41'285 km² Verbrechen - Raphael Zehnder - E-Book

41'285 km² Verbrechen E-Book

Raphael Zehnder

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Amüsant, verblüffend: Müller mal anders. Ob in den eigenen vier Wänden, am Arbeitsplatz, bei einem Spaziergang im Wald oder in den Weiten des Internets – Verbrechen geschehen überall und zu jeder Zeit. Kommissär Müller und Detektivwachtmeisterin Gülay Sermeter von der Basler Kriminalpolizei und Bucher Manfred von der Polizei Zürich haben sich dem Kampf gegen die Gesetzlosigkeit verschrieben und berichten in poetischer Form von Hunderten Kriminalfällen aus allen Ecken der Schweiz.

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Seitenzahl: 159

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Raphael Zehnder wurde 1963 in Baden AG geboren und verdiente sein Geld als Schallplattenverkäufer, Nachtwächter und Musikjournalist, bevor er in französischer Sprach- und Literaturwissenschaft promovierte. Er arbeitet als Redaktor beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF. 2015 wurde er mit dem «Zürcher Krimipreis» ausgezeichnet. www.raphaelzehnder.ch

Vielleicht ist dieses Buch ein Roman. Mono, aber auch mit handelsüblichen Stereo-Gehirnen lesbar. Alle Begebenheiten und Figuren in diesem Buch sind wahrhaftig erfunden.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Bildmotive shutterstock.com/Rauf Aliyev, shutterstock.com/Imnamlas

Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-038-9

Kriminalpoesie à gogo

Originalausgabe

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Den Kolleginnen und Kollegen im Blaulichtdistrikt gewidmet –

und natürlich Annette, Julius und Vinzenz.

In memoriam Alberto Zehnder (1935–

Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?

Bertolt Brecht

Einige Leute müssen gehen.

Tony Soprano

Das Leben ist hart, aber wenn man blöd ist, ist es noch härter.

Jackie Brown in «Die Freunde von Eddie Coyle» von George V. Higgins

Einsatzplanung

Ende Mai, Feierabend, schwül, Zürich, Gartenwirtschaft am See. Wir sind zu viert plus die Enten und Schwäne. Drüben die Enge und dahinter der Uetliberg.

Vor uns halb leere Gläser und volle Teller.

«Wollen wir alles mal aufschreiben?» Bucher Manfred, Detektivwachtmeister bei der Polizei Zürich, meint es ernst. «Unsere Erlebnisse … Interessiert vielleicht die Leute, oder?»

«Warum nicht?», fragt Gülay Sermeter, Kriminalpolizistin in Basel, besonders befasst mit Verbrechen im elektronischen Raum.

Der Müller zweifelt. «Denkt ihr?»

Mit Gülay verbindet ihn die Liebe. Mit Manfred, seinem besten Freund, hat er vor einem Vierteljahrhundert die Polizeischule absolviert und in Zürich über zwei Jahrzehnte Dienst getan. Die zwölf Stadtkreise rauf und runter, Leimbach bis Neuaffoltern, Altstetten bis Seefeld, quer durchs Strafgesetzbuch. Seit einigen Jahren wohnt er wie Gülay und ich in Basel und bekämpft als Kriminalkommissär das Verbrechen. Mich kennen die drei von meinen Krimis.

Drei Stockenten paddeln vorbei. Grün schillern ihre Köpfe. Drei Männchen.

Manfred visiert seine Salatschüssel an. Wird er mit dem Sellerie anfangen, mit den Karotten oder den Tomaten? Gülay nagt an einem Pouletschenkel, Müller schneidet das Schnitzel klein, und ich winke dem Kellner: Bitte nochmals vier IPA.

Gülay antwortet als Erste: «Das gibt doch was her, nicht? Wer weiss schon, was wir tun? Sie meinen, wir verteilen Bussenzettel oder schiessen Kriminelle über den Haufen. Oder … wir haben nicht alle Teller im Schrank wie die Fernsehkommissare.»

Sie lachen.

Manfred findet Gefallen an seiner Idee. «Die Leute mögen Geschichten – erst recht Kriminalfälle. Aus sicherer Entfernung das Elend der Welt betrachten …»

Er lässt den Satz in der Schwebe.

«Mhm», gibt der Müller Laut, während seine Zähne Pommes frites zerkauen. Mhm bedeutet, er wird gleich etwas sagen.

Das Bier kommt, der Kellner füllt die Gläser.

Das Bier schmeckt kühl und bitter gut. Auf dem See wellen sich die Wellen. Enten enten hinter Enten her. Pedalos sind unterwegs.

«Erzähl», wendet sich Müller an Manfred, «wie stellst du dir das vor?»

«Wir alle … notieren Fälle, an denen wir gearbeitet haben, wir oder Kolleginnen und Kollegen. Das bringen wir in eine … interessante Form.» Er schaut mich an. Er spürt: «Interessant» klingt reichlich vage.

Müller sagt: «Fälle … wie denn? Ich meine, wir alle haben Hunderte von Fällen bearbeitet. Das übertrifft jeden amerikanischen Roman.»

Zu mir sagt er: «Dein Schnitzel wird kalt.»

Da hat er recht.

Möwen kreischen. Der Zürichsee liegt schlapp in seinem Becken.

«Wir wählen aus», schlägt Gülay vor, «damit sich die Geschichten nicht wiederholen.»

Sie streicht sich eine ihrer schwarzen Haarsträhnen hinters Ohr.

«Auswählen? Nach welchen Kriterien?», fragt Müller. «Was wir tun, schafft es ja kaum in die Medien oder ins Kino.»

«Oder in ein Buch», werfe ich ein, um zu beweisen, dass ich auch dabei bin.

«Ein Buch, ja!» Begeisterung bei Manfred.

Er spiesst mit der Gabel Salatblätter auf, schiebt sie in den Mund, kaut, und seine Augen pendeln zwischen uns.

«Du bist der Protokollführer», sagt der Müller zu mir. «Du kennst alle Buchstaben.»

«Du auch», gebe ich zurück.

«Falsch. Ich habe ein Korrekturprogramm.»

Dann lachen die gemeinen Hunde.

Gülay fährt fort: «Du schreibst, und wir kramen in unseren Erinnerungen, fragen in unseren Teams nach und schicken dir Notizen.»

«Solche Sachen zum Beispiel?», regt Manfred an.

Blaulicht bedeutet: Vielleicht bleibt noch Zeit.

Kein Blaulicht: Willkommen in der Ewigkeit.

«Warum nicht?», findet Gülay. «Aber näher an den Fällen, anschaulicher.»

«Näher am Lebendigen», sagt Müller.

Weit im Westen im Limmattal ist die Sonne untergegangen. Kein Lüftchen weht, aber Ende Mai ist die Stadt Zürich immerhin noch nicht ultrahocherhitzt. Der Kies knirscht, wenn neue Gäste dazukommen und die beiden Kellnerinnen und ihr Kollege Bestellungen aufnehmen und Teller und Flaschen an die Tische bringen. Zu uns jetzt eine Flasche Mineralwasser und Brotnachschub. Sauce auftunken.

Auf dem Wasser schwimmen zwei Schwäne vorbei.

Müller zweifelt weiter. «Keiner hat die Geduld, eine Tonne Material zu lesen. Vor allem nicht über kleine Delikte. Schusswechsel und Verfolgungsjagden, das wollen die Leute. Aber … Scheckbetrug, Ladendiebstahl, Ehrverletzung … nein. Ein Hacker kann in deinem Computer enormen Schaden anrichten, aber wie willst du das erzählen?»

Stumm tauchen Egli und Albeli unter Entenfüssen hindurch. Im Westen steht ein rosa Wölkchen.

Gülay sagt: «Wir fassen alles zusammen. Ein paar Sätze. Das Wesentliche. Kein Schnickschnack, keine langen Beschreibungen.»

Ich denke: klingt gut. Dann brauche ich nicht zu recherchieren, wie die Tapete am Tatort ausgesehen und welche Hose das Opfer getragen hat.

«Das. Machst. Du. Die Form», sagt Gülay und zeigt auf mich, als ob sie gemerkt hätte, dass ich mich schon zurücklehne, geistig gesprochen.

Hoch oben fliegt ein Jet mitten durchs rosa Wölkchen und zerstört es.

«95 Prozent der Polizeiarbeit sind Büroarbeit», ergänzt Manfred, «da schadet es nicht, sich beim Erzählen auf den Kern zu beschränken.»

«Niemand will zusehen, wie wir E-Mails schreiben, telefonieren und Datenbanken abfragen.» Der Müllerpragmatismus.

«Oder wie wir Datenträger sicherstellen und mit der Auswertung beginnen.» Der Sermeterpragmatismus.

«Akten studieren, Besprechungen abhalten, Rapporte schreiben.» Der Buchersarkasmus.

Nachdenken.

Der Müller sagt, und wie er es formuliert, wirkt es wie eine Dienstanweisung: «Wir beschränken uns beim Erzählen aufs notwendige Minimum. Die Leserinnen und Leser sollen sich im Kopf ihre eigenen Bilder machen.»

«Gefällt mir», sagt Gülay.

«Kein Blut in Nahaufnahme», fasse ich zusammen. «Kein Grusel- und Psychozeug, keine Cellomusik, die Bedrohung ausdrücken soll, keine Killerclowns, keine mondsüchtigen Serientäter, keine Kettensägen, keine apokalyptischen Schiessereien.»

«Nur wenn nötig», antwortet Manfred, «nur, wenn es tatsächlich so war.»

«Die Wirklichkeit, wie wir sie erleben», setzt Gülay hinzu.

«Mhm», sagt Müller.

Auf einem Dach setzt eine Amsel zum Abendgesang an, obwohl die Sonne längst untergegangen ist.

Auf den Tellern sind nur noch Saucenschlieren zu sehen.

Gülay lässt die Sache keine Ruhe. «Kurze Texte also, gut. Aber wie bauen wir die Sammlung auf?»

Manfred: «In der Reihenfolge der Artikel im Strafgesetzbuch?»

«Mhm», sage ich, und der Müller ergänzt: «Die Tötungsdelikte hintereinander, die Verletzungen des Postgeheimnisses, die Vermögensdelikte … nein, das ist zu eintönig.»

«Wir könnten den Stoff chronologisch ordnen», schlägt der Müller vor.

Gülay: «Nein, so wären die Fälle zu leicht identifizierbar. Persönlichkeits- und Datenschutz …»

Manfred: «Was ist mit Vorfällen, die mit einem Freispruch geendet haben oder bei denen das Verfahren eingestellt wurde? Das würde Freigesprochene als mutmassliche Täter verewigen …»

Die mondsüchtige Amsel auf dem Baum singt noch immer. An den anderen Tischen murmeln und lachen andere Gäste.

Der Kellner tritt an den Tisch und fragt: «Ein Dessert?» – «Vier Espresso», sage ich, ohne die Freunde zu fragen. Die anderen nicken.

Manfred steht auf und begibt sich ins Restaurant. Wir hören dem Knirschen des Kieses unter seinen Schuhen zu und sagen nichts. Es ist wunderbar, der Windstille zuzuhören, den Vögeln, den Wellen und den Blättern des Kastanienbaums über der Gartenwirtschaft beim Wachsen.

Als Manfred zurückkommt, sagt er: «Nach den sieben Todsünden? Das wär doch was, oder? … Hochmut, Habgier …» Da stockt er, doch Gülay hilft ihm weiter: «Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit … sieben … ja, das sind alle.»

Müller schüttelt den Kopf. «Das wirkt antiquiert. Und meist kommen bei einer Straftat mehrere dieser … Sünden zusammen.»

Manfred: «Wenn ihr immer Nein sagt, könnt ihr auch mal eine Idee beisteuern.»

Er wirkt ein bisschen beleidigt, aber so falsch liegt er nicht.

Gülay: «Nach Orten? Ein Kapitel Basel, eines Zürich, eines … ich weiss nicht … Bern?»

«Ich, ähm …», beginne ich, ohne eine Idee zu haben.

Zum Glück fällt in diesem Moment am Nebentisch ein Glas zu Boden, das auf dem Kies nicht einmal zerbricht. Ich bin gerettet, und der Müller springt für mich ein.

«Wir ordnen die Fälle nach dem Ort.»

Verständnisfrage von mir: «Also wie Gülay gerade gesagt hat: Zürich, Basel, Bern, Genf, Lausanne …?»

«Nein, nicht so», der Müller ungeduldig, «sondern … Delikte am Arbeitsplatz, im häuslichen Umfeld, unter Freunden und Bekannten, im Quartier …»

«… im Internet», ergänzt Gülay.

«Eine kriminelle Topografie», sage ich.

«Viel zu akademisch», meint der Müller.

«Das bedeutet …», will ich erklären.

«Was meinst du mit ‹Topografie›?» Gülay schaut mich interessiert an.

«Ein Topos kann ein Ort im eigentlichen Sinne sein –»

«Oh, oh», sagt Gülay, «ein Topos …»

«Du und deine alten Sprachen», frotzelt Manfred.

«Viel zu kompliziert», sagt Müller.

Ich fahre fort: «Jetzt lasst mich doch … also ein Tatort: die Nachbarschaft, der öffentliche Raum. Ein krimineller Ort kann auch ein Kreis von Personen sein, eben Partnerschaften, Freunde und so weiter. Das Internet», da nicke ich Gülay zu, «ist auch ein Ort, ein virtueller, aber mit realen Delikten.»

Gülay, Manfred und Müller lehnen sich zurück, und der Müller sagt: «Ich wusste gar nicht, dass du so lange am Stück sprechen kannst. Aber … Topografie? Nein, nein. Wir brauchen etwas Einfacheres.»

Gülay: «Vorschläge?»

Ein Lüftchen versucht uns vom See her zu erreichen.

Manfred: «41’285 –», «die Zahl kenne ich», unterbricht ihn Müller, «Quadratkilometer … meinst du das?», komplettiert Gülay. «Ja, 41’285Quadratkilometer Verbrechen», fasst Manfred zusammen. «Das ist die Fläche der Schweiz», erklärt er mir, als ob ich nicht von hier wäre.

Ein Hecht jagt unbemerkt durch die Wogen und knackt die Gräten einer Seeforelle.

«Kellner!», ruft Müller quer über die Terrasse. «Könnten wir bitte die Dessertkarte haben?»

Und an uns richtet er seine Entscheidung: «Dieser Inhalt, dieser Titel. So machen wir’s.» Zu mir sagt er: «Du ordnest die Fälle, wie du willst. Nach Schauplätzen, finde ich gut.»

Im Laufe dieses Jahres kommen aus etlichen Polizeiwachen im ganzen Land Kurzerzählungen zu mir.

Wie die Kriminalität und die Geschichte zeigen, ist der Mensch zu vielem fähig. Selbst das Schlimmste, was sich ausdenken lässt, wird irgendwo auf dem Planeten noch übertroffen. Das Verbrechen macht vor keinem Fleck auf der Welt halt. Nirgends existiert hundertprozentige Sicherheit. Das soll Sie jedoch nicht ängstigen. Verglichen mit anderen Weltregionen lebt die Bevölkerung Westeuropas grösstenteils sicher. Zum Glück. Dank rechtsstaatlichen Prinzipien, Demokratie und Wohlstand.

Was Müller Benedikt, Gülay Sermeter, Bucher Manfred und ihre Kolleginnen und Kollegen besonders beschäftigt, ist – neben den Steuerdelikten, dem Drogen- und Waffenhandel und den Verbrechen gegen Leib und Leben allgemein – die Zahl der häuslichen Gewalttaten. Im Zuhause, das ein sicherer Ort sein sollte, geschieht viel Schreckliches. Das organisierte Verbrechen fällt in die Zuständigkeit der Bundespolizei. Deshalb taucht hier wenig davon auf.

Es liegt uns fern, Sie mit diesen Kurzdarstellungen von Kriminalfällen zu erschrecken. Denn die meisten der hier festgehaltenen Vorfälle sind aufgeklärt. Fast alle mutmasslichen Täter hat die Justiz verurteilt und ihrer Strafe zugeführt.

«Warum sollen wir überhaupt aus unserem Alltag erzählen?», hat Müller Gülay, Manfred und mich bei diesem Nachtessen gefragt, als wir zum ersten Mal über Manfreds Idee diskutierten.

«Weil wir doch gerne darüber sprächen, wie wir unsere Tages- und Nachtdienste verbringen, nicht? Ich wenigstens. Wenn wir die Fälle anonymisieren und behaupten, sie seien … Kunst, umgehen wir den Artikel 320 des Strafgesetzbuchs», hat Manfred geantwortet. «Die Freude am Erzählen, am Lesen und am Zuhören liegt in der Natur des Menschen.»

Art. 320 StGB ist das Amtsgeheimnis.

Schliessen Sie nun bitte soforrrt Ihre Wohnungstür ab, geschätzte Bevölkerung, wenden Sie die Augen ab vom Messerblockkkk in der Küche, behalten Sie Ihr Gegenüber im Zug im Auge. Vergegenwärtigen Sie sich, wo Ihr Mobiltelefon liegt. 117 lautet die Nummer. Bleiben Sie aufmerksam. Bleiben Sie wachsam. Wo auch immer Sie sich gerade aufhalten, wir wünschen Ihnen gute Lektüre.

Kommissär Müller Benedikt, Detektivwachtmeister Bucher Manfred, Detektivwachtmeisterin Gülay Sermeter und ich danken folgenden Kolleginnen und Kollegen in Blau und in Zivil für ihre Berichte: Markus Gormann, Romina Wäckerlin, Freddie Dominguez, Valérie Allmendinger, Vlado Vakulic, Amber Odermatt, Xerxes Blaser, Gloria Werner und dem pensionierten Rolf Vetter in Basel – und Rosanna Vukic, Heather Brogli, Dylan Barmettler, Rocco Catanzaro, Gustav Weiermann und nicht zuletzt Professor Dr. med. Brenda Marquardt in Zürich. Die IT-Forensiker Jessica Panzeri und Mladen Jonovic in Basel haben ebenfalls wertvolle Anregungen geliefert. Jean-Claude Martin und Solange Berger in Lausanne, Françoise Gobet und Andrea Martinelli in Genf, Jérémie Theurillat in La Chaux-de-Fonds, Hansueli Bischofberger in St. Gallen, Toni Tuqi in Luzern und Marianne Kraeuchi in Bern haben das Ihre beigesteuert, ebenso Adjutant Gerber in Saint-Louis (France) und weitere Polizistinnen und Polizisten in Polizeikorps im ganzen Land. Teils verzichten sie darauf, hier namentlich zu erscheinen.

Danke, merci, grazie, grazcha fich.

Sport

Die Billardkugel Nummer acht

So hart

Dass der Schädel kracht.

Der Pfeil trifft das Ziel

Geübt, der Bogenschütze

Absicht, nehm ich an.

Voll besetzt gleitet der Zweier auf den See hinaus. Nur eine Person rudert zurück.

Im Rektum von Jack

Wenn Sie es wissen wollen

Steckten die Pyros.

Ein verregneter, kühler Abend Mitte Juni. Er lässt hoffen, dass der Sommer nicht so satanisch heiss wird wie in den letzten Jahren. Sicher kennen Sie die Hauptwache der Stadtpolizei Zürich, die Urania, offiziell «Regionalwache City», die mit der roten Giacometti-Bemalung in der Eingangshalle? Gegenüber eine Brasserie. Dort sitzen wir. Ausser Gülay. Sie hat dienstlich in Basel zu tun. Manfred, Müller und ich haben einen Sancerre bestellt, ein Dutzend Austern und hinterher, egal, ob ideale Jahreszeit oder nicht, Choucroute garnie. Wir haben entschieden, uns heute auf Kriminalfälle zu konzentrieren, die mit Sport zusammenhängen.

«Ich verstehe das nicht», sage ich, «erwachsene Männer, die anscheinend nur an Fussballspiele gehen, um sich zu prügeln. Haben die nichts Besseres zu tun?»

Manfred und Müller zucken mit den Schultern.

«Viele werfen vorher Schmerzmittel ein, damit’s ihnen beim Prügeln weniger wehtut», meint Manfred trocken.

«Da geht’s nicht um Kampfkunst. Wie bei Bruce Lee und Jackie Chan sehen diese Kämpfe nicht aus», fügt der Müller bei, er grinst, «eher wie zwei Wildschweinrudel, die aufeinandertreffen.»

«Die Leute sind meist nicht trainiert.»

Die beiden Polizisten lachen.

«Was lacht ihr?»

«Nun, ähm», bringt Manfred hervor, «es ist nicht lustig, eigentlich … Wir sehen oft Männer, die völlig fertig sind … Ausgepumpt, aufgeschürft, Knochenbrüche, Blutergüsse, blaue Augen … die grölen noch immer Gesänge für ihren Club, wenn die Sanität sie ins Universitätsspital einliefert.»

«Absurd», stimmt ihm der Müller zu.

«Aber warum?», frage ich noch einmal.

Der Kellner bringt das Gestell mit dem Eis und den Austern, ein zweiter den Weisswein. Müller probiert ihn und nickt dem Garçon mit der Flasche zu. Der schenkt ein.

«Bon appétit», wünscht der Kellner.

«Merci», sagen wir und greifen synchron in die Platte mit den Austern. Alle drei lösen wir eine von der Schale, träufeln Zitronensaft darüber. Et hop!

«Ich verstehe das nicht», wiederhole ich, während sich auf meiner Zunge der Geschmack des Wirbellosen entfaltet. «Ich mag Fussball ja, aber …»

Manfred: «Dich interessiert eben daneben auch einiges mehr.»

«Und du glaubst an etwas», sagt der Müller.

Mhm, denke ich. Kommt jetzt die Stunde der Bekenntnisse? Unverbrüchliche Freundschaftsschwüre? Oder Wahrheiten, die wehtun?

«In der Fussballszene geht es auch um Werte», fährt der Müller fort, «um Farben, Clubtradition, um die Abgrenzung gegenüber anderen.»

«Und um Abenteuer», ergänzt Manfred. «Wenn du nicht Polizist bist, polytoxikoman oder Extrembergsteiger, wo kannst du als Westeuropäer sonst noch einen wirklichen Kick erleben? Den Adrenalinrausch?»

«Im Kopf», äussere ich das Erste, was mir einfällt.

«Im Kopf, im Bett, beim Reisen, Shoppen … oder eben mit dem Fussball», sagt Manfred.

Die Worte hängen in der Luft. Müller und ich sind mit der zweiten Auster beschäftigt. Dazwischen gibt’s zum Abrunden eine Scheibe Roggenbrot mit Butter.

Manfred führt seinen Gedanken aus: «Das Gerede vom Fussball als Religion trifft es. Religionen lassen sich als etwas Absolutes verstehen, als die Wahrheit schlechthin … In dieser Gedankenwelt gibt es Rechtgläubige und Ketzer, Abtrünnige und Wiedergeborene, Veteranen und Neubekehrte.»

«Und Symbole», sagt der Müller, «Rot-Blau, Blau-Weiss, Weiss-Blau, Gelb-Schwarz, Grün-Weiss, Rot-Schwarz … eine Liturgie aus kanonisierten Gesängen, Apostel und Heilige, Legenden und ein Mysterium.»

«Welches Mysterium?», frage ich.

«Der erfolgreiche Abschluss», antwortet Manfred, «der Siegestreffer. Der perfekte Fallrückzieher. Der entscheidende Pass in die Tiefe. Der gehaltene Penalty in der Nachspielzeit.»

«Himmel – Titelgewinn. Fegefeuer – Kampf im Mittelfeld der Tabelle. Hölle – Abstieg … oder Konkurs», fügt Müller hinzu.

«Während der Einsätze beim Letzigrund –», sagt Manfred, «… und beim Joggeli …», fällt ihm der Müller ins Wort, und Manfred spricht weiter: «… genau, während wir auf Befehle warten, während wir uns gedulden, bis die 90 Minuten um sind, und wir die Gästefans zu ihren Bussen begleiten, haben wir Zeit nachzudenken. Warum drehen manche Jugendliche und erwachsene Männer, Leute von 14 bis 60, auf und durch, wenn sie den Ball sehen oder wenn sie nur schon dran denken?»

Die nächsten Austern verschwinden von der Eisplatte.

Manfred: «Du wartest in voller Schutzausrüstung im Mannschaftswagen oder davor, stehst dir die Beine in den Leib, schwitzt unter dem Helm und der Weste, hörst, wenn sie im Stadion brüllen oder johlen, versuchst, den Stadionsprecher zu verstehen. Plötzlich heisst es ‹Aufsitzen!›, du steigst in den Wagen, und es geht los. In die Baslerstrasse, an die Badenerstrasse … ‹Absitzen!›, also aussteigen, auf die Strasse raus, sich formieren, warten …»

Manfred trinkt einen Schluck.

Am Strassenrand, im Eisengitter bei einem Baum, zwei Tage später liegt da noch immer ein Gummigeschoss.

«Du wartest erneut, zehn Minuten, fünfzehn, schaust, ob sich beim Stadion in einer Seitenstrasse Leute zusammenrotten, wenn ja, rückst du vor, den Mehrzweckwerfer mit den Gummigeschossen bereit, mit dem Schild, dem Einsatzstock. Wenn sich nichts tut, stehst du wieder bequem, scannst die Umgebung und behältst den Einsatzleiter im Auge, um gleich zu reagieren. Dann heisst es auf einmal: zur Bienenstrasse! Du rennst in der Schutzausrüstung hinüber, Schild und Koppel, alles klappert, einer stolpert, manche Gaffer finden das lustig. Sie freuen sich, dass sie Action zu sehen bekommen, hoffen auf Gewalt, starten ihre Handys, Videoaufnahmen. Du erkennst schwarz gekleidete Männer mit Hoodies, die vermutlich Matchbesucher abpassen wollen, die bald aus dem Stadion strömen werden. Wenn sie dich sehen, ziehen sie sich zurück, werfen Bierbecher und johlen irgendwas, ‹Scheissbullen› oder so.»

«Manchmal fühlst du dich wie ein Stück Vieh. Du tust, was dir befohlen wird, wirst herumkommandiert, und für die anderen bist du das Faschoschwein, das es auszutricksen gilt. Flaschen, Stöcke und Steine, alles ist möglich. Und, wie gesagt, immer filmen ein paar die Szene, um die ‹Polizeibrutalität› ins Netz zu stellen.»

Die zwölf Austern – vier für jeden – sind verschwunden.

«War’s recht?», fragt der Kellner, der gekommen ist, um das Eisgestell, die Vinaigrette und die leeren Brotteller abzutragen.

«Sehr gut, danke», sage ich, und Müller und Manfred nicken.

«Noch eine Flasche?», fragt uns der Müller. «Einen Riesling d’Alsace bitte», sagt er zum Kellner.

«Volontiers», quittiert dieser.

Die Magensäfte sind angeregt. Sie freuen sich aufs Sauerkraut, die Kartoffeln und das Fleisch. Manfred zieht heute einen Ausnahmetag vom Vegetariersein ein.