für ein Steckschloss und zwei kleine Schlüssel, die aussahen, als würden sie zu einer Schreibtischschublade oder einem Aktenschrank passen.

»Hallo, meine Schönen«, murmelte Danny und nahm die Schlüssel an sich.

 

Eine halbe Stunde später schlenderte er durch die Gasse neben dem Paragon-Gebäude und versuchte, völlig entspannt zu wirken. Als Joseph vor zwei Jahren befördert worden war und ein eigenes Büro bekam, hatte er nicht widerstehen können, seinem kleinen Bruder dieses Privileg vorzuführen. »Ich wette, du wirst niemals so ein Büro haben«, hatte er geprahlt, als er Danny hoch in den zweiten Stock führte und mit großer Geste die Bürotür aufschloss.

Gegen seinen Willen war Danny beeindruckt gewesen. Okay, der Raum war zwar ziemlich klein und führte nach hinten auf die Gasse hinaus, aber er war hüfthoch mit Holz vertäfelt, und an der Wand hing das gerahmte Gemälde eines Segelboots. Der Schreibtisch war aus furnierten Hartfaserplatten wie der, an dem auch Danny an jedem Tag arbeitete. Aber Joseph besaß einen großen Holzstuhl mit geschnitzten Arm- und Rückenlehnen, während die Clarion-Reporter auf abgewetzten und schlecht eingestellten Schreibtischstühlen vor ihren Schreibmaschinen hockten. Es gab zwei Besucherstühle mit dunklem Tweedpolster; in der Ecke hinter dem Schreibtisch stand ein Aktenschrank. Auf der Tischplatte rahmten zwei Telefone eine lederne Schreibunterlage ein.

Er hatte damals etwas vage Schmeichelhaftes gemurmelt und sich so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht. Er wusste, dass Joseph seine Eltern auch schon hergeführt und das Büro bestimmt irgendwie genutzt hatte, um den armen Danny zu bemitleiden.

Aber heute würde er den Spieß umdrehen. Wenn er fand, wonach er suchte – auch wenn er keine Ahnung hatte, was das sein könnte –, wäre das ein Weihnachtsgeschenk, das das Verhältnis der beiden Brüder für immer verändern würde.

Danny betrat das Gebäude durch eine Seitentür. Es gab keinen Wachmann. Warum auch? Hier war nichts, was sich zu stehlen lohnte. Kein Einbrecher, der etwas auf sich hielt, würde sich mit gebrauchten Büromöbeln abgeben. Leichten Fußes lief Danny in den zweiten Stock und schloss Josephs Büro auf. Er schob die Tür hinter sich zu und begann mit den Schreibtischschubladen. Die obersten zwei waren unverschlossen und enthielten nichts besonders Interessantes – Broschüren, ein Stapel Visitenkarten mit Josephs Namen, Schreibpapier und das übliche Durcheinander von Büroklammern, Gummibändern und Stiften.

Die unterste Schublade war abgeschlossen. Danny probierte die Schlüssel durch. Einer der kleinen passte. Das Erste, was er entdeckte, war ein Blatt Papier mit einer Liste von Namen. Dieselben, die er schon gesehen hatte, und dazu noch ein weiterer. Außerdem stand dahinter etwas, das klang wie die Namen von Rennpferden des Zwei-Uhr-fünfzehn-Rennens in Musselburgh.

 

Graeme Brown – Dez. – 125 k – Snagglecat 2

Brian McGillivray – Jan. – 100 k – Meridian Flyer

Wilson Brodie – Feb. – 125 k –? Benbecula IV

Andrew Mutch – März – 130 k – Lady Lydnia

 

Danny nahm das Blatt heraus, um es mit seiner Kodak Instamatic zu fotografieren. Dabei bemerkte er eine handschriftliche Notiz auf der Rückseite.

 

Maclays Southampton – Jespersen Nassau

 

Er hatte nicht die geringste Ahnung, was das bedeuten mochte. Aber wenn es darum ging, Informationen einzuordnen, wusste er, wohin er sich wenden musste. Er schaute wieder in die Schublade und bemerkte eine Metallschatulle, die sich unter dem Blatt Papier befunden hatte. Er holte sie heraus und stellte sie auf den Tisch. Sie war verschlossen mit einem kleinen, aber stabilen Schloss, zu dem der zweite kleine Schlüssel an Josephs Bund passte.

Danny starrte auf den Inhalt der Schatulle herab, und sein Magen verkrampfte sich schockartig.

6

So etwas hatte Danny noch nie gesehen. Eine Schatulle voller Geld. Dicke Bündel gebrauchter Banknoten, die von Gummibändern zusammengehalten wurden. Keine Ein-Pfund-Noten oder Fünfer. Das wäre schon erstaunlich genug gewesen. Aber die meisten dieser Bündel bestanden aus Hundert-Pfund-Scheinen, ein paar auch aus Zwanzigern. Es war unglaublich.

Und es war erschreckend. Es gab keine unschuldige Begründung hierfür. Keine Erklärung, die nichts mit Gefahr zu tun hatte. Sein Mund war ausgetrocknet, seine Zunge schien so angeschwollen, dass sie seine Mundhöhle ausfüllte.

Er wollte die Schatulle zuschlagen und weglaufen, vergessen, was er gesehen hatte, sich niemals wieder mit den Schlussfolgerungen herumschlagen. Aber dann meldete sich sein Ehrgeiz zurück, und seine Journalisteninstinkte triumphierten über seine Bedenken.

Zunächst musste er herausfinden, wie viel Geld in dieser Schatulle war. Behutsam, als könne es in seinen Händen zerfallen, nahm er ein Bündel Hunderter heraus. Er schob das Gummiband ab und fächerte die Noten auf. Er hatte noch nie einen Hundert-Pfund-Schein gesehen. Wenn nicht die Gebrauchsspuren gewesen wären, hätte er die Banknoten für Fälschungen gehalten.

Er nahm ein paar und betrachtete sie genau. Sie stammten von den drei schottischen Banken, die das Recht hatten, Noten herauszugeben. Der Schein der Royal Bank of Scotland war dunkelrot, auf der Vorderseite und im Wasserzeichen war Adam Smith zu sehen, auf der Rückseite befand sich eine detaillierte Strichzeichnung von Balmoral Castle. Auf der Note der Bank of Scotland sah man rote und braune Linien, die aussahen, als wären sie mit einem Spirographen gemalt worden, wie er ihn als Kind besessen hatte. Sir Walter Scott blickte ihn an, auf der Rückseite der Blick auf den Hauptsitz der Bank auf dem Mound. Und als Drittes die Banknote von Clydesdale, eine hellrote Zeichnung von Lord Kelvin auf der Vorder- und von einem imposanten Hörsaal auf der Rückseite. Danny hielt sich die Scheine an die Nase und schnupperte an ihnen. Sie rochen wie Geld, nach dieser unverwechselbaren Mischung aus Händen, Brieftaschen, Körpern und Zigarettenrauch.

Als Nächstes zählte er sie. Insgesamt hundert, machte zehntausend pro Bündel. Das war mehr, als er für seine Wohnung bezahlt hatte. Mehr, als er in zwei Jahren verdiente, vor Steuern, inklusive seiner Ausgaben. Es gab acht weitere Bündel mit Hundertern in der Schatulle. Und fünf Bündel mit Zwanzigern, darunter auch ein paar englische Banknoten, der heilige Georg kämpfte neben dem Kopf der Queen gegen den Drachen. Hunderttausend lagen da vor ihm.

Während er auf das Geld starrte, begann sein Gehirn zu arbeiten. Brian McGillivray – Jan. – 100 k – Meridian Flyer. War das McGillivrays Januarzahlung für ein Rennpferd? Oder für was anderes? Egal wofür, er sollte ein Foto davon machen.