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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenportät aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Der Roman über den geheimnisvollen Kapitän Nemo, der mit seinem U-Boot Nautilus durch die Weltmeere taucht, gehört zu den bekanntesten Werken Jules Vernes. Er führt den Leser in eine spektakuläre Unterwasserwelt. Schilderungen geographischer und technischer Details sowie phantastische Abenteuer – etwa der Kampf mit einem Riesenkraken oder die Entdeckung des sagenhaften Atlantis – bereiten ein atemberaubendes Lesevergnügen.
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Seitenzahl: 721
Jules Verne
20 000 Meilen unter den Meeren
Aus dem Französischen von Martin Schoske
Fischer e-books
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit dem Autorenportät aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Das Jahr 1866 stand im Zeichen merkwürdiger Vorgänge, die alle Welt zutiefst bewegten. In den Hafenstädten kursierten wilde Gerüchte, welche die Gemüter erregten und insbesondere die Seeleute berührten. Aber auch Kaufleute, Reeder, Schiffsherren, Besitzer von Handelsflotten in Europa und Amerika, Offiziere der Kriegsmarinen aus aller Herren Länder und schließlich die Regierungen der Staaten der beiden Kontinente: Sie alle zeigten sich in hohem Maße besorgt.
Seit geraumer Zeit nämlich war es auf hoher See wiederholt zu Begegnungen zwischen Schiffen unterschiedlicher Herkunft und einem auffälligen Gegenstand gekommen, einem länglichen, spindelförmigen, zuweilen phosphoreszierenden Objekt, das an einen Wal erinnerte, aber viel größer und schneller war.
Sämtliche Logbucheintragungen stimmten ziemlich genau darin überein, was die äußere Form des besagten Phänomens, seine unglaubliche Wendigkeit, die erstaunliche Kraft seiner Bewegungen sowie die Lebensäußerungen betraf, die ihm eigentümlich waren. Handelte es sich tatsächlich um einen Wal, so übertraf er an Größe alle Exemplare, welche die Wissenschaftler bis dahin registriert hatten, und keiner von ihnen hätte wohl eingeräumt, daß ein solches Ungeheuer existieren könne, es sei denn, er hätte sich mit eigenen Augen davon überzeugen können.
Allzu vorsichtige Naturen schrieben dem Objekt eine Länge von zweihundert Fuß zu, wieder andere übertrieben ihre Schätzungen in die andere Richtung und behaupteten, daß es anderthalb Kilometer breit und fünf Kilometer lang sei. Doch auch wenn man diese Übertreibungen nicht berücksichtigte, so kam man aufgrund der Beobachtungen doch nicht um die Erkenntnis herum, daß dieses außergewöhnliche Wesen weitaus größere Ausmaße aufweisen mußte, als Ichthyologen sie bei Meerestieren bis dahin für möglich gehalten hatten – immer vorausgesetzt natürlich, daß es überhaupt existierte.
Nun konnte aber die Tatsache, daß es existierte, nicht weiter in Abrede gestellt werden, und wer um die Neigung des Menschen weiß, sich an phantastischen Vorkommnissen zu berauschen, der wird leicht die Erregung verstehen, welche diese übernatürliche Erscheinung in der ganzen Welt hervorrief. Niemand hätte sich mehr erlauben können, sie ins Reich der Fabeln zu verweisen.
Am 20. Juli 1866 war der Dampfer Governor Higginson der »Calcutta and Burnach Steam Navigation Company« der schwimmenden Masse neun Kilometer östlich der australischen Küste begegnet. Kapitän Baker glaubte zuerst, ein unbekanntes Riff vor sich zu haben. Er schickte sich gerade an, seine genaue Position zu bestimmen, als plötzlich aus dem Gegenstand zwei Wassersäulen zischend etwa hundertfünfzig Fuß hoch in die Luft gestoßen wurden. Da man nicht davon ausgehen konnte, daß auf der Klippe ein Geysir tätig war, mußte man auf der Governor Higginson unweigerlich annehmen, daß man es mit irgendeinem bis dahin unbekannten Wassersäuger zu tun hatte, der durch seine Spritzlöcher ein Gemisch von Wasser, Luft und Dampf ausstieß.
Eine ähnliche Beobachtung, ebenfalls im Pazifik, vermeldete am 23. Juli des gleichen Jahres die Cristóbal Colón der »West India and Pacific Steam Company«. Demnach mußte der außergewöhnliche Walfisch in der Lage sein, sich mit ungewöhnlicher Schnelligkeit zu bewegen, denn die Governor Higginson und die Cristóbal Colón hatten ihn im Abstand von drei Tagen an zwei Punkten gesichtet, die mehr als siebenhundert Meilen, also fast dreitausend Kilometer, voneinander entfernt waren.
Als vierzehn Tage später in zweitausend Meilen Entfernung die Helvetia der »Compagnie Nationale« und die Shannon der »Royal Mail« in entgegengesetzter Richtung den Atlantik zwischen den Vereinigten Staaten und Europa überquerten, meldeten beide Schiffe das Auftauchen des Ungeheuers auf 42° 15' nördlicher Breite und 60° 35' westlicher Länge vom Greenwich-Meridian. Als Ergebnis dieser gleichzeitigen Beobachtung des Säugetiers glaubte man Rückschlüsse auf seine Mindestlänge ziehen zu können und veranschlagte es auf ungefähr hundertzehn Meter, da es etwas größer als die Shannon und die Helvetia gewesen war, die zwischen Vorder- und Achtersteven immerhin eine Länge von hundert Metern aufwiesen. Dagegen haben die größten Wale, die in den Gewässern der Aleuten um die Inseln Kulammak und Umgullick vorkommen, kaum je eine Länge von sechzig Metern überschritten, wenn sie sie überhaupt erreichten.
Diesen Schlag auf Schlag eintreffenden Berichten folgten bald neue Nachrichten über die Erscheinung, die in der Öffentlichkeit für großes Aufsehen sorgten. Der Dampfer Le Pereire, der auf der Atlantikroute eingesetzt war, meldete, daß er das Ungetüm gesichtet habe; die Ätna der Reederei Iseman behauptete sogar, mit dem Objekt zusammengestoßen zu sein. Ferner gab es ein von Offizieren der französischen Fregatte La Normandie verfaßtes Protokoll über eine Begegnung sowie schließlich einen äußerst ernst zu nehmenden, mit detaillierten Positionsangaben versehenen Rapport durch die Offiziere der von Fitz James befehligten Lord Clyde. In den Ländern, in denen man alles mit Humor zu nehmen pflegte, machte man seine Scherze über das Monster, während ernster gesinnte und dem praktischen Denken zuneigende Nationen wie England, Amerika und Deutschland sich eingehend mit den Vorfällen beschäftigten.
Bald war das Ungeheuer zum Thema Nummer eins in allen großen Städten der Welt geworden. In den Kaffeehäusern stand es im Mittelpunkt leidenschaftlicher Debatten, in den Zeitungen erschienen spöttische Artikel, und selbst die Theater nahmen sich des Themas an. Es war ein gefundenes Fressen für alle möglichen Blätter, die fleißig ein buntes Sammelsurium an Zeitungsenten in die Welt setzten, wie es seinesgleichen bis dahin noch nicht gegeben hatte. Die Blätter wurden den Verkäufern förmlich aus den Händen gerissen, und überall erschienen Abbildungen von Fabelwesen und sagenhaften Untieren, angefangen vom furchterregenden Moby Dick, dem weißen Wal aus dem Nordmeer, bis zum gigantischen Kraken, der mit seinen gewaltigen Tentakeln ein Schiff von fünfhundert Tonnen umschlingen und in den Abgrund des Ozeans herabziehen konnte. Ja, man berief sich sogar auf Schriften aus der Antike und zitierte Aristoteles und Plinius, die von der Existenz derartiger Ungetüme sprachen. Außerdem wurden die Aufzeichnungen des norwegischen Bischofs Pontoppidan als Beleg herangezogen, die Erzählungen Paul Heggedes und schließlich noch die Notizen M. Harringtons, dessen Glaubwürdigkeit außer Frage stand: Bei ihm war die Rede von einer riesigen Seeschlange, die er 1857 gesehen hatte, als er auf der Castillan unterwegs war.
Die Frage, ob das Monster existierte oder nicht, erhitzte die Gemüter, und in den wissenschaftlichen Gesellschaften und Fachzeitschriften kam es zu heftigen, leidenschaftlich geführten Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern und Gegnern einer solchen Theorie. Journalisten, die sich im Wettstreit mit phantasiebegabten Schöngeistern auf die Seite der Wissenschaft schlugen, vergossen in ihrem denkwürdigen Feldzug nicht nur kübelweise Tinte, sondern einige von ihnen sogar zwei, drei Tropfen echten Blutes, denn im Streit über die Existenz des ominösen Wesens wurden zuweilen Beleidigungen ausgestoßen, die eine handgreifliche Beilegung der Meinungsverschiedenheiten geradezu unvermeidlich machten.
Und so wogte dieser Krieg der Worte sechs Monate lang hin und her. Mal war die eine Seite im Vorteil, dann wieder bekamen ihre Gegner Oberwasser. Den fundierten Artikeln des Geographischen Instituts von Brasilien, der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, der Britischen Gesellschaft für Naturforschung, des Smith-Instituts zu Washington, den Ausführungen im Indian Archipelago, im Cosmos des Abbé Moigno, in den Mitteilungen von Petermann und in den wissenschaftlichen Chroniken der großen Zeitungen Frankreichs und des Auslands begegneten die kleineren Blätter immer wieder mit schier unerschöpflichem Sprachwitz. »Die Natur schafft keine Dummköpfe«, parodierten ihre geistreichen Schreiber einen Satz des berühmten schwedischen Botanikers Linné und beschworen ihre Zeitgenossen, die Natur der Dinge zu akzeptieren und das Vorkommen von Kraken, Seeschlangen, Moby Dicks und anderer aus Seemannsgarn gesponnener Fabelwesen auszuschließen. Schließlich versetzte ein Artikel in einem weithin gefürchteten Satireblatt dem Monster den Todesstoß. Dieser Artikel, vom populärsten Redakteur der Zeitschrift mit beschwingter Feder niedergeschrieben, vermittelte zuerst einen Überblick über den Stand der Debatte, um dann endgültig mit der Mär vom Ungeheuer aufzuräumen und demselben unter allgemeinem, schallendem Gelächter vollends den Garaus zu machen. Der Wortwitz hatte über die Wissenschaft triumphiert.
Und so schien sich die Debatte in den ersten Monaten des Jahres 1867 erledigt zu haben, und es hatte auch nicht den Anschein, daß sie wieder aufflackern sollte, als der Öffentlichkeit plötzlich neue Tatsachen bekannt wurden. Nun hatte man es nicht mehr nur mit einer wissenschaftlichen Frage zu tun, die eine Antwort verlangte, sondern diesmal ging es um eine wirkliche und ernsthafte Bedrohung. Das Problem stellte sich jetzt unter einem ganz anderen Gesichtspunkt dar, und erneut wurde die Erscheinung je nach Standpunkt zu einer kleinen Insel, zu einem Felsen oder zu einer Klippe verklärt – eine Klippe, die wanderte und die sich nicht fassen oder bestimmen ließ.
Am 5. März 1867 rammte die Moravian der »Montreal Ocean Company« zu nächtlicher Stunde auf 27° 30' nördlicher Breite und 72° 15' westlicher Länge einen steuerbord liegenden Felsen, der in diesen Gewässern auf keiner Karte verzeichnet war. Bei dem Zusammenprall hatte das Schiff eine Geschwindigkeit von dreizehn Knoten, die es dem kombinierten Einsatz seiner Segel und seiner vierhundert Pferdestärken verdankte, und ohne Zweifel wäre die Moravian samt ihrer zweihundertsiebenunddreißig nach Kanada eingeschifften Passagiere in den Fluten des Ozeans versunken, wenn sie nicht über einen überaus harten Rumpf verfügt hätte.
Der Unfall hatte sich gegen fünf Uhr früh, in der beginnenden Morgendämmerung, zugetragen. Die diensthabenden Offiziere eilten sofort zum Heck des Schiffes, um das Meer sorgfältig abzusuchen, doch das einzige, was ihnen auffiel, war ein starkes Kielwasser, das die Wasseroberfläche über drei Taulängen, also ungefähr sechshundert Meter, heftig aufwühlte. Der Ort des Zusammenstoßes wurde genau festgehalten, bevor die Moravian ihre Fahrt ohne erkennbare Schäden fortsetzte. War das Schiff mit einem Unterwasserfelsen oder irgendeinem riesigen Wrack kollidiert? Die Frage ließ sich nicht beantworten. Eine später auf einem Trockendock vorgenommene Inspektion ergab jedenfalls, daß ein Teil seines Kiels beschädigt worden war.
Dieser schwerwiegende Vorfall wäre vielleicht wie viele andere Vorkommnisse dieser Art schnell in Vergessenheit geraten, wenn es nicht drei Wochen darauf unter ähnlichen Umständen zu einem neuerlichen Zwischenfall gekommen wäre. Nur daß diesmal die Herkunft des Schiffes und das Ansehen seiner Reederei die Wogen der Erregung weitaus höher schlagen ließen.
Ein jeder kennt wohl den berühmten englischen Reeder Cunard. Dieser scharfsinnige Unternehmer hatte im Jahre 1840 einen regelmäßigen Postdienst zwischen Liverpool und Halifax begründet. Dabei setzte er drei Holzschiffe ein, deren Tonnage 1162 Bruttoregistertonnen betrug und deren Schaufelräder eine Leistung von vierhundert Pferdestärken erbrachten. Acht Jahre später war die Flotte der Gesellschaft um vier Schiffe mit sechshundertfünfzig Pferdestärken und tausendachthundertzwanzig Bruttoregistertonnen angewachsen, zwei Jahre darauf kamen noch einmal zwei äußerst schnelle Schiffe mit hoher Tonnage dazu. 1853 wurde der Cunard-Gesellschaft außerdem das Privileg für die Beförderung von Depeschen verlängert. Darauf wurden nach und nach die älteren Schiffe ersetzt und die Arabia, Persia, Scotia, Java und Russia hinzuerworben, bei denen es sich sämtlich um Schiffe der Spitzenklasse handelte, welche nach der Great Eastern die größten Dampfer darstellten, die jemals die Weltmeere durchpflügt hatten. Und so besaß die Gesellschaft im Jahre 1867 zwölf Schiffe, acht mit Schaufelradantrieb und vier Schraubendampfer.
Diese Details zu erwähnen ist notwendig, um eine Vorstellung von der Bedeutung dieser Reederei zu vermitteln, die in der ganzen Welt als Beispiel für ein mustergültiges Unternehmen angesehen wurde. Kein transatlantisches Schiffahrtsunternehmen wurde geschickter geführt, keines hatte mehr Erfolg aufzuweisen. In sechsundzwanzig Jahren hatten die Schiffe der Cunard-Gesellschaft insgesamt zweitausendmal den Atlantik überquert, ohne daß es je zu einem Unfall oder zu einer Verspätung gekommen und ohne daß je ein Brief verschwunden, ein Unfall geschehen oder ein Schiff untergegangen war. Darin lag auch der Grund, warum die Reisenden trotz der starken französischen Konkurrenz in den vergangenen Jahren die Cunard-Reederei bevorzugt hatten, wie eine auf amtliche Dokumente gestützte Statistik auswies. Und daher wird man sich auch nicht über das weltweite Aufsehen wundern, das der Unfall eines der schönsten Dampfer einer solch renommierten Gesellschaft hervorrief.
Am 13. April 1867 befand sich die Scotia bei ruhiger See und günstigem Wind auf 15° 12' Länge und 45° 37' Breite. Ihre Geschwindigkeit betrug ungefähr dreizehneinhalb Knoten, ihr Tiefgang sechs Meter siebzig, die Wasserverdrängung 6624 Kubikmeter.
Als die Passagiere gegen vier Uhr siebzehn Minuten nachmittags im großen Salon zu Tisch saßen, konnte man backbord, ein wenig hinter dem Schaufelrad, einen Stoß verspüren, der indes so leicht war, daß er kaum zur Kenntnis genommen wurde.
Die Scotia war nicht etwa aufgelaufen, sondern irgend etwas, ein Gegenstand, eher scharf und bohrend als stumpf, hatte sie getroffen. Der Zusammenstoß war so leicht ausgefallen, daß niemand der an Bord Anwesenden die Ruhe verloren hatte – niemand bis auf die Matrosen aus dem Schiffsinnern, die mit einem Schrei auf die Brücke stürzten.
»Wir sinken! Wir sinken!«
Unter den Passagieren machte sich natürlich sofort Panik breit, doch Kapitän Anderson gelang es, sie zu beruhigen. Eine akute Gefahr konnte nämlich wirklich nicht vorliegen, denn der Schiffsraum der Scotia war durch wasserdichte Schotten in sieben Kammern eingeteilt, so daß das Wasser nur in Teile des Schiffes eindringen konnte.
Kapitän Anderson begab sich sofort unter Deck, wo er feststellte, daß die fünfte Kammer beschädigt war, und die Schnelligkeit, mit der sie vollief, deutete auf ein Leck von beträchtlicher Größe hin. Glücklicherweise enthielt diese Kammer nicht die Kessel, denn sonst wären die Feuer auf der Stelle erloschen.
Der Kapitän befahl eine sofortige Unterbrechung der Fahrt, und einer der Matrosen tauchte unter Wasser ab, um den Schaden zu begutachten. Kurz darauf war klar, daß im Rumpf des Dampfers ein zwei Meter breites Loch klaffte, und da es unmöglich war, ein so großes Leck abzudichten, mußte die Scotia ihre Fahrt mit halber Geschwindigkeit fortsetzen. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich fünfhundertfünfzig Kilometer vor Cape Clear, und so lief sie mit drei Tagen Verspätung in Liverpool ein, wo das Ausbleiben des Schiffes bereits Anlaß zu schlimmen Befürchtungen gegeben hatte.
Die Ingenieure machten sich sogleich an die Inspektion der aufs Trockendock gelegten Scotia, und sie trauten ihren eigenen Augen nicht, als sie zweieinhalb Meter unterhalb der Wasserlinie eine scharf umrissene, glatte Bruchstelle in Form eines gleichschenkligen Dreiecks entdeckten. Das Werkzeug, das den Stahl durchbohrt hatte, mußte ungewöhnlich hart gewesen sein, und nachdem es sich mit aller Gewalt seinen Weg gebahnt und den Schiffskörper vier Zentimeter tief durchdrungen hatte, mußte es auf eine völlig unerklärliche Weise wieder entfernt worden sein.
Diese neuerlichen Vorfälle versetzten die Öffentlichkeit sogleich wieder in helle Aufregung, und wenn von nun an ein Unglück auf See geschah, dessen Ursache sich nicht klären ließ, dann mußte stets das ominöse Ungeheuer als Missetäter herhalten. Dem sagenhaften Monstrum wurde nun allein die Verantwortung für eine ganze Reihe von Schiffbrüchen zugeschrieben, denn unter den dreitausend Schiffen, deren Untergang die Versicherungen jährlich registrierten, gab es nicht weniger als zweihundert mit Mann und Maus verschollene und mutmaßlich gesunkene Dampf- und Segelschiffe.
Ob zu Recht oder Unrecht: Das Monstrum wurde nun für alle möglichen Unglücksfälle verantwortlich gemacht, und da sich der Schiffsverkehr zwischen den Kontinenten aufgrund der Bedrohung immer gefährlicher zu gestalten schien, übte die öffentliche Meinung Druck aus und verlangte energisch, die Meere endgültig und koste es, was es wolle, von dem furchtbaren Ungetüm zu befreien.
Zu der Zeit, als sich diese Ereignisse zutrugen, kehrte ich von einer sechsmonatigen Forschungsreise durch das rauhe Nebraska zurück. Ich war als stellvertretender Professor am naturgeschichtlichen Museum in Paris tätig und hatte im Auftrag der französischen Regierung an der Expedition teilgenommen. Ende März traf ich mit wertvollen Fundstücken in New York ein. Meine Abreise nach Frankreich war für Anfang Mai vorgesehen. Bis dahin wollte ich die Zeit nutzen, um meine mineralogischen, botanischen und zoologischen Schätze zu ordnen, als sich plötzlich der Unfall der Scotia ereignete.
Selbstverständlich war ich über die Vorfälle, die in aller Munde waren, im Bilde. Ich hatte immer und immer wieder alle amerikanischen und europäischen Zeitungen gelesen, ohne mir indes eine feste Meinung bilden zu können. Die geheimnisvollen Begebenheiten ließen auch mich nicht mehr los, und da ich mir keinen Reim darauf machen konnte, fiel ich von einem Extrem ins andere. Daß die Vorkommnisse einen ernsten Hintergrund hatten, stand außer Frage, und wer in dieser Hinsicht Zweifel anmelden wollte, den konnte man nur auffordern, sich mit eigenen Augen die Schäden der Scotia anzusehen.
Als ich in New York eintraf, stand das Problem im Mittelpunkt aller Gespräche. Einige selbsternannte Experten hatten ja die Vermutung geäußert, daß es sich bei dem Phänomen um eine kleine Insel oder Klippe handele, die durch die Meere wandere, doch diese Annahme war inzwischen völlig vom Tisch. Wie hätte sich diese Klippe denn auch so unglaublich schnell von einem Punkt zum anderen bewegen sollen? Wollte man etwa behaupten, daß sie von einer Maschine in ihrem Innern getrieben wurde?
Ebenso wurde die Annahme verworfen, daß man es mit einem Wrack, einem großen Stück Treibgut zu tun hatte, denn auch in diesem Fall wäre die Geschwindigkeit des Objekts nicht erklärbar gewesen.
Schließlich kamen nur noch zwei Theorien in Frage, deren jeweilige Befürworter sich in zwei völlig entgegengesetzte Lager spalteten: Die einen waren der Ansicht, daß man es mit einem Monster von ungeheurer Kraft zu tun hatte, die anderen äußerten die Auffassung, daß es sich um eine Art »unterseeisches« Schiff handeln müsse, das von einer äußerst starken Maschine angetrieben werde.
Die letzte Hypothese hatte durchaus etwas für sich, konnte aber genaueren Überprüfungen und Nachforschungen, die in beiden Teilen der Welt angestellt wurden, nicht standhalten. Daß ein einfacher Privatmann über eine so starke Maschine verfügen sollte, war sehr unwahrscheinlich. Wo und wann hätte er sie bauen lassen, wie die Arbeiten geheimhalten sollen?
Allein eine Regierung wäre in der Lage gewesen, eine Waffe von derartiger Zerstörungskraft zu schaffen, und in diesen unseligen Zeiten, wo der Mensch bestrebt ist, immer mächtigere Kampfgeräte herzustellen, war es immerhin denkbar, daß ein Staat heimlich eine fürchterliche Kriegsmaschine erprobte.
Chassepotgewehre, Torpedos, Unterwasserrammen – bisher hatte man noch auf jede Waffe eine Antwort gefunden. Und daher hielt auch ich eine solche Möglichkeit für gegeben.
Doch auch von dieser Hypothese mußte man bald abrücken. Die Regierungen der großen Seemächte erklärten einmütig, daß sie über keine geheime Unterwasserwaffe verfügten, und da als Folge der Geschehnisse bereits der Überseeverkehr litt und somit gewichtige Interessen aller Staaten berührt waren, bestand kein Grund, diesen Erklärungen nicht zu glauben. Wie hätte man den Bau eines solchen Unterwasserschiffes auch verbergen sollen? Schon ein Privatmann wäre wohl kaum in der Lage gewesen, seine Bestrebungen vor der Öffentlichkeit abzuschirmen. Um wieviel schwerer mußte die Geheimhaltung daher einem Staat fallen, dessen Aktivitäten von seinen Nachbarn stets argwöhnisch beäugt werden!
Nachdem noch einmal strenge Kontrollen in England, Frankreich, Rußland, Preußen, Spanien, Italien, Amerika und sogar in der Türkei stattgefunden hatten, konnte die Hypothese vom Unterseeboot endgültig nicht mehr aufrechterhalten werden.
Somit rückte, trotz aller Schmähungen in der Presse, die Vorstellung von einem Seeungeheuer in den Vordergrund. Und bald schon entzündeten sich die absurdesten Phantasien an dem sagenhaften Monstrum.
Nach meinem Eintreffen in New York wurde ich von verschiedenen Seiten gebeten, meine Ansicht zu dem besagten Phänomen zu äußern. Ich hatte in Frankreich das Werk Die Geheimnisse der Meerestiefe geschrieben. Seit dieser Veröffentlichung, die vor allem in der Fachwelt Anerkennung fand, galt ich als Spezialist auf diesem noch ziemlich unerforschten Gebiet der Naturkunde. Und aus diesem Grunde wurde ich konsultiert. Soweit es überhaupt noch Argumente gab, mit denen sich letzte Zweifel an der Existenz des Monstrums begründen ließen, berief ich mich auf diese. Doch bald schon hatte man mich in die Ecke gedrängt, und ich sah mich genötigt, eindeutig Farbe zu bekennen. Schließlich wurde der ehrwürdige Pierre Aronnax, Professor am Museum in Paris, vom New York Herald sogar öffentlich aufgefordert, seine Auffassung zu den Vorfällen zu bekunden.
So fügte ich mich in das Unvermeidliche und formulierte eine Position, da man meine ausweichende Haltung nicht mehr hinnehmen wollte. Dabei erörterte ich die Frage unter allen möglichen politischen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten, was ich hier mit einem recht umfangreichen Artikel belegen will, der am 30. April im New York Herald erschien:
»Da keine der anderen Möglichkeiten in Frage kommt«, schrieb ich nach einer Analyse der verschiedenen Hypothesen, »muß man daraus zwangsläufig schließen, daß man es mit einem Meerestier zu tun hat, das über außerordentliche Kräfte verfügt.
Die großen Tiefen der Ozeane stellen eine uns unbekannte Welt dar, die sich bis heute jeder Erforschung entzogen hat. Was geschieht in diesen entlegenen Abgründen? Welche Lebewesen sind in der Lage, in zwanzig bis fünfundzwanzig Kilometern Tiefe zu leben? Gibt es überhaupt solche Geschöpfe? Wenn ja, wie muß ihr Organismus beschaffen sein? Darüber lassen sich nur Mutmaßungen anstellen.
Das Problem, dessen Lösung ich suchen soll, läuft auf ein Dilemma hinaus.
Entweder wir kennen alle Spielarten von Lebewesen, die unseren Planeten bevölkern, oder wir kennen sie nicht.
Wenn wir sie aber nicht alle kennen, wenn die Natur, was ihren Reichtum an Fischarten betrifft, noch Geheimnisse für uns bereithält, was liegt dann näher als die Annahme, daß es noch neue Arten oder Gattungen von Fischen oder Walen geben muß, die in tiefen, keiner Sonde zugänglichen Regionen unterhalb der Wasseroberfläche leben und die in ihren Eigenschaften in besonderer Weise den dort vorherrschenden extremen Umweltbedingungen angepaßt sind? Und daher wäre es auch nicht auszuschließen, daß eines dieser Lebewesen zuweilen durch irgendein Ereignis, eine Anwandlung oder, wenn man es so nennen will, eine Laune der Natur an die Wasseroberfläche getrieben wird.
Wenn wir hingegen davon ausgehen, daß uns alle Lebewesen bekannt sind, dann müssen wir das besagte Geschöpf notwendigerweise unter den bereits erfaßten Meerestieren suchen. In diesem Fall würde ich zu der Annahme tendieren, daß wir es mit einem Riesen-Narwal zu tun haben.
Der Gemeine Narwal, auch als See-Einhorn bezeichnet, wird oft bis zu sechzig Fuß lang. Wenn man sich diese Ausmaße verfünffacht oder gar verzehnfacht vorstellt und von einer dementsprechend größeren Kraft ausgeht und wenn wir uns auch sein Horn verstärkt denken, so kommen wir auf einen Kandidaten, der die von den Offizieren der Shannon geschätzte Größe hat und über ein Werkzeug verfügt, mit dem die Durchbohrung der Scotia erklärbar wird, und der auch genug Kraft aufzubringen vermag, um den Rumpf eines Dampfers ernsthaft zu beschädigen.
Der Narwal ist nämlich mit einer Art Speer aus Elfenbein ausgestattet. Es handelt sich um einen schraubig gedrehten Schneidezahn, der so hart ist wie Stahl. Man hat einige dieser Zähne im Leib von Walen gefunden, für die der Narwal stets eine Gefahr darstellt. Andere sind, nicht ohne Mühe, aus dem Rumpf von Schiffen entfernt worden, den sie wie ein Bohrer völlig durchdrungen hatten. Das Museum der medizinischen Fakultät von Paris besitzt eine dieser gefährlichen Waffen. Sie ist zwei Meter fünfundzwanzig lang und mißt an der Basis achtundvierzig Zentimeter.
Man stelle sich also vor, daß seine Waffe zehnmal so mächtig, seine Kraft um ein Zehnfaches höher ist, man gebe dem Tier eine Geschwindigkeit von siebenunddreißig Kilometern pro Stunde und multipliziere seine Masse mit seiner Schnelligkeit, und schon kommen wir auf eine Stoßkraft, die ausreicht, um Schäden von der Art zu verursachen, wie wir sie erlebt haben.
Daher plädiere ich, vorbehaltlich weitergehender Informationen, für ein überdimensionales See-Einhorn, dessen Bewaffnung man nicht mehr als Hellebarde, sondern schon als regelrechten Rammsporn ansehen muß, wie ihn gepanzerte Fregatten und andere Kriegsschiffe besitzen, mit denen es seinen Ausmaßen und seiner Bewegungskraft nach vergleichbar wäre.
So also könnte eine Erklärung für das unergründliche Phänomen lauten, sofern nicht doch überhaupt keine Ursache für die Ereignisse vorliegt, eine Möglichkeit, die trotz aller Zeugenaussagen, Erlebnisberichte und leidvollen Erfahrungen immer noch nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann.«
Diese letzten Worte dienten meinem Selbstschutz. Als Professor war ich es mir einfach schuldig, bis zu einem gewissen Grade meine Würde zu bewahren und mich nicht zu sehr dem Spott der Amerikaner preiszugeben, die, wenn sie einmal lachen, gleich tüchtig lachen. Und so hielt ich mir dieses Hintertürchen offen. Im Grunde hatte ich ja auch eingeräumt, daß das Monster existierte.
Mein Artikel fand ein lebhaftes Echo und wurde leidenschaftlich diskutiert. Viele schlossen sich meinen Ausführungen an. Im übrigen ließ die Lösung, die er anbot, der Phantasie freien Spielraum. Dem menschlichen Geist gefällt die Vorstellung, daß es übernatürliche Wesen gibt. Nun stellt das Meer genau das Medium, das einzige in Frage kommende Element dar, in dem diese Giganten, neben denen sich Landtiere wie Elefanten oder Rhinozerosse wie Zwerge ausnehmen, sich entwickeln und entfalten können. In den Wassermassen kommen die größten bekannten Säuger vor, und vielleicht bergen sie ja Mollusken von unvergleichlichen Ausmaßen und schauerliche Krustentiere wie hundert Meter lange Hummer oder zwei Tonnen schwere Krabben in sich! Warum sollte dies nicht der Fall sein? Zu Urzeiten erreichten die Landtiere, Reptilien und Vögel gewaltige Ausmaße. Der Schöpfer hatte sie als wahre Giganten geschaffen, die erst mit der Zeit schrumpften. Wieso sollten in den unerforschten Tiefen des Meeres nicht noch ein paar Exemplare aus einer anderen Epoche der Naturgeschichte überlebt haben? Im Gegensatz zu den Kontinenten, deren Gestalt sich fast ständig verändert, hatten die Ozeane doch stets ihre Eigenart bewahrt. Wieso konnten in ihnen nicht letzte Überreste titanischer Arten beheimatet sein, die Jahrhunderte und Jahrtausende alt waren?
Aber eigentlich handelte es sich dabei nur um Phantasien, die man nicht unnötig nähren sollte. Und daher beschloß ich, mich nicht mehr mit diesen Hirngespinsten zu beschäftigen und mich statt dessen der Wirklichkeit zuzuwenden, die an Phantastischem reich genug war. Die Öffentlichkeit hatte sich also, wie gesagt, eine einmütige Meinung über das Phänomen gebildet, und überall ging man davon aus, daß ein gewaltiges Urtier sein Unwesen in den Meeren trieb, das mit den legendären Seeschlangen nichts gemein hatte.
Doch während die einen das Untier als ein rein wissenschaftliches Problem ansahen, das es zu erforschen galt, betrachteten es andere, vor allem in Amerika und England, von einer eher praktischen Warte aus, indem sie die Notwendigkeit betonten, das Meer von dem schauderhaften Monstrum zu befreien und so die Sicherheit der überseeischen Verkehrsverbindungen wiederherzustellen. Die Wirtschafts- und Handelsblätter behandelten die Frage vornehmlich unter diesem Gesichtspunkt. Inzwischen drohten die Versicherungen schon mit einer Erhöhung ihrer Prämien, und die ihnen nahestehenden Shipping and Mercantile Gazette, die Lloyd, die Paquebot und die Revue Maritime et Coloniale, alle diese Fachzeitungen waren sich darin einig, daß energisches Vorgehen geboten sei.
Nachdem sich eine eindeutige öffentliche Meinung herausgebildet hatte, schritten die Vereinigten Staaten als erste Nation zur Tat. In New York wurden Vorbereitungen für eine Expedition zur Verfolgung des Narwals getroffen, und man bereitete eine schnelle Fregatte, die Abraham Lincoln, vor, um so bald wie möglich in See zu stechen. Ihr Kommandant, Kapitän Farragut, erhielt freie Hand, was die Ausstattung und Aufrüstung der Fregatte betraf.
Aber wie das Leben so spielt: Kaum hatte man sich entschlossen, das Monster zu verfolgen, da verschwand es auch schon in der Versenkung. Zwei Monate lang sah und hörte man nichts mehr von ihm, kein Schiff meldete sein Auftauchen. Fast hatte man den Eindruck, als hätte es gewußt, daß es verfolgt werden solle. Schließlich war es ja lange genug in aller Munde gewesen, sogar über das transatlantische Kabel hatte man sich über das Phänomen ausgetauscht. Und so äußerten einige Scherzbolde die Auffassung, das gerissene Ungetüm müsse wohl ein paar Telegramme abgefangen haben und ziehe nun Nutzen aus seinem Wissen.
So kam es, daß niemand wußte, wohin man die für eine längere Fahrt gerüstete und mit allerlei furchtbarem Fanggerät ausgestattete Fregatte dirigieren sollte. Die Anspannung wuchs allmählich ins Unerträgliche, bis dann am 3. Juli plötzlich gemeldet wurde, ein von San Francisco nach Shanghai fahrender Dampfer habe das Monstrum drei Wochen zuvor im nördlichen Pazifik gesehen.
Diese Nachricht schlug wie eine Bombe ein, und Kapitän Farragut wurden nicht einmal vierundzwanzig Stunden für die letzten Vorbereitungen eingeräumt. Vorräte und Kohlen waren im Überfluß geladen, die Mannschaft war komplett, und man brauchte nur die Kessel zu heizen, bevor man in See stechen konnte. Jede weitere Verzögerung wäre dem Kapitän, dem im übrigen selbst daran lag, umgehend auszulaufen, schwer angelastet worden.
Drei Stunden bevor die Abraham Lincoln vom Pier in Brooklyn ablegen sollte, erhielt ich folgenden Brief:
An Monsieur Aronnax
Professor am Museum zu Paris
Fifth Avenue Hotel
New York
Monsieur,
Wenn Sie an der Expedition der Abraham Lincoln teilzunehmen wünschen, so würde es die Regierung der Vereinigten Staaten begrüßen, wenn Frankreich bei dieser großen Unternehmung durch Sie vertreten würde. Kapitän Farragut hält eine Kabine zu Ihrer Verfügung bereit.
Mit freundlichen Grüßen
J. B. Hobson
Marineminister
So wie es mir nie von alleine eingefallen wäre, die bis dahin unbefahrene Nordwestpassage im eisigen Norden Kanadas zu durchqueren zu versuchen, so hatte ich auch nie einen Gedanken auf die Verfolgung des Einhorns verwendet. Doch kaum hatte ich die Zeilen des ehrenwerten Marineministers gelesen, da erkannte ich die wahre Bestimmung, das einzige Ziel meines Lebens: Ich war es, der das unheimliche Monster jagen und die Welt davon befreien sollte.
Indes war die Expedition, die ich zuvor unternommen hatte, sehr anstrengend gewesen, so daß ich mir nichts als Ruhe und Erholung wünschte. Mein sehnlichster Wunsch war es, in meine Heimat zurückzukehren, zu meinen Freunden, in meine kleine Studierstube im Botanischen Garten und zu meiner kostbaren Sammlung, die mir so sehr am Herzen lag. Doch mit einem Mal sah alles anders aus. Ich vergaß die Welt um mich herum, meine Erschöpfung, meine Freunde, meine Sammlung, und beschloß, ohne weitere Überlegung, das Angebot der amerikanischen Regierung anzunehmen.
»Schließlich führen doch alle Wege nach Europa«, sagte ich mir, »und das Einhorn wird schon so liebenswürdig sein und mich an die Küste Frankreichs locken. Vielleicht bereitet es mir ja auch eine Freude und läßt sich in europäischen Gewässern fangen. Keine Trophäe wäre mir lieber als ein halber Meter seiner Hellebarde für das naturgeschichtliche Museum.«
Doch zunächst einmal galt es, den Narwal im Nordpazifik zu suchen, was einer Rückkehr nach Frankreich über die Antipoden gleichkam.
»Conseil!« rief ich ungeduldig.
Conseil war mein Diener, ein Bursche, auf den stets Verlaß war und der mich auf allen meinen Reisen begleitete. Ich hatte den treuen Flamen recht liebgewonnen, und er vergalt mir diese Zuneigung zur Gänze. Von phlegmatischem Wesen, pünktlich aus Prinzip und stets dienstbeflissen, ließ er sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Mit seinen geschickten Händen taugte er für jede Art von Arbeit, und dadurch, daß er sich jedweden Ratschlag untersagte, selbst wenn man ihn ausdrücklich darum bat, war er ein überaus angenehmer Zeitgenosse.
Weil er sich in unserem botanischen Garten stets im Kreis von Gelehrten bewegte, hatte Conseil sich einiges Wissen angeeignet. Mit ihm hatte ich einen Spezialisten für naturgeschichtliche Systematik an meiner Seite, und er war so beschlagen auf seinem Gebiet, daß er sich mühelos auf der gesamten Stufenleiter der Stämme, Gruppen, Klassen, Unterklassen, Ordnungen, Familien, Gattungen, Untergattungen, Arten und Abarten auf und ab bewegte. Doch hier endete auch schon sein Wissen. Klassifizieren, das war sein Leben, auf mehr verstand er sich nicht. Er war ein Meister der theoretischen Systematik, aber in der Praxis, glaube ich, wäre er nicht einmal in der Lage gewesen, einen Pottwal von einem Blauwal zu unterscheiden. Was indes nichts daran änderte, daß es sich um einen überaus gutmütigen und würdigen Burschen handelte.
Conseil, der dreißig Jahre alt war, hatte mich in den vergangenen zwei Jahren überallhin begleitet, wohin die wissenschaftliche Pflicht mich rief, und nicht ein einziges Mal hatte ich aus seinem Munde Klagen über die Länge oder die Strapazen einer Reise vernommen. Kein Einwand war von ihm zu hören, wenn es galt, das Bündel für eine Reise nach China, in den Kongo oder in andere ferne Regionen zu schnüren, und wo immer wir uns auch aufhielten, stets fügte er sich in alle Notwendigkeiten. Im übrigen besaß er eine robuste, kräftige Natur, der keine Krankheit etwas anhaben konnte, und verfügte über eine ausgezeichnete Moral.
Eigentlich besaß er nur einen Fehler: Er war von einem ausgesucht förmlichen Wesen und redete mich stets nur in der dritten Person an, was mich immer wieder auf die Palme trieb.
»Conseil«, rief ich zum wiederholten Male, während ich mich in fieberhafter Eile an die Reisevorbereitungen machte.
Da ich an Conseils Ergebenheit keinen Zweifel hegte, fragte ich ihn gewöhnlich nicht, ob es ihm recht war, mir auf eine Reise zu folgen oder nicht. Doch diesmal ging es um eine Expedition, die sich über einen nicht absehbaren Zeitraum erstreckte, um eine riskante Verfolgungsjagd auf ein Tier, das eine Fregatte ohne weiteres versenken konnte. Eine solche Entscheidung verlangte reifliche Überlegung, selbst vom gleichgültigsten Menschen der Welt. Was würde Conseil wohl sagen?
»Conseil!« rief ich zum dritten Mal. Conseil erschien.
»Monsieur rufen mich?« fragte er, während er mein Zimmer betrat.
»Ja, mein Guter. Bereite meine … äh, bereite unsere Sachen vor. Wir brechen in zwei Stunden auf.«
»Wie es Monsieur beliebt«, versetzte Conseil ruhig.
»Die Zeit ist kostbar, wir dürfen keine Sekunde verlieren. Stopf mein gesamtes Reisegepäck in den Koffer, Anzüge, Hemden, Strümpfe. Und halt dich nicht mit Zählen auf, sondern nimm alles, was hineinpaßt. Los, los!«
»Und die Fundstücke von Monsieur?« erkundigte sich Conseil.
»Darum kümmern wir uns später.«
»Wie bitte? Die Archiotherien, die Hyracoterien, die Oreodonten, die Cheropotami und all die anderen Gerippe?«
»Man soll sie im Hotel aufbewahren.«
»Und der Hirscheber?«
»Man wird ihn während unserer Abwesenheit füttern. Im übrigen werde ich dafür sorgen, daß unsere Fundstücke nach Frankreich verschickt werden.«
»Heißt das, daß wir nicht nach Paris zurückkehren?« wollte Conseil wissen.
»Doch … gewiß doch …«, antwortete ich ausweichend, »aber wir werden einen kleinen Umweg einschlagen.«
»Ein Umweg? … Wie es Monsieur beliebt.«
»Oh, es steckt nichts Besonderes dahinter. Der Weg, den wir nehmen, ist halt etwas weniger direkt. Wir werden auf der Abraham Lincoln mitfahren.«
»Ganz wie es Monsieur beliebt«, entgegnete Conseil ruhig.
»Weißt du, mein Freund, es geht um das Monster … Dieser berüchtigte Narwal … Wir werden die Meere davon befreien! … Wenn man ein Werk veröffentlicht hat wie Die Geheimnisse der Meerestiefe, dann muß man einfach ein Angebot annehmen wie das von Kapitän Farragut. Eine Mission, die so viel Ruhm verspricht … Aber sie ist eben auch gefährlich! Man weiß ja nie, wohin es einen verschlägt, wenn man ein solches Monstrum verfolgt … Außerdem können diese Tiere gefährliche Launen haben! Aber das soll uns nicht schrecken! Wir haben einen Kommandanten, der jeder Gefahr ins Auge sieht!«
»Ich werde alles tun, was Monsieur für richtig befinden«, erwiderte Conseil.
»Aber bedenke recht, denn ich will ganz offen zu dir sein: Es ist eine Reise, bei der man nicht weiß, ob man je wieder von ihr zurückkehrt!«
»Ganz wie es Monsieur beliebt.«
Eine Viertelstunde später waren unsere Koffer fertig. Conseil hatte sie im Nu gepackt, und dennoch war ich ganz sicher, daß nichts fehlte, denn auf das Einordnen von Hemden und Anzügen verstand er sich ebensogut wie auf das Einordnen von Vögeln oder Säugetieren.
Mit dem Hotelaufzug gelangten wir in die große Vorhalle im Zwischenstockwerk. Ich stieg die paar Stufen zum Erdgeschoß hinab, wo ich meine Rechnung an der breiten, stets von einer riesigen Menge umlagerten Rezeption bezahlte. Dort gab ich den Auftrag, daß man meine Kisten mit den ausgestopften Tieren und den getrockneten Pflanzen nach Paris aufgeben solle, und hinterlegte das notwendige Geld, damit der Hirscheber gut versorgt war. Dann bestieg ich mit Conseil eine Kutsche, und los ging es.
Das Fahrzeug beförderte uns den Broadway bis zum Union Square hinunter, dann ging es entlang der Fourth Avenue bis zur Kreuzung mit der Bowery Street, weiter über die Katrin Street, und schließlich hielt es am vierunddreißigsten Pier. Von dort aus brachte die Katrin-Fähre uns, das heißt Menschen, Pferde, Wagen, nach Brooklyn, dem am linken Ufer des East River gelegenen Stadtteil, hinüber, um uns ein paar Minuten später an dem Kai abzusetzen, an dem die Abraham Lincoln lag. Sie stieß aus ihren beiden Schloten bereits schwarze Rauchsäulen in die Luft.
Unser Gepäck wurde umgehend aufs Deck der Fregatte geschafft. Ich eilte an Bord und erkundigte mich nach Kommandant Farragut. Einer der Matrosen führte mich zum Vorderdeck, zu einem stattlichen Offizier, der mir die Hand reichte.
»Monsieur Aronnax?« fragte er.
»Der bin ich«, gab ich zurück. »Sie sind Kapitän Farragut?«
»So ist es. Willkommen an Bord, Monsieur. Ihre Kabine ist bereits gerichtet.«
Ich bedankte mich, und da ich den Kapitän nicht bei seiner Arbeit aufhalten wollte, ließ ich mich zu der für mich reservierten Kabine bringen.
Mit der Abraham Lincoln hatte man wirklich eine ausgezeichnete Wahl getroffen. Vortrefflich ausgestattet, um ihre Aufgabe zu erfüllen, verfügte diese schnelle Fregatte über ein Kesselsystem, das es ermöglichte, den Druck des Dampfes bis auf sieben Atmosphären zu steigern. Bei diesem Druck erreichte die Abraham Lincoln eine mittlere Geschwindigkeit von ungefähr dreiunddreißig Kilometern pro Stunde, ein nicht unbeträchtliches Tempo, das aber bei weitem nicht ausreichte, um mit dem gigantischen Wal mitzuhalten.
Die Innenausstattung der Fregatte ließ, genauso wie ihre nautischen Qualitäten, nichts zu wünschen übrig, und so war ich mit meiner Kabine, die im hinteren Teil des Schiffes nach der Offiziersmesse lag, sehr zufrieden.
»Hier werden wir uns wohl fühlen«, meinte ich zu Conseil.
»So wohl wie der Einsiedlerkrebs in einer Hornschneckenschale, wenn Monsieur die Bemerkung gestatten«, erwiderte Conseil.
Während Conseil unser Gepäck ordentlich verstaute, stieg ich wieder zur Brücke hinauf, um die letzten Vorbereitungen vor dem Auslaufen zu beobachten.
Kommandant Farragut ließ gerade die letzten Taue einholen. Nur ein paar Minuten hatten gefehlt, und die Fregatte wäre ohne mich ausgelaufen. Auf diese Weise hätte ich mich um das Erlebnis einer außergewöhnlichen, ja sensationellen Expedition gebracht, die so phantastisch war, daß ihre Schilderung, wiewohl aufrichtig und wahrheitsgemäß, möglicherweise doch hier und dort Zweifel aufkeimen lassen wird.
Kommandant Farragut wollte keine Minute verlieren, um die Gewässer zu erreichen, in denen das Ungetüm vor kurzem gesichtet worden war. Er befahl den Bordingenieur zu sich.
»Stehen wir unter Dampf?« fragte er ihn.
»Ja, Sir«, antwortete der Ingenieur.
»Dann los!«
Nach diesem Befehl zum Aufbruch setzten die Maschinisten das Rad in Bewegung. Dampf zischte in die halb geöffneten Schieber, die langen Horizontalkolben arbeiteten ächzend, und die Maschine kam in Gang. Die Schiffsschraube peitschte das Wasser immer schneller auf, und die Abraham Lincoln bahnte sich majestätisch ihren Weg zwischen unzähligen Fähren und Tenderschiffchen hindurch, die von Schaulustigen überquollen, welche die Fregatte aus dem Hafen geleiten wollten.
Auch auf den Kais von Brooklyn und im gesamten am East River liegenden Teil New Yorks wimmelte es nur so von begeisterten Zuschauern. Ein dreifaches Hurra von fünfhunderttausend Menschen begleitete die auslaufende Abraham Lincoln, Tausende von Taschentüchern wurden von der dunklen, kompakten Masse geschwenkt und grüßten das Schiff, bis es am Ende der langgestreckten Halbinsel, auf der New York liegt, den Hudson River erreichte.
Dann fuhr die Fregatte die rechte Seite des Flusses entlang, am wunderschönen New Jersey mit seinen vielen Villen und an den Forts vorbei, die aus ihren größten Kanonen Salutschüsse abgaben. Diese Ehrung erwiderte die Abraham Lincoln durch dreimaliges Einholen und Hissen der amerikanischen Flagge, die mit ihren neununddreißig prangenden Sternen an der Besangaffel flatterte. Danach änderte das Schiff seinen Kurs, um in die durch Bojen gekennzeichnete Fahrrinne der inneren Bucht zu gelangen, welche hier abzweigt. Die innere Bucht wird nach Süden durch die sandige Landzunge Sandy Hook begrenzt, auf der sich ebenfalls Tausende von Zuschauern eingefunden hatten, um das Schiff unter tosendem Applaus zu verabschieden.
Die Fregatte wurde weiterhin von kleinen Booten und Tendern begleitet, die erst auf Höhe des Leuchtschiffes zurückblieben, dessen zwei Feuer die Einfahrt in die Gewässer von New York markierten.
Um drei Uhr ging der Lotse von Bord und kehrte in seinem Ruderboot zu dem Schoner zurück, der auf ihn wartete. Die Feuer wurden weiter geschürt, die Schraube wühlte das Wasser immer schneller auf, während die Fregatte an der flachen, gelblich wirkenden Küste von Long Island entlangglitt. Um acht Uhr abends schließlich waren die Leuchtfeuer von Fire Island im Nordwesten nicht mehr zu sehen, und die Abraham Lincoln bahnte sich mit voller Kraft ihren Weg durch die finsteren Fluten des Atlantiks.
Kapitän Farragut war ein tüchtiger Seemann, der Fregatte würdig, die er kommandierte. Sein Schiff und er bildeten eine Einheit, und er war dessen Seele. Was die Existenz des Walfischs anging, so hegte er daran keinerlei Zweifel, und er duldete auch nicht, daß sie von seinen Untergebenen in Frage gestellt wurde. Sein Glaube an das Monstrum war so unerschütterlich, weil er aus tiefstem Herzen kam. Das Ungeheuer existierte, und er würde das Meer von ihm befreien: Das hatte er sich geschworen. Kapitän Farragut war eine Art Ordensritter, der sich auf einem Kreuzzug befand, um die Menschheit von einem Übel zu erlösen. Entweder er würde den Narwal töten, oder der Narwal würde ihm den Garaus machen. In dieser Hinsicht gab es für ihn keine Kompromisse.
Die Offiziere teilten die Auffassung ihres Kommandanten. Man brauchte nur hinzuhören, wie sie diskutierten und disputierten, wie sie sich über die Möglichkeit einer Begegnung mit dem Ungetüm Gedanken machten und die Weiten des Ozeans ausspähten. Manch einer erklärte sich bereit, hoch oben auf der Bramstenge die Wache zu übernehmen, ein Frondienst, den man wohl sonst jederzeit gerne einem anderen überlassen hätte. Solange die Sonne schien, wimmelte es auf den Masten von Matrosen, die es kaum auf Deck hielt und denen die Schiffsplanken förmlich die Füße zu verbrennen schienen. Und dabei hatte die Abraham Lincoln bei weitem noch nicht die verdächtigen Gewässer des Pazifiks erreicht.
Auch der Rest der Besatzung wünschte sich nichts mehr, als auf das Einhorn zu stoßen, es zu harpunieren, es an Bord zu hieven und es zu zerlegen. Auch sie beobachtete das Meer mit Argusaugen. Im übrigen hatte Kommandant Farragut eine Summe von zweitausend Dollar ausgelobt, die jeder, ob Schiffsjunge oder Matrose, ob Maat oder Offizier, erhalten sollte, der das Tier als erster entdeckte und meldete. Ich glaube, auf diesem Hintergrund ist es nicht nötig zu beschreiben, wie man sich an Bord der Abraham Lincoln förmlich die Augen aus dem Kopf starrte.
Ich für meinen Teil wollte hinter diesen Bemühungen nicht zurückstehen und übernahm auch einen Teil der täglichen Späharbeit. Inzwischen wäre der Name Argus viel passender für die Fregatte gewesen, auf der sich einzig Conseil von allen anderen abhob, indem er eine demonstrativ gleichgültige Haltung inmitten der allgemeinen Aufregung an den Tag legte.
Wie bereits erwähnt, hatte Kommandant Farragut sein Schiff mit raffiniertem Fanggerät für die Jagd auf das Monstrum ausgestattet. Ein Walfänger hätte nicht besser ausgerüstet sein können. Wir verfügten über alle bekannten Geräte, von der Harpune, die man mit der Hand schleudert, angefangen bis zu Pfeilen mit Widerhaken und explodierendem Entenschrot. Auf der Back war eine moderne Kanone aufgestellt, ein Hinterlader mit äußerst dickem Geschützrohr und sehr kleinem Kaliber, der erst kurz zuvor auf der Weltausstellung präsentiert worden war. Dieses ausgeklügelte System amerikanischer Herkunft war ohne weiteres in der Lage, ein konisches Projektil von vier Kilogramm Gewicht im Mittel sechzehn Kilometer weit zu schießen.
Der Abraham Lincoln mangelte es somit wirklich nicht an wirkungsvollen Waffen: Aber sie hatte noch mehr zu bieten: Ned Land, den König der Harpuniere.
Überaus gewandt und kaltblütig, tollkühn und listig zugleich, verfügte der Kanadier Ned Land über ein selten anzutreffendes Geschick und war ein Vertreter seines gefährlichen Berufes, wie es ihn nur einmal gab. Ein Glattwal mußte schon recht verschlagen, ein Pottwal besonders fintenreich sein, um seiner Harpune zu entkommen.
Ned Land war etwa vierzig Jahre alt, von hohem Wuchs – ungefähr einen Meter achtzig groß – und kräftiger Statur. Ernst und verschlossen, zuweilen unbeherrscht, konnte er überaus zornig werden, wenn man ihn reizte. Seine Persönlichkeit erregte stets Aufsehen, vor allem aber der starke Ausdruck seiner Augen, die ihm eine besondere Ausstrahlung verliehen.
Kapitän Farragut hatte meiner Meinung nach gut daran getan, diesen Mann anzuheuern, der mit seinen Fähigkeiten alleine die gesamte übrige Mannschaft aufwog und als eine Art Allzweckwaffe für jede Aufgabe eingesetzt werden konnte.
Die Kanadier sind ja eigentlich Franzosen, und so wenig mitteilsam Ned Land auch war, brachte er doch eine gewisse Zuneigung für mich auf, was wahrscheinlich mit meiner Herkunft zusammenhing. Diese war ihm Anlaß, sich gelegentlich mit mir zu unterhalten, wodurch ich die Gelegenheit hatte, die alte Sprache eines Rabelais zu hören, wie sie in einigen kanadischen Provinzen noch gesprochen wird. Die Familie des Harpuniers stammte aus Quebec und bildete bereits einen Clan tollkühner Fischer, als die Stadt noch zu Frankreich gehörte.
So gewann Ned Land nach und nach immer mehr Freude an unseren Gesprächen, und ich hörte ihm gerne zu, wenn er von seinen Abenteuern im Polarmeer erzählte. Er schilderte seine Erfahrungen und seine Kämpfe mit einer schönen, natürlichen Poesie, und wenn ich seinen breit vorgetragenen epischen Geschichten lauschte, so glaubte ich zuweilen, einem kanadischen Homer zuzuhören, der die Ilias der nordischen Breiten zum besten gab.
Mit der Zeit lernte ich diesen tapferen Weggefährten immer mehr schätzen, so daß wir bald Freunde wurden, verbunden durch jene unzertrennlichen Bande, die dann geknüpft werden und sich immer fester herausbilden, wenn man gemeinsam schlimmste Gefahren durchgestanden hat.
Welche Meinung hatte nun aber Ned Land zu dem Seeungeheuer? Ich muß einräumen, daß er als einziger an Bord nicht die allgemeine Einschätzung teilte und nicht von der Existenz des See-Einhorns überzeugt war. Er vermied es, das Thema von sich aus anzusprechen, und so beschloß ich eines Tages, in ihn zu dringen und seine Auffassung kennenzulernen.
Es war an einem herrlichen Abend, drei Wochen nach unserer Abfahrt. An diesem 30. Juli befand sich die Fregatte auf der Höhe des Cabo Blanco, vierundfünfzig Kilometer unter dem Wind vor der patagonischen Küste. Wir hatten den Wendekreis des Steinbocks überquert, und die Magellanstraße im Süden war keine tausenddreihundert Kilometer mehr entfernt. Noch acht Tage, und die Abraham Lincoln würde die Fluten des Pazifiks durchfurchen.
Ned Land und ich saßen auf der Kampanje und plauderten über Gott und die Welt. Dabei blickten wir auf die geheimnisvolle See hinaus, in deren Tiefen bis jetzt noch kein Mensch vorgestoßen war. Ich lenkte das Gespräch ganz beiläufig auf das Riesen-Einhorn und wägte die Erfolgsaussichten unseres Unternehmens ab. Als ich merkte, daß Ned Land mich reden ließ, ohne sich seinerseits zu dem Thema zu äußern, ging ich ihn schließlich direkter an.
»Ned«, frage ich ihn, »wie kommt es, daß Sie nicht an die Existenz des Riesenwals glauben? Haben Sie besondere Gründe für Ihre Skepsis?«
Der Harpunier sah mich zuerst eine Zeitlang an, bevor er antwortete. Dann schlug er sich mit der Hand gegen seine breite Stirn, eine Gebärde, die charakteristisch für ihn war, und schloß die Augen, wie um sich zu sammeln. Schließlich meinte er: »Vielleicht ja, Monsieur Aronnax.«
»Aber Ned, Sie als gelernter Walfänger, Sie müßten doch die großen Meeressäuger kennen. Mit Ihrer Erfahrung und Ihrer Phantasie dürfte es Ihnen doch nicht schwerfallen, an die Hypothese von gewaltigen Seeungeheuern zu glauben. Sie müßten doch der letzte sein, der diesbezüglich Zweifel hegt! «
»Gerade in diesem Punkt irren Sie sich, Herr Professor«, erwiderte er. »Mag ein gewöhnlicher Mensch auch an geheimnisvolle Kometen glauben, die durch den Weltraum sausen, oder an die Existenz vorsintflutlicher Monster, die im Innern unserer Erde hausen, so wird doch kein seriöser Astronom, kein Geologe die Existenz solcher Hirngespinste für möglich halten. Das gleiche gilt für mich als Walfänger. Ich habe viele Wale verfolgt und zahllose harpuniert und getötet, aber egal wie groß und kräftig sie waren: Weder ihre Schwanzflossen noch ihre Zähne hätten den Stahlplatten eines Dampfers etwas anhaben können.«
»Aber man berichtet doch von Schiffen, die vom Zahn des Narwals durchbohrt worden sind.«
»Dann handelte es sich aber bestimmt um Holzschiffe«, entgegnete der Kanadier. »Aber auch solche Schiffe müßte man mir erst persönlich zeigen. Für mich gilt daher: Solange man mir das Gegenteil nicht beweist, behaupte ich, daß Glattwale, Pottwale oder Einhörner solche Wirkungen nicht hervorrufen können.«
»Aber Ned, hören Sie doch …«
»Nein, Herr Professor, nein. Alles, was Sie wollen, nur das nicht. Aber vielleicht ist es ja ein Riesenpolyp … ein …«
»Nein, Ned, das kommt noch weniger in Frage. Ein Polyp ist nichts anderes als eine Molluske, ein Weichtier. Allein diese Bezeichnung zeigt, wie wenig fest sein Fleisch ist. Da der Polyp nicht zu den Wirbeltieren gehört, könnte er auch fünfhundert Fuß lang sein und würde trotzdem noch keine Gefahr für Schiffe wie die Scotia und die Abraham Lincoln darstellen. Die berühmten Überlieferungen von Riesenkraken oder anderer ähnlicher Monster müssen daher ins Reich der Fabeln verwiesen werden.«
»Das heißt also, Herr Naturforscher, daß Sie an Ihrer Meinung festhalten, daß dieser Riesenwal wirklich existiert?« versetzte Ned Land in recht spöttischem Tonfall.
»Ja, Ned, ich bleibe dabei und stütze mich in meiner Überzeugung auf die Tatsachen. Ich glaube an die Existenz eines hoch organisierten Säugers aus dem Stamm der Wirbeltiere wie Glattwal, Pottwal oder Delphin, und ich bin zutiefst davon überzeugt, daß er mit einer aus Horn gebildeten Verteidigungswaffe von außerordentlicher Stärke ausgestattet ist.«
»Hm!« machte der Harpunier und schüttelte den Kopf nach Art eines Menschen, den man nicht so leicht überzeugt.
»Bedenken Sie, mein Bester«, fuhr ich fort, »daß ein solches Tier, sofern es existiert und in den Tiefen des Ozeans beheimatet ist, notwendigerweise über einen Organismus verfügen muß, der an Festigkeit jedem anderen Organismus überlegen ist. Ohne diese Voraussetzungen könnte es sich unmöglich in den Abgründen des Meeres bewegen.«
»Und warum muß der Organismus so kräftig sein?« erkundigte sich Ned Land.
»Weil es einer kaum berechenbaren Kraft bedarf, um sich in den tiefen Wasserschichten zu bewegen und den dort herrschenden Druckverhältnissen standzuhalten.«
»Wirklich?« erwiderte Ned Land augenzwinkernd.
»Ja, wirklich. Und einige Zahlen werden es Ihnen leicht beweisen.«
»Schau an, Zahlen also!« gab Ned Land zurück. »Mit Zahlen läßt sich trefflich alles beweisen.«
»Was das Geschäftsleben betrifft, haben Sie recht, Ned; aber nicht bezüglich der Mathematik. Nehmen wir einmal an, daß der Druck einer Atmosphäre dem Druck einer zweiunddreißig Fuß hohen Wassersäule entspricht, und vernachlässigen wir die Tatsache, daß die Säule in Wirklichkeit eigentlich niedriger wäre, weil Salzwasser eine größere Dichte als Süßwasser hat. Nun, Ned, wenn Sie tauchen, dann muß Ihr Körper pro zweiunddreißig Fuß, die Sie in die Tiefe vorstoßen, eine Atmosphäre mehr Druck ertragen, was jeweils dem Druck von einem Kilogramm entspricht, der auf jeden Quadratzentimeter Ihrer Körperoberfläche ausgeübt wird. Daraus ergibt sich ein Druck von zehn Atmosphären bei dreihundertzwanzig Fuß Tiefe, von hundert Atmosphären bei dreitausendzweihundert Fuß Tiefe und ein Druck von eintausend Atmosphären, wenn Sie zweiunddreißigtausend Fuß hinabtauchen. Dies wiederum hätte zur Folge, daß jeder Quadratzentimeter Ihres Körpers einen Druck von eintausend Kilogramm aushalten müßte, sofern es Ihnen überhaupt gelänge, so weit vorzustoßen. Wissen Sie eigentlich, mein guter Ned, wie viele Quadratzentimeter Oberfläche Ihr Körper hat?«
»Nein, Monsieur Aronnax.«
»Etwa siebzehntausend.«
»So viele?«
»Und da der atmosphärische Druck in Wirklichkeit etwas höher ist als ein Kilogramm pro Quadratzentimeter, müssen Ihre siebzehntausend Quadratzentimeter im Augenblick einem Druck von 17 568 Kilogramm standhalten.«
»Ohne daß ich etwas davon merke?«
»Ohne daß Sie es merken. Und daß Sie unter diesem Druck nicht zerquetscht werden, rührt daher, daß die Luft im Innern Ihres Körpers den gleichen Druck ausübt. Auf diese Weise entsteht ein vollkommenes Gleichgewicht, Außen- und Innendruck neutralisieren sich, und Sie nehmen von alldem nichts wahr. Aber im Wasser verhält es sich anders.«
»Ja, ich verstehe«, antwortete Ned Land, der den Ausführungen inzwischen aufmerksamer folgte. »Weil mich dort das Wasser umgibt, aber nicht in mich eindringt.«
»Exakt, Ned. Somit wären Sie bei zweiunddreißig Fuß unterhalb der Wasseroberfläche einem Druck von 17 568 Kilogramm ausgesetzt, bei dreihundertzwanzig Fuß dem zehnfachen Druck, also 175 680, bei dreitausendzweihundert Fuß dem hundertfachen Druck, also 1756800 Kilogramm, bei zweiunddreißigtausend Fuß dem tausendfachen Druck, was 17 568 000 Kilogramm entspricht. Dies bedeutet, daß Sie platt gedrückt würden wie in einer hydraulischen Presse!«
»Teufel noch mal!« entfuhr es Ned.
»Wenn also Wirbeltiere, die einige hundert Meter lang und dementsprechend dick sind, sich in solchen Tiefen tummeln, dann müßten sie mit ihrer mehrere Millionen Quadratzentimeter großen Körperoberfläche einem Druck von mehreren Milliarden Kilogramm ausgeliefert sein. Und nun, mein werter Harpunier, versuchen Sie sich nur noch vorzustellen, wie kräftig unter diesen Bedingungen das Knochengerüst dieser Tiere und ihr Organismus sein müßte, um solchen Drücken zu widerstehen!«
»Sie müßten mit acht Zoll dicken Stahlplatten beschlagen sein wie Panzerfregatten«, meinte Ned Land.
»Sie sagen es, Ned. Und nun bedenken Sie noch, welch verheerende Zerstörungen eine solche Masse verursachen kann, wenn sie mit der Schnelligkeit eines Expreß-Zuges auf einen Schiffsrumpf trifft.«
»Ja … doch … vielleicht …«, stammelte der Kanadier, den diese Zahlen unsicher gemacht hatten, der aber dennoch nicht klein beigeben wollte.
»Nun, habe ich Sie überzeugt?«
»Sie haben mich von einer Sache überzeugt, Herr Naturforscher, nämlich daß solche Tiere, wenn sie in den Tiefen der Meere vorkommen, notwendigerweise so stark sein müssen, wie Sie es darlegen.«
»Aber wenn es solche Tiere nicht gibt, Sie Dickkopf von Harpunier, wie wollen Sie dann den Unfall der Scotia erklären?«
»Vielleicht …«, zögerte Ned Land.
»Na los, raus mit der Sprache!«
»Vielleicht … ist die Geschichte ja nicht wahr«, entgegnete der Kanadier.
Doch diese Antwort bewies nur die Starrköpfigkeit des Kanadiers, und sonst nichts. An diesem Tag bedrängte ich ihn nicht weiter. Daß die Scotia einen Unfall gehabt hatte, war nicht zu bestreiten. Das Loch in ihrem Rumpf war ja keine Einbildung gewesen und daß man es hatte ausbessern müssen, stellte wohl den besten Beweis für den Schaden dar. Es konnte schließlich nicht von alleine entstanden sein, und da Unterwasserfelsen und unterseeische Maschinen als Ursache nicht in Frage kamen, mußte man ihn auf das Bohrgerät eines Tieres zurückführen.
Für mich war aufgrund meiner zuvor angeführten Überlegungen der Schluß zwingend, daß wir es mit einem Tier zu tun hatten, das zum Stamm der Wirbeltiere, zur Klasse der Säugetiere, zur Gruppe der Fischförmigen und schließlich zur Ordnung der Walartigen gehörte. Welcher Familie es zuzuordnen war, ob Glattwalen, Pottwalen oder Delphinen, zu welcher Gattung und welcher Art es gehörte, erschien mir eine Frage, die später noch geklärt werden konnte. Dafür mußte man das unbekannte Monstrum erst entdecken, was vor allem Aufgabe der Mannschaft war, es harpunieren, was Ned Land oblag, und es schließlich fangen und zerlegen. Bis dahin galt es, sich in Geduld zu üben und auf einen glücklichen Zufall zu hoffen.
Die Fahrt der Abraham Lincoln verlief lange Zeit ohne besondere Zwischenfälle. Dennoch erlebten wir einmal eine Situation, in der Ned Land Gelegenheit bekam, seine vortreffliche Gewandtheit unter Beweis zu stellen, und die uns zeigte, wie sehr auf ihn Verlaß war.
Am 30. Juni traf unsere Fregatte vor den Falklandinseln auf eine Flotte amerikanischer Walfänger, deren Männer jedoch nichts Neues über den Narwal zu berichten wußten. Aber als der Kapitän der Monroe, eines Schiffes der Flotte, erfuhr, daß Ned Land sich an Bord befand, bat er um dessen Hilfe bei der Jagd nach einem Wal, der gerade aufgetaucht war. Da Kommandant Farragut daran lag, Ned Lands Fähigkeiten unmittelbar kennenzulernen, genehmigte er ihm, sich an Bord der Monroe zu begeben. Und wie es der Zufall so wollte: Statt eines Wales harpunierte unser Kanadier in einem Doppelschlag gleich zwei. Den ersten traf er direkt ins Herz, während er den zweiten nach einer kurzen Verfolgungsjagd erlegte.
Nach dieser Demonstration war ich kaum noch geneigt, zugunsten des Monsters zu wetten, falls es Ned Land je vor die Harpune geraten sollte.
Die Fregatte fuhr weiterhin mit beträchtlicher Geschwindigkeit die südöstliche Küste von Südamerika entlang. Am 3. Juli erreichten wir die Einfahrt zur Magellanstraße auf Höhe des Cabo Virgenes. Aber Kapitän Farragut wollte diese gewundene Passage vermeiden und befahl, den Weg um Kap Hoorn herum einzuschlagen.
Diese Entscheidung fand auch die einmütige Zustimmung der Besatzung, denn es schien in der Tat wenig wahrscheinlich, ausgerechnet in dieser schmalen Wasserstraße auf den Narwal zu treffen. Nicht wenige Matrosen äußerten sogar die Auffassung, daß das Ungetüm viel zu dick sei, um sie zu durchqueren.
Am 6. Juli, gegen drei Uhr nachmittags, umschiffte die Abraham Lincoln achtundzwanzig Kilometer weiter südlich das menschenleere Eiland, jenen verlorenen Felsen am äußersten Zipfel des amerikanischen Kontinents, dem holländische Seeleute einst den Namen ihrer Heimatstadt, Hoorn, verliehen hatten. Nun wurde ein nordwestlicher Kurs eingeschlagen, und am nächsten Morgen befand sich die Fregatte endlich im Pazifik.
»Augen auf! Augen auf!« hielten sich die Matrosen der Abraham Lincoln immer wieder gegenseitig zur Wachsamkeit an. Und sie rissen die Augen weit auf! Dabei wurden sie zugegebenermaßen durch die Aussicht auf zweitausend Dollar Belohnung angespornt, so daß sie unermüdlich erkundeten und spähten. Tag und Nacht suchte man die Wasseroberfläche ab, und die Nachtsichtigen hofften auf das große Glück, da sie mit ihrer Fähigkeit, im Dunkeln zu sehen, bedeutend bessere Erfolgsaussichten hatten.
Obwohl mich der Geldköder weniger lockte, war ich dennoch nicht weniger aufmerksam als die anderen. Abgesehen von einigen Minuten, die ich auf das Essen verwendete, und ein paar Stunden Schlaf, die ich mir zuweilen gönnte, stand ich ständig, in Wind und Wetter, an Deck. Mal stand ich an die Back gelehnt, dann wieder beugte ich mich über die Reling und starrte auf das schäumende Kielwasser, das die See teilte, soweit das Auge reichte. Und wie viele Male verfiel ich mit Mannschaft und Offiziersstab in helle Aufregung, wenn ein Wal mit seinem schwärzlichen Rücken aus dem Wasser lugte. In diesen Augenblicken drängte sich alles im Nu auf der Brücke. Matrosen und Offiziere stürzten aus ihren Quartieren an Deck, und jeder von ihnen beobachtete beklommen und mit zweifelndem Blick das schwimmende Tier. Auch ich schaute und schaute, bis mir die Augen schmerzten und aus ihren Höhlen zu quellen drohten: Nur Conseil ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen und blieb bei seinem gewohnten Phlegma.
»Wenn Monsieur so gütig wären, die Augen nicht so weit aufzureißen, dann könnten Monsieur auch besser sehen«, wiederholte er immer wieder.
Jedoch – alle Aufregung war vergebens! Die Abraham Lincoln änderte ihren Kurs, hielt auf das gemeldete Tier zu, bei dem es sich um einen gewöhnlichen Glatt- oder Pottwal handelte, der bald unter einer Flut von Verwünschungen verschwand.
Aber wenigstens das Wetter blieb uns gewogen, so daß die Fahrt weiterhin unter besten Bedingungen verlief. Eigentlich waren wir ja in den Winter der südlichen Halbkugel geraten, denn im Juli herrschen dort unten Bedingungen wie bei uns im Januar, aber trotzdem blieb die See ruhig und ermöglichte uns weit ausgedehnte Beobachtungen.
Ned Land erwies sich weiterhin als außerordentlich halsstarrig. Wenn er nicht gerade zur Bordwache eingeteilt war, schien er die Wasseroberfläche gar nicht zu beachten, zumindest solange sich kein Wal zeigte. Dabei hätte er uns mit seinen scharfen Augen sehr viel nützen können. Aber der Dickkopf zog es vor, seine Freizeit unter Deck mit Lesen oder Schlafen zu verbringen. Und so hielt ich ihm immer wieder seine Gleichgültigkeit vor.
»Pah«, pflegte er dann zu entgegnen, »an der Sache ist doch nichts dran, Monsieur Aronnax, und selbst wenn es ein solches Tier gäbe, welche Chancen hätten wir dann, es zu Gesicht zu bekommen? Angeblich hat man ja diese unauffindbare Bestie auf offener See im Pazifik gesehen, was ich auch gar nicht bestreiten will. Aber seitdem sind zwei Monate vergangen, und wenn man das bisherige Verhalten Ihres Narwals betrachtet, dann scheint er sich nicht gerne allzulange in denselben Gewässern herumzutreiben. Es ist ihm ein leichtes, jederzeit schnell seinen Aufenthaltsort zu wechseln. Herr Professor, Sie wissen besser als ich, daß die Natur nichts Widersinniges tut, und sie würde einem von Natur aus langsamen Wesen nicht eine große Schnelligkeit verleihen, wenn es ihrer nicht bedürfte. Wenn es das Ungetüm wirklich gibt, dann ist es schon weit weg! «
Dem vermochte ich nichts entgegenzuhalten. Ganz offensichtlich tappten wir wie Blinde umher. Aber was blieb uns denn anderes übrig? Daß die Erfolgsaussichten unseres Unternehmens beschränkt waren, lag auf der Hand; dennoch zweifelte keiner an seinem glücklichen Ausgang, und alle Matrosen an Bord wären bereit gewesen, jede Wette auf die Existenz des Narwals und auf sein baldiges Erscheinen einzugehen.
Am 20. Juli überquerten wir auf 105° Länge den Wendekreis des Steinbocks und am 27. desselben Monats den Äquator auf dem 110. Meridian. Nach dieser Peilung schlug die Fregatte einen scharf westlichen Kurs ein und drang in den Zentralpazifik vor. Kapitän Farragut hielt es mit Recht für besser, in den tiefen Gewässern zu verweilen und sich vom Festland oder von Inseln fernzuhalten, deren Nähe das Tier bisher stets gemieden hatte, »wahrscheinlich, weil es dort nicht genug Wasser gibt«, wie es der Zeugwart ausdrückte. Die Fregatte blieb daher weit abseits der Tuamotu-, Marquesas- und Hawaii-Inseln, kreuzte auf 132° Länge den Wendekreis des Krebses und steuerte dann auf die chinesischen Meere zu.
Endlich hatten wir den Schauplatz erreicht, an dem das Ungeheuer seinen letzten Auftritt gehabt hatte. Jetzt kannte die Aufregung kein Halten mehr. Die Herzen der Männer pochten so heftig, daß man um ihre Gesundheit fürchten mußte, ihre Anspannung steigerte sich so weit, daß sie kaum noch zu beschreiben war. An Essen, an Schlafen war nicht mehr zu denken. Mindestens zwanzigmal am Tag führten Fehleinschätzungen, optische Täuschungen der auf den Masten hängenden Matrosen zu heller Aufregung, und es mußte der Augenblick kommen, da diese so häufig auftretende übersteigerte Erregung eine wie auch immer geartete Reaktion hervorrief.
Und diese ließ in der Tat nicht lange auf sich warten. Drei Monate lang, während deren jeder Tag eine Ewigkeit dauerte, durchpflügte die Abraham Lincoln