Die Gabe der Lüge - Val McDermid - E-Book + Hörbuch

Die Gabe der Lüge Hörbuch

Val McDermid

5,0

Beschreibung

Ein unvollendetes Manuskript und ein ungelöster Cold Case: Die genial-widerborstige schottische Ermittlerin Karen Pirie löst im Krimi »Die Gabe der Lüge« der Bestseller-Autorin Val McDermid ihren 7. Fall. Vor Jahren verschwand in Edinburgh die Studentin Lara Hardie vor ihrer eigenen Haustür – bis heute gibt es keine brauchbaren Spuren, keine Hinweise, keine Leiche. Bis der Anruf einer Bibliothekarin DCI Karen Pirie einen rätselhaften neuen Fall beschert: Im Nachlass eines kürzlich verstorbenen Schriftstellers wurde ein Manuskript gefunden, dessen Handlung erschreckende Ähnlichkeit mit dem Cold Case der vermissten Studentin aufweist. Das Manuskript scheint der Schlüssel zu sein, um endlich herauszufinden, was mit Lara Hardie geschehen ist. Es gibt da nur ein Problem: Der Autor starb, bevor er es fertigstellen konnte. Als Karen tiefer gräbt, stößt sie auf ein Spiel aus Verrat und Rache, bei dem Lüge und Wahrheit nicht zu unterscheiden sind und das mehr als eine unerwartete Wendung nimmt. Ein teuflisch cleverer Fall der international erfolgreichen Krimi-Reihe um Karen-Pirie Die britische Queen of Crime Val McDermid ist wieder einmal in absoluter Höchstform: Der 7. Krimi um Cold-Case-Ermittlerin Karen Pirie ist clever geplottet, trickreich überraschend und atemraubend spannend bis zur letzten Seite. Die psychologisch ausgefeilte, vielschichtige Krimi-Reihe aus Edinburgh ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Echo einer Winternacht - Nacht unter Tag - Der lange Atem der Vergangenheit - Der Sinn des Todes - Das Grab im Moor - Ein Bild der Niedertracht - Die Gabe der Lüge

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Zeit:13 Std. 43 min

Sprecher:Wolfgang Berger
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Val McDermid

Die Gabe der Lüge

Ein Fall für Karen Pirie

Übersetzt von Karin Diemerling

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Der Anruf einer Bibliothekarin beschert DCI Karen Pirie einen rätselhaften neuen Fall: Im Nachlass eines kürzlich verstorbenen Schriftstellers wurde ein Manuskript gefunden, dessen Handlung erschreckende Ähnlichkeit mit einem bisher ungelösten Cold Case aufweist. Das Manuskript scheint der Schlüssel zu sein, um endlich herauszufinden, was mit der Studentin Lara Hardie geschehen ist, die vor ihrer eigenen Haustür spurlos verschwand. Es gibt da nur ein Problem: Der Autor starb, bevor er es fertigstellen konnte. Als Karen tiefer gräbt, stößt sie auf ein teuflisches Spiel aus Verrat und Rache, bei dem Lüge und Wahrheit kaum zu unterscheiden sind – und das mehr als eine unerwartete Wendung nimmt …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

Epilog

Danksagung

Leseprobe »1989«

Für den FC McDermid Ladies:

Jede Einzelne eine Heldin.

Gambit: Eröffnung. Schachzug (fig.). Eine Handlung oder Bemerkung, die darauf abzielt, einen Vorteil zu erringen, besonders zu Beginn einer Situation.

 

Während die Schottische Partie zu den langsameren Spielvarianten gehört und zu wenig spannenden Partien führen kann, stellt das Schottische Gambit das andere Extrem dar: Beide Seiten haben die Gelegenheit, früh Figuren zu opfern, um einen entscheidenden strategischen Vorteil zu erringen.

Wenn man diese Eröffnung spielt, ist es wichtig, stets zu wissen, wie man auf einen Zug des Gegners reagiert. Eine falsche Entscheidung genügt, und man ist deutlich im Nachteil.

The Chess Website

 

Der perfekte Kriminalroman kann nicht geschrieben werden.

Raymond Chandler, Twelve Notes on the Mystery Story

Prolog

Er hielt es zuerst für ein albernes Spiel. Einen Scherz. Eine Herausforderung unter alten Freunden. Wer würde etwas anderes denken? Verwickelte Szenarien zu schreiben, hieß noch lange nicht, dass man sie auf das wirkliche Leben übertrug. Zwei Fremde im Zug beruhte auf dem genialen Einfall zweier Unbekannter, ihre Mordpläne zu tauschen, doch er glaubte nicht, dass jemand verrückt genug wäre, so etwas allen Ernstes zu versuchen. Nicht einmal ein echter Psychopath wie die Figur in Highsmiths Roman.

Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass sein bester Freund einen Mord begehen könnte, nur um zu beweisen, dass das perfekte Verbrechen möglich war. Nicht, bis er es mit der Entdeckung einer Leiche in seiner Garage zu tun bekam.

1

April 2020

Detective Inspector Karen Pirie stopfte die Hände in die Taschen ihrer Daunenjacke. Selbst die gefütterten Lederhandschuhe hielten den nächtlichen Wind nicht ab, der direkt vom Ural auf dieses Dach in Edinburgh blies. Seit drei Wochen herrschte Lockdown, aber die Stille in den Straßen war immer noch ungewohnt. Nichts regte sich, als sie von ihrem erhöhten Standpunkt über die New Town blickte, es war wie die Zombie-Apokalypse, nur ohne Zombies.

Plötzlich bemerkte sie Licht und Bewegung aus dem Augenwinkel und erspähte einen Streifenwagen, der vor einer Ampel hielt. Unten bei Canonmills, schätzte sie. Sie sah auf ihr Handy, drei Minuten nach Mitternacht. Also eigentlich schon Morgen, sodass sie jetzt ihren täglichen Spaziergang machen konnte.

Sie ging zurück in den Wintergarten, wollte lieber nicht wissen, wie der Vorbesitzer es geschafft hatte, eine Baugenehmigung für eine Dachterrasse in einem denkmalgeschützten Gebiet voller Georgianischer Häuser zu bekommen. Doch das war nicht ihr Problem, es war nicht ihre Wohnung. Der Eigentümer, ihr – ja, was war er? Karen scheute sich, Hamish Mackenzie als ihren Freund zu bezeichnen. Mit Ende dreißig hatte man keinen »Freund« mehr. »Lover« klang auch falsch, so als ginge es nur um Sex, den sie zwar zweifellos genoss mit ihm, aber ihre Beziehung umfasste deutlich mehr. Mit »Partner« verband sie als Polizistin etwas anderes, und selbst wenn sie diese Bedeutung ausklammerte, dachte man dabei doch an eine sehr viel ernsthaftere Bindung als die, welche sie mit Hamish eingegangen zu sein glaubte. »Lebensabschnittsgefährte« dagegen war einfach nur peinlich. Es gab schlichtweg keine Bezeichnung für das, was Hamish für sie war.

Außer dass er derzeit wohl als ihr Vermieter gelten konnte, auch wenn sie keine Miete zahlte. Gleich bei Ankündigung des Lockdowns wegen Covid-19 hatte er sie überredet, in seine Wohnung zu ziehen. »Mir wäre es lieb, wenn du sie einhüten würdest«, hatte er gesagt, nachdem er erklärt hatte, dass er selbst auf seiner Farm in den Highlands sein müsse. Einer seiner beiden Schäfer hatte beschlossen, den Lockdown bei der Liebsten in Lairg zu verbringen, weshalb die Farm bedenklich unterbesetzt war. Außerdem hatte Hamish, kaum dass er dorthin zurückgekehrt war, Duggie Brewsters halb bankrotte Gin-Destillerie aufgekauft und begonnen, Händedesinfektionsmittel herzustellen, womit er sich noch mehr an Wester Ross band.

Er hatte seinen Charme spielen lassen. »Du würdest mir einen Gefallen tun, und du könntest mir die Post nachschicken und die Wohnung bewohnt aussehen lassen. Ich mache mir ein bisschen Sorgen wegen Einbrechern, ist ja nicht wie bei dir, wo der ganze Häuserblock mit Überwachungskameras vollhängt.« Seine Wohnung war zweifellos geräumiger als ihr am Wasser gelegenes Apartment in Leith und lag außerdem näher am Büro der Historic Cases Unit am Gayfield Square. Den Ausschlag gegeben hatte, dass Detective Sergeant Daisy Mortimer ihren spontanen Vorschlag, gemeinsam in Isolation zu gehen, ebenso spontan angenommen hatte. In ihren eigenen, beengteren vier Wänden wäre das nicht möglich gewesen. Bei Hamish dagegen würden sie sich nicht dauernd auf die Füße treten, es gab zwei Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, ein großes Wohnzimmer mit Essbereich, eine richtige Küche, zwei Bäder und eine Dachterrasse samt Wintergarten.

Karen hatte das für sie ziemlich untypische Angebot, gemeinsam zu wohnen, am Ende ihres ersten gemeinsamen Falls gemacht. Daisy war von der Kriminalpolizei, dem Major Incident Team in Fife, zur HCU abgestellt worden. Sie hatten gut zusammengearbeitet, und Karen hatte ihre Vorgesetzte davon überzeugt, das Team zu erweitern und Daisy dauerhaft zu übernehmen. Die Kollegin hatte allein in einer kleinen Wohnung in Glenrothes gewohnt, ziemlich abgelegen auf der anderen Seite des Forth, weshalb Karen es für eine gute Idee hielt, den Lockdown mit ihr gemeinsam durchzustehen. Das würde erstens die Zusammenarbeit vereinfachen und sie zweitens beide davon abhalten, in schlechte Gewohnheiten zu verfallen. Sie würden es nicht verheimlichen können, wenn sie Junkfood und Schokoladeneis direkt aus der Packung in sich hineinschlangen – oder eben sich dabei Gesellschaft leisten können.

Jetzt, nach drei Wochen, war sie allerdings nicht mehr so sicher, ob das wirklich einer ihrer besten Einfälle gewesen war.

Sie stieg die Wendeltreppe hinunter in die Wohnung. Daisy hatte es sich in dem großen Tweedsessel bequem gemacht, Kopfhörer auf und mal wieder in eine verdammte Netflix-Serie vertieft. Sie sah vom Bildschirm auf und hielt den Film an. »Alles okay?«, fragte sie, während sie eine Muschel des Kopfhörers anhob. »Brauchst du irgendwas?«

Karen schüttelte den Kopf. »Ich geh raus, laufe mal runter zu meiner Wohnung. Einfach, um nach dem Rechten zu sehen.«

Daisy runzelte die Stirn. »Dauert das nicht länger als eine Stunde? Hin und zurück, meine ich?«

»Ja. Deshalb muss ich streng genommen bis morgen nach Mitternacht dort bleiben, bevor ich zurückkommen kann.«

»Ich wette, es merkt niemand, wenn du irgendwann im Laufe des Tages zurückgehst.«

»Vielleicht nicht, aber als Polizistin weiß ich schließlich, dass ich gegen die Vorschriften verstoße. Schlimmer noch, du wüsstest es auch.« Karen grinste. »Eine Stunde Bewegung im Freien pro Tag, das ist das Maximum. Ich werde dir nichts an die Hand geben, mit dem du mich erpressen kannst. Wir sehen uns in etwa fünfundzwanzig Stunden.«

Es war das Fehlen von Geräuschen, was sie am verstörendsten fand. Selbst in dieser zwischen dem Leith Walk und der Broughton Street eingeklemmten Nebenstraße hatte das ständige Verkehrsrauschen ihre nächtlichen Spaziergänge begleitet. Jetzt dagegen wurde die Stille nur etwa alle zehn Minuten von dem Motor eines Pkw oder Stadtbusses unterbrochen, dann legte sie sich wieder wie eine erstickende Decke über alles. Um sich davon nicht deprimieren zu lassen, hatte sie sich der Weiterbildung verschrieben. Die Ohrhörer eingestöpselt, lernte sie Gälisch. Nicht aus einem sentimentalen Nationalismus heraus, sondern weil viele Einheimische in der Gegend um Hamishs Croft es sprachen und sie es nicht leiden konnte, wenn sie etwas nicht mitbekam. Außerdem wollte sie wissen, wie die Leute wirklich über sie dachten.

Sie nahm eine Abkürzung durch eine schmale Gasse und kam auf dem Leith Walk heraus. Keine Menschenseele in Sicht. Eine graue Katze tauchte aus einem Souterrain auf, wand sich geschmeidig durch das Geländergitter. Karen schnalzte leise mit der Zunge, worauf die Katze herbeikam und sich an ihrem Bein rieb. Eigentlich machte sie sich nicht viel aus Katzen, aber gegenwärtig empfand sie es geradezu als Muss, mit allem, was einen Puls hatte, Kontakt aufzunehmen.

Sie bückte sich und kraulte das Tier zwischen den Ohren. Es hatte eher genug davon als sie und schlenderte lässig auf die Fahrbahn, wo es zu einer Zeit, die ihr schon wie früher vorkam, direkt vor ein Auto, einen Lieferwagen oder einen Bus gelaufen wäre. Seufzend ging Karen in zügigem Tempo weiter den Leith Walk hinunter. Vorbei an der Bibliothek, den mit Rollläden verschlossenen Geschäften und verlassenen Bars, nirgends regte sich etwas. Dort war die Seitenstraße, wo sich ihr Flügelmann, DC Jason »Minzdrops« Murray, zusammen mit seiner Friseurin-Verlobten in Isolation befand. Sie fragte sich, wie es den beiden wohl ging. Jason spielte bestimmt FIFA auf seiner Spielkonsole – wie Eilidh die langen Tage verbrachte, wusste sie nicht.

Eine Viertelstunde später hatte Karen die Western Harbour Breakwater erreicht, wiederholte murmelnd »Is toil leam buntàta agus sgadan« und überlegte, ob sie jemals würde versichern müssen, dass sie Kartoffeln mit Hering mochte. Sie schloss ihre Wohnung auf, nahm die Ohrhörer heraus und merkte, wie sie sich auf einmal entspannte. Das hier war ihr Reich. Nicht dass Daisy oder Hamish schwierig im Umgang gewesen wären, sie bestimmte nur gern selbst darüber, so wie die Katze auf dem Leith Walk, wann und wie lange sie Gesellschaft hatte. Sie ging durch ihr Wohnzimmer, um die Balkontüren zu öffnen, und innerhalb von Sekunden prickelten ihre Wangen vom Nachtwind.

In den Jahren, die sie schon am Ufer des Firth of Forth wohnte, hatte sie sich an die nächtliche Lightshow gewöhnt. Die roten Bänder der Rücklichter und die weißen Ringe der Scheinwerfer markierten das Straßennetz zu beiden Seiten des breiten Meeresarms. Gelbe Punkte blinkten immer wieder auf und erloschen, wenn die Leute der gegenüberliegenden Ortschaften auf dem Weg ins Bett oder zu einer Nachtschicht durch ihre Häuser gingen. Jetzt waren die einzigen Konstanten die Warnleuchten auf den drei Brücken über die Engstelle zwischen North und South Queensferry.

Auch die Leuchttürme waren natürlich noch da und schickten ihre Botschaften an nicht vorhandene Boote. Ein Kinderreim ging ihr durch den Kopf:

Inchgarvie, Mickery, Colm, Inchkeith,

Cramond, Fidra, Lamb, Craigleith;

dann um den Bass zur Isle of May,

Vorbei am Carr nach St. Andrews Bay.

Damals, als sie den Vers gelernt hatte, hatte es die grellorangene Fackel der Mossmorran-Gasspaltanlage noch nicht gegeben, eine sporadische Warnung anderer Art, manchmal so hell, dass meilenweit entfernt wohnende Leute den Notruf anriefen, um einen Großbrand in Fife zu melden. Heute Nacht jedoch war Mossmorran nur ein lang gezogener Fleck, der ein Sternenband verdeckte.

Sie stand so lange im schneidenden Wind, wie sie es aushielt, dann ging sie wieder hinein. Zehn Minuten später hatte sie sich ins Bett gekuschelt und las einen alten Roman von Marion Keyes. Es fiel ihr schwer, müde genug zu werden, um einschlafen zu können. Sie vermisste ihre Arbeit. Die Leitung der Historic Cases Unit hatte ihr stets viel abverlangt, und zusammen mit ihren nächtlichen Spaziergängen, bei denen der Rhythmus ihrer Schritte ihren Gedanken auf die Sprünge half, genügte das meist, um sie todmüde zu machen. Doch im Augenblick lagen beide Aktivitäten brach. Es gab aktuell keinen ungeklärten Fall, den sie bearbeiten konnten. Kurz vor Beginn des Lockdowns hatten sie zwei komplexe Ermittlungen erfolgreich abgeschlossen und keine Zeit mehr gehabt, eine neue anzufangen. Alles, was sie hatten, waren Kisten voller Akten mit möglichen offenen Fällen, die darauf warteten, von ihnen auf einen losen Faden hin abgesucht zu werden, an dem sie ziehen konnten. Bis jetzt war es auch noch niemandem aus den oberen Etagen eingefallen, sie für eine der undankbaren Aufgaben im Zusammenhang mit den Covid-Einschränkungen zu rekrutieren. Vielleicht ja doch, aber man war zu dem Schluss gekommen, dass das HCU-Team nicht die beste Option war, wenn es darum ging, unerlaubte Versammlungen aufzulösen. Jedenfalls schmachtete sie im Moment geradezu nach einer sinnvollen Ermittlungsaufgabe, und das behagte ihr nicht. War sie wirklich einer von diesen Menschen, die nur für ihren Beruf lebten?

Der Gedanke beschämte sie.

2

Lauter Jubel brach im Stadion aus, als Barcelonas Starstürmer wieder ein Traumtor im Kasten versenkte. Jason Murray, Top-Torjäger der spanischen Liga, rannte zurück zum Anstoßpunkt, hüpfte dabei wie ein Wilder auf dem Sofa herum. »Yeeesss«, schrie er und stieß die Faust mit dem Gamecontroller in die Luft.

Seine Verlobte sah kaum von ihrem Handy auf. Jasons zigstes virtuelles Tor war unendlich weniger interessant als ihr Instagram-Feed. Es war toll, endlich mal genug Zeit zu haben, um zu verfolgen, was die von ihr bewunderten Stylistinnen und Stylisten so posteten, und zugleich frustrierend, ihre Empfehlungen nicht im Salon ausprobieren zu können. Mit ihren eigenen Haaren konnte sie schließlich nur begrenzt experimentieren, ganz zu schweigen von Jasons. Seine roten Locken hatten zwar eine prima Struktur, aber sie waren einfach nicht lang genug, um sich wirklich kreativ daran auszutoben.

Jason stoppte das Spiel und beugte sich zu Eilidh vor. »Lust auf ein Tässchen?«

»Du trinkst zu viel Kaffee.«

»Das kommt davon, wenn man mit KP zusammenarbeitet.« Er stand auf, warf den Controller aufs Sofa. »Außerdem hatte ich heute Morgen erst eine Tasse. Kann ich dich wirklich nicht verführen?«

Eilidh lächelte ihn plinkernd an. »Nicht zu einem Kaffee.«

Jason wollte glucksend auf ihre Miniküche zugehen, aber ein penetrantes Bimmeln ließ ihn innehalten. »Wer ist das denn?« Stirnrunzelnd beugte er sich über die Sofalehne und angelte nach seinem Handy.

»Du bist der Detective, Jase. Find’s raus.«

Er seufzte. »Unbekannte Nummer« bedeutete gewöhnlich einen Telefonschwindel oder dass jemand ihm etwas verkaufen wollte, das er nicht brauchte. Karen hatte ihm jedoch eingebläut, dass er als Polizist immer ans Telefon zu gehen hatte. »Man weiß nie, ob der unbekannte Anrufer nicht die entscheidende Wende in einem Fall bringt.« Bis jetzt war das noch nie vorgekommen, aber irgendwann ist immer das erste Mal. »Hallo?«

Unbekannten nie etwas von sich preisgeben – noch so eine Lektion von der Chefin.

»Ist dort Jason Murray? DC Murray?« Eine Frauenstimme. Vage bekannt, aber ihm fiel kein Name dazu ein.

»Aye, richtig. Wer spricht da?«

»Hier ist Meera Reddy. Von der National Library.«

Auf einmal war Jason hellwach. Durch die Zusammenarbeit mit Karen hatte er gelernt, dass die reichhaltigen Quellen der Bibliothek von unschätzbarem Wert bei Cold-Case-Ermittlungen sein konnten. Mit der Zeit hatte er dann eine unverhoffte Verbündete in Meera gefunden, die sich durch ihre Vorliebe für True-Crime-Podcasts nur zu gern mit einem echten Polizisten zusammentat. Es schien ihr nie etwas auszumachen, wenn sie ihm eine Menge erklären musste, und Jason war dankbar für ihre Geduld. Er war ein wenig schwer von Begriff, das wusste er, aber nicht so sehr, dass er nicht merkte, wie genervt andere oft auf ihn reagierten. »Hallo, Meera. Schön, von Ihnen zu hören. Wie geht es Ihnen?«

»Ach, na ja, Sie wissen schon, ich sitze allein zu Hause und rede mit dem Fernseher. Wie ist’s bei Ihnen?«

»Nicht so schlecht. Ich wohne mit meiner Verlobten Eilidh zusammen, also habe ich wenigstens Gesellschaft.« Er zögerte. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«

»Ich bin mir nicht sicher. Sind Sie noch bei der Historic Cases Unit?«

»Ja. Nur dass wir im Moment nicht viel zu tun haben, wegen der Ausgangssperre und alledem. Die Chefin sagt, wir sollen besser nicht ins Büro gehen, damit man uns nicht in Uniformen steckt und auf Leute ansetzt, die die Covid-Vorschriften missachten«, sagte er.

»Ich … ich verschwende vielleicht Ihre Zeit, ich weiß es nicht.«

»Na, davon haben wir ja alle gerade reichlich. Worum geht’s denn?«

»Also …« Meera zögerte wieder. »Es hat mit der Arbeit zu tun. Kann sein, dass ich das Ganze total überbewerte.«

»Gehen Sie denn im Moment zur Arbeit?«

»Nein, nein. Es ist etwas, auf das ich gestoßen bin, bevor wir alle nach Hause geschickt wurden. Es geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe mir gesagt, dass ich mir da wahrscheinlich etwas einbilde, aber je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr beunruhigt es mich.«

Sie klang tatsächlich besorgt. »Okay«, sagte Jason gedehnt. »Erzählen Sie es mir doch einfach. Ich hab’s nicht eilig. Lassen Sie sich Zeit, fangen Sie am Anfang an.«

»Sind Sie sicher? Ich will Sie nicht unnötig behelligen.«

»Sie haben mir oft genug geholfen. Außerdem habe ich sonst schließlich nichts zu tun.« Er sah aus dem Augenwinkel, wie Eilidh die Augen verdrehte, und zwinkerte ihr zu, während er sein Notizbuch und einen Kuli vom Regal nahm und sich an den Esstisch am Fenster setzte. »Schießen Sie los.«

»Ich habe mich beruflich verändert, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben«, begann Meera. »Ich arbeite jetzt im Archiv. Es ist ein bisschen anders dort.«

»Inwiefern? Was machen Sie da?«

»Ich bin in der Abteilung für Neuerwerbungen. Kurz gesagt, wenn wichtige Leute beschließen, dass es an der Zeit ist, sich um ihren schriftlichen Nachlass zu kümmern, packen sie ihn in Kisten und schicken ihn an uns. Oder ihre Erben tun das, nachdem sie gestorben sind. Wenn also eine Schriftstellerin, ein Politiker, ein Wissenschaftler oder sonst jemand von Bedeutung Material hat, das für die Forschung künftig von Interesse sein könnte, bekommen wir das.«

»So etwas gibt’s?« Jason kam jetzt schon nicht mehr mit. »Wie, die vermachen Ihnen ihre Briefe und all so was? Privates Zeug?«

»Das ist sehr unterschiedlich. Manche Autoren zum Beispiel stiften nur ihre frühen Fassungen. Andere Leute dagegen kippen sämtlichen Infomüll bei uns ab – Stromrechnungen, Mehwertsteuerbelege, Kontoauszüge, Klempnerrechnungen, Liebesbriefe an die Frauen anderer Männer … Was es auch ist, wir bekommen es.«

»Warum?«

»Weil irgendjemand irgendwann vielleicht über sie schreiben will. Eine Biografie oder eine Doktorarbeit oder so was.«

»Mannomann.« Manchmal fühlte Jason sich von der Last seines Unwissens überwältigt. »Und was machen Sie mit all dem Kram?«

»Meine Aufgabe ist es, alles zu katalogisieren. Ich sehe die Kisten durch und erstelle Listen von ihrem Inhalt. Dann macht sich einer der ausgebildeten Archivare daran, es zu sortieren. Er verschafft sich einen Überblick, ordnet Dinge, die zusammengehören, einander zu. Versucht, sich einen Reim auf das Ganze zu machen, nehme ich an.«

Jason kratzte sich mit dem Kuli am Kopf. »Da müssen Sie sich bestimmt durch ganz schön viel Mist wühlen.«

»Eigentlich war das, was ich bisher hatte, ziemlich interessant. Die Sachen mit Einkaufslisten-Niveau sind mir größtenteils erspart geblieben.« Sie zögerte kurz, stieß dann hervor: »Haben Sie schon mal von einem Autor namens Jake Stein gehört?«

Der Name kam Jason bekannt vor, auch wenn er noch nie ein großer Leser gewesen war. Er meinte, bei seiner Mutter schon einmal eines von Steins Büchern gesehen zu haben. Was ihm einen Anhaltspunkt gab. »Ist das so ein Krimiautor?«

Meera lebte auf. »Ja, genau. Einer der Vorreiter des sogenannten Tartan Noir. Er stand jahrelang auf den Bestsellerlisten, dann gab es irgendeinen Skandal. Ich weiß nichts Genaues darüber, verständlicherweise hat er keine Zeitungsausschnitte aufbewahrt. Jedenfalls führte das zu einem Karriereknick, und letztes Jahr ist er dann unerwartet an einer Gehirnblutung gestorben. Wir haben jetzt seinen Nachlass.« Sie verstummte.

»Und? Denken Sie, es war irgendwas verdächtig an seinem Tod?«

»Nein, nein, darüber weiß ich nichts. Nein, es geht um etwas ganz anderes. Ein unveröffentlichtes Manuskript. Also, der Anfang davon jedenfalls. Es sind nur elf Kapitel und ein Handlungsabriss. Der Titel lautet: ›Laurel Oliver verschwindet‹.«

Jason fragte sich, ob bei ihm da etwas klingeln sollte. Tat es aber nicht. »Okay. Und irgendwas daran macht Ihnen zu schaffen?«

Ein nervöses Lachen. »Ehrlich, Jason, je mehr ich Ihnen davon erzähle, desto blöder komme ich mir vor.«

»Meera, Sie sind einer der am wenigsten blöden Menschen, die mir je begegnet sind.« Er schielte kurz zu Eilidh hin, die jetzt interessiert zuhörte. »Wenn Sie etwas beunruhigt, gehe ich davon aus, dass es Grund zur Beunruhigung gibt.«

Meera räusperte sich. »Sagt Ihnen der Name Lara Hardie etwas?«

Jetzt war Jason in seinem Element. In Schottland gab es nur wenige ungeklärte Mordfälle, manchmal nur einen pro Jahr. Die Historic Cases Unit nahm sie sich regelmäßig wieder vor. Ebenso wie sexuelle Gewalttaten mit unbekanntem Täter und Vermisstenfälle, bei denen jemand unter verdächtigen Umständen verschwunden war, es aber keine konkreten Beweise für Fremdeinwirkung gab. Den Namen Lara Hardie hatte er daher auf dem Schirm. Eine Studentin der University of Edinburgh, die vor rund einem Jahr spurlos verschwunden war. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass sie Selbstmord begangen hatte, und nichts, das auf ein freiwilliges, geplantes Verschwinden hindeutete. Eines Tages war sie einfach fort. Man hatte eine Woche lang in der Gegend, in der sie wohnte, nach Spuren von ihr gefahndet. Jeder Müllcontainer, jedes kleinste Gebüsch, jeder Gartenschuppen, jedes dunkle Seitengässchen war von der Polizei und freiwilligen Helfern durchkämmt worden. Laras Eltern und ihre Schwester hatten im Fernsehen einen Aufruf an die Öffentlichkeit gerichtet, bei dem sie alle geweint hatten. Sämtliche Mitstudierende ihres Studiengangs hatten sich von der Polizei befragen und von den sozialen Medien grillen lassen müssen. Es hatte die wildesten Spekulationen gegeben, vom Ertrinken im Duddingston Loch, der gut fünf Kilometer entfernt lag, bis hin zu Laras Entführung durch Aliens. »Ich weiß, von wem Sie reden«, sagte Jason mit einem komischen Gefühl in der Magengegend.

»Dieser Text … er steckt voller Parallelen zu Lara Hardies Geschichte. Das Opfer leidet sogar an derselben Krankheit, wirklich unheimlich. Trotzdem handelt es sich um einen Krimi, und auch wenn er unvollendet geblieben ist, gibt es doch eine Art Auflösung.«

3

Ausnahmsweise einmal hatte Karen gut geschlafen. Sie hatte sich Porridge mit Trockenfrüchten und, in Ermangelung von Milch, einer Packung Kokoswasser gemacht. Die Zutaten stammten von Hamish, der die traditionellen Methoden der Porridgezubereitung zugunsten von Spezereien aus seiner Vorratskammer verschmähte. Normalerweise reizte das ihre Spottlust, aber an diesem Morgen war sie ihm dankbar dafür.

Der Wind hatte sich gelegt, und die Sonne schien, verwandelte die Farbe des Firth of Forth von einem metallischen Blaugrau in ein leuchtendes Postkartenblau. Auch wenn ihr klar war, dass der Lockdown eine Gefahr für die psychische Gesundheit vieler Menschen bedeutete, empfand sie ihn selbst doch geradezu als Segen. Der ständige Druck von oben, rasch Ergebnisse erzielen zu müssen, war weg. Die einzige Ermittlungsarbeit, die derzeit stattfand, betraf aktuelle Fälle, und selbst dabei wurden die Kontaktbeschränkungen größtenteils eingehalten. Ihre ewige Erzfeindin ACC Ann Markie hatte im Moment Wichtigeres im Kopf, als ihr das Leben zur Hölle zu machen.

Nicht, dass sie deshalb einfach die Füße hochlegte. Zwar war sie in einer Familie mit wenig Respekt vor der Church of Scotland aufgewachsen, aber das protestantische Arbeitsethos saß dennoch tief in ihr. Nein, dass Markie ihr nicht ständig ins Ohr keifte wie ein auf ihrer Schulter hockender Affe, verschaffte ihr die Gelegenheit, sich ein paar unaufgeklärte Fälle in ihren Akten noch einmal in Ruhe vorzunehmen. Es kam ihr wie der reinste Luxus vor, alte Fälle erneut mit voller Aufmerksamkeit prüfen zu können.

Kaum hatte sie mit dem Abgleich zweier Messerstechereien begonnen, eine in Dundee und die andere in Kilmarnock, unterbrach jedoch das Bimmeln eines FaceTime-Anrufs ihre Suche nach Parallelen. »Hamish«, murmelte sie und setzte ein freundliches Gesicht auf, ehe sie annahm. Er erschien grinsend auf dem Bildschirm, seine Haare fielen ihm goldblond und mit einem neuen Schnitt ins Gesicht.

»Morgen, Karen. Ich hab gerade meine Fütterungsrunde bei den Schafen beendet und dachte, ich ruf dich mal schnell an, bevor ich runter zur Destille gehe. Was treibst du so?«

»Ich nehme gerade zwei Messerattacken von vor drei Jahren unter die Lupe«, sagte sie.

»Du kannst es nicht lassen, oder?« Liebevoll, nicht kritisch.

»Auf die Weise komme ich nicht auf dumme Gedanken, wenn du nicht da bist, um mich daran zu hindern. Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«

Er antwortete mit einem kleinen Achselzucken, schob sich die Locken aus der Stirn. »Gefällt’s dir? Seit Donny sich am Anfang des Lockdowns verdrückt hat, muss ich viel mehr bei den Tieren arbeiten, und die Haare haben mich dabei genervt, also hat Teegan die Schere rausgeholt. Dann dachte ich, wenn wir schon dabei sind, warum nicht gleich ein bisschen aufhellen?«

Karen verspürte einen kleinen Stich, dem sie nicht weiter nachgehen wollte. »Eine vielseitig begabte Frau«, sagte sie. Verdammt, sie würde sich doch nicht von einer paarundzwanzigjährigen Highlanderin verunsichern lassen, die noch nie weiter südlich war als Inverness. »Hat sie gut gemacht, du siehst ungefähr ein halbes Jahr jünger aus.«

»Na ja, ich glaube nicht, dass sie Eilidh auf absehbare Zeit Konkurrenz machen wird«, sagte er lachend. »Aber es tut’s erst mal.«

»Die Farbe steht dir. Auch wenn dein Bart dadurch rötlicher wirkt. Und wie läuft es auf der Farm? Irgendwelche Corona-Fälle bei euch bis jetzt?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Die Leute sind aber auch ziemlich vorsichtig. Shona Mcleod produziert Harris-Tweed-Masken aus den Stoffresten der Schneidereien, weshalb wir alle schwitzen wie die Tiere, wenn wir in den Dorfladen gehen.« Er beugte sich zum Bildschirm vor. »Hey, du bist ja bei dir zu Hause.«

»Ja, ich bin letzte Nacht zu Fuß hergelaufen.«

»Ist das denn erlaubt?«

»Man darf nach leer stehendem Wohneigentum sehen, solange man nicht in Kontakt mit Personen außerhalb des eigenen Haushalts kommt. Hier ist niemand, mit dem ich in Kontakt kommen könnte, also verstoße ich nicht gegen irgendwelche Regeln.«

»Dann hast du Daisy in der Wohnung allein gelassen?« Er klang ein bisschen sauer, warum auch immer.

»Sie ist kein Teenager, Hamish, sie wird schon nicht die Einrichtung zu Kleinholz schlagen.«

»Das habe ich auch nicht unterstellt, Karen. Es ist nur, weil ich sie nicht näher kenne, glaube ich.«

Manchmal, wenn er sich über etwas ärgerte, schüttelte der jugendliche Amerikaner in ihm die Zügel des kultivierten erwachsenen Schotten ab, schien es ihr. »Na und? Hast du Angst, dass sie deine geheimen Tagebücher liest? Deine Kontoauszüge kontrolliert?«

»Nein, aber …«

»Wieso denkst du überhaupt, dass sie sich für dich interessiert? Wenn irgendjemand neugierige Blicke von ihr zu fürchten hat, dann ich. Und ich vertraue dem jungen Ding.« Karen grinste ihn an.

Hamish hob beschwichtigend die Hände. »Tut mir leid, das war daneben.« Dann schnalzte er ungehalten mit der Zunge. »Ich hasse FaceTime, die Zwischentöne kommen nicht rüber. Deshalb weiß ich auch nie, wann du mich verscheißerst.«

»Geh einfach immer davon aus«, sagte sie neckend. Sie konnte es nicht leiden, wenn Missstimmung zwischen ihnen herrschte, und durch die räumliche Trennung schien das in letzter Zeit öfter vorzukommen. Als er gerade etwas erwidern wollte, klingelte ihr Telefon. »Entschuldige, es ist beruflich, ich muss rangehen«, sagte sie, schuldbewusst froh über die Störung. »Bis bald, mein Hübscher.« Sie warf ihm eine Kusshand zu und unterbrach die Verbindung.

»Jason, was gibt’s?« Karen schaltete sofort in den Berufsmodus.

»Hallo, Boss. Tut mir leid, Sie zu stören, aber ich hatte gerade so einen komischen Anruf.«

»Was heißt ›komisch‹?«

»Also, das hört sich jetzt bestimmt total seltsam an.«

Karen unterdrückte einen Seufzer. Eines Tages würde der Minzdrops vielleicht lernen, gleich zur Sache zu kommen. »Das lass mich mal beurteilen. Worum geht’s?«

»Meera Reddy hat mich angerufen …«

»Dein Kontakt bei der National Library?«

»Aye.«

»Sind sie dort nicht auch alle nach Hause geschickt worden?«

»Schon, aber das, worum es geht, war noch vor dem Lockdown. Meera ist ins Archiv versetzt worden. Erinnern Sie sich an Lara Hardie?«

»Natürlich. Man hätte schon in einem Erdloch leben müssen, als sie verschwand, um nichts davon mitzubekommen. Ich habe mir die Fallakte noch mal angesehen, als sie letztes Jahr vor Weihnachten an uns übergeben wurde. Was hat Lara Hardie mit dem Archiv der National Library zu tun?«

»Meera hat etwas entdeckt. Sie denkt, es könnte ein Plan oder eine Art Erklärung dafür sein, was aus Lara Hardie geworden ist.«

Karen horchte auf. »Was? Fang noch mal ganz von vorn an, Jason, und berichte mir genau, was Meera gesagt hat.« Sie hörte geduldig zu, während er sich durch eine Zusammenfassung des Telefongesprächs stotterte, die mehr Fragen aufwarf als beantwortete. Bei Zeugenvernehmungen wurde Jason immer besser, daran bestand kein Zweifel, aber was sie ihm einfach nicht beibringen konnte, war ein Gespür für das Wesentliche.

»Du sagst, in diesem Manuskript, das Meera gefunden hat, heißt es, das Opfer litt an Epilepsie?«, hakte sie nach.

»Und nicht an irgendeiner, Boss, sondern an Sturzanfällen. Das heißt so, ich hab’s gegoogelt. Es ist dann, als würden alle Muskeln für ein paar Sekunden ausfallen, man klappt zusammen wie eine Marionette, bei der die Fäden durchgeschnitten wurden. Offenbar ist es meistens schon wieder vorbei, bevor es jemand merkt. Man erholt sich innerhalb von Sekunden, und es ist nur gefährlich, wenn man sich beim Fallen verletzt oder den Kopf irgendwo anschlägt. Der medizinische Ausdruck ist astasische Anfälle. Daran hat Lara Hardie gelitten. Erinnern Sie sich, wie sich all diese True-Crime-Detektive im Internet darauf eingeschossen haben und behaupteten, sie wäre vor ihrer Haustür zusammengebrochen und von irgendeinem vorbeikommenden Psycho ins Auto gezerrt worden?«

Schwer zu vergessen, die Hysterie des Internet-Mobs damals. »Ja, allerdings. Dann gab es noch diese Idioten, die den Union Canal absuchen lassen wollten. Als hätte Lara Hardie die gut anderthalb Kilometer von zu Hause bis zum Kanal gehen können, ohne von einer Menschenseele oder einer Überwachungskamera gesehen zu werden, um dann genau dort einen Anfall zu bekommen, während gerade niemand hinsah.«

»Aye, richtig. Das Mädchen in diesem Buch, also die junge Frau, die verschwindet, die leidet auch an diesen Sturzanfällen. Ist ja nicht gerade unheimlich verbreitet, so was.« Er holte Luft. »Okay, was meinen Sie? Geht da die Fantasie mit Meera durch oder was?«

»Meera ist eine kluge Frau, stimmt’s?«

Jason prustete. »Sie ist verdammt viel klüger als ich. Ich weiß, das heißt nicht viel …«

»Lass das Fischen. Wissen wir, wer ihr Vorgesetzter ist?«

»Bethan Carmichael«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen und klang sehr zufrieden mit sich. »Ich habe ihre Telefonnummer, ich schicke sie Ihnen gleich.«

»Gut, Jason, prima Arbeit. Jetzt möchte ich, dass du dein Gespräch mit Meera genau aufschreibst, Wort für Wort. Und Jason, sag bitte Du zu mir.«

»Okay … Boss. Werden wir der Sache jetzt nachgehen?« Die Aufregung war ihm anzuhören. Nach der vermasselten Ermittlung, bei der er sich ein Bein gebrochen hatte, hatte ACC Markie ihm einen Schreibtischjob zuweisen wollen. Das aber hätte seinen Enthusiasmus für den Job garantiert gedämpft – einer der Gründe, weshalb Karen ihn unbedingt in ihrem Team behalten wollte.

»Lass mich mal machen«, sagte sie. »Ich muss zuerst überlegen, wie wir damit umgehen, ohne gegen die Covid-Vorschriften zu verstoßen.«

Er lachte. »Das wäre ein Ding, was? Leitende Polizistin bricht Pandemie-Gesetz.«

Nach dieser mittelwitzigen Bemerkung beendete Karen den Anruf. Sie verspürte ein leichtes, adrenalinbedingtes Kribbeln, zum ersten Mal wieder, seit sie vor drei Wochen das Büro hatten dichtmachen müssen. Seit sie Jason und Daisy angewiesen hatte, sämtliche Akten von unaufgeklärten Morden und verdächtigen Vermisstenfällen zusammenzupacken und in Hamishs Wohnung zu schaffen. Plötzlich sah es nach einem echten neuen Hinweis aus, dem sie nachgehen konnten.

Karen zog ihren Laptop heran und notierte in groben Zügen, was Jason ihr gerade erzählt hatte. Das war jetzt nicht der Zeitpunkt für Einzelheiten, es war der Moment, einen Aktionsplan zu entwerfen.

Sie brauchte nicht lange, um die nächsten Schritte zu skizzieren. Immerhin hatte sie inzwischen genug Cold Cases bearbeitet, um sich mit Untersuchungen auszukennen, bei denen Dinge ausgegraben wurden, die gewisse Leute lieber verscharrt gelassen hätten. Exhumierung war eine Kunst, die sie schon vor längerer Zeit erlernt hatte.

Als Erstes musste sie sich eine Kopie des fraglichen Manuskripts beschaffen, was bedeutete, Meeras Chefin zu beschwatzen. Danach würde sie den Text lesen und sich erneut mit den Fallunterlagen vertraut machen, um festzustellen, ob die Handlung der Geschichte tatsächlich in maßgeblichem Umfang die Wirklichkeit abbildete. Anschließend konnten sie vielleicht – und es war ein großes Vielleicht – damit beginnen, den Fall Lara Hardie neu aufzurollen.

Ideal wäre es, wenn Daisy den Rest von Jake Steins Archivmaterial daraufhin durchsehen könnte, ob es noch andere Verbindungen zu Lara Hardie gab. Zu einem späteren Zeitpunkt könnte Jason, der mit seiner treuherzigen Art bei Frauen gut ankam, noch einmal mit Laras Mutter, ihrer Schwester und ihren Freundinnen sprechen – vor dem Hintergrund dessen, was sie dann eventuell herausgefunden hatten. Zugang zu dem Material zu erhalten, würde allerdings die größte Hürde darstellen, fürchtete sie.

Zeit, sich bei jemandem Rat zu holen, fand Karen. DCI Jimmy Hutton stand ganz oben auf ihrer Favoritenliste, schon seit ihr verstorbener Partner Phil Parhatka dessen engster Vertrauter gewesen war. Nach Phils Tod hatten Jimmy und sie eine Art Zweier-Selbsthilfegruppe gegründet und sich regelmäßig getroffen, um ihre Trauer zu verarbeiten und die Millionen Ginsorten zu verkosten, die neuerdings den Markt überschwemmten. Schon jetzt fehlte es ihr schrecklich, sich auf ein Glas oder zwei mit ihm zu treffen, weniger des Alkohols als der Gespräche wegen.

Beim zweiten Klingeln ging er ran. »Hör mal, Karen«, legte er gleich los, »meinst du, es wäre eine Möglichkeit, uns auf Zoom zu einem Drink und einem Schwatz zu treffen?«

»Hm, wäre schon ein bisschen komisch. Warten wir mal ab, wie lange das Ganze dauert. Und wie groß unsere Verzweiflung wird«, sagte sie lachend.

»Okay, du hast recht. Dann nehme ich mal an, dass das kein privater Anruf ist? Was kann ich für dich tun?«

»Also, ich habe die ganzen Memos und Mitteilungen von oben gelesen, wie wir unter diesen seltsamen neuen Umständen bei unserer Arbeit vorzugehen haben, aber, ehrlich gesagt, da ich nicht an vorderster Front im Einsatz bin, ist das alles zum einen Ohr rein- und zum anderen wieder rausgegangen. Weshalb mir nicht ganz klar ist, wie die praktische Polizeiarbeit jetzt abläuft. Was tut man, wenn man Zeugen befragen muss? Oder Zugang zu Beweismitteln braucht?«

»Bist du gerade dabei, liegen gebliebene Sachen abzuarbeiten? Oder hast du es etwa geschafft, einen neuen Fall aufzutreiben?« Er klang verblüfft.

»Eventuell«, sagte sie, möglichst gleichmütig. »Wir haben alte Fälle durchgesehen, aber jetzt besteht die minimale Chance auf einen neuen Hinweis in einem Vermisstenfall, der noch kaum kalt ist. Könnte was dran sein oder auch nicht, jedenfalls muss ich es überprüfen. Und niemand scheint zu wissen, wie lange dieser Lockdown dauern wird.«

»War mir doch klar. Puzzle legen und Serien glotzen ist einfach nicht dein Ding, was? Also, uns wurde gesagt, dass der Schutzmann seinen Dienst zu tun hat, es darf keinen Freifahrtschein für Bösewichter und Rowdys geben. Wir gehen schön weiterhin raus und nehmen Leute fest, wenn es sein muss, auch in ihrer Wohnung. Natürlich müssen wir trotzdem Masken tragen und die Hände desinfizieren und all das. Um Verdächtige abzuholen, nehmen wir Streifenwagen, weil die Plexiglasscheiben zwischen den Vorder- und Rücksitzen haben. Und wenn wir sie in den Vernehmungsraum kriegen, müssen wir zwei Meter Abstand halten.«

Karen schnaubte. »Das ist doch praktisch nicht umsetzbar.«

»Es ist der reinste Albtraum, sag ich dir. Du weißt ja, wie die Kundschaft so ist: ›Ich hab Corona, ich huste dir meine Viren ins Gesicht, du Wichser‹, und so weiter. Wir tun unser Bestes. Wenn es um Zeugenaussagen geht, erledigen wir das möglichst per Bildschirm. Ansonsten heißt es hoffen und beten.« Er seufzte. »Wir werden es alle bekommen.«

»Ist schon beängstigend«, stimmte sie zu. »Niemand weiß, wie es ausgeht. Bedeutet das jetzt das Ende der Menschheit? Wie mit dem Asteroiden und den Dinosauriern? Oder erweist es sich bloß als eine aufgemotzte Variante der Grippe?«

»Ich hab genauso wenig Ahnung wie du. Wir können nur Gin trinken und versuchen, unseren Job zu machen. Hast du genug Masken und Desinfektionsmittel?«

Sie stöhnte. »Mein Gott, sogar der Gin könnte in Gefahr sein, Jimmy. Du glaubst nicht, was Hamish sich wieder ausgedacht hat. Er hat eine kleine Destille im Dorf übernommen, wo er jetzt Heide-Handreiniger herstellt statt Gin.« Jimmy sagte nichts. »Und weil er die Kaffeebars hier in Edinburgh zumachen musste, redet er davon, seine Baristas als Lieferboten für die Hauszustellung einzusetzen.«

»Er lässt sich wirklich kein Geschäft entgehen«, bemerkte Jimmy tonlos. Sie wusste, dass er Hamish mit Phil verglich. Der Tote würde natürlich besser wegkommen, das taten die Toten immer. »Und was ist das für ein neuer Hinweis, dem du nachspürst?«

»Das sage ich dir, wenn was draus wird. Könnte auch die wirre Fantasie eines Hirns im Lockdown sein«, antwortete sie trocken.

»Davon sind reichlich im Umlauf. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mal mehr, warum wir uns die Mühe machen. Der Rückstand bei den Gerichten war vorher schon horrend, und jetzt wird es noch schlimmer. Es ist schon die Rede von über zwei Jahren zwischen einer Straftat und dem ersten Gerichtstermin.«

»Das ist ein höllisch langes Warten auf Gerechtigkeit für die Opfer und die Angehörigen. Außerdem sehe ich schon, wie sich die Verteidiger triumphierend die Hände reiben.« Sie setzte einen vornehmen Akzent auf. »›Nun, Mrs McPhee, erwarten Sie wirklich vom Gericht, zu glauben, dass Sie sich derart genau an die Ereignisse einer feuchtfröhlichen Nacht von vor drei Jahren erinnern?‹ Es wird über kurz oder lang eine Menge Freifahrtscheine geben.«

Jimmy seufzte. »Wohl wahr. Trotzdem müssen wir weitermachen. Sag Bescheid, wenn ich dir bei irgendetwas helfen kann.«

»Mache ich.« Karen verabschiedete sich, ging bereits ihre Möglichkeiten durch. Zum ersten Mal, seit Corona sie alle so sehr eingeschränkt hatte, fühlte sie einen gewissen Auftrieb. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, dass sie für ihren Beruf lebte. Eigentlich verdammt viel besser, als auf den nächsten Skandinavien-Krimi im Fernsehen zu warten, um während des allgemeinen Stillstands den Puls in die Höhe zu jagen.

4

Der einzige Vorteil des Lockdowns bestand darin, dass alle, abgesehen von der einen erlaubten Stunde Bewegung im Freien, genau da waren, wo sie sein sollten. Nicht nur das, die meisten waren jetzt schon froh über jede kleine Unterbrechung der Monotonie. Deshalb war Karen nicht überrascht, als Bethan Carmichael beinahe sofort ans Handy ging. Sie stellte sich vor und fügte schnell hinzu, dass es keinen Grund zur Besorgnis gebe.

Das schien die Chefarchivarin jedoch kaum zu beruhigen. »Ihnen ist sicher bewusst, dass ich für eine große Menge wertvollen Materials verantwortlich bin«, sagte sie streng. »Verzeihen Sie daher, wenn ich den Anruf einer leitenden Kriminalbeamtin etwas alarmierend finde.«

Karen lächelte. Auch wenn ihre Gesprächspartnerin es nicht sah, verlieh das ihrer Stimme mehr Wärme, wie sie wusste. »Soweit ich informiert bin, ist mit Ihrem Archiv alles in bester Ordnung. Es besteht keinerlei Gefahr.«

»Warum rufen Sie dann an?« Kein Auftauen bisher.

»Einer meiner Mitarbeiter hatte schon öfter mit einer Ihrer Kolleginnen zu tun. Sie haben sich ein bisschen angefreundet, könnte man sagen. Jedenfalls …«

»Welche Kollegin?« Eine gewisse Schärfe im Ton jetzt.

»Meera Reddy. Sie hat uns früher schon bei unseren Ermittlungen unterstützt, bevor sie ins Archivteam wechselte.« Karen machte eine Pause, doch es kam keine Reaktion. »Heute Morgen hat sie DC Murray aus meiner Abteilung angerufen, weil ihr etwas keine Ruhe lässt, wie sie sagt. Etwas, auf das sie noch vor dem Lockdown gestoßen ist.«

»Etwas aus dem Archiv? Und damit ist sie zu Ihnen gegangen? Ohne vorher mit mir zu sprechen?«

»Sollte sie recht haben, ist das eine Angelegenheit für die Polizei.« Karen sprach weiter, ohne eine Entgegnung abzuwarten, und erklärte zusammenfassend, was der Minzdrops ihr berichtet hatte.

»Höchst bemerkenswert«, sagte Carmichael. »Jetzt verstehe ich, warum Sie anrufen. Es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass es eine Verbindung zwischen diesem Manuskript und dem Verschwinden der jungen Frau gibt, aber ich nehme an, Sie müssen das ernst nehmen. Für alle Fälle.«

»Genau, für alle Fälle. Dazu aber müsste ich das Manuskript zuerst einmal selbst sehen.«

»Verstehe. Unter normalen Umständen würde ich Ihnen das auch gern ermöglichen«, sagte Carmichael gedehnt. »Aber wie Sie wissen, ist die Bibliothek zurzeit geschlossen, das Personal nach Hause geschickt worden. Es sind nur noch die Sicherheitskräfte im Gebäude.«

Karen straffte ihre Schultern, wie um sich für einen Kampf bereit zu machen. »Eine Fotokopie würde fürs Erste genügen. Könnte Meera nicht kurz ins Archiv gehen und eine anfertigen?«

»Wenn überhaupt jemand dorthin geht, bin ich das«, antwortete Carmichael knapp. »So weiß ich auch, dass nicht gegen die Richtlinien verstoßen wird.«

»Es handelt sich um eine polizeiliche Ermittlung, Bethan.« Sie ging zur Anrede mit Vornamen über, um der Archivarin klarzumachen, wer hier das Sagen hatte. »Uns ist es gestattet, die Lockdown-Vorschriften außer Acht zu lassen, wenn wir sie nicht anders durchführen können. Ich würde die Kopie ja selbst machen, nur habe ich keine Ahnung, wo die betreffenden Unterlagen zu finden sind. Ich könnte Sie aber begleiten, wenn Sie Angst haben, wegen eines Verstoßes gemeldet zu werden.«

»Ich verstehe nicht, warum das so dringend ist. Das kann doch sicher bis zur Aufhebung des Lockdowns warten? Das Archiv läuft Ihnen nicht weg. Und es ist ja nicht so, dass Sie mit Ihrer Untersuchung jetzt noch etwas am Schicksal der jungen Frau ändern könnten.« Sie klang ungehalten.

Karen stand auf und ging zum Fenster, atmete tief durch. »Wir wissen nicht, wann der Lockdown aufgehoben wird, Bethan. Im Moment sehen wir nur, wie die Infektionsrate steigt, die Zahl der Todesfälle steigt. Die Menschen dürfen ihre Lieben in Pflegeheimen oder Krankenhäusern nicht besuchen. Wir wissen nicht, wann und ob es überhaupt jemals einen Impfstoff geben wird. Niemand lebt gern mit solchen Ungewissheiten. Nun stellen Sie sich vor, wie es für Lara Hardies Familie sein muss. Sie leben jetzt schon seit einem Jahr mit einer furchtbaren Ungewissheit. Mit Ungewissheit und Angst. Sie wissen nicht, was mit ihrer Tochter, ihrer Schwester, passiert ist. Sie wissen nicht einmal, ob sie noch lebt oder tot ist. Und falls sie noch lebt, ist das ein weiteres Argument dagegen, noch mehr Zeit verstreichen zu lassen.« Sie legte eine Pause ein, ließ ihre Worte wirken.

»Es ist meine Aufgabe, Antworten auf die Fragen der Angehörigen zu finden«, fuhr sie sanfter fort, während sie hinaus aufs Meer blickte. »Es kann durchaus sein, dass die Antworten ihnen noch mehr Kummer bereiten, aber zumindest wissen sie dann, wie es um ihr Mädchen steht. Deshalb zählt in meinem Beruf jeder Tag, Bethan. Deshalb will ich nicht die Hände in den Schoß legen, bis irgendjemand entscheidet, dass es sicher genug ist, wieder aus dem Haus zu gehen.«

 

»Ach, Mist«, stöhnte Daisy Mortimer. Die Nummer ihrer Chefin wurde auf dem Telefon angezeigt. Frustriert breitete sie die Hände aus. »Ich muss da rangehen, ich melde mich gleich wieder.« Sie beendete FaceTime auf ihrem Laptop und nahm Karens Anruf an. »Hallo«, sagte sie munter. »Hast du etwas vergessen?«

»Nein. Es hat sich etwas ergeben. Erkläre ich dir, wenn ich zurück bin. Diese Akten, die wir aus dem Büro mitgenommen haben – kannst du mal den Fall Lara Hardie raussuchen und auch die Online-Informationen abrufen?«

Daisy schwang ihre Beine vom Sofa und setzte sich gerade auf. »Ja, klar. Bist du schon auf dem Heimweg? Ich dachte, du wolltest erst nach Mitternacht zurückkommen?«

»Tja, die Lage hat sich geändert.« Karen lachte. »Du klingst panisch. Feierst du gerade eine Party?«

Konnte ihre Chefin hellsehen? »Nein, bin nur überrascht.«

»In etwa einer Stunde bin ich zurück. Es ist etwas Polizeiliches, Daisy, keine Laune.« Die Verbindung war beendet. Daisy fluchte vor sich hin. Sie hatte damit gerechnet, die Wohnung den ganzen Tag für sich zu haben. Hatte Pläne geschmiedet, Pläne für Zweisamkeit. Nicht direkter, aber trotzdem fleischlicher Natur. Sie öffnete WhatsApp auf ihrem Handy und tippte.

Tut mir leid. Ich weiß, ich hab gesagt, ich hätte den ganzen Tag Zeit, ich hatte mich so gefreut, aber wie es aussieht, muss ich arbeiten. Shit! XXX

Innerhalb von Sekunden kam die Antwort.

Dumm gelaufen, aber keine Angst, ich bin nicht abgetörnt. Das Warten versüßt es.♥

Ein Glück, wenigstens das. Aber Karen Pirie, diese verdammte Irre. Warum konnte sie sich nicht an die Abmachung halten? Eigentlich war das Zusammenwohnen mit ihr ziemlich unkompliziert, und sie arbeitete total gern mit ihr und dem Minzdrops im Cold-Case-Team zusammen. Als sie zugestimmt hatte, mit Karen zusammenzuziehen, hatte sie allerdings nicht damit gerechnet, dass sie sich zwei Tage vor Beginn des Lockdowns verlieben würde. Das war schon hart genug, ohne um jemanden herumnavigieren zu müssen, der so unberechenbar war. Wenigstens lagen ihre Schlafzimmer an entgegengesetzten Enden der Wohnung, aber hin und wieder hätte sie auch gern ein Schäferstündchen außerhalb der Nachtstunden gehabt.

Sie ging hinüber in Hamish Mackenzies Gästezimmer, dessen luxuriöse Ausstattung einen krassen Gegensatz zu ihrer eigenen Wohnung darstellte. Der Kauf hatte ihre Finanzen völlig erschöpft, und als es ans Einrichten ging, hatte sie sich mit einem Bett und einem Sofa von IKEA begnügen müssen. Der Rest stammte von der monatlichen Haushaltsauflösungs-Versteigerung in Cowdenbeath. Hier dagegen war es ein bisschen wie in einem Luxushotel, auch wenn der Reiz des Neuen sich schon deutlich abgeschwächt hatte.

Daisy gab sich einen Ruck. Im Allgemeinen kam sie gut mit Karen aus, und so war es immer noch besser, als allein zu Hause zu sitzen und mit den Wänden zu reden wie die meisten ihrer Freundinnen und Freunde. Außerdem war die Faszination, in den alten Akten anderer Ermittler zu stöbern, nach möglichen Ungereimtheiten und Widersprüchen zu suchen, ungebrochen. Und jetzt hörte es sich an, als hätten sie etwas Neues, in das sie sich hineinknien konnten.

Trotzdem … Es blieb keine Zeit zum Duschen, also behalf sie sich mit einem Hauch Deo und dem Ausschütteln ihrer Haare. Bedauernd zog sie ein T-Shirt über ihren BH und eine Jogginghose über das sexy schwarze Höschen, das sie extra für die erhofften Vergnügungen ausgewählt hatte.

Sie erinnerte sich gut an den Vermisstenfall Lara Hardie. Zu der Zeit hatte sie noch in Fife gearbeitet, war gerade zum Sergeant befördert worden und begierig darauf, sich zu beweisen. Beim Verfolgen der Fernsehberichterstattung hatte sie sich schuldbewusst bei dem Gedanken ertappt, dass es ihr lieber gewesen wäre, Lara wäre in Fife verschwunden, damit sie den Fall bearbeiten könnte. Sie war nur ein paar Jahre älter als die vermisste junge Frau und wusste noch genau, wie es war, wenn man kurz davorstand, aus der Uni ins echte Arbeitsleben zu wechseln, diese aufregende Mischung aus Angst und Aufbruchstimmung. Was konnte Lara so aus der Bahn geworfen haben, was war ihr zugestoßen? Schwer, nicht davon auszugehen, dass die Studentin entführt worden war, dass sie tot war. Daisy fragte sich, welche Kette von Entscheidungen dazu geführt hatte, dass Laras Weg sich auf so furchtbare Weise mit dem eines Mörders gekreuzt hatte. War es einfach eine Frage von zur falschen Zeit am falschen Ort? Oder steckte mehr dahinter? Und auf was war Karen gestoßen, das eventuell eine Antwort auf diese Fragen geben konnte? Jetzt, wo sie darüber nachdachte, fand sie das alles doch aufregender als ein digitales Date.

Die HCU-Akten, die sie mitgenommen hatten, lagen in Hamishs Arbeitszimmer, einem kleinen Raum, vollgestopft mit Büroschränken und einem zweckmäßigen Kiefern-Schreibtisch, auf dem sich ein Mac und ein zweiter Bildschirm befanden. An der freien Wand waren die Pappkartons mit den Akten dreifach und in zwei Reihen aufgestapelt, sodass nur ein schmaler Gang zwischen der Tür und dem Schreibtisch frei blieb. Seufzend machte Daisy sich ans Werk. »Es ist garantiert die letzte Kiste in der hinteren Reihe«, murmelte sie. »Jede Wette.«

Zu ihrer Freude stellte sie bald fest, dass sie falschlag. Die zweite Kiste in der zweiten Reihe war der Jackpot. Daisy schleppte sie ins Wohnzimmer und belohnte sich danach mit zwei Scheiben Sauerteig-Toast, die vor Butter nur so troffen. Gerade hatte sie die zweite Scheibe in Angriff genommen, als die Chefin hereinkam.

Karen grinste. »Klecker keine Butter auf die Unterlagen«, sagte sie, während sie ihre Jacke auszog und über einen Stuhl hängte.

»Was ist los?« Daisy wischte sich die Finger mit einem Stück Küchenpapier ab und stellte den Teller weg. »Sind wir wirklich wieder im Geschäft?«

»Möglich.«

»Wie kommt’s?«

Auf der Sofakante hockend, ließ sie sich von Karen darüber ins Bild setzen, was Jason in Erfahrung gebracht hatte. »Das ist merkwürdig«, sagte sie. »Ich meine, ich weiß, dass Krimiautoren manchmal echte Fälle als Aufhänger für ihre Geschichten benutzen, aber eigentlich bilden sie die Realität nicht eins zu eins ab.«

»Wir wissen noch nicht, wie sehr sich das Manuskript an die Wirklichkeit hält. Außerdem ist es nur ein Teil einer Geschichte. Ehrlich gesagt, bezweifle ich, dass es so viele Übereinstimmungen gibt, wie Meera zu glauben scheint, aber wir können zumindest einen Versuch starten. Wer weiß? Den Text zu lesen setzt vielleicht ein paar neue Ideen frei.«

»Bekommen wir denn das Original in die Hände?«

Karen lachte bellend. »Keine Chance. ›Die National Library of Scotland ist die Hüterin der unveröffentlichten Manuskripte eines der bedeutendsten schottischen Kriminalschriftsteller seiner Generation‹«, zitierte sie in hochtrabendem Ton. »›Es wäre unangemessen, Laurel Oliver verschwindet aus unserem Gewahrsam zu lassen.‹«

Daisy kicherte. »Alles klar. Wir könnten ja Butter drauf kleckern.« Oder Schlimmeres, dachte sie feixend. »Und wie geht es jetzt weiter?«

»Bethan Carmichael wird das Manuskript scannen und mir eine digitale Kopie schicken. Ich habe sie zusätzlich um eine Fotokopie gebeten, für den Fall, dass es irgendwelche Randnotizen gibt, die nicht klar zu erkennen sind. Sie denkt, dass sie es bis morgen gegen Dienstschluss erledigen kann. In der Zwischenzeit sollten wir uns durch die Fallunterlagen und den digitalen Kram arbeiten.« Sie schnitt eine Grimasse. »Es wird gut sein, sich auf etwas Konkretes zu konzentrieren. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber wenn ich mich abends ins Bett lege, habe ich manchmal keinen Schimmer, wie ich den Tag herumgebracht habe.«

»Kenne ich, es kommt mir vor, als wäre mein Gehirn zu Brei geworden. Ob das ein bisher geheim gehaltenes Covid-Symptom ist?«

Karen stöhnte. »Hoffentlich nicht. Also, wir gehen so vor: Ich lese eine Aussage oder einen Bericht und reiche das dann an dich weiter, du tust das Gleiche. Wir machen uns beide Notizen, die wir zum Schluss abgleichen. Wahrscheinlich werden viele Fragen doppelt auftauchen, aber auf diese Weise halten wir unterschiedliche Auffassungen von bestimmten Dingen fest. Klingt das nachvollziehbar?«

Daisy hatte noch nie von Anfang an bei einer Cold-Case-Ermittlung mitgearbeitet und wunderte sich über Karens Ansatz. »Denke schon. So eine Methode ist mir nur noch nie begegnet.«

»Das ist sozusagen der Luxus, den wir uns bei länger zurückliegenden Fällen leisten können. Wenn man in einem aktuellen Fall ermittelt, arbeitet man gegen die Zeit. Man hat keine Gelegenheit, die Fakten und Informationen von allen Seiten zu betrachten. Selbst beim allerbesten Willen werden Einzelheiten übersehen oder fallen durchs Raster. Dafür kann niemand etwas. Aber wir sind so etwas wie das Wirtshaus zur letzten Chance und schulden es den Opfern, so gründlich vorzugehen, wie wir nur können.«

»Das leuchtet mir ein.«

»Gut, dann mach uns doch einen Kaffee, während ich hier schon mal anfange.« Karen griff bereits nach der ersten Mappe in der Box.

»Ich bringe auch das Shortbread mit.« Gleich zu Anfang hatten sie eine Dose voller Souvenir-Shortbread-Packungen ganz hinten in der Speisekammer zutage gefördert. Karen hatte gewitzelt, dass Hamish die Existenz von etwas so Ungesundem wohl vergessen hatte, und Daisy hatte es sich zur Aufgabe gemacht, aus Gefälligkeit die Kekse wegzufuttern. Einen Cold Case forensisch aufzudröseln, war die perfekte Gelegenheit, um ordentlich was zu verdrücken.

»Vorsicht wegen der Krümel«, sagte Karen geistesabwesend, schon ganz auf Lara Hardie fokussiert. »Wir kriegen was zu hören, wenn wir der Staatsanwaltschaft die Fallunterlagen mit Shortbread-Resten zwischen den Seiten übergeben.«

Daisy wünschte, sie könnte den Optimismus ihrer Chefin teilen, was die endgültige Bestimmung der Akte anging. So oder so, sie würde ihr Bestes geben, auch wenn der Fall ihrer ersten Chance auf ein Liebesleben seit Monaten in die Quere kam. Voll echter Einsatzfreude sprang sie auf. »Okay, Boss, alles klar. Wenn irgendjemand das aufklären kann, dann wir.«

5

Der Anruf kam am folgenden Nachmittag, als sie gerade am Boden des Aktenkartons angelangt waren. Bethan Carmichael hatte ihren Charme offenbar irgendwo beim Fotokopierer wiedergefunden. »DCI Pirie? Ich habe zwei Kopien des Manuskripts angefertigt und den eingescannten Text auf einen USB-Stick gezogen. Ich möchte Ihnen das Ganze persönlich übergeben, der Internetsicherheit traue ich nicht.« Sie beschrieb Karen den Weg zum Hintereingang der Bibliothek, gleich an der Cowgate. »Wie lange brauchen Sie bis hierher?«

Karen zog ihren mentalen Stadtplan zurate. »Ich kann in zwanzig Minuten da sein.«

»Ich warte draußen auf Sie. Es ist ein schöner Tag, die frische Luft wird mir guttun.«

Karen überließ Daisy ihrer Lektüre und machte sich auf den Weg. Die Spätnachmittagssonne blendete sie, als sie aus dem Haus trat, und sie war froh, als sie nach Süden abbiegen konnte, den steilen Anstieg der Broughton Street hinauf. Es herrschte eine geradezu unheimliche Stille, die Bürgersteige, auf denen es sonst von Leuten beim Einkaufen wimmelte, waren so gut wie leer. Die wenigen Passanten wichen sich weiträumig aus, traten sogar in den Rinnstein, um niemandem zu nahe zu kommen. Die Bars und Restaurants waren verrammelt, nur der Bioladen, der als versorgungsrelevanter Betrieb galt, hatte geöffnet. Ein Schild an der Tür wies auf die Beschränkung der Kundenzahl im Laden hin, jeweils zwei. Auch der Verkehr fehlte, der sich normalerweise über den Hügel wälzte. Karen zählte nur drei Autos, zwei fuhren aufwärts, eins abwärts. Sie hatte keine Ahnung, wie all die kleinen Läden und Restaurants in den Straßen um Hamishs Wohnung herum überleben sollten. Viele würden wohl eingehen, vermutete sie.

Der Picardy Place, der wegen der ewigen Straßenbauarbeiten gewöhnlich nach allen Seiten hin verstopft war, lag verlassen da. Sie überquerte ihn eilig und ging die Leith Street hinauf bis dorthin, wo die Stadt zu einem Labyrinth wurde. Jahrhunderte der Bautätigkeit an jeder Stelle, wo ein Fundament gesetzt werden konnte – selbst wenn dort schon eine Straße existierte –, hatten ein unübersichtliches Gassengewirr auf unterschiedlichen Ebenen geschaffen. Zum Hintereingang der National Library gelangte man von der Cowgate aus, einer zentralen Straße, die drei Stockwerke unterhalb des Haupteingangs der Bibliothek unter der George IV Bridge hindurchführte. Karen fühlte sich jedes Mal an eine Zeichnung von Escher erinnert. Hamish dagegen hatte ihr einmal anvertraut, dass er sich schon gefragt hatte, ob dort verlorene Bibliothekare durch die Flure irrten wie der Fliegende Holländer übers Meer. Sie hatte die Geschichte erst einmal googeln müssen und dann eingeräumt, dass die Vorstellung gar nicht so blöd war.

Schließlich bog sie in die Gasse ein, die zum Hintereingang führte. Das Gebäude wirkte viel zu unscheinbar für eines, das Millionen von Büchern beherbergte, dazu Landkarten, Dokumente und nicht zuletzt das Bühnenbild des großartigen Theaterstücks The Cheviot, the Stag and the Black Black Oil. Sie glaubte allerdings, irgendwo gelesen zu haben, dass das Hauptstück, ein zwei Meter hohes Aufklappbuch, an das Victoria and Albert Museum in Dundee ausgeliehen worden war. Wie auch immer, derzeit würde es niemand konsultieren.

Eine Frau, vermutlich Bethan Carmichael, saß auf einem Formschalenstuhl vor der geschlossenen Tür. Sie war in ein Taschenbuch vertieft, ein Vorhang aus langen dunklen Haaren verdeckte ihr Gesicht. Neben ihr, an einem der schlanken Metallbeine des Stuhls, lehnte ein prall gefüllter Stoffbeutel. Karen machte mit ihren Turnschuhen kein Geräusch beim Näherkommen und stand schon fast vor ihr, als sie unwillkürlich aufsah. Erschrocken sprang sie auf, sodass die Stuhlbeine kreischend über das Pflaster schabten. »Gott, ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen!« Sie drückte das Buch an ihre Brust. »Sind Sie DCI Pirie?«

Karen bemerkte den Titel: Around the World in 80 Trees – Um die Welt mit 80 Bäumen. Passendes Buch für jemanden, für dessen Beruf Bäume sterben mussten. Sie zeigte ihr ihren Dienstausweis. »Ja, genau. Bethan Carmichael, nehme ich an?« Die Archivarin sah eher aus wie ein Model für einen teuren Modeladen, Sahara oder Oska oder so etwas. Grobes Leinen, locker fallende Hose, eine Jacke wie ein französischer Arbeiter. Ihr Gesicht war ebenmäßig und kantig, nicht unbedingt schön, aber auffallend, dachte Karen.

Carmichael bückte sich nach dem Beutel, zögerte dann. »Ich habe gemacht, worum Sie mich gebeten haben«, sagte sie. »Das Manuskript samt einem Entwurf. Wenn Sie beim Lesen den Eindruck gewinnen, dass Sie das hier weiterbringt, muss ich Sie allerdings vorwarnen. Es gibt noch zwei ganze Archivkisten voll Material aus mehr oder weniger derselben Schaffensperiode. Alle möglichen Notizen auf Zetteln, von denen einige im Zusammenhang mit diesem Text stehen könnten. Eventuell werden Sie feststellen, dass Sie das alles genau unter die Lupe nehmen müssen. Für den Fall müssten wir dann eine Sonderregelung vereinbaren.«

»Was denn für eine Sonderregelung? Warum können wir die Sachen nicht einfach mitnehmen? Oder sie kopieren lassen?«

Carmichael verdrehte die Augen. »Weil sie noch nicht von einer qualifizierten Archivarin katalogisiert und ausgewertet wurden. Wir haben Jake Steins Unterlagen erst seit ein paar Monaten, und es war noch keine Zeit, das Archiv entsprechend zu organisieren. Falls Sie so etwas tatsächlich planen, müsste ich dafür sorgen, dass einer Ihrer Mitarbeiter Zugang zu einem Leseraum erhält und dort eingeschlossen wird, während er das Material sichtet. Ich bin aber nicht einmal sicher, ob das rechtmäßig wäre.« Wie bei so vielen in dieser angstbesetzten Zeit äußerte sich ihre Furcht durch Feindseligkeit.

Karen zuckte die Achseln. »Trotz der Pandemie haben wir immer noch den Auftrag, der Öffentlichkeit zu dienen und sie zu schützen. Was bedeutet, Ermittlungen durchzuführen. Diese Untersuchung mag einen länger zurückliegenden Fall betreffen, aber wenn Lara Hardie ermordet wurde, gibt es dort draußen jemanden, der mindestens einmal getötet hat und es wieder tun könnte. Dann geht es tatsächlich um den Schutz der Öffentlichkeit, Bethan. Sollte jemand den Kopf für irgendwas hinhalten müssen, mache ich das gern, aber vorläufig ist das kein Thema. Schauen wir uns erst einmal an, was Sie für uns haben, und dann sehen wir weiter.« Sie streckte die Hand aus, worauf Carmichael ihr widerstrebend den Beutel übergab.

»Lassen Sie mich wissen, wie Sie vorankommen«, sagte sie.

Karen nickte. »Wenn ich kann. Danke dafür.« Sie wandte sich zum Gehen, aber dann fiel ihr etwas ein. »Wer hat Ihnen dieses Material eigentlich gebracht?«

»Es ist Teil von Jake Steins Nachlass«, antwortete Bethan. »Es kam von der Anwaltsfirma, die er zur Testamentsvollstreckerin bestimmt hatte. Ich glaube, sie hat Steins Ex-Frau hinzugezogen, denn wahrscheinlich mussten Fragen von Privatsphäre und Persönlichkeitsrecht geklärt und Steins Bedingungen erfüllt werden.«

»Es könnte also Material aussortiert worden sein, das niemand anderes zu Gesicht bekommen soll?«

»Die Möglichkeit besteht immer. Eine Ex-Frau könnte Briefe oder Aufzeichnungen herausnehmen, die sie in einem ungünstigen Licht zeigen.«

Karen schnalzte mit der Zunge. »Na toll. Gut, wir müssen wohl das Beste aus dem machen, was wir haben.« Als sie davonging, wünschte sie, sie könnte sich in das nächste Café setzen und auf den Text stürzen. Das nächste Café jedoch, ironischerweise eines von Hamishs Perk-Kette, hatte wie alle anderen geschlossen, alles dunkel hinter den Scheiben. Als sie die Anhöhe nach Canongate hinauf erklomm, beschleunigte sie ihre Schritte, kaum noch imstande, ihre Ungeduld zu zügeln. Derweil konnte sie schon einmal Jason etwas zu tun geben.

Er meldete sich mit einem fröhlichen »Hallo, Boss«, gleich gefolgt von: »Und, hatte Meera recht? Ist was dran an der Sache?«

»Kann ich noch nicht sagen, Jason. Daisy und ich werden uns durch das Manuskript arbeiten, dann haben wir eine klarere Vorstellung.«

»Aha. Okay.« Er klang enttäuscht.

»In der Zwischenzeit habe ich eine Aufgabe für dich.«

»Aha. Okay!« Jetzt erinnerte er an einen Hund, der ein Leckerli gezeigt bekommen hat.

»Ich möchte, dass du Jake Stein im Internet recherchierst. Es gibt bestimmt jede Menge Interviews, wahrscheinlich auch YouTube-Videos und so was. Du musst dir auch die sozialen Medien vornehmen – Fratzbuch, Zwitscher, Schnappschnatter …«

»So heißen die nicht, Boss.«

Karen verdrehte die Augen. »Ich will einen vollständigen, chronologischen Lebenslauf, privat und beruflich. Sieh zu, wie viel du für ein Briefing zusammenbekommst, okay?«

»Wie machen wir denn das Briefing?«

»Das wird dann wohl über Zoom stattfinden müssen«, sagte sie. »Du musst also früh genug aufstehen, damit du dir noch die Haare kämmen kannst.« Sie beendete den Anruf und eilte weiter. Vielleicht hatten sie eine Spur, vielleicht auch nicht, aber so war das oft bei Hinweisen in Cold Cases. Mit ein bisschen Suchen und Graben an der richtigen Stelle konnten auch wenig vielversprechende Anhaltspunkte manchmal einen verborgenen Pfad durch das Dickicht der Informationen freilegen. Und was das Aufspüren der richtigen Stelle anging – da war Karen eindeutig mehr Bluthund als Landvermesser.