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Beschreibung

Höchstens 1,5 Grad Erderwärmung: Dieses Ziel wurde 2015 auf dem Klimagipfel von Paris formuliert. Seitdem ist jedoch wenig passiert, im Gegenteil: Der Ausstoß von CO2 ist weiter gewachsen. Die Forschung geht längst davon aus, dass wir auf eine 3 Grad wärmere Welt zusteuern. In diesem Buch hat sich das Who’s who der Wissenschaft von Hans J. Schellnhuber bis Jutta Allmendinger zusammengetan, um darzustellen, was Natur und Gesellschaft droht, wenn es so weit kommt. Doch die Autor*innen verharren nicht bei alarmierenden Zukunftsvisionen, sondern zeigen detailliert auf, wie wir das Schlimmste verhindern können, indem wir - die Abholzung der Regenwälder stoppen, - die Aufforstung v. a. in den Tropen massiv vorantreiben, - die trockengelegten Moore wiedervernässen - und die Humuspools der Böden wieder auffüllen. Ein gleichermaßen aufrüttelndes wie Hoffnung spendendes Buch, attraktiv gestaltet mit zahlreichen Fotos und Infografiken.

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Klaus Wiegandt (Hrsg.)
3 GRAD MEHR
Ein Blick in die drohende Heißzeitund wie uns die Natur helfen kann,sie zu verhindern
Mit Infografiken von Esther Gonstalla
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2022 oekom verlag, Münchenoekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Infografiken: Esther Gonstalla, www.gonstalla.comLektorat: Christoph HirschInnenlayout & Satz: Ines SwobodaKorrektorat: Petra Kienle, Silvia Stammen
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-923-9
Wir danken der Stiftung »Forum für Verantwortung« für die großzügige Förderung der Publikation.
Unseren Enkelkindern Livia, Tim und Theo – stellvertretend für vier Milliarden junge Menschen

Inhalt

Vorwort des Herausgebers
Klaus Wiegandt
TEIL EINS
Heißzeit voraus
Wie eine 3 Grad wärmere Welt aussieht
Klima und Wetter bei 3 Grad mehr
Eine Erde, wie wir sie nicht kennen (wollen)
Stefan Rahmstorf
Biodiversität am Kipppunkt?
Die Reaktion der Tier- und Pflanzenwelt
Bernhard Kegel
Landwirtschaft in einer heißen Welt
Warum Effizienzsteigerungen nicht ausreichen, um unsere Ernährung zu sichern
Ralf Seppelt, Stefan Klotz, Edgar Peiter & Martin Volk
Flucht vor Hitze, Dürre und Extremwetter
Wenn Menschen vor Ort nichts mehr zum Überleben bleibt
Mariam Traore Chazalnoel & Dina Ionesco
Ökonomische Risiken
Über die Folgen der Klimakatastrophe für die Wirtschaft
Leonie Wenz & Friderike Kuik
TEIL ZWEI
Naturbasierte Lösungen
Wie wir eine 3 Grad wärmere Welt noch verhindern können
Stopp der Regenwaldabholzung
Der dringlichste Weg, Klima- und Artenschutz zu kombinieren
Susanne Winter
Aufforstung in den Tropen und Subtropen
Das Wachstumspotenzial der niederen Breiten nutzen
Reinhard Mosandl
Bauhaus für die Erde
Nachhaltige Nutzung von Holz im Bausektor
Hans Joachim Schellnhuber
Moor muss nass
Wiedervernässung vorantreiben, Torfabbau verhindern
Hans Joosten
Humusanreicherung in Böden
Die vielen Wege der regenerativen Landwirtschaft
Stefan Schwarzer & Hans Peter Schmidt
Terrestrische Wasserkreisläufe stärken
Über Verdunstungskühlung als vergessene Klimachance
Stefan Schwarzer
TEIL DREI
Call to Action
Über die Macht informierter Bürger*innen in der Demokratie
Deutschland im Klimastress
Folgen für unser gesellschaftliches Zusammenleben
Jutta Allmendinger & Wolfgang Schroeder
Die Menschen müssen wissen, was auf sie zukommt!
Lösungsansätze, ihre Finanzierbarkeit und die Macht der Zivilgesellschaft
Klaus Wiegandt
Anmerkungen
Über die Autorinnen & Autoren
Dank des Herausgebers

Vorwort des Herausgebers

Zu der Zeit, als ich mich Ende 1998 aus dem Wirtschaftsleben zurückzog, um meine Stiftung »Forum für Verantwortung« zu gründen und mich auf Wissenschaften gestützt mit Grundfragen des Lebens und Themen der Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen, wurde erstmals von Klimawissenschaftlern die Bedeutung des Klimawandels für die gesamte Menschheit im 21. Jahrhundert thematisiert.1 Sechs Jahre zuvor war auf dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro die Bevölkerungsexplosion noch das beherrschende Thema. Der Klimawandel war eine der vielen anderen Herausforderungen im Bereich der Nachhaltigkeit.
Wie ist es möglich, dass wir in den folgenden zwei Jahrzehnten, trotz zunehmenden Wissens über die Gefahren eines ungebremsten Klimawandels »explodierende« CO2-Emissionen relativ gelassen zur Kenntnis nahmen?
Dafür werden viele Erklärungen genannt, vom Verdrängen und Negieren bis zur Hybris, man werde – wie so oft – eine Lösung finden. Meines Erachtens liegt eine Mischung aus »Fehlinformation« und »Gutgläubigkeit« vor: Solange wir im Glauben gelassen werden, dass die eigentlichen Folgen und somit Bedrohungen eines ungebremsten Klimawandels beispielsweise darin liegen, dass der Weltmeeresspiegel bis zum Ende des Jahrhunderts um 35 Zentimeter ansteigt, die Gletscher oder – langfristig – das Grönlandeis abschmelzen, Inselgruppen im Pazifik dem Untergang geweiht sind oder der Eisbär vor dem Aussterben steht, solange kann die Politik ungestraft ihre unzureichenden Klimaschutzmaßnahmen betreiben.
Die größte Gefahr, die durch eine Erderwärmung von 3 Grad Celsius bis zum Ende dieses Jahrhunderts droht, ist allerdings eine Radikalisierung des Wettergeschehens. Drei Grad mehr, was für Landgebiete und damit auch für unsere Breiten im Schnitt zu 6 Grad höheren Temperaturen führen wird, wird das Leben der Menschen in einer nie da gewesenen Dimension verändern und bedrohen. Nur wenn dies der großen Mehrheit der Bevölkerung aufgezeigt und bewusst wird, kann und muss die Politik Maßnahmen in Gang setzen, um die Erderwärmung, soweit es jetzt noch möglich ist, zu begrenzen – am besten auf 1,5 bis maximal 2 Grad Celsius.
Zur Veranschaulichung dessen, was uns bevorsteht, skizzieren die wissenschaftlichen Beiträge in diesem Buch unterschiedliche Erd- und Sozialsysteme in einer um 3 Grad wärmeren Welt.
Sie lassen uns damit aber nicht alleine, sondern zeigen Lösungen auf, wie die Ziele des Pariser Klimavertrages noch erreicht werden können, und zwar unter Einbeziehung der sogenannten naturebased solutions, der naturbasierten Lösungen. Setzen wir auf sie, allen voran auf einen Stopp der Abholzung der Regenwälder, können wir wertvolle Zeit gewinnen, um sozialverträglich gegenzusteuern (und um wichtige Projekte wie die Energiewende oder Rohstoffwende, um nur zwei zu nennen, voranzutreiben). Für ihre Realisierung braucht es zweierlei: politischen Willen sowie eine ausreichende Finanzierung, die über Jahrzehnte sichergestellt wird.
Wie diese Finanzierung gelingen kann, beschreibe ich im abschließenden Kapitel mit dem Blick eines ehemaligen Managers und zeige mögliche Quellen auf. Um es vorweg zu nehmen: Es gibt einige wenige, die von der nichtnachhaltigen Entwicklung, insbesondere der letzten Jahrzehnte, profitiert haben; es ist nur fair, wenn sie es sind, die jetzt die finanzielle Verantwortung übernehmen.
Ich zeige aber auch auf, warum es mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft und den Diskurs2,a) mit ihr nicht gelingen wird, diese Maßnahmen und Summen von einer breiten Bevölkerungsschicht mittragen zu lassen, um eine »3-Grad-Welt«, und damit eine globale Katastrophe, zu verhindern.
Klaus Wiegandt
a) Die Anmerkungen (Quellenangaben) finden Sie kapitelweise am Ende vom Werk.
Stefan Rahmstorf
Klima und Wetter bei 3 Grad mehr
Eine Erde, wie wir sie nicht kennen (wollen)
Was bedeuten 3 Grad globale Erwärmung für uns? Bislang sind wir laut Weltklimarat1 bei 1,1 Grad Erwärmung angelangt, relativ zum späten 19. Jahrhundert (das in diesem Beitrag generell als Basisperiode verwendet wird, weil es auch die Basis für das Paris-Ziel von 1,5 Grad ist). Bereits heute sehen wir viele negative Folgen. Drei Grad Erwärmung wären fast das 3-Fache. Die Folgen wären allerdings erheblich schlimmer als nur das 3-Fache der bisherigen Auswirkungen, wie wir in diesem Beitrag sehen werden.
Eine nützliche Perspektive auf eine Erwärmung um 3 Grad liefert die Erdgeschichte. Man muss nach heutiger Kenntnis rund drei Millionen Jahre zurückgehen, bis ins Pliozän, um eine ähnlich hohe globale Temperatur zu finden. Das deutet schon darauf hin, dass große Teile der heutigen Biosphäre nicht evolutionär an eine derart warme Erde angepasst sind. Viele Arten würden sie nicht überleben. Im Pliozän lebten unsere Vorfahren, die Australopitheci, noch teils auf Bäumen.
Der globale Temperaturverlauf der letzten 20.000 Jahre seit dem Höhepunkt der letzten Eiszeit lässt sich dank zahlreicher Sediment- und Eisbohrkerne inzwischen recht genau rekonstruieren (Abb. 1). Die Grafik zeigt drei wichtige Dinge: (1) Schon die heutigen Temperaturen übersteigen den Erfahrungsbereich des Holozäns und damit der gesamten Zivilisationsgeschichte des Menschen, seit er die Landwirtschaft entwickelte und sesshaft wurde. (2) Die moderne globale Erwärmung ist etwa zehn Mal schneller als die natürliche Erwärmung von der Eiszeit ins Holozän, was eine Anpassung massiv erschwert. (3) Die moderne Erwärmung wird zehntausende Jahre anhalten – es sei denn, es gelingt, aktiv gigantische Mengen an Kohlendioxid wieder aus der Atmosphäre herauszuholen. Modellsimulationen am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), mit denen die Eiszeitzyklen der letzten drei Millionen Jahre (angetrieben von den bekannten Milankovich-Erdbahnzyklen) korrekt wiedergegeben werden, zeigen: Schon jetzt haben wir der Atmosphäre wahrscheinlich genug CO2 hinzugefügt, um damit die ansonsten in 50.000 Jahren fällige nächste Eiszeit zu verhindern. Heizen wir die Erde gar um 3 Grad auf, werden wohl die natürlichen Eiszeitzyklen der nächsten halben Million Jahre ausbleiben. Einige wenige Menschengenerationen verändern unseren Planeten Erde massiv und für lange geologische Zeiträume.
Abbildung 1
Verlauf der globalen Temperatur seit der letzten Eiszeit (etwa 20.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung) und für die kommenden 10.000 Jahre bei einem Szenario mit 3 Grad globaler Erwärmung.2
In Deutschland sind wir inzwischen schon bei rund 2,3 Grad Erwärmung angelangt (Abb. 2). Weil Deutschland ein Landgebiet ist, ist das auch nicht weiter überraschend, denn viele Landgebiete erwärmen sich etwa doppelt so rasch wie der globale Mittelwert, der zu 70 Prozent aus Meerestemperaturen gebildet wird. Die mittlere Erwärmung aller Landgebiete lag 2020 bei 2,0 Grad Celsius. Bei 3 Grad globaler Erwärmung sind bei uns also rund 6 Grad Erwärmung zu erwarten.
Sechs Grad Celsius im Jahresmittel – das ist sehr viel. Damit wäre Berlin wärmer als es Madrid heute ist. Und während manch einer dabei vielleicht von mediterranen Verhältnissen träumt, wird dieses völlig neue Klima den Landwirten und der heimischen Tier- und Pflanzenwelt überhaupt nicht gefallen. Schon die vergangenen drei trockenen Hitzesommer seit 2018 haben zu einem gravierenden Waldsterben geführt.
Abbildung 2
Temperaturverlauf in Deutschland nach den Daten des Berkeley Earth Surface Temperature Project. Das Szenario mit 3 Grad globaler Erwärmung liegt zwischen den hellgrün und orange gefärbten Zukunftsszenarien.3

Extreme Hitze

Noch wichtiger als die mittleren Temperaturen sind die Extreme. Wo die Menschen früher in Deutschland unter einem Hitzerekord von 39 Grad Celsius stöhnten, dürften es dann eher 45 Grad sein. Oder sogar mehr, wenn die Böden ausgetrocknet sind, was die Hitze noch verstärken kann. Der Sommer 2003, der damals als »Jahrhundertsommer« galt, hat in Europa rund 70.000 Hitzetote gefordert.4 Der Gipfel der Übersterblichkeit war in Frankreich (wo der Schwerpunkt der Hitze lag) deutlich höher als die Ausschläge während der Covid-19-Pandemie. Die Stadt Paris musste im August 2003 gekühlte Zelte für die vielen Toten aufstellen, weil die Leichenhäuser überfüllt waren.
Das Kühlsystem des menschlichen Körpers funktioniert durch Schwitzen, also durch die Verdunstung von Wasser an der Hautoberfläche, und diese hängt von Temperatur und Luftfeuchtigkeit ab – je feuchter die Luft bereits ist, desto geringer ist ihre Fähigkeit, weiteren Wasserdampf aufzunehmen und desto schlechter läuft die Verdunstungskühlung. Die relevante Maßzahl für Hitzestress ist die Kühlgrenztemperatur: die tiefste Temperatur, die sich durch direkte Verdunstungskühlung erreichen lässt. Sie heißt auch Feuchtkugeltemperatur, da sie mit einem in nassem Stoff gehüllten belüfteten Thermometer gemessen werden kann.
Die Belastungsgrenze des menschlichen Körpers liegt bei einer anhaltenden Kühlgrenztemperatur von 35 Grad Celsius, doch schon unterhalb von 30 Grad wird es gefährlich, denn wir müssen unsere Körpertemperatur bei circa 37 Grad halten und zudem noch die durch Stoffwechsel und Bewegung im Körper erzeugte Wärme abführen können. In der Hitzewelle 2003 traten in Europa Kühlgrenztemperaturen von 28 Grad Celsius auf.
Bei einer Luftfeuchte von 70 Prozent (typisch für Deutschland im Sommer) wird die selbst für gesunde Menschen nach einigen Stunden tödliche Kühlgrenztemperatur von 35 Grad bei einer Lufttemperatur von 40 Grad Celsius erreicht. Heute wird diese Kühlgrenztemperatur nur selten irgendwo auf der Erde kurzzeitig überschritten, und wenn, dann vor allem am Persischen Golf oder an der mexikanischen Küste. Nach einer aktuellen Studie5 hat sich die Häufigkeit gefährlicher Werte seit 1979 bereits mehr als verdoppelt, und im Persischen Golf haben 2017 erstmals Monatswerte der Meerwassertemperaturen die 35-Grad-Grenze überschritten – die feuchtegesättigte Brise vom Meer kann bei solchen Temperaturen tödlich sein. In Katar dürfen seit Mai 2021 Arbeiter im Sommer zwischen 10 und 15.30 Uhr nicht mehr im Freien arbeiten.
Bei einer globalen Erwärmung um 3 Grad – die wie gesagt auf vielen Landgebieten 6 oder mehr Grad entspricht – werden sich die während Hitzewellen tödlich heißen Gebiete massiv ausweiten, den Aufenthalt im Freien zunehmend gefährlich machen und dadurch zum Beispiel die Feldarbeit in der Landwirtschaft beeinträchtigen.

Extremniederschläge und Dürren

Die Temperaturen verhalten sich noch annähernd linear – das heißt, sie nehmen proportional zu unseren kumulativen Emissionen an Kohlendioxid zu. Leider gilt das für viele Auswirkungen der Erwärmung nicht. Viele physikalische Effekte nehmen mehr als proportional zu. Das gilt etwa für die Fähigkeit der Atmosphäre, Wasserdampf aufzunehmen. Diese wächst exponentiell mit der Temperatur. Das besagt die Clausius-Clapeyron-Gleichung, ein seit dem 19. Jahrhundert bekanntes, elementares Gesetz der Physik über den Sättigungsdampfdruck von Wasserdampf.
Die gleiche Zunahme gilt auch für den »Dampfhunger« der Atmosphäre. Der Dampfhunger ist die Menge an Wasserdampf, die die Luft bei gegebener relativer Luftfeuchte noch aufnehmen kann. Das ist relevant, weil bei der Erderhitzung die relative Luftfeuchte annähernd konstant bleibt, und daher der Dampfhunger exponentiell zunimmt. Es ist dieser Dampfhunger der Luft, der an heißen Tagen die Böden und die Vegetation austrocknen lässt, wodurch Ernten verdorren und die Waldbrandgefahr ansteigt.
Abbildung 3
Seit Jahren herrscht in Kalifornien große Dürre. Verheerende Feuer sind die Folge.6
Extremniederschläge haben auch bereits – wie von Klimamodellen seit drei Jahrzehnten vorhergesagt – in den Messdaten signifikant zugenommen. Das gilt in der weltweiten Summe, ist aber inzwischen auch für viele Regionen der Fall.7 Wegen der stärkeren natürlichen Schwankungen auf regionaler Skala und der kleineren Fallzahl der Extreme wird das Signal umso später statistisch nachweisbar, je kleiner die betrachtete Region ist. Der aktuelle Bericht des Weltklimarats zählt auch Mittel- und Nordeuropa zu den Regionen, in denen eine Zunahme schon nachweisbar ist. Eine Studie der ETH Zürich zeigte 2020 auch für Deutschland, die Niederlande und die Schweiz, dass in diesen Ländern eine statistisch relevante Zunahme von Extremregenereignissen beobachtet wird.8
Insgesamt nehmen Niederschläge weltweit mit der Erwärmung zu, weil die Verdunstungsrate von den Ozeanen um rund 3 Prozent pro Grad ansteigt. Fast die gesamte Zunahme kommt allerdings in Starkregenereignissen vom Himmel, für die es auf die Wasserdampfmenge in gesättigten Luftmassen ankommt, die laut der erwähnten Clausius-Clapeyron-Gleichung um 7 Prozent pro Grad Erwärmung zunimmt – also rascher als der Wassernachschub durch Verdunstung. Dadurch nimmt Starkregen zu, Tage mit geringem Niederschlag nehmen tendenziell ab und Perioden ohne Niederschlag werden länger. Insgesamt nehmen daher sowohl Starkregenereignisse als auch Dürreperioden zu.
Die Zerstörungen, die Extremniederschläge anrichten können, sind in Deutschland zum Beispiel durch die Elbeflut 2002, die große Flut an Donau und Elbe 2015, die Sturzflut in Braunsbach 2016 sowie die verheerende Ahrtalflut 2021 vor Augen geführt worden.
Bei den Niederschlägen gibt es zudem große regionale und saisonale Unterschiede. Bestimmte Regionen wie der Mittelmeerraum, der mittlere Westen der USA, Südafrika und Australien trocknen zunehmend aus. Für die Landwirtschaft und natürliche Ökosysteme ist die Dürre als Verlust von Bodenfeuchte und Austrocknung der Vegetation relevant. Eine so verstandene Dürre nimmt selbst bei unveränderten Niederschlägen zu, weil in einem wärmeren Klima der Wasserverlust durch Verdunstung ansteigt. Auch für Dürre sieht der aktuelle IPCC-Bericht bereits eine beobachtete und durch die anthropogene Erwärmung verursachte Zunahme für den überwiegenden Teil der Landgebiete der Erde.
Zu dem simplen Mechanismus, dass warme Luft mehr Wasserdampf aufnehmen kann, kommen Veränderungen der atmosphärischen Dynamik hinzu. Aktuelle Forschung deutet darauf hin, dass die Persistenz, also die Andauer bestimmter Wetterlagen, in den letzten Jahrzehnten in großen Teilen Europas zugenommen hat.9 So wird aus einigen heißen Tagen eine gesundheitsgefährdende Hitzewelle oder aus einer trockenen Phase eine anhaltende Dürre. Diese zunehmende Persistenz wird auf eine Verlangsamung der allgemeinen Westwindzirkulation einschließlich des Jetstreams im Sommer zurückgeführt, die wahrscheinlich mit der starken Erwärmung der arktischen Landgebiete zusammenhängt.10 Nach einer aktuellen Studie hat sich die Arktis in den letzten 40 Jahren sogar viermal stärker erwärmt als der Rest des Globus,11 was das Temperaturgefälle von den Tropen zur Arktis verringert, das die Westwinde der mittleren Breiten antreibt. Hinzu kommen gelegentlich stark aufgeschaukelte Wellen im Jetstream, die um die ganze Nordhalbkugel herum reichen und dort zu gleichzeitigen Extremen führen.12
Ein Albtraumszenario mancher Klimaforscher ist eine gleichzeitige Dürre mit Ernteausfällen in den großen Kornkammern der Nordhalbkugel im Westen Nordamerikas und Russlands, in Westeuropa und der Ukraine.13 Schon in der Dürre- und Brandkatastrophe im Sommer 2010 hat Russland den Export von Getreide wegen der Ernteausfälle eingestellt, was die Preise bei den Abnehmern in Nordafrika massiv in die Höhe trieb und damit zum »Arabischen Frühling« beigetragen hat, der sich auch an hohen Brotpreisen entzündete. Auch die Revolte in Syrien, die im März 2011 begann, folgte auf die schlimmste Dürre dort in der mehr als hundertjährigen Geschichte der Wetteraufzeichnungen.14 Konflikthafte, schwache Staaten können durch Extremereignisse und Ernteausfälle destabilisiert werden, mit Auswirkungen auf die Weltpolitik.

Tropische Wirbelstürme

Tropische Wirbelstürme sind eine erhebliche Gefahr in den tropischen und subtropischen Regionen der Erde. So hat im September 2017 der Kategorie-5-Hurrikan Maria große Teile der Insel Puerto Rico zerstört und mehr als 3.000 Menschenleben gekostet. Die Erderwärmung lädt tropische Wirbelstürme mit zusätzlicher Energie auf – denn ihre Zerstörungskraft ziehen diese Stürme aus der im oberen Ozean gespeicherten Wärmeenergie. Deshalb entstehen sie nur in Regionen mit Wassertemperaturen über 26,5 Grad; in gemäßigteren Breiten ist das Meerwasser bislang schlicht zu kalt. Daher haben Klimaforscher seit Jahrzehnten vorhergesagt, dass Tropenstürme stärker werden würden. Lange ließ sich eine Zunahme allerdings nicht mit Daten belegen. Nicht, weil die Daten keine Zunahme zeigten (das taten sie), sondern weil unklar war, wie verlässlich die älteren Daten die Stärke von Tropenstürmen abbilden und ob womöglich vor der Satellitenära manche Tropenstürme fern von Landgebieten gar nicht erfasst wurden.
Doch inzwischen ist eine echte klimatische Zunahme der Tropensturmstärken in den Daten nachweisbar.15 Der aktuelle IPCC-Bericht konstatiert erstmals, dass der Anteil besonders starker Tropenstürme (Kategorien 3 bis 5) zugenommen hat, wofür der anthropogene Klimawandel die Hauptursache ist. Wer die äußerst vorsichtigen und zurückhaltenden Aussagen des IPCC aus früheren Berichten dazu kennt, versteht die Bedeutung dieser Folgerung. Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass Tropenstürme sich rascher verstärken können, langsamer fortbewegen (wodurch Bereiche unter dem Sturm länger betroffen sind) und in höhere Breitengrade vordringen – in Europa zum Beispiel vor die Küste Portugals.
Schon länger unstrittig ist, dass die extremen Niederschläge, die oft der Hauptgrund für die Verwüstungen durch Tropenstürme sind, durch die Erwärmung zugenommen haben, wofür wiederum die Clausius-Clapeyron-Gleichung herangezogen werden kann und hier auch besonders die Zunahme der Verdunstung von wärmerem Meerwasser unter dem Sturm. Hurrikan Harvey flutete im August 2017 Houston und wurde gleichauf mit Hurrikan Katrina 2005 (Abb.5) in New Orleans zum teuersten Tropensturm der US-Geschichte (125 Milliarden US-Dollar Schaden). Harvey brachte die ergiebigsten Niederschläge, die jemals in den USA gemessen wurden: Das Maximum lag bei 1.539 Millimeter Niederschlag innerhalb von 4 Tagen. Zum Vergleich: die 3-Tages-Niederschlagssumme im Ahrtal lag bei der Flut im Juli 2021 bei 115 Millimeter.
Ebenfalls unstrittig ist, dass der steigende Meeresspiegel durch die Erderhitzung die Sturmfluten verschlimmert, die durch Tropen- oder andere Stürme verursacht werden. Gerade die letzten zusätzlichen Dezimeter verursachen oft die höchsten Schäden, wenn das Wasser in Gebiete vordringt, wo bislang niemand mit einer Sturmflutgefahr gerechnet hat. Wie etwa bei Hurrikan Sandy 2012, dessen Sturmflut Tunnel der New Yorker U-Bahn flutete. Oder Taifun Haiyan, dessen Sturmflut 2013 die Stadt Tacloban auf den Philippinen dem Erdboden gleichmachte und über 6.300 Todesopfer forderte.
Abbildung 4
Blick auf das von Hurrikan Katrina verwüstete und überflutete New Orleans.16

Meeresspiegel und Eisschilde

Auch in Sachen Meeresspiegel hilft die Perspektive der Erdgeschichte. Im Pliozän vor drei Millionen Jahren war der Meeresspiegel zwischen 5 und 25 Meter höher als heute, weil es viel weniger Eis auf den Kontinenten gab. Umgekehrt war der Meeresspiegel auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit vor 20.000 Jahren 120 Meter niedriger als heute. Die derzeit vorhandenen Kontinentaleismassen, vor allem in der Antarktis und Grönland, sind derart groß, dass sie genug Wasser für 65 Meter globalen Meeresspiegelanstieg liefern können.
Unsere Australopitheci-Vorfahren im Pliozän dürfte der höhere Meeresspiegel wohl kaum gestört haben. Doch an den gegenwärtigen Küstenlinien unseres Planeten liegen mehr als 130 Millionenstädte, dazu andere Infrastrukturen wie Häfen, Flughäfen und rund 200 Kernkraftwerke mit Meerwasserkühlung (wie Sizewell B an der britischen Nordseeküste). Schon ein Meter Meeresanstieg wäre eine Katastrophe. Bislang beträgt der Anstieg seit dem späten 19. Jahrhundert rund 20 Zentimeter, was an manchen Küsten bereits Probleme verursacht. Nicht nur während Sturmfluten, sondern sogar im Rahmen der normalen Gezeitenzyklen, durch die zum Beispiel in Städten an der Ostküste der USA gelegentlich Straßen unter Wasser stehen, was man dort »nuisance flooding« nennt – kein Desaster, aber lästig.
Beim Meeresspiegelanstieg sieht es so aus, dass die Geschwindigkeit des Anstiegs (zumindest bislang) annähernd proportional zum Temperaturanstieg zunimmt. Das heißt, nach 3 Grad Erwärmung dürfte der Meeresspiegel grob geschätzt etwa dreimal so schnell steigen wie heute. Das liegt unter anderem daran, dass die Kontinentaleismassen umso schneller schmelzen, je wärmer es wird. Der Anstieg des Meeresspiegels beschleunigt sich bereits – das ist nicht nur in den langen Datenreihen der Hafenpegel sichtbar, sondern inzwischen sogar innerhalb der erst seit 1993 laufenden Satellitenmessungen (Abb. 5).
Allerdings gibt es auch hier komplexere Effekte, die dieser einfachen Logik noch eins draufsetzen. Denn Eis schmilzt nicht einfach nur an der Oberfläche, es rutscht auch ins Meer, oder besser: es fließt wie ein zäher langsamer Fluss. Gelangt Schmelzwasser unter das Eis, verringert dies die Bodenreibung und das Eis fließt rascher. Entsprechend steigt auch der Meeresspiegel noch schneller an. In der Antarktis verschwinden außerdem nach und nach die auf dem Meer schwimmenden Eisschelfe, die den Auslassgletschern vorgelagert sind, weil sie im wärmeren Meerwasser von unten abschmelzen. Die Eisschelfe wiederum bremsen das Nachfließen von weiterem Kontinentaleis, sodass sich nach ihrem Verschwinden die Eisströme ins Meer beschleunigen.
Abbildung 5
Entwicklung des globalen Meeresspiegels, von Hafenpegeln (blau) sowie von Satelliten (orange) gemessen. In den letzten 60 Jahren hat sich der Anstieg kontinuierlich beschleunigt.17
Und es wird noch komplizierter: Das Kontinentaleis hat Kipppunkte. Ein Kipppunkt ist der Punkt, an dem die weitere Entwicklung in einen grundlegend anderen Zustand zum unaufhaltsamen Selbstläufer wird, angetrieben durch selbstverstärkende Rückkopplungseffekte. Der Eispanzer auf Grönland hat einen solchen Kipppunkt, ab dem er komplett abschmelzen wird. Die verstärkende Rückkopplung besteht darin, dass die Oberfläche des rund 3.000 Meter dicken Eisschilds automatisch in immer tiefere und damit wärmere Luftschichten gelangt, je mehr die Eisdicke abnimmt. Daher wird ab einem bestimmten Punkt das Eis komplett abschmelzen, auch ohne weitere Erderwärmung. Im Endergebnis wird der globale Meeresspiegel durch den Verlust des Grönlandeises um 7 Meter ansteigen. Dieser Kipppunkt liegt wahrscheinlich irgendwo zwischen 1 und 3 Grad globaler Erwärmung.18
Ähnlich sieht es mit dem Westantarktischen Eisschild aus – hier geht es um weitere 3 Meter Meeresanstieg, allerdings durch einen anderen Rückkopplungseffekt, die marine Eisschildinstabilität, durch die Kontinentaleis in unaufhaltsames Rutschen geraten kann. Es gibt Studien, die nahelegen, dass dieser Kipppunkt bereits überschritten und damit der Verlust dieses Eisschilds schon ausgelöst sein dürfte.19
Der aktuelle IPCC-Bericht erwartet bei einer Erwärmung von 3 Grad Celsius einen Meeresspiegelanstieg von 70 Zentimetern (gegenüber dem späten 19. Jahrhundert) vor dem Ende dieses Jahrhunderts. Die 1-Meter-Marke wird danach bereits zwischen 2100 und 2150 gerissen. Beim Meeresspiegelanstieg gibt es aber erhebliche Risiken nach oben – das heißt, es könnte noch viel schlimmer kommen, wenn große Eismassen vor allem in der Antarktis destabilisiert werden. Der IPCC schreibt, dass bei hohen Emissionen selbst mehr als 2 Meter bis 2100 und sogar 5 Meter bis 2150 nicht ausgeschlossen werden können, also eine globale Katastrophe von unvorstellbaren Ausmaßen.
Diese Risikobetrachtung ist neu beim IPCC. Noch im 4. Bericht von 2007 hatte er beim höchsten Emissionsszenario eine Spanne von 26 bis 59 Zentimetern zwischen 1990 und 2100 angegeben, was relativ zum späten 19. Jahrhundert etwa 41 bis 74 Zentimetern entspricht (und das in einem Emissionsszenario mit bis zu 5,2 Grad Erwärmung). Zum Risiko von Eisrutschung schrieb der IPCC, dass dadurch möglicherweise 10 bis 20 Zentimeter hinzukommen könnten, sodass bis 2100 selbst bei extremer Erwärmung jedenfalls mit weniger als 1 Meter zu rechnen war.
Eine Reihe von Kollegen, darunter auch ich, waren damals der Meinung, dass der IPCC die Meeresspiegelrisiken erheblich unterschätzt – nicht zuletzt weil der gemessene bisherige Anstieg bereits rund 50 Prozent schneller verlief als in den Modellszenarien des IPCC. Zudem ging der IPCC davon aus, dass die Antarktis praktisch nichts zum künftigen Anstieg beitragen würde, auch dies in Kontrast zu dem von Satellitendaten bereits gezeigten Eisverlust. Wer in der Klimaforschung manche Dinge pessimistischer einschätzt als der traditionell sehr vorsichtige IPCC, muss aber damit umgehen, in manchen Medien des »Alarmismus« bezichtigt zu werden – auch wenn die Einschätzung korrekt ist und später vom IPCC auch geteilt wird.
Der aktuelle IPCC-Bericht warnt weiter, dass der Meeresspiegel für Jahrtausende weiter steigen wird, nachdem die globale Temperatur stabilisiert wurde, und dass der Anstieg über menschliche Zeiträume unumkehrbar ist – und dies mit »sehr hoher Sicherheit«. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem wegweisenden Urteil 2021 zum Klimaschutz die Generationengerechtigkeit betont. Beim Meeresspiegelanstieg müssen unzählige Generationen nach uns unter den Folgen unserer heutigen Entscheidungen leiden. Und zwar nicht nur wegen eines höheren Meeresspiegels, an den man sich im Laufe eines Jahrhunderts anpassen könnte. Sondern weil der Meeresspiegel jahrtausendelang weiter steigen wird, bei 3 Grad Erwärmung um etwa einen Meter pro Jahrhundert, was die Küstenzonen der Erde erodiert, Strände wegspült, jede Infrastruktur mit ständig wachsenden Sturmflutrisiken bedroht und dauerhafte Küstenstädte, wie wir sie heute noch kennen, kaum mehr möglich macht.

Die Kipppunkte des Klimasystems

Bei den Eisschilden haben wir bereits zwei Kipppunkte des Klimasystems erwähnt, bei denen die weitere Entwicklung zum unaufhaltsamen Selbstläufer wird und damit außer Kontrolle gerät. Solche Kipppunkte gibt es noch mehr, denn letztlich braucht man dazu lediglich eine verstärkende Rückkopplung, eine simple Nichtlinearität, wie sie in vielen physikalischen Systemen vorkommt. Zum Beispiel wird ein Kajak sich wieder aufrichten, wenn man es ein wenig zur Seite neigt – es stabilisiert sich selbst in einer horizontalen Lage und widersetzt sich dem Versuch, es zu kippen. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt – ab da dreht es sich von selbst weiter und stabilisiert sich nun in einer neuen Lage: kopfunter. Dieser kritische Punkt ist buchstäblich der Kipppunkt.
Auch Grönland hat unter heutigen Klimabedingungen zwei stabile Gleichgewichte: mit dem Eispanzer, wie wir ihn heute kennen, und ohne Eisschild. Das Eis stabilisiert sich selbst, weil es einmal da ist und die Oberfläche wegen der 3.000 Meter dicken Eisschicht so kalt ist, dass es nicht schmilzt. Das bezeichnet man als Eishöhen-Rückkopplung. Wäre das Eis dagegen weg, wäre das dann nahe Meeresniveau liegende Grönland nicht kalt genug, um einen neuen Eispanzer zu bilden, und bliebe dauerhaft eisfrei. Entstanden ist der grönländische Eisschild in einem kälteren Klima während einer der früheren Eiszeiten.
Solche Kipppunkte gibt es nicht nur in der Physik, sondern ebenso für Ökosysteme, die sich selbst stabilisieren, aber auch »umkippen« können, wenn eine Belastungsgrenze überschritten wird. Auch der menschliche Körper reguliert selbst seine Temperatur – bis zu einer kritischen Belastungsgrenze, oberhalb derer die Selbstkühlung überlastet ist, zunehmend Organe versagen und der Mensch schließlich stirbt. Auch wir haben also unseren persönlichen Kipppunkt. Das gilt auch für Gesellschaften – der Fall der Mauer war ein Kipppunkt des DDR-Staates. Dabei beschreibt der Begriff Kipppunkt keine Wertung, sondern lediglich eine bestimmte Art von Dynamik; die angestoßene Veränderung kann natürlich auch wünschenswert sein, das liegt im Auge des Betrachters.
Eine Übersicht der wichtigsten Kipppunkte des Klimasystems zeigt Abbildung 6. Bei all diesen Kipppunkten besteht ein Risiko, dass sie bei 3 Grad Erderhitzung überschritten werden. Bei einigen, wie dem Grönlandeis und dem Westantarktischen Eisschild, ist dies sogar sehr wahrscheinlich, bei der sommerlichen Meereisdecke der Arktis und den Korallenriffen der Erde sogar sicher. Der IPCC kommt zum Schluss, dass schon bei 2 Grad Erwärmung so gut wie alle Korallenriffe absterben; bei Begrenzung auf 1,5 Grad könnten wir noch 10 bis 30 Prozent der Korallen retten. Bereits seit 2015 befindet sich unser Planet in einem globalen Korallensterben.20 Die Atlantikzirkulation (oft auch Golfstromsystem genannt) ist eine große Umwälzbewegung des Atlantischen Ozeans, bei der warmes Oberflächenwasser vom Südatlantik über den Äquator bis in den hohen Norden des Atlantiks strömt, wo es abkühlt und Wärme an die Luft abgibt. Das Ganze funktioniert wie eine Zentralheizung für den Nordatlantikraum bis hinein nach Europa. Gefährdet ist diese Strömung vor allem durch Süßwassereintrag durch verstärkte Niederschläge und Eisschmelze. Süßwasser ist leichter als Salzwasser und behindert damit das Absinken des Wassers in die Tiefe und somit den Antrieb der Atlantikzirkulation.
Abbildung 6
Einige der wichtigsten Kippelemente des Klimasystems. Die Pfeile deuten auf Wechselwirkungen hin, wodurch die Teilsysteme sich gegenseitig zum Umkippen bringen könnten.21
Abbildung 7
Korallenbleiche am Rande des Great Barrier Reef nahe der australischen Stadt Townsville. Ab circa 2 Grad Erwärmung könnten alle Korallenriffe absterben.22
Modelle lassen eine Abschwächung der Strömung durch die globale Erwärmung erwarten, deren Ausmaß aber unsicher ist und von sehr gering bis 50 Prozent in diesem Jahrhundert reicht. Es gibt ernsthafte Hinweise, dass viele Modelle die Stabilität des Golfstromsystems systematisch überschätzen. Eine auffallende Abkühlung des Wassers im subpolaren Nordatlantik seit Mitte des 20. Jahrhunderts deutet auf eine Abschwächung um bislang 15 Prozent hin.23 Eine 2021 erschienene Studie sieht bereits Anzeichen dafür, dass wir uns dem Kipppunkt der Atlantikzirkulation nähern. Wenn sich dies bestätigt, ist dies äußerst beunruhigend.24
Die Folgen eines Abreißens der Strömung wären massiv und unabsehbar, sie reichen von Extremwetter in Europa über den Kollaps wichtiger Ökosysteme im Nordatlantik bis zu verstärktem Meeresspiegelanstieg an der US-Küste (bis zu einem Meter zusätzlich).
Die Regenwälder der Amazonasregion sind bereits heute direkt vom Klimawandel betroffen. Satellitendaten und Messungen vor Ort haben gezeigt, dass zunehmende Dürren den Amazonaswald von einer Kohlenstoffsenke in eine Kohlenstoffquelle verwandeln.25 Bereits heute sind Teile der Baumbestände den neuen Klimabedingungen nicht gewachsen und sterben ab. Mindestens genauso bedeutend ist die Expansion der Landwirtschaft und die damit verbundene Entwaldung, welche die Auswirkungen des Klimawandels noch verstärkt. Dadurch verliert der Amazonaswald bei weiter fortschreitender Abholzung an Resilienz. Der Kipppunkt, der zu weiträumigem Verlust dieses einzigartigen Ökosystems führt, wird bei umso geringerer globaler Erwärmung erreicht, je mehr abgeholzt wird. Der heutige Waldverlust wird bereits auf 20 Prozent beziffert.
Bei zunehmender Erwärmung können auch die an kalte Klimabedingungen angepassten Nadelwälder des Nordens zunehmend in ihrer Existenz gefährdet sein, unter anderem durch Feuer und Insektenbefall. In den letzten Jahren gab es bereits ausgedehnte Waldbrände in Kanada (z. B. in Fort McMurray 2016) und Russland (2010 im europäischen Teil) und sogar innerhalb des Polarkreises (2017 in Grönland, 2018 in Schweden). In der Übergangszone des nördlichen Waldgürtels zur Steppe ist die Regeneration des Baumbestandes möglicherweise durch zunehmende Trockenheit und Hitzestress gefährdet.
Aktuell im Brennpunkt der Forschung ist das Risiko einer Kaskade von Kipppunkten, die sich wie Dominosteine gegenseitig auslösen. So könnte die Eisschmelze im Nordpolarmeer und auf Grönland das Nordatlantikwasser soweit mit Süßwasser verdünnen, dass die Atlantikzirkulation zum Versiegen gebracht wird.
Dies wiederum würde die tropischen Niederschlagsgürtel verschieben und könnte Teile des Amazonaswaldes sowie die Monsune destabilisieren. Und als sei dies nicht genug, könnte dies die Eisschilde der Antarktis über ihren Kipppunkt treiben. Eine quantitative Einschätzung dieser Risiken ist bislang noch nicht möglich.
Auch der IPCC misst den Kipppunkten eine stark wachsende Bedeutung bei. Wurde der Begriff »tipping point« im 5. IPCC-Bericht nur 27 Mal erwähnt, waren es im 6. Bericht schon 97 Nennungen.
Abbildung 8
Im ungewöhnlich warmen Sommer 2004 kam es im Noatak National Preserve (Alaska) zu Auftauvorgängen im Permafrost; in der Folge sackte der Boden auf breiter Front ab.26

Selbstverstärkung der Erderhitzung

In der Öffentlichkeit wird stark diskutiert, ob nicht nur Teilsysteme umkippen könnten, sondern sogar die Erderwärmung insgesamt ab einem kritischen Punkt zum unaufhaltsamen Selbstläufer wird. Meist wird hier die Freisetzung von Methan aus Permafrost als verstärkende Rückkopplung genannt. Im Jahr 2018 erschien eine Aufsehen erregende Studie dazu im Fachjournal Proceedings of the National Academy, die als »Heißzeitstudie« durch die Medien ging.27 »Heißzeit« wurde daraufhin sogar zum Wort des Jahres 2018 gewählt.
Die Studie untersuchte, wie stark die in den Klimamodellen noch nicht berücksichtigten Rückkopplungseffekte im Kohlenstoffkreislauf die Erderhitzung noch verstärken könnten. Abgeschätzt wurde dabei nicht nur die Methanfreisetzung aus Permafrost, sondern auch die CO2-Freisetzung aus absterbenden oder brennenden Wäldern und eine abnehmende CO2-Aufnahme der Ozeane.
Die Permafrostregion ist ein global bedeutender Kohlenstoffspeicher, der 1.300 bis 1.600 Milliarden Tonnen Kohlenstoff enthält und damit wahrscheinlich 50 Prozent des gesamten im Boden gespeicherten Kohlenstoffs weltweit. Die Permafrostgebiete haben sich zwischen 1990 und 2016 bereits um bis zu 4 Grad Celsius erwärmt. Wenn der Permafrost auftaut, wird der Bodenkohlenstoff durch Mikroben zersetzt. Dadurch könnte der im Permafrost gespeicherte Kohlenstoff bis zum Jahr 2100 um 15 Prozent reduziert werden.
Abschätzungen zum gespeicherten Kohlenstoff in lebendem und totem Pflanzenmaterial in der Amazonasregion (Summe ober- und unterirdisch) belaufen sich auf 80 bis 120 Milliarden Tonnen. Würde dieser gespeicherte Kohlenstoff im Extremfall komplett freigesetzt, entspräche dies derjenigen Menge an fossilen CO2-Emissionen, die aktuell in 8 bis 12 Jahren in die Atmosphäre gelangen.
Das Ergebnis der Berechnungen (das leider in vielen Medienberichten etwas zu kurz kam) war, dass aus einer Erwärmung um 2 Grad eine um bis zu 2,5 Grad werden könnte – wenn, wie vorhin erwähnt, sich der Kohlenstoffkreislauf verändert und Rückkopplungen ausgelöst werden. Das ist keineswegs harmlos und verschärft die Klimakrise erheblich – es bedeutet aber nicht, dass ein globaler Kipppunkt zu einer galoppierenden Erwärmung überschritten wird. Dieses Risiko gilt zum Glück nach wie vor als sehr gering, wenn auch nicht völlig auszuschließen.
Das Methanproblem ist auf jeden Fall ernst zu nehmen, aber in diesem Jahrhundert wahrscheinlich weniger dramatisch. Langfristig hingegen schon, denn der auftauende Permafrost wird eine für viele Jahrhunderte nicht zu kontrollierende Quelle von Treibhausgasemissionen schaffen, die zu weiterer Erwärmung führen dürfte, auch nachdem die direkten anthropogenen Emissionen auf null reduziert worden sind.

Fazit

Ohne sofortige, entschiedene Klimaschutzmaßnahmen könnten bereits meine Kinder, die derzeit das Gymnasium besuchen, eine 3 Grad wärmere Erde erleben. Niemand kann genau sagen, wie diese Welt aussehen würde – zu weit wäre sie außerhalb der gesamten Erfahrung der Menschheitsgeschichte. Doch ziemlich sicher wäre diese Erde voller Schrecken für die Menschen, die sie erleben müssten. Wetterchaos mit tödlichen Hitzewellen, verheerenden Monsterstürmen und anhaltenden verbreiteten Dürren, die weltweite Hungerkrisen auslösen könnten. Steigende Meeresspiegel, die unsere Küsten verwüsten. Umkippende Ökosysteme, verheerendes Artensterben, brennende und verdorrende Wälder, versauerte Ozeane. Failed States, riesige Menschenzahlen auf der Flucht.
Das klingt finster und dystopisch und es fällt mir schwer, das zu schreiben, während ich an meine Kinder denke. Aber es ist wahrscheinlich. Das meiste wurde schon lange vorhergesagt und ist in für die Betroffenen durchaus nicht harmlosen Anfängen längst zu beobachten. Man muss nur nüchtern der Tatsache ins Auge blicken, dass die geschilderten Verhältnisse in einer 3-Grad-Welt höchstwahrscheinlich nicht »nur« drei Mal schlimmer als in einer 1-Grad-Welt sein werden, wofür die nicht linearen Effekte und die Kipppunkte sorgen werden. Ich bin nicht sicher, ob das halbwegs zivilisierte Zusammenleben der Menschen, wie wir es kennen, unter diesen Bedingungen noch Bestand haben wird. Ich persönlich halte eine 3-Grad-Welt für eine existenzielle Gefahr für die menschliche Zivilisation.
Was Hoffnung macht, ist, dass diese 3-Grad-Welt kein unvermeidliches Schicksal ist. Noch ist es sogar möglich, die Erwärmung auf nahe der 1,5-Grad-Marke zu begrenzen – was 2015 in Paris von allen Ländern einstimmig beschlossen wurde und wozu hierzulande fast alle Politiker Lippenbekenntnisse abgeben. Die weltweite Klimapolitik macht durchaus Fortschritte: Mit den beim Klimagipfel in Glasgow angekündigten Maßnahmen rückt die Begrenzung auf 2 Grad in Reichweite, wenn diese Maßnahmen nicht nur versprochen, sondern konsequent umgesetzt werden. Doch die Begrenzung auf 2 Grad reicht nicht aus. Um das 1,5-Grad-Ziel einzuhalten, muss die Welt endlich in den ernsthaften Krisenmodus schalten, wie die jungen Menschen von Fridays for Future völlig zu Recht einfordern. Klimaschutz muss dazu die höchste Priorität bekommen.
Bernhard Kegel
Biodiversität am Kipppunkt?
Die Reaktion der Tier- und Pflanzenwelt
Die Lebewesen, die diesen Planeten zu Lande und zu Wasser bewohnen, sind eng und auf vielfältige Weise mit seiner Atmosphäre und dem darin herrschenden Klima verbunden. Marine Einzeller, die Cyanobakterien, sorgten vor vielen Hundert Millionen Jahren dafür, dass sich der als Nebenprodukt ihrer Photosynthese entstehende Sauerstoff über lange Zeit in der Atmosphäre anreicherte, und schufen so erst die Voraussetzungen für die Entstehung komplexerer Organismen. Indem sie diesen Sauerstoff veratmen und zur Energieproduktion nutzen, sind Lebewesen zugleich bedeutende Produzenten von Kohlendioxid. Auch Methan ist zu wesentlichen Teilen ein Produkt von Lebewesen, denn es entsteht unter anderem bei der mikrobiellen Zersetzung organischer Substanz. Damit sind die wichtigsten Treibhausgase nicht zuletzt ein Produkt biologischer Prozesse. Angesichts der großen Probleme, die ein anthropogen verursachter Anstieg der Treibhausgaskonzentrationen verursacht, wird oft vergessen, dass es eben diesem von CO2, Wasserdampf, Methan und anderen Gasen verursachten Treibhauseffekt zu verdanken ist, dass auf der Erde überhaupt erträgliche Temperaturen herrschen. Gäbe es diesen Effekt nicht, würde unser Planet als kalter Fels- oder Eisball durch das All rasen und wäre wohl bestenfalls von kälteresistenten Mikroben bewohnt.
Das Klima bestimmt über die Verteilung der Lebewesen auf dem Planeten, auf den Kontinenten vor allem durch die Verteilung des Wassers. Ändert sich das Klima, hat das unmittelbare Auswirkungen auf die Zusammensetzung, Beschaffenheit, zeitliche Organisation und räumliche Verteilung der auf der Erde existierenden Lebensgemeinschaften. Diese Vorgänge untersucht eine noch junge Disziplin innerhalb der Biologie. »Climate Change Biology«, definiert Lee Hannah in seinem gleichnamigen Buch, »ist das Studium der Auswirkungen klimatischen Wandels auf natürliche Systeme.«1 Natürlich geht es dabei vor allem um die Folgen des aktuellen Klimawandels, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vom Menschen ausgelöst wurde. Um die Veränderungen, die auf uns und die Organismen der Erde zukommen, verstehen und richtig einordnen zu können, blickt die Climate Change Biology aber auch weit zurück in die erdgeschichtliche Vergangenheit, untersucht die Veränderungen der Organismenwelt heute und versucht zukünftige Entwicklungen mithilfe modernster Computertechniken zu modellieren.2
Der prominente Paläobotaniker John W. Williams hat die Möglichkeiten, die Pflanzen und Tieren in einem sich verändernden Klima bleiben, wie folgt beschrieben: »move, adapt, persist, or die« (»bewege dich, passe dich an, halte durch oder stirb«)3, vier Optionen, die uns im Folgenden helfen sollen, die Vielfalt der Reaktionen einzuordnen, die die Climate Change Biology in der Natur untersucht.

Verschiebungen der Verbreitungsgebiete (move)

Seit Jahren beobachten Biologen in aller Welt, dass die Verbreitungsgebiete von Pflanzen- und Tierarten in Bewegung geraten sind. Diese sogenannten Range-shifts sind auch aus früheren Zeiten mit steigenden oder fallenden Temperaturen bekannt und in der Fossilüberlieferung gut dokumentiert.4 In einer wärmer werdenden Welt bewegen sich Lebewesen polwärts, um weiterhin in ihrem gewohnten Temperaturbereich leben zu können, auf der Nordhalbkugel also nach Norden und auf der Südhalbkugel nach Süden. Die daraus resultierenden Verschiebungen haben bereits beträchtliche Ausmaße erreicht. In Großbritannien sind von fast 330 daraufhin untersuchten Tierarten 275 mit einer Geschwindigkeit von 14 bis 25 Kilometern pro Jahrzehnt nach Norden gewandert. Darunter sind Vertreter der unterschiedlichsten Tiergruppen, von Säugetieren, Vögeln und Fischen über Spinnen bis hin zu Schmetterlingen, Libellen und Tausendfüßern. Innerhalb weniger Jahrzehnte haben sich die polwärts gerichteten Grenzen ihrer Verbreitungsgebiete um bis zu 60 Kilometer nach Norden verschoben. Dabei waren die Veränderungen umso ausgeprägter, je stärker die Temperaturen innerhalb der alten Verbreitungsgrenzen gestiegen sind.5
Abbildung 1
Alexander von Humboldts berühmtes »Tableau Physique« (1807) zeigt schematisch das Höhenprofil der Anden. Die dort eingetragenen Pflanzenarten wachsen heute bis zu rund 250 Meter höher.6
Natürlich handelt es sich hier nicht um Wanderungs- oder Migrationsbewegungen, wie sie zum Beispiel von vielen Tierarten zwischen Sommer- und Winterlebensräumen vollzogen werden, eher um ein langsames Vorantasten. Lebewesen versuchen immer, auch außerhalb ihrer angestammten Verbreitungsareale Fuß zu fassen, nur war es ihnen dort lange Zeit zu kalt (oder zu warm), ihre Eier entwickelten sich nicht, die Jungtiere erfroren oder sie mussten sich klimatisch besser angepassten Konkurrenten geschlagen geben – es gibt viele Gründe, warum Ansiedlungsversuche scheitern. Wenn sie in einzelnen warmen Jahren gelangen, drängten kalte Jahre die Arten wieder in die alten Grenzen zurück. Im Zeitraffer über längere Zeiträume betrachtet, hätten deren Verbreitungsgebiete gleichsam pulsiert, ohne sich letztlich von der Stelle zu bewegen. Nun, bei dauerhaft gestiegenen Temperaturen, können Lebewesen auch jenseits ihrer alten Grenzen überleben. Sie pflanzen sich fort und kommende Generationen können sich noch weiter voranwagen – bis sie auf neue Grenzen stoßen. Auch im Gebirge verändern sich die Verteilungsmuster der Organismenarten, das belegen Studien aus aller Welt. Viele Tiere und Pflanzen leben heute in größerer Höhe als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. An den Hängen des Vulkans Antisana in Ecuador finden sich die von Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland Anfang des 19. Jahrhunderts bestimmten und im Höhenprofil lokalisierten Pflanzenarten heute bis zu 266 Meter weiter bergauf.7 Das entspricht einer Verschiebung um 10 bis 12 Höhenmeter pro Dekade. Neue Untersuchungen aus der Schweiz zeigen, dass dieser Wert von Pflanzen- und Tierarten der Alpen während der letzten fünfzig Jahre um ein Vielfaches übertroffen wurde. Die Entwicklung hat sich offenbar erheblich beschleunigt. Seit 1970 sind die Durchschnittstemperaturen in den Schweizer Alpen um 0,36 Grad Celsius pro Jahrzehnt angestiegen, gleichzeitig hat sich der obere Rand des Vorkommens verschiedener Tierarten um 47 bis maximal 91 Höhenmeter pro Jahrzehnt bergauf bewegt. Bei den Pflanzen sind es 17 bis 40 Meter. Da sich die Isothermen jedoch um bis zu 71 Meter verschoben haben, reichen diese beträchtlichen Veränderungen bei den meisten Pflanzen- und Tierarten nicht aus, um mit den steigenden Temperaturen Schritt zu halten.8
Abbildung 2
Die Höhenwanderung von Arten ist ein exzellenter Gradmesser für den Klimawandel. Für die Schweizer Alpen sind Verschiebungen von bis zu 90 Metern dokumentiert.9
In den Ozeanen sind die überbrückten Distanzen mit durchschnittlich 72 Kilometern pro Jahrzehnt noch größer, weil der Temperaturgradient im Wasser flacher verläuft. Um weiterhin in derselben Umgebungstemperatur zu leben, muss ein Fisch sich auf der gleichen geographischen Breite viel weiter polwärts bewegen als ein Säugetier an der nahe gelegenen Küste.10 Kein Wunder also, dass europäische Wissenschaftler und Fischer bis hinauf zur norwegischen Südwestküste immer häufiger Fischarten fangen, die früher nur in den Gewässern vor der Küste Portugals oder in der Biskaya heimisch waren. In der Nordsee leben mittlerweile mehrere Tintenfischarten, die dort lange Zeit nur sporadisch vorkamen.11
Hunderte von Studien belegen, dass sich diese Verschiebungen überall in der Welt in der gleichen Weise abspielen, eine Einförmigkeit, die auch die Experten überraschte.12
In vielen Fällen haben Pflanzen- und Tierarten das von ihnen bewohnte Gebiet dadurch vergrößert, weil sich (auf der Nordhalbkugel) der südliche Rand ihres Verbreitungsgebietes nicht in gleicher Weise verlagert hat. Das ergab zum Beispiel eine Untersuchung von 80 britischen Brutvogelarten. Was die Größe ihres Siedlungsgebietes angeht, haben sie in den letzten Jahren von den steigenden Temperaturen eher profitiert.13 Da neue Arten in die bestehenden Lebensgemeinschaften einwandern, könnte sich die biologische Vielfalt in den gemäßigten Klimazonen mittelfristig sogar erhöhen. Ob das bei weiter andauernder Erwärmung auch in Zukunft so bleiben wird, ist allerdings zu bezweifeln. Es wird in verschiedenen Stadien dieses lang andauernden, vielleicht Jahrhunderte währenden Veränderungsprozesses Gewinner und Verlierer unter den Pflanzen- und Tierarten geben. Und dabei sind die Profiteure von heute nicht automatisch auch die Gewinner von morgen.
Gleichzeitig fällt auf, dass sich etwa die Hälfte der daraufhin untersuchten Arten nicht bewegt (– persist –). Einige finden auch innerhalb ihrer alten Verbreitungsgrenzen thermale Refugien, in denen sie überleben können. Für andere gab es bislang keine Notwendigkeit, kühlere Regionen aufzusuchen, weil die klimatischen Veränderungen für sie noch zu tolerieren waren oder sogar Vorteile brachten. So ermöglicht es eine durch die Erwärmung verlängerte Vegetationsperiode manchen Vogelarten, mehrere Generationen pro Jahr aufzuziehen. Das Gleiche gilt auch für Borkenkäfer, die in Europa und Nordamerika den dürregeschwächten Wald attackieren und somit zu einem noch größeren Problem werden könnten.
Das Verharren von Pflanzen und Tieren in ihren alten Verbreitungsgrenzen bedeutet aber in vielen Fällen, dass diese Arten den steigenden Temperaturen gar nicht ausweichen können. Im Bergland sind irgendwann die Gipfelregionen erreicht und in flachen Schelfmeeren wie der Nordsee gibt es keine kühleren Tiefen. An Land hat der Mensch die Natur derart massiv verändert, dass Range-shifts erschwert oder nahezu unmöglich gemacht wurden. Was Paläobotaniker beispielsweise im Bighorn Basin, einer Hochebene im US-amerikanischen Bundesstaat Wyoming, dokumentieren konnten, dürfte in der heutigen vom Menschen umgestalteten Welt kaum noch möglich sein.
Das Bighorn Basin liefert zahlreiche Fossilien, unter anderem auch aus der Zeit vor 56 Millionen Jahren, die unter Paläobiologen in Zusammenhang mit dem aktuellen Klimawandel auf großes Interesse stößt. Bei stark ansteigendem Treibhausgasgehalt der Atmosphäre stieg die Temperatur damals innerhalb weniger Tausend Jahre um etwa 6 bis 8 Grad, allerdings von einem deutlich höheren Niveau als heute. Im Bighorn Basin kam es unter anderem zu drastischen Veränderungen der Vegetation.14 Vor dem Temperaturanstieg wuchsen hier Birken, Ulmen, Walnussbäume, Lorbeergewächse und Zypressen in einer Flusslandschaft. Davon blieb während dieses sogenannten PETM, des Paläozän/Eozän-Temperaturmaximums, so gut wie nichts übrig. Nur zwei Pflanzenarten persistierten, 27 verschwanden und wurden durch 46 Arten aus den Tropen und Subtropen ersetzt. Diese neue, an Hitze und Trockenheit angepasste Flora dominierte das Bighorn Basin für mehrere Zehntausend Jahre, bis die Temperaturen langsam wieder auf ihren Ausgangswert zurückfielen. Danach bot sich dort fast der gleiche Anblick wie vor dem Temperaturmaximum: 22 Pflanzenarten, die früher hier heimisch waren, kehrten wieder zurück, nur fünf wanderten neu ein. Es war fast so, als hätte es den dramatischen Klimawandel während des PETM nie gegeben.
Das Beispiel zeigt eindrucksvoll, wie Lebewesen auf einen Klimawandel reagieren, sofern die Verhältnisse nicht durch Katastrophen wie den Einschlag eines Asteroiden oder großflächige vulkanische Aktivitäten global auf den Kopf gestellt werden. Sie weichen steigenden oder fallenden Temperaturen aus, überdauern die für sie ungünstigen Verhältnisse in Refugien und kehren dann, nach dem Abklingen der Veränderungen und wenn die Umstände es erlauben, in ihr ursprüngliches Siedlungsgebiet zurück.
In der Gegenwart ist die Situation aber eine grundsätzlich andere – die Umstände be- und verhindern heute, was sich im Verlauf der Erdgeschichte in klimatischen Krisensituationen bewährt hat. 50 bis 70 Prozent des Festlands sind vom Menschen mehr oder weniger stark verändert worden und tragen keine natürliche Vegetation mehr.15 Riesige oft pestizidbehandelte Monokulturen, Straßen, Kanäle und eine fortschreitende Verstädterung haben für viele Lebewesen unüberwindbare Hindernisse geschaffen, die ihrer Ausbreitung im Wege stehen. Bei weiter steigenden Temperaturen werden daher Arten, die nicht ausweichen (– move –) oder sich vor Ort anpassen (–adapt –) können, früher oder später in Schwierigkeiten geraten.

»Eine allgemeine Neuverteilung des Lebens auf der Erde«

Auch wenn die zu beobachtenden Range-shifts nicht mit dem Klimawandel Schritt halten und viele Arten ihr Vorkommen nicht oder noch nicht verlagern, die Range-shift der anderen Hälfte der Tier- und Pflanzenwelt werden ein Ausmaß erreichen, das Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen besorgt von »der größten klimagetriebenen Neuverteilung von Arten seit dem letzteiszeitlichen Maximum« vor 24.500 bis 18.000 Jahren sprechen lässt. Dieser Prozess, so erklären die australische Meeresökologin Gretta Pecl und mehr als vierzig Wissenschaftler aus aller Welt16, »ist eine substanzielle Herausforderung für die menschliche Gesellschaft« denn Range-shifts können in einer positiven Rückkopplung den Klimawandel verstärken, weil eine veränderte Vegetation auch deren Reflexions- und Verdunstungsverhalten verändert. Range-shifts betreffen schon jetzt auch Organismen wie den Tigermoskito (Aedes albopictus), einen Überträger von Dengue-Fieber und anderen Viruskrankheiten, der bereits bis nach Süddeutschland vorgedrungen ist. Vor allem in Afrika und Südamerika werden Millionen von Menschen zusätzlich von Malaria bedroht werden, da der Überträger, die Anopheles-Mücke, sich mit den steigenden Temperaturen in die bisher malariafreien Hochländer ausbreitet. Betroffen ist auch die Nahrungsmittelproduktion, nicht nur durch Verlagerung von Anbaugebieten wie im Falle des Kaffees, sondern auch durch die Abwanderung von Fischschwärmen in den Meeren, den Verlust an Bestäubern und die Verbreitung von Schädlingen an Land.
Abbildung 3
Wenn es wärmer wird, fühlt sich auch der Tigermoskito wohl bei uns. Er gilt als Überträger von Krankheiten.17

Neobiota

Durch Verlust, Rückgang oder Abwanderung einheimischer Tier- und Pflanzenspezies sowie die Zuwanderung wärmeliebender Arten werden die existierenden Lebensgemeinschaften sich verändern und tun dies zum Teil schon heute. Zu diesen beiden wird sich aber noch eine dritte Gruppe gesellen, die sogenannten Neobiota. Es handelt sich dabei um Tausende von Organismenarten, die vom Menschen absichtlich ins Land geholt oder mit dem Waren- und Reiseverkehr eingeschleppt wurden. Das Spektrum reicht von Plattwürmern bis zum Nilpferd, von Gräsern bis zum Mammutbaum.
In Deutschland gelten schon heute etwa 400 Neophytenarten vor allem aus Asien, Nordamerika oder dem Mittelmeergebiet als etabliert, das heißt sie wachsen spontan, ohne gärtnerische Hilfe des Menschen, reproduzieren sich und haben bereits mehrere Vermehrungszyklen durchlaufen. Die meisten sind allerdings selten und viele sind in ihrem Vorkommen noch auf Wärmeinseln wie Großstädte oder Flusstäler begrenzt. Modellstudien18 zeigen aber, dass ein Großteil dieser fremden Pflanzen ihr Potenzial bei Weitem noch nicht ausgeschöpft hat. Sie werden sich über ihre jetzigen Vorkommen hinaus ausbreiten, insbesondere dann, wenn die Erwärmung fortschreitet. Da der globalisierte Warenverkehr auch weiterhin fremde Arten verteilt, werden überall auf der Erde Arten dazukommen, die wir jetzt noch gar nicht kennen. Bereits seit Jahrhunderten ist eine von Menschen verursachte Neuverteilung der Lebewesen auch ohne den Klimawandel in vollem Gange.19 Allgemein gelten sich aggressiv ausbreitende Neobiota, sogenannte invasive Arten, als einer der wichtigsten Gründe für die weltweite Krise der Artenvielfalt, auch wenn die dadurch verursachten Probleme global sehr ungleich verteilt sind.20 Mitteleuropa ist in diesem Zusammenhang bislang eher glimpflich davongekommen, anders als etwa Neuseeland oder Australien, die durch eingeschleppte Ratten, Füchse und Katzen viele einheimische Arten verloren haben. Andererseits mehren sich die Stimmen, die in den fremden Tier- und Pflanzenarten auch Hoffnungsträger sehen, die helfen könnten, die durch den Klimawandel gerissenen Lücken im einheimischen Artenbestand wieder aufzufüllen und deren ökologische Dienstleistungen zu übernehmen.21
Abbildung 4
Arealverschiebung von Ambrosia artemisiifolia: die hochallergene Beifuß-Ambrosie breitet sich zunehmend nach Norden aus.22

Neue Gemeinschaften

Aus Vertretern dieser drei Artengruppen, den einheimischen, die das veränderte Klima tolerieren, den wärmeliebenden Zuwanderern und den Neobiota werden sich die Lebensgemeinschaften der Zukunft zusammensetzen. In vielen Fällen, besonders in den Tropen und Subtropen, wo Temperaturen erwartet werden, die der Homo sapiens noch nie in seiner Geschichte erlebt hat, werden das sogenannte novel oder no-analog-communities sein, also Tier- und Pflanzengemeinschaften, die in ihrer Zusammensetzung völlig neuartig sind und für die es in der heutigen Welt nirgendwo Entsprechungen gibt.23 Das erschwert natürlich die Vorhersage, wie diese neuen Gemeinschaften sich verhalten und entwickeln könnten, wie stabil und widerstandfähig sie sein werden und inwieweit sie die Leistungen heutiger Ökosysteme ersetzen oder aufrechterhalten könnten. Da es darüber keine empirischen Daten gibt, sind ökologische Überraschungen so gut wie sicher. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Tier- und Pflanzenarten ganz andere Eigenschaften und Vorlieben als in ihren Heimatlebensräumen offenbaren, wenn man sie auf anderen Kontinenten freisetzt. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts hätte es wohl niemand für möglich gehalten, dass tropische Vogelarten im gemäßigten Mitteleuropa zu Brutvögeln werden könnten. Der Halsbandsittich hat das Gegenteil bewiesen und weitere Papageienarten könnten folgen. In Mecklenburg-Vorpommern fühlen sich südamerikanische Nandus wohl, im Oderbruch grasen asiatische Wasserbüffel. Offenbar zeigen zumindest manche Tier- und Pflanzenarten im heimischen Artengefüge aus Konkurrenten, Fressfeinden, Partnern und Rivalen nur eines von mehreren möglichen Gesichtern.

Ein kurzer Blick in die Erdgeschichte

Die Bildung solcher No-analog-communities ist auch aus früheren Epochen der Erdgeschichte bekannt, als Übergangsphänome in Zeiten eines Klimawandels. Der Blick in die erdgeschichtliche Vergangenheit ist ohnehin hilfreich, wenn man sich mit den möglichen Folgen eines Klimawandels für Fauna und Flora beschäftigt. Er zeigt eben nicht, was unter bestimmten Annahmen geschehen wird oder geschehen könnte, sondern was tatsächlich geschehen ist. Ein Ereignis, das den heutigen Vorgängen in jeder Beziehung gleicht, wird man dabei allerdings vergeblich suchen.
Von besonderer Bedeutung ist das schon erwähnte PETM, das Temperaturmaximum an der Grenze Paläozan-Eozän vor 56 Millionen Jahren, das 1991 anhand von Isotopenanomalien in antarktischen Tiefseebohrkernen entdeckt wurde.24 Es wurde dadurch ausgelöst, dass große Mengen Kohlenstoff (als CO2 und / oder CH4) – erdgeschichtlich betrachtet – relativ rasch in die Atmosphäre gelangten, und gehört damit in eine Reihe von eher seltenen Phasen der Erdgeschichte, die Hyperthermals genannt werden, weil die globalen Temperaturen in diesen Zeiten infolge der hohen Treibhausgaskonzentrationen stark anstiegen. Während des PETM betrug die Temperaturerhöhung mindestens 6 bis 8 Grad Celsius, ein Wert, der große Teile der Erde für Menschen unbewohnbar machen würde. Woher im Falle des PETM dieser Kohlenstoff stammte, ob aus tauenden Permafrostgebieten der Antarktis, vulkanischer Aktivität, destabilisierten Methanhydratvorkommen am Meeresboden oder gar einem Meteoriteneinschlag, ist heute nicht zu beantworten.
Abbildung 5
Landschaft im Eozän, einem Erdzeitalter, in dem die Erde letztmals ein Treibhausklima aufwies. Vor etwa 50 Millionen Jahren sah es dort, wo heute London liegt, vielleicht so aus.25
Auch über die Geschwindigkeit der Ausschüttung herrscht Unklarheit. Wahrscheinlich ist sie mit einer Rate von 1 bis 2 Petagramm (1015 Gramm) pro Jahr über mehrere Jahrtausende hinweg erfolgt, eine Menge, die nicht weit entfernt vom durchschnittlichen Jahresausstoß der letzten 150 Jahre liegen würde. Mittlerweile betragen die jährlichen Emissionen sogar ein Vielfaches davon. Die Gesamtmenge, die damals in die Atmosphäre gelangte, wird auf 10.000 Petagramm geschätzt. Das entspricht in etwa dem Gesamtvorrat an fossilen Brennstoffen, der auf der heutigen Erde vermutet wird. Da die Erwärmung im Vergleich zum Input immer langsam verläuft, vergingen 60.000 Jahre, bis die Temperaturen während des PETM ihr Maximum erreichten.26 Auch die Ozeanversauerung verlief langsam. Trotzdem hatte der Temperaturanstieg, so die Paläobotaniker*innen Francesca McInerney und Scott Wing, »beträchtliche biologische Konsequenzen«27. In den Ozeanen kam es zu Sauerstoffmangel und gewaltigen Algenblüten, in der Tiefsee, die einen Temperatursprung um 5 Grad erlebte, starb fast die Hälfte der Foraminiferenarten aus, eine in den Meeren weitverbreitete Gruppe von Einzellern mit gekammerten Kalkschalen. Klimagetriebene Migrationsbewegungen setzten ein, deren Anfänge wir auch heute erleben, auf den Kontinenten kam es zu massiven Veränderungen von Fauna und Flora. In Nordamerika und Europa tauchten relativ unvermittelt die ersten Vertreter von Paar- und Unpaarhufern auf, die vermutlich aus Asien zuwanderten. In Amerika und Asien entstanden die ersten modernen Affen. Da der sogenannte meridionale Temperaturgradient, der Temperaturunterschied zwischen Äquator und Polen, während des PETM nur etwa 6 Grad betrug – heute sind es 22 – und die Festlandsmassen auf der Nordhalbkugel noch dichter beieinander lagen, war es auch empfindlicheren Arten möglich, von einem Kontinent auf den anderen zu wechseln.28
So einschneidend diese Veränderungen waren, führende Wissenschaftler wie John Williams und Richard Zeebe befürchten, dass sie vom aktuellen Klimawandel noch übertroffen werden könnten, weil die Freisetzung der klimawirksamen Kohlenstoffverbindungen heute in viel kürzerer Zeit erfolgt als zu Beginn des PETM. Williams und seine Kolleg*innen kommen zu dem Schluss, dass die Auswirkungen des PETM im Vergleich zu den in Zukunft zu erwartenden Effekten »als konservativ angesehen werden sollten.« Es wird also wahrscheinlich noch schlimmer kommen. Auch Richard Zeebe, ein prominenter Ozeanograph, der in Hawaii arbeitet, sieht für die Ozeane katastrophale Entwicklungen kommen, die »vollkommen bespiellos« wären.29
Erdgeschichtlich gesehen befinden wir uns noch immer in der Eiszeit, genauer gesagt, in einem Interglazial, einer Zwischenwarmzeit, die wir Holozän nennen. Durch die in den 1990er-Jahren begonnenen Bohrungen im Eispanzer Grönlands wissen wir, dass es nach dem letzten Rückzug der Gletscher zu einigen abrupten Temperatursprüngen kam, die weltweite Auswirkungen auf Flora und Fauna hatten. Sie fallen mit steigenden CO2-Konzentrationen in der Atmosphäre zusammen, wurden aber auch von Veränderungen der Luftmassenzirkulation und Störungen der globalen Ozeanströmungen ausgelöst. Ursache für letztere war zum Beispiel der Eintrag gewaltiger Mengen von süßem Gletscherschmelzwasser vor 8.200 Jahren, der zur sogenannten Misox-Schwankung führte, einem Temperatursturz um bis zu 5 Grad innerhalb weniger Jahre.30
Untersuchungen der nacheiszeitlichen Klimaveränderungen haben den großen Vorteil, dass sich diese mithilfe von Eisbohrkernen und Seesedimentablagerungen auf Jahrzehnte oder sogar Jahre genau terminieren lassen. In Schichten von Seesedimenten finden sich zudem zahlreiche Fossilien, insbesondere Pollen der in der Seeumgebung wachsenden Pflanzen. Paläobotaniker können daraus auf die Zusammensetzung der Vegetation schließen und deren Veränderung durch Zu- oder Abnahme einzelner Arten verfolgen.
Ein beunruhigendes Ergebnis dieser Untersuchungen betrifft die Geschwindigkeit, mit der die Pflanzengemeinschaften in der Umgebung der Seen auf die Temperaturveränderungen reagierten. Ob am schweizer Gerzensee oder im Meerfelder Maar in der Eifel, die Forscher beobachten »nahezu sofortige Effekte.« »Die Reaktionszeit von Wäldern«, fassen John Williams und Kevin Burke den Wissensstand zusammen, »lag durchschnittlich bei weniger als zwanzig bis vierzig Jahren, und oft gab es überhaupt keine messbare Zeitverzögerung.«31
Abbildung 6
Das PETM an der Grenze von Paläozän und Eozän vor 56 Millionen Jahren zeichnet sich in der Paläotemperaturkurve kurz vor Erreichen des eozänen Temperaturoptimums als nadelspitzer Zacken ab. Es dauerte 200.000 Jahre.32
Auch der Temperatursturz während der Misox-Schwankung vor 8.200 Jahren führte in Mitteleuropa zu einer »ausgeprägten und sofortigen Antwort der terrestrischen Vegetation«.33 Abzulesen ist sie zum Beispiel in der Schichtenfolge der Sedimente des schweizer Soppensees im Kanton Luzern. Es dauerte nur etwa eine Baumgeneration, die etwa einer Menschengeneration entspricht, um den dort vorherrschenden Bestand der Hasel, von der vor dem Temperatursturz 40 Prozent aller Pollenkörner stammten, zusammenbrechen zu lassen und durch einen völlig anderen Wald aus Kiefern, Birken und Linden zu ersetzen. Wissenschaftler*innen sprechen im Fall solcher tiefgreifenden, mehr oder weniger abrupten, aber andauernden Veränderungen von Ökosystemen von einem Regime-shift (Regimewechsel).

Wälder

Ob die infolge der letzten Dürrejahre unter dem Namen »Waldsterben 2.0« bekannt gewordenen Schäden bereits als Auftakt eines solchen Regime-shifts zu werten sind, bleibt abzuwarten. Das durch die Trockenheit und Borkenkäferbefall verursachte Baumsterben vernichtete deutschlandweit eine Waldfläche in der Größe des Saarlandes. Die Schäden zeigten sich vor allem bei Fichten, doch auch die Kiefer und wichtige Laubbaumarten waren betroffen. In den vergangenen 25 Jahren zeigt die Mortalität in europäischen Wäldern insgesamt einen »beunruhigenden Aufwärtstrend.« Besonders gefährdet sind Nadelbäume auf »produktiven Standorten.«34
In den arktischen Lebensräumen kommt es schon zu Regime-shifts. Durch das Tauen der Permafrostböden wird in riesigen Gebieten die Landschaft umgestaltet, Sträucher dringen in die Tundra vor, das Schwinden des Eises bedroht die Lebensgemeinschaften in den Meeren.35 Weil ihre Eisdecke sich früher öffnet und länger Licht in das Wasser eindringen kann, hat sich der Charakter vieler arktischer Seen verändert.36 Regime-shifts kündigen sich auch in den borealen Nadel- und den tropischen Regenwäldern an, die seit Jahren unter zunehmender Trockenheit zu leiden haben. Letztere drohen sogar ihre wichtige Rolle als Kohlenstoffsenken zu verlieren. Die Kohlenstoffaufnahme, die in den 1990er Jahren gemessen wurde, ist seitdem nie wieder erreicht worden und geht zurück. Seit 2010 gilt das auch für die lange Zeit stabilen afrikanischen Regenwälder. Brandrodung und die dabei entstehenden Rußpartikel verschärfen die Situation.37
Gestresst von Trockenheit, den kürzeren und milden Wintern und den dadurch begünstigten Borkenkäferattacken gerät auch das größte zusammenhängende Waldgebiet der Erde in Schwierigkeit: der boreale Nadelwald. In Nordamerika töteten die Käfer 30 Milliarden Bäume und die Holzindustrie, die Probleme in dieser Größenordnung durch ein katastrophales Waldmanagement erst ermöglichte, fällte noch einmal genauso viele.38

Bottom up

Auch wenn der Klimawandel ganze Ökosysteme verändern und in einen Regime-shift treiben kann, wirkt er sich doch zuerst im Individuum aus, in jeder einzelnen Pflanze und jedem einzelnen Tier. Die Reaktion von Organismen auf steigende Temperaturen ist »größtenteils, wenn nicht vollständig,« ein Bottom-up-Prozess. Wie tolerant ein Individuum gegenüber schwankenden Umweltparametern ist und bei welchen Schwellenwerten diese Toleranz endet, hängt vor allem von seiner genetischen Ausstattung ab, möglicherweise auch von Umwelterfahrungen, die es gemacht hat. Es ist das einzelne Tier, das sich über die alten Verbreitungsgrenzen hinausbewegt und dort versucht zu überleben. Wenn viele das tun, kommt es zu den besprochenen Range-shifts. Auf dem Weg bottom-up, »hinauf« durch die Nahrungsketten und Lebensgemeinschaften, werden sich diese Effekte »kombinieren, verstärken, abschwächen und generell wechselwirken«.39
Da praktisch alle Lebensprozesse temperaturabhängig sind, insbesondere die biochemischen Reaktionen in den Zellen, sind Lebewesen von steigenden Temperaturen unmittelbar betroffen. Schon zeigen viele Studien, dass sich bei vielen Tierindividuen in Anpassung an eine wärmere Umwelt sogar die Körperproportionen verändern (– adapt –). Diese sogenannten Shape-shifts folgen zwei schon vor über hundert Jahren aufgestellten Regeln, der Allenschen und der Bergmannschen Regel, nach denen die Größe von Körperanhängen wie Extremitäten, Schwänzen und Ohren zu den Polen, also mit fallenden Temperaturen, abnimmt, während die Körpergröße zunimmt. Beides hat mit dem Wärmeaustausch zwischen Körper und Umwelt zu tun. In einer wärmeren Welt sollten also die Körpergröße ab- und die Extremitätengröße zunehmen.
Eine gerade erschienene Untersuchung von 77 Vogelarten des brasilianischen Regenwaldes zeigt, dass sich deren Körperproportionen tatsächlich im Gleichtakt mit steigenden Temperaturen verändern. Seit den 1980er-Jahren verloren die Tiere an Körpermasse und entwickelten größere Flügel.40 Bei australischen Papageien wurde eine Vergrößerung ihrer Schnabelfläche um 4 bis 10 Prozent seit 1871 festgestellt.41 Amerikanische Bisons waren vor 40.000 Jahren 37 Prozent größer als heute. Die durchschnittliche Jahrestemperatur ist in diesem Zeitraum um 6 Grad gestiegen. Setzte sich dieser Trend in gleicher Weise fort, würden Bisons bis zum Ende dieses Jahrhunderts bei einer Erwärmung um 4 Grad im Vergleich zur heutigen Masse von durchschnittlich 665 Kilogramm weitere 46 Prozent verlieren und im Mittel nur noch 357 Kilogramm wiegen.42 Im bereits erwähnten Bighorn Basin belegen Fossilfunde, dass die dort lebenden Urpferdchen der Gattung Sifrhippus im Zuge der Erwärmung während des PETM um 30 Prozent schrumpften, um während der Erholungsphase bei fallenden Temperaturen wieder um 76 Prozent an Körpermasse zuzulegen. Insekten und Würmer büßten sogar fast die Hälfte ein.43
Die biologischen Konsequenzen einer sich erwärmenden Welt zeigen sich vor allem in polaren Lebensräumen und den Tropen, weil die dort lebenden Pflanzen und Tiere nur an geringe Temperaturschwankungen gewöhnt sind und größere Abweichungen nicht tolerieren. So beginnen die Eier des arktischen Polardorschs schon oberhalb von 3 Grad abzusterben. Die marinen Arten der Antarktis leben seit Urzeiten in einem Bereich zwischen –1,9 Grad, dem Gefrierpunkt von Salzwasser, und +1,8 Grad, der bislang höchsten dort gemessen Wassertemperatur. Viele müssen schon bei Temperaturen von 3 Grad kapitulieren, auch nach langer Eingewöhnung sind 6 Grad das absolute Maximum. Krokodileisfische besitzen kein Haemoglobin, sodass sie in Schwierigkeiten kommen, wenn bei steigenden Temperaturen der Sauerstoffgehalt sinkt.44
Tropische Organismen leben generell näher an den von ihnen maximal tolerierbaren Temperaturen als Tiere und Pflanzen in gemäßigten Zonen. Daher kann sich eine geringe Erhöhung um wenige Grad auch für sie fatal auswirken.
Abbildung 7
Für den südpolaren Krokodileisfisch kann schon eine geringe Erwärmung zum Aussterben führen.45
Der Abstand dieser maximal tolerierbaren Wärmegrade von den höchsten Temperaturen, denen Lebewesen in ihrer Umwelt tatsächlich ausgesetzt sind, wird als »thermaler Sicherheitsabstand« bezeichnet (thermal safety margin)