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Kriminalkommissär Müller läuft ein letztes Mal zur Hochform auf. Basel bei Minusgraden. An der Dorenbach-Promenade liegt ein erfrorener Toter. Wie ist der abgestürzte Ex‑Banker, der offensichtlich verprügelt wurde, dorthin geraten? Kriminalkommissär Müller und seine Equipe stehen vor einem Rätsel. Als kurz darauf nachts ein Kollege verletzt an der Markthalle aufgefunden wird, fordert Müller Verstärkung an: Bucher Manfred, seinen Polizeifreund aus früheren Tagen. Gemeinsam nehmen sie die Fäden der Ermittlung auf – und stoßen auf Verwicklungen, die ihnen ganz und gar nicht gefallen.
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Seitenzahl: 356
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Raphael Zehnder wurde 1963 in Baden AG (Schweiz) geboren, wuchs in Birmenstorf (Aargau) auf, lebte sechsundzwanzig Jahre in der Stadt Zürich und wohnt mit seiner Familie seit 2008 in Basel. Er verdiente sein Geld als Schallplattenverkäufer, Nachtwächter und Musikjournalist, studierte Französisch und Latein und promovierte in französischer Sprach- und Literaturwissenschaft. Er arbeitet als Redaktor beim Schweizer Radio und Fernsehen SRF und ist Autor von zehn Kriminalromanen um den Polizeimann Müller Benedikt. Bei Emons ebenfalls erschienen: der Fotoband »Zürich in den 1970er Jahren« und »41'285 km2 Verbrechen, Kriminalpoesie à gogo«.
www.raphaelzehnder.ch
Alles in diesem Buch ist Fiktion. Allfällige Ähnlichkeiten mit realen Personen, Firmen, Parteien und sonstigen Gegebenheiten sind zufällig. Bloß Müller, Sermeter, Bucher Manfred und die Liebe existieren. »Müller und das letzte Gefecht« lässt sich mono lesen und laut.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: stock.adobe.com/Jeremy
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne, Schweiz
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-208-6
Originalausgabe
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Für Annette, Julius und Vinzenz
Try to be Mensch.
Element of Crime
Er:
Müller Benedikt (53), Kriminalkommissär Basel-Stadt, privat: 4054 Basel
Polizeikräfte:
Allmendinger Valérie (29), Detektivin, Kriminalkommissariat Basel-Stadt, 4052 Basel
Bachmann Leander (23), Aspirant, Kantonspolizei Basel-Stadt
Brügger Pascal (29), Gefreiter, Kantonspolizei Basel-Stadt, privat: 4310 Rheinfelden
Bucher Manfred (53), Detektivwachtmeister, Polizei Zürich
Cattaneo Roland (42), Kriminaltechnische Abteilung der Kantonspolizei Basel-Stadt, während dieses Buches fast durchgehend in den Ferien
Dominguez Freddie (30), Detektiv, Kriminalkommissariat Basel-Stadt, privat: 4123 Allschwil
Gormann Markus (43), Detektivwachtmeister, Kriminalkommissariat Basel-Stadt
Hurni Konrad (46), Kriminaltechnische Abteilung der Kantonspolizei Basel-Stadt
Imfeld Kevin (32), Leutnant, Kantonspolizei Basel-Stadt, privat: 4123 Allschwil
Inäbnit Jean-Luc (28), Polizist, Kantonspolizei Basel-Stadt
Krähenmann Thomas (49), Dr. iur. Erster Staatsanwalt ad interim des Kantons Basel-Stadt, privat: 4102 Binningen
Mastrantonio Angelo (29), Polizist, Kantonspolizei Basel-Stadt
Odermatt Amber (22), Aspirantin, Kantonspolizei Basel-Stadt
Sermeter Gülay (39), Detektivwachtmeisterin, Abt. Wirtschaftskriminalität, Kriminalkommissariat Basel-Stadt, privat: 4057 Basel
Thommen Gian (35), Gefreiter, Kantonspolizei Basel-Stadt
Vakulic Vlado (23), Aspirant, Kantonspolizei Basel-Stadt
Wäckerlin Romina (37), Detektivkorporal, Kriminalkommissariat Basel-Stadt
Zivilbevölkerung:
Botero Nenad (31), Vater, aus der Spur gefallen, wechselnde Adressen
Brodmann Claudio (42), Bankkaufmann, früher Bank Nordwest, heute Bank , privat: 4203 Grellingen
Brügger Corinne (29), Pflegefachfrau, 4310 Rheinfelden
Dobler Silvan (46), Privatkundenbetreuer Bank Nordwest, privat: 4105 Biel-Benken
Flury Dexter (47), Dr. iur., Leiter Compliance Bank Nordwest, Basel
Furger Giorgia, Rätsel, Verbleib unbekannt
Galati Fridolin (62), Glarner, vorübergehend wohnhaft: Notschlafstelle Alemannengasse 1, 4058 Basel
Gassmann Marky (46), freiberuflicher Hehler und Händler Import/Export, 4053 Basel
Grieder Roger (52), Ökonom, früher Bank Nordwest, heute Senior Consultant bei Pharma, privat: 4103 Bottmingen
Halbarter Bruno (19), zurzeit nicht berufstätig, ohne festen Wohnsitz
Hänggi Monika (49), Verwaltungsangestellte Kanton BL, Mutter von Mahrer Gregor, 4153 Reinach
Hauri Peter (43), lic. iur., Rechtsanwalt, oft Pflichtverteidiger, 4125 Riehen
Knutti Sarah (39), Mutter und kaufmännische Angestellte, 4127 Birsfelden
Kramer Gusti (54), vorübergehend wohnhaft: Notschlafstelle Alemannengasse 1, 4058 Basel
Lacevic Edin, genannt Darko, (54), trinkt v. a. vor dem Bahnhof SBB, Adresse unklar
Locher Karlheinz (46), ehem. Bankangestellter, ohne festen Wohnsitz, Basel
Mahrer Gregor (25), nicht berufstätig, 4153 Reinach
Romano Salvatore (39), Sanitärinstallateur, zurzeit ausgesteuert und ohne Wohnung
Schmutz Urs (45), Allrounder ohne regelmäßige Anstellung, angemeldet bei seiner Schwester in 4058 Basel
Schulthess Anna-Barbara (43), Leiterin HR Bank Nordwest, Basel
Sermeter Céline (13) und Murat (14), Kinder von Sermeter Gülay, 4057 Basel
Strickler Elias (42), kaufmännischer Angestellter, 4415 Lausen
Szabó Lajos (39), Wohnadresse wechselnd und unklar
Vollgas.
Das Leben ist wild. Donnerstag, 14. Februar. Es gibt Tage, die sind schlecht. Es gibt Tage, die sind richtig mies. Und es gibt welche, die sind katastrophal. Aber nicht für alle.
Innerorts. 23:06 Uhr. Korrekt wären 50 km/h. Er fährt zu schnell. Der Kumpel auf dem Beifahrersitz kennt die Momente, wenn es ihn sticht. Wenn es ihn drängt zu überborden.
»He«, ruft der Mann am Lenkrad, »hast du das gesehen? Wo hat der Au-to-fah-ren gelernt? Also … ehrlich, hey, alles, was recht ist.«
Reifenkreischen. Gummi. U-Turn, er wendet, und whoooosh folgt er dem anderen, einem schwarzen Wagen, matt lackiert, tiefergelegt. »Heckspoiler«, zischt er. Er verwirft die Arme. »Hach! Schau mal: Heck-spoi-ler! Wer so was nötig hat …« Im Freien würde er jetzt ausspucken, doch in einem Auto niemals. Was für erbärmliche Pfeifen! »Sind garantiert …«
Der Beifahrer schüttelt den Kopf. So ist der Kumpel halt, der kann nicht aus seiner Haut, dieses Temperament ist tief in ihm verankert. Manchmal bricht das eben heraus. Temperament, ja, das hat er, und er sprüht vor Energie, Charakter, Kraft. Der Fahrer schließt nah zum mattschwarzen Tiefergelegten auf. Lichthupe. Der Vordere beschleunigt. Er folgt ihm dicht. Nochmals Lichthupe.
»Willst du den wirklich …? Ist doch ein kleiner Scheißer.«
»Nein, den holen wir uns.«
Er hupt. Rechts ranfahren und anhalten soll der Mattschwarze.
Doch plötzlich … Stimmungsumschwung. Der Lenker tritt das Bremspedal durch. »Was soll’s«, ächzt er, stößt einen Fluch aus und wendet erneut um 180 Grad. Die Rücklichter des Mattschwarzen werden im Rückspiegel kleiner, weit hinten verschwinden sie, verschwimmen sie, vermischen sie sich mit dem gelblichen Licht der Straßenlampen und lösen sich auf in der Dunkelheit. »Ein Schwachkopf«, knurrt er, »so ein Volltrottel! Wir haben Besseres vor.«
Jetzt lacht er.
Der Kollege auch, weil nach dem Adrenalin jetzt Entspannung, relax, super. Sehen, was geht.
Sie fahren zwischen dem Glas-Bürogebäude neben dem Bahnhof (früher SBB-Cargo) und dem leeren Backsteinkomplex (früher Pharma, noch früher Großbank) durch, und über die Brücke überqueren sie die Bahngleise, sie wollen hinüber nach 4053 Gundeldingen. Verkehr um diese Uhrzeit? Kaum mehr. Das ist gut, das ist prächtig. Beim Hotel links rein → Güterstraße.
Der Beifahrer: »Die Blonde dort!«
Der Lenker: »Wo?«
»In dem roten Wagen. Die –«
»Okay, ja?« Er hält Ausschau. »Also, vielleicht … kann die was anderes …«, der Mann am Steuer grinst, »aber Auto fahren? Pfff. Wer lässt so was ans Steuer. Blinkt links, fährt rechts ran … Kommentar ü-ber-flüs-sig, !«
Wie gesagt, so ist er, der hat Feuer und trägt sein Herz auf der Zunge. Bei dem weißt du, woran du bist, auf den kannst du dich verlassen, und … er hat das Auge. Ihm entgeht nichts.
»Die lassen wir«, legt der Lenker fest. »Aber notier für alle Fälle das Kennzeichen.«
»Okay«, quittiert der Beifahrer.
Mötörengeräusch. Unter der Haube arbeitet die Mechanik. Regelmäßigkeit. Funktionalität. Schönheit. Durch Schläuchlein fließt Treibstoff. Kraftstoff nennt sich das nicht von ungefähr. Kontrollierte kleine Explosionen.
»Da vorne!« Der Fahrer zeigt auf einen Mann. Er kommt von der Tramhaltestelle Bahnhofseingang Gundeldingen her, überquert die Güterstraße und geht an der Kantonalbank vorbei in die Gempenstraße. Vom Trockenen ins … nein, der Regen hat soeben aufgehört.
Der Beifahrer dreht sich auf seinem Sitz. Kontrollblick 360 Grad. Kein Auto, kein Mensch in Sicht. Er nickt dem Lenker zu.
***
Die Hauptrolle.
Kommissär Müller Benedikt, Kriminalpolizei Basel-Stadt. Kennen Sie ihn noch nicht? Nur kurz: Vor ein paar Jahren, fünf oder sechs, hat er von der Polizei Zürich nach Basel gewechselt. Weil berufliche Entwicklung: Aufstieg im Rang, mehr Einfluss, Kompetenzen, Sitzungen, Büroarbeit. Und weil seine Schwester Doris, Bachlettenstraße in 4054, zwei Söhne, gerade eine schwierige Trennungs- und Scheidungsgeschichte von diesem von Claudio durchgemacht hatte. Als Bruder wollte er in der Nähe sein.
Wie sieht Müller aus? Halb sportlich, vorteilhaft: Seit einiger Zeit rennt er regelmäßig und hält den Bauchansatz unter Kontrolle, einigermaßen kräftig, Haarpracht abnehmend, Augen graugrünschlammig und je nach Licht manchmal fast blau, höchstens Zweitagebart, etwas Falten auf der Stirn und um die Augen.
Wie ist er? Eher ruhig. Flucht nicht. Schlägt nicht. Brüllt nicht. Denkt gern.
Warum macht er Polizeiarbeit? Ist Idealist, will die Welt ein bisschen besser machen, die Schwachen schützen … siehe Präambel der Bundesverfassung: »… gewiss, (…) dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen …«
Und sonst? Lesen, seinen Lieblingsphilosophen Diodoros, die Zeitung. Plus Privatleben. Plus gerne die drei S: sitzen, schauen, schlafen.
Wichtig zu wissen: An den Rhein ist der Müller auch gezogen, weil er im Dienst der Polizei Zürich an der Müllerstraße in 8004 einen Flüchtigen erschossen hat. Der wollte sich der Festnahme oder Ausweiskontrolle entziehen. BLAMM. Schiefgegangen, dumm gelaufen? Sch! Müller Benedikt ist nämlich keineswegs ein schießfreudiger SIG-Sauer-Polizeimann, sondern eher der besonnene Typ. Wegen dieser Schussabgabe deshalb in der Müllerpsyche heftige Kämpfe, schlechte Träume, Bedauern und Schmerz. Der Tod ist eine gnadenlose Einbahnstraße, und der Mensch darf ihn höchstens in Notwehr herbeiführen. Interne Untersuchung des Vorfalls, Staatsanwaltschaft et cetera, hat Müller entlastet. Trotzdem schlaflose Nächte, Konzentrationsschwierigkeiten, Verzweiflungsanfälle. Der Müller über Wochen, Monate auf Kostenstelle 0800 krankgeschrieben. Gesprächstherapie bei Dr. Andreas Borowski, dem Psychologen am Rigiplatz. Das hat ihm geholfen. Die bösen Bilder sind schwächer geworden, doch nicht aus dem U-Bewussten gelöscht. Die bösen Bilder von der Verfolgung zu Fuß im Kreis 4 und von der Schussabgabe, dem Ruck, der durch den Körper des Getroffenen geht. Er stürzt, schlägt am Boden auf. Der Müller erreicht den sterbenden Körper in dem Augenblick, als das Blut anfängt zu fließen. Aus dem warmen, noch lebenden Körper heraus rinnt es, roter Fleck, dunkelrote Lache, die sich ausbreitet auf den Kleidern, auf dem Boden … diese bösen Bilder … und Müller die Waffe noch in der rechten Faust, den Zeigefinger weiterhin am Abzug, den Blick starr auf dem Verletzten, dem Blutenden, dem Sterbenden … Diese Eindrücke blitzen bis heute, mehr als ein halbes Jahrzehnt später, gelegentlich auf, im Wach- und im Schlafzustand und in dem dazwischen. Immerhin seltener jetzt, weil Psychotherapie und die Zeit manche Wunden heilen und sich Müllers Ortswechsel ebenfalls auswirkt.
Denn auch in Basel lässt sich’s leben. Obwohl die Kriminalität hier ebenfalls anzutreffen ist.
Ah ja, noch etwas Positives: In dieser Stadt hat Müller Benedikt die Liebe gefunden: Gülay Sermeter, auch Polizistin. In ihrer Wohnung an der Hammerstraße hat er mittlerweile sogar eine Zahnbürste, Rasierzeug, Laufschuhe und ein Regalbrett für seine Wechselkleider. Dort drüben, auf der anderen Seite des Rheins, wohnt Gülay mit ihren zwei Kindern Murat (14) und Céline (13) aus früherer Partnerschaft. Amore ist schön, wenn auch nicht immer Sonnenschein.
Hallo, Dunkelheit.
Dorenbach-Promenade: Stadtrand. Hier wächst etwas, das fast einem Wald nahekommt, davon zwar bloß ein schmaler Streifen. Gleich mehr darüber, zunächst aber Wochentag und Datum: Freitag, 15. Februar. Und nun die Hauptsache: Ein Jogger hat ihn gefunden. Morgens kurz nach sechs.
Wer geht denn so früh raus, wenn in der Nacht das Wetter plötzlich von feuchtkühl zu eisig kippt? Ivan Blagojevic (27), Immobilienbewirtschafter, Fitnessfreund und Hundebesitzer. Ihm gelingt es jeden Morgen, seine muskulären Bedürfnisse mit denen seines Anton zu koordinieren. Doppel-Win-Win von Wauwau und Homo sapiens.
Der Lichtkegel von Blagojevics Stirnlampe hat den Liegenden erfasst. Zuerst ist Blagojevic stehen geblieben, um nachzusehen, ob der längliche Gegenstand auf dem Boden wirklich keine Teppichrolle ist, die ein Schweinehund wild hier am Dorenbach entsorgt hat. Der Bach, Fußweg unter Bäumen, Kies, eine Bank … eine blöde Stelle zum Rumlittern wäre das, denkt Blagojevic, denn mit dem Auto gelangst du gar nicht zu diesem Ort. Es gibt geeignetere Stellen, um Abfall zu deponieren: im Hardwald bei Birsfelden, an der Wiese bei den Langen Erlen, im Dreispitz zwischen den bloß noch zum Teil genutzten Industriehallen oder bei einer der Glasrecyclingstationen, etwa an der Brennerstraße neben dem Kompost. Schweig, Erzähler, die lokale Müllgeografie ist jetzt unerheblich. Weil es nämlich kein ausrangierter Bodenbelag ist, was der Jogger vor wenigen Sekunden entdeckt hat, sondern ein Mensch. Hingestreckt neben dem Gehweg liegt er, auf dem schmalen bewaldeten Damm, der den Dorenbach über ein paar hundert Meter daran hindert, die Häuserzeile an der Straße »In den Ziegelhöfen« zu überfluten, sofern das kleine Bächlein je tollkühn anschwellen sollte. Der Damm mit dem Kiesweg und den Bäumen, die Dorenbach-Promenade, gehört zu Ivan Blagojevics Laufrunde und zu den äußersten Quadratmetern von Basel-Stadt. »Wild Frontier« (The Prodigy).
Der Mann, der keine Teppichrolle ist, rührt sich nicht und gibt kein Geräusch von sich.1 Blagojevic nähert sich dem Objekt. »Hallo?«, sagt er. Mit der Hand überprüft er: Die Stirn fühlt sich kalt an. Im Schein seiner Stirnlampe erkennt er, dass die Augen des Mannes offen stehen.
Er fischt das Schritte zählende Mobiltelefon aus der Rückentasche seines atmungsaktiven Laufdresses.
117. Die Nummer der Alarmzentrale.
Er meldet, wo er steht, was er sieht und dass keine Reaktion. Er präzisiert, wer er ist, und verspricht, sich nicht zu entfernen, die Position des Toten nicht zu verändern und nichts zu berühren.
Außer die Stirn, die hat er schon. Erste-Hilfe-Versuch. Menschenpflicht.
Ihm wird kalt. An Ort und Stelle Laufbewegungen auszuführen, um sich zu wärmen, das findet er unangemessen. Denn er denkt an den Tod. In dessen Angesicht willst du nicht rumhampeln. Dackel Anton hingegen ist aufgeregt. Rennt zwischen dem Toten und Ivan Blagojevic hin und her, winselt und wedelt. Der Mensch nimmt nun den Hund an die Leine, damit er nicht an der Leiche herumschnüffelt, und entfernt sich einige Schritte. In vier, fünf, bald in neun, elf Wohnungen In den Ziegelhöfen, der Häuserzeile mit vier- oder fünfgeschossigen Gebäuden, ist mittlerweile das Licht angegangen. In Sichtweite von Blagojevic, maximal hundert Meter von ihm entfernt, frühstücken die Menschen. Sie machen sich zur Arbeit bereit, die Kinder für die Schule, und die Depressiven begrüßt auch an diesem Freitagmorgen frisch und fies die Depression.
Im Winter singen keine Vögel, fällt Blagojevic unversehens auf. Ist das immer so? Obwohl er jeden Werktag zu dieser Uhrzeit hier seine Runde läuft, ist sie ihm bisher nie aufgefallen, diese laute Totenstille. Sein Blick fällt erneut auf den Toten. Wie ein Sack Kartoffeln liegt er da.
Zehn Minuten vergehen, bis die erste Polizeipatrouille eintrifft, zu Fuß die zweihundert Meter vom Allschwiler Weiher her. Zwei Männer, eine Frau, das Alarmpikett. »Herr Blago…?«, fragt der erste Uniformierte. »Blagojevic«, vervollständigt dieser. »Der Zeuge?«, fragt der zweite.
»Ich habe den Mann bloß gefunden, gesehen habe ich nichts.«
Die Polizistin tritt zum Toten. Stablampe. Erster Augenschein. Handy. Sie sagt etwas, hört zu und spricht schließlich zu niemand Bestimmtem: »Der Kommissär und der Kriminaltechnische Dienst sind unterwegs.« Die nächsten Worte richtet sie an den Jogger: »Nehmen wir Ihre Aussage auf, Herr Blagojevic. Dann können Sie in die Wärme.«
AEK:Ausgangslage analysieren.Erkenntnisse ableiten.Konsequenzen ziehen.
Die Ermittlungsmaschine läuft an.
06:32 trifft an der Dorenbach-Promenade die Kriminalpolizei ein: Müller und Gormann, beide verschlafen, Mantelkragen hochgeschlagen, der Kommissär mit Wollmütze, beide mit Taschenlampe. Minuten später finden sich Konrad Hurni von der Kriminaltechnik und drei seiner Leute ein.
»Erdös, Kapo«, stellt sich die Polizistin vor, die als Erste eingetroffen ist.
»Guten Morgen.« Der Kommissär reibt sich einen Krümel Schlaf aus dem rechten Auge.
»Das ist Herr Blagojevic, Vorname: Ivan. Er hat den Toten gefunden.«
Apropos »Toter« … vom augenscheinlich Toten zum rechtlich verbrieft Toten wird der Mann durch François Haberthür, den forensischen Pathologen. Er kommt in dieser Minute an, grüßt in die Runde, den Müller mit Handschlag, und bückt sich zum Opfer.
»Licht kommt«, sagt Hurni und schaltet den Scheinwerfer ein.
»Danke«, sagt Haberthür, macht sich am Liegenden zu schaffen und stellt nach wenigen Sekunden fest: »Ja, dieser Mann ist unzweifelhaft tot.«
Hurni und seine Leute sperren mit rot-weißem Plastikband die Umgebung ab und fangen an, den Fundort Uefa-tauglich auszuleuchten, Fotos aufzunehmen und zu tun, was Kriminaltechniker tun. Der Pathologe Haberthür sieht ihnen zu und macht sich Notizen.
Kommissär Müller liest unterdessen Polizistin Erdös’ Verschriftlichung von Blagojevics Aussage durch, stellt dem Jogger zur Kontrolle die gleichen Fragen, bedankt sich bei ihm und entlässt ihn. Er vergisst nicht, die Kollegin für den klaren Rapport zu loben. Dann stellt er sich zu Haberthür und Hurni an den Rand des Scheinwerferlichts.
»Und?«, fragt er.
Rätsel. Enigma.
Turbo gearbeitet hat Haberthür. Um 09:10 Uhr macht Müllers Computer bereits pling: Der summarische erste Autopsiebericht nennt als Todesursache Unterkühlung und verzeichnet frische Verletzungen durch zahlreiche Schläge und Tritte, und zwar am Rücken, an den Armen (vermutlich Abwehrbewegungen), an Brust und Beinen. Prellungen, Blutergüsse. Im Blut des Toten ein Alkoholpegel von 1.7 Promille. »Todeszeitpunkt zwischen Mitternacht und 01:00«, hält Haberthür in seinem Bericht fest. Der Kommissär ruft den Pathologen kurz an. Die Leber des Toten sei »nicht fluffig rosa«, sagt der, »sondern gräulich und hart. Gewohnheitstrinker klingt besser als Kampfsäufer«. Und er fügt hinzu: »Er war sehr oft draußen.«
Um 10:00 Uhr findet sich das Müllerteam vollzählig zur Einsatzbesprechung im Sitzungszimmer S 207 im Waaghof ein, dem Sitz der Staatsanwaltschaft und des Kriminalkommissariats. Vollzählig, das bedeutet, nach Dienstrang geordnet: Detektivwachtmeister2 Gormann Markus, Detektivkorporalin Wäckerlin Romina, Detektiv Dominguez Freddie, Detektivin Allmendinger Valérie und die Aspirantin Odermatt Amber und der Aspirant Vakulic Vlado.
»Ein Alkoholiker wird zusammengeschlagen und stirbt nachts auf der Dorenbach-Promenade an Unterkühlung«, fasst der Müller vor seinem Team im Waaghof die Fakten zusammen.
Müller zeigt ihnen Fotos des Toten und des Fundorts.
»Nachbarschaftsbefragung In den Ziegelhöfen, wir alle«, befiehlt der Kommissär, »Markus fordert gleich Verstärkung an bei der Kapo.« Gormann auf den Korridor zum Telefonieren. Er bestellt die Kolleginnen und Kollegen der Kantonspolizei direkt zur Post Neuweilerplatz. Dahinter liegt die zu untersuchende Nachbarschaft. »Die Blauen werden euch bei den Befragungen helfen. Romina, du erklärst ihnen, was sie fragen und worauf sie achten sollen.«
»In Ordnung, verstanden«, quittiert Wäckerlin.
Sie schütten den Restinhalt ihrer Kaffeebecher hinunter und »Hey! Ho! Let’s Go!« (The Ramones). Raus in die Kälte, Knochenarbeit. Klingeln, befragen, klingeln, niemand da, klingeln, ist dein Papi zu Hause? Und die Mama? Dienstausweise vorzeigen. Klingeln, befragen, klopfen, fragen, im Treppenhaus grüßen, sich erkundigen, grüezi mitenand, Kriminalpolizei, befragen, klingeln, Fragen stellen, etwas Ungewöhnliches bemerkt? Danke schön. Ja, wir sind von der Polizei. Die Uhr, die macht ticktack, ticktack, von der Wirklichkeit blättert ab der Lack, wer hinter Glanz und Glamour schaut, sieht: Mit der Menschheit ist’s nicht sehr weit. Befragen, befragen, klingeln, grüezi. Vorbei ziehen die Sekunden, sie ballen sich zu Stunden. Ungewöhnliche Sichtungen letzte Nacht: ein Fuchs. Ein Fuchs! Ach, ein Fuchs … Autos? Stimmen? Geräusche? Geschrei? Lichter auf der Dorenbach-Promenade? Bewegungen in der Dunkelheit? Nein? Nichts Außergewöhnliches? Nein? Ja, eine Routineuntersuchung. Machen Sie sich keine Sorgen, bloß eine allgemeine Überprüfung, danke schön. Der Fahrzeugverkehr In den Ziegelhöfen ist ohnehin sehr gering, keine Durchgangsstraße. Keine sonderbaren Menschen wahrgenommen, keine seltsamen … aber was bedeutet heutzutage schon, äh, »seltsam«, nicht? Haha. Draußen letzte Nacht weniger als nichts los, weil kühl, dunkel, ungemütlich und im Laufe der Nacht Kaltfront aus Nordwesten. Da tummeln sich die Anwohnerinnen und Anwohner lieber zwischen Küchentisch, Sofagarnitur und Streaming. Verständlich.
Also niente.
0:0 für die Wirklichkeit.
Dass hundert Prozent niente, muss die Kriminalpolizei allerdings erst im Zuge des Standardfeierabends am früheren Abend feststellen, als die zuvor nicht befragten Anwohnerinnen und Anwohner von der Arbeit zurückgekehrt sind und ebenfalls nichts Substanzielles aussagen können.
Wäre auch zu einfach gewesen, das Buch an dieser Stelle zu Ende, und ich hätte Ihnen nichts Kriminalistisches mehr zu erzählen gehabt.
Wie Konfusius der Verwirrte feststellte: »Das Einfache ist es oft nicht.«
Der Mann, der Tote, lag wenige Dutzend Meter von den Betten von Dutzenden von Frauen, Männern und Kindern entfernt. Wahrscheinlich … nein: Er lebte noch, als manch einer »10 vor 10« oder das Nachtbulletin schaute oder sogar Spaß hatte. So nah beim Sterbenden oder Toten. Muss man im Kopf behalten. Ungemütlich. Ungemütlich.
Bevor die Equipe kurz nach 10:00 Uhr ausgeschwärmt ist, hat Müller bei der Kapo zusätzlich zu den von Gormann für die Nachbarschaftsbefragung aufgebotenen Sicherheitspolizist- und -innen noch mehr Einsatzkräfte angefordert. Zum einen, um an der Dorenbach-Promenade die zwei Wache haltenden Kollegen abzulösen, damit sie nicht festfrieren. Vor allem aber, um den Fundort großräumig abzusuchen.
Müller fragt sich: Hat sich der verletzte Betrunkene noch bewegen können, bevor er erfroren ist? Wollte er sich irgendwohin retten? Betrunken, wie er war, konnte er überhaupt einen Fluchtversuch unternehmen, als er angegriffen wurde?
Wurde er anderswo halb totgeprügelt, an den Dorenbach transportiert und dort bewusstlos liegen gelassen, worauf er erfroren ist?
Oder war er tot, bevor ihn die Täterschaft am Stadtrand deponiert hat?
Wer hatte es auf diesen Mann abgesehen?
Und natürlich will die Kripo wissen: Wer ist der Tote?
Polizistin Simone Jeanneret meldet am frühen Nachmittag, sie habe hundertfünfzig, zweihundert Meter vom Fundort der Leiche entfernt, im gefrorenen Dreck und Raureif am Rand der abschüssigen kleinen Wiese an der Ecke Am Weiher/Allschwilerweg Spuren gefunden. Von mehreren Personen. Sie beginnen hier, am unteren Ende des Weihers, und enden einen knappen Meter weiter am Kiesweg, der Promenade. »Höchstwahrscheinlich drei Personen, nehme ich an«, teilt Jeanneret Müller telefonisch mit. Zum Glück ist die Temperatur nicht gestiegen, sonst wären diese möglichen Indizien längst Matschdreckbrei. Eile ist trotzdem nötig. Müller bietet erneut die Kriminaltechnik auf, Konrad Hurni.
Nochmals Hurni? Warum er? Wo steckt Roland Cattaneo, der Leiter der Kriminaltechnik? Keine Sorge, nichts Drama. Cattaneo verbringt zwei Ferienwochen, weit oben, wo Schnee liegt. Zeiterfassungscode 0100 nach Karl-Käfer-Kontenrahmen. Darf auch mal sein.
Hurni und drei KTs fahren zu Jeanneret an den Stadtrand raus. Sie hat sichergestellt, dass niemand mit dem Bike über die Spuren rollt oder sie platt tritt. Haben die Schuhabdrücke am Wegrand mit dem Toten zu tun? Hurni & Cie. sammeln alles, was ein Hinweis sein könnte. Die Spuren liegen glücklicherweise um wenige Meter auf Stadtbasler Gebiet. Spart Papierarbeit und Telefonate. Obwohl die Zusammenarbeit mit Basel-Landschaft BL, die klappt schon, doch, doch.
Sohlenprofile im zäh gefrorenen Dreck … robustes Schuhwerk, wie’s aussieht. Drei Personen, vermutete Polizistin Jeanneret. Korrekt, bestätigt Konrad Hurni. Er fotografiert. Einige Meter näher zum Weiher entdecken die Kriminaltechniker am Wiesenrand Reifenspuren. Über den weichen Boden muss jemand hier rangefahren sein und angehalten haben. Mehr Fotos.
Bericht Jeanneret und Hurni elektronisch → an den Kriminalkommissär.
In seinem Einzelbüro im Waaghof formuliert der Müller die erste Hypothese: Möglicherweise haben zwei Personen den Mann mit einem Auto zum Allschwiler Weiher gebracht, ihn dort zum Aussteigen gezwungen oder ausgeladen, ihn zu Fuß – deshalb drei Fußspuren, zwei von Tätern, eine vom Opfer – auf der Dorenbach-Promenade außer Sichtweite von Automobilisten getrieben, die zufällig den Allschwilerweg hinuntergefahren wären. Zwischen Kiesweg und Bächlein haben sie ihn abgelegt, und hier ist er schließlich erfroren.
Wenn dem so ist: Haben diese mutmaßlich zwei Täter dem Opfer auch die Schläge zugefügt, deren Verletzungen Haberthür dokumentiert hat? Wo haben sie das getan? Haben sie ihn zusammengeschlagen, bevor sie ihn an den Dorenbach verbracht haben, oder hat er die Schläge am Fundort erlitten? Haben sie ihn liegen lassen, und weil er schwer verletzt war, konnte er sich nicht retten, ja nicht einmal um Hilfe rufen? Hat er gerufen – und wurde von niemandem gehört?
Fragen ist richtig, vermuten wichtig, spekulieren nichtig: »Es kommt nicht darauf an, was wir wissen, sondern auf das, was wir beweisen können.« (Sherlock Holmes in: »Der Hund von Baskerville«) Beweisen. Alles. Restlos. Und zwar bis zum Ende. Analogie: Kein Komponist setzt sich mit dem Vorsatz ans Klavier: »So, nun komponieren wir zur Abwechslung mal ein paar unvollendete Sinfonien.« Sogar Schubert tat das nur einmal, dann wurde es ihm zu bruchstückhaft.
Überstunden.
Freitag, 17:26 Uhr. Der Müller schaut durchs Fenster in die Finsternis. Aus seinem persönlichen Fenster im Waaghof. Neunzigerjahrebau, Flachdach, Bürohaus. Wenn Ihnen der Sitz der Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt und der Kriminalpolizei, der auch das Untersuchungsgefängnis einschließt, nicht vertraut sein sollte, begeben Sie sich auf der Viaduktstraße bis zur Mitte der Brücke. Wenn Sie von der Markthalle her kommen, schauen Sie scharf rechts in Richtung Innerstadt. Der lange Riegel an der Binningerstraße, oberhalb des ersten Stocks graugrünlich verkleidet, oberstes Geschoss leicht zurückversetzt, das ist der Waaghof. Zuoberst arbeitet der Erste Staatsanwalt ad interim Thomas Krähenmann, in den unteren Stockwerken unter anderem der Kriminalkommissär mit seinen Leuten.
Er denkt nach. Bei Gülay hat er sich telefonisch abgemeldet. »Ich komme erst spät heim.«
PPP … Polizistin-Polizist-Partnerschaft. Was gemeinsame Zeit angeht, nicht eben einfach.
Die Müller’sche Drei-I-Regel verschärft die Existenz als Paar prekär: »Irgendwas ist immer.«
Doch das ist Courant normal. Würde es einen zu sehr stören, hätte man den falschen Beruf gewählt. Kapitaldelikt geht vor Privatleben. Denn Standard ist auch, unnatürliche Todesfälle schnellstmöglich aufzuklären. Willst du, musst du. Gerechtigkeitsdrang und Pflichterfüllung. Auf dem Spiel steht schließlich die öffentliche Sicherheit. Oberste Priorität. Für einmal fallen weder die Kosten noch die Dienst- und Ruhezeiten des Arbeitsgesetzes ins Gewicht. Ein toter Mensch löst etwas aus. Und an Pietät denkt der Müller nicht zuletzt.
Kurz: im Kriminalkommissariat sämtliche Kräfte an Bord und das Wochenende vertagt. Egal, wer das Opfer ist.
Obwohl … ginge es um einen vor Wichtigkeit wippenden VIP, einen populärpotenten Politiker, einen Torpedo-Tribun oder one Businessman-Biggie, hätte der Kommissär längst seinen Vorgesetzten an der Strippe, eben Thomas Krähenmann. Halbtäglich würde der auf Ermittlungsfortschritte dringen und sich laufend erkundigen, wie krumm sich die Kripo legt. Weil er den Medien gerne ta-daa ta-daa sofort den Kopf des Schuldigen vorweisen möchte, wie Salome den Kopf von Johannes zu Herodias brachte (Mk 6,24–25; Mt 14,10–11). Den Krähenmann hat der Müller besser im Griff als dessen Vorgänger Stickelberger. Schließlich hat er den neuen Chef dabei unterstützt, den alten aus dem Organigramm tilgen zu lassen.3 Dessen engstem Mitarbeiter, einem vermuteten Informationsleck, haben sie gemeinsam falsche Informationen untergeschoben. Der Mann ging in die Falle, was auf Stickelberger, den damals amtierenden Ersten Staatsanwalt, zurückgefallen ist: Die neu gewählte Regierungsrätin Gruber hat den Laden aufgeräumt. Durch dieses Manöver ist Krähenmann aufgerückt, zumindest interimistisch, und der Müller den Vorgesetzten losgeworden, der ihm zu autoritär war und sich zu sehr ins Operative eingemischt hat.
Das Leben ist kein Weißwaschgang. »Auch ein feiner Mensch kann bisweilen ein Saukerl sein.« (A. B. Clavadetscher)
Müller ruft Hurni von der Kriminaltechnik an. »Gibt es Hinweise aus den gefrorenen Spuren im Dreck? Hast du an den Kleidern oder am Körper des Toten Textilfasern gefunden oder DNS?«
Müller ruft Haberthür in der Pathologie an. »Hast du an den Händen des Toten etwas feststellen können? Fremdes Gewebe unter den Fingernägeln? Besonderheiten, was die Prellungen an dessen Körper betrifft?«
Die Kollegen sind noch nicht so weit. Sie arbeiten. Lass sie arbeiten, Kommissär! Geduld. Müller fällt es schwer, geduldig zu sein, und manchmal kommt es ihm vor, als werde er mit den Jahren ungeduldiger. Er will die Täterschaft überführen und festnehmen. Aus Überzeugung, aus Mitgefühl mit dem Toten. Mit dessen Angehörigen. Wer ist der tote Mann? Gibt es überhaupt jemanden, der um ihn trauern wird?
***
Das Leben als Leerstelle.
18:45 Uhr. Fehlt der Tote niemandem? Eine Vermisstenanzeige liegt der Polizei bisher nicht vor. Gut, der Mann ist erst frisch tot. Sein Foto zirkuliert seit dem frühen Morgen in allen Dienststellen und im ganzen Polizeikorps. Kommissär Ruedi Stierli, Chef Fahndung, meldet sich bei Müller. Er kommt viel in der Stadt herum und kann ihn identifizieren: Karlheinz Locher (46).
Er war obdachlos, verkehrte unter den Alkoholikern vor dem Bahnhof und beim Soup & Chill an der Solothurnerstraße. Während der kalten Jahreszeit, also jetzt zum Beispiel, suchte er gelegentlich Unterschlupf in der Notschlafstelle für Männer an der Alemannengasse 1 beim Wettsteinplatz. 4058. Sie öffnet um 20:00 Uhr. Bis Mitternacht müssen die Unterkunftsbedürftigen eintreffen. Dann dreht sich der Schlüssel bis zum Morgen.
19:10 Uhr. Das Müllerteam zuerst → Bahnhof Basel SBB. Müller, Gormann, Wäckerlin, Dominguez, Allmendinger. Fünf Zivile auf einmal, das beeindruckt die anderthalb Dutzend Männer und drei Frauen, die unter dem Vordach vor dem Bahnhof sitzen, stehen, saufen, vor sich hin dämmern, rauchen, husten, schwanken, streiten, diskutieren und herumkrakeelen. Hier geht es weniger konventionsgefiltert zu als in der Restgesellschaft, weil hochpromilliger, hochprozentiger und hie und da hochtouriger. »Hemmige« (Mani Matter) werden durch die biochemischen Prozesse im Gehirn abgebaut. Kein Wunder, wirkt die Wortwahl unseren Einsatzkräften gegenüber wenig herzlich. Noch expliziter spricht die Körpersprache, in einem Wort: Mittelfinger. Denn wer ein Auge dafür hat, erkennt Zivile sofort. Und wer am Rand der Gesellschaft lebt, entwickelt notgedrungen zwei Augen für potenzielle Quellen von Ärger, Bedrohungen, Lämpe und Puff. Wir, die Bullen und Bullinnen, nun … wir … gut, Sie wissen, wie es sich zwischen uns und Teilen der Bevölkerung äh verhält: tendenziell kompliziert. Manche lieben uns innig nicht.
Wenn nämlich du oder deine Dienstkollegin oder ein flic, der deine Arbeit vor zwei, sechs oder elf Jahren ausgeführt hat, vor drei Wochen, sieben Monaten oder dreiundzwanzig Jahren den Kumpel oder die Schwester von dessen Cousin oder einen aktuellen Klienten festgenommen hat wegen
(bitte Zutreffendes ankreuzen, denn »Kreuze im Leben sind wie in der Musik: Sie erhöhen« (Beethoven))
□ Ruhestörung□ Verunreinigung der Allmend□ Beleidigung und Angriff□ Drogenkonsum□ Ladendiebstahl□ __________________________________
Komma dann gewinnst auch du bei den Personen vor dem Bahnhof SBB keine Sympathiepunkte. Kann man ja verstehen, nicht? Unterschiedliche Welten, Identitäten, Aufträge, Bedürfnisse, Lebenslagen. Alle kennen Dutzende von Festnahmegeschichten, polizeiliche Schimpfkanonaden, Beispiele von uniformiertem Überdruss, weil die Welt hart, anstrengend und ungerecht ist. Sie sind vertraut mit allen Varianten von schlechter Cop-Laune. Weil die Wirklichkeit einfach oft stinkt.
!
Persönlich darfst du die Welt nicht nehmen, heißt es immer.
Darfst du nicht. Nicht. Aber man tut es trotzdem, und sie macht einen sogar agggggrrrrressss…
(Notiz ans Über-Ich: Ausbildungsmodul »Deeskalation« repetieren.)
Persönlich darfst du die Welt nicht nehmen. Die Welt aber nimmt es persönlich, dass du existierst und dem BIP vom Karren gefallen bist. So ist es doch.
Shit. Trotzdem: Shit! Als die Müllerpolizei vor dem Bahnhof eintrifft, brummen und knurren die Leute dort. Der eine oder andere spuckt auf den Boden, und Aldo Manninger (36) wirft sogar eine fünftel volle Wermutflasche gegen das geballte Polizeiaufgebot, was a) Verschwendung ist, obwohl billiger Fusel, und b) Gewalt gegen Beamte Art. 285 StGB → Festnahme Manningers. Adrenalin- und Zeitverschwendung, aber komplett. Tubeliseich. Aber Manninger konnte ja nicht vorhersehen, dass nicht Repression bevorsteht. Sondern dass die Zivilen den Tod eines Mannes aufklären wollen, der vielleicht 24 Stunden zuvor mit ihm und den anderen hier den einen oder anderen Liter geteilt hat. Vielleicht waren sogar Speichelpartikel von Karlheinz Locher am Flaschenhals, den Manninger und Locher zusammen benutzt haben. Und dem wollten und könnten Müller und Cie. wirklich gar nichts Böses, da er bekanntlich dem Sensenmann begegnet ist.
»Bye Bye Baby« (Screaming Lord Sutch).
»Violent World« (The Misfits).
»Somebody Got Murdered« (The Clash).
»«, »« und »«, solche Wörter vernehmen also der Kommissär und seine Equipe, als sie sich an die Leute unter dem Bahnhofsvordach wenden wollen. Gormann ist, er habe »hier stinkt es plötzlich so« gehört, was faktisch falsch ist. Denn die Gerüche in diesen Minuten vor dem Bahnhof Basel SBB stammen von schlechtem Schnaps, billigem Wein, von Bier, nicht gewaschenen Körpern, aber auch von radikalparfümiert einherstolzierenden Aftershave- und Egoïste-Bahnkunden wenige Meter daneben. Duftcocktail, soziologisch aufschlussreich.
Kurz: Die Müllerpolizei befragt Gestrandete, Alkoholiker und Junkies … Ich könnte Ihnen auf Anhieb zwölftausendvierhundertsiebzehnkommafünf Dinge nennen, die sie lieber täten.
Ein Foto von Karlheinz Locher haben alle Müllerteammitglieder in der Tasche.
»Guten Abend. Kriminalpolizei Basel-Stadt. Kennen Sie diesen Mann?« So beginnen die Gespräche. Wer nicht die Schwalbe gemacht hat, wirft mehr oder weniger aufmerksam einen Blick auf das Foto. Der Pathologe und die Kriminaltechnik haben sich angestrengt, damit der tote Locher auf dem Bild nicht zu sehr einem von der Addams Family ähnelt. Aber … ein Mann mit geschlossenen Augen auf einer Aufnahme, die dir ein Bulle unter die Nase hält … alles klar, nicht wahr?
»Ist er tot?«, fragt ein Mann mit stark geröteter Gesichtshaut, aufgedunsenen Händen und zotteligen Haaren. Gormann schätzt ihn auf Mitte fünfzig. Die Ausweiskontrolle wird den Wert um fünfzehn Jahre senken und den Mann als Lajos Szabó (39) identifizieren.
»Ja, er ist tot«, bestätigt Gormann, »wir wollen herausfinden, was mit ihm geschehen ist.«
Der Kriminalpolizist schaut Szabó in die Augen. Dieser schweigt.
»Kennen Sie ihn?«
Der Mann schaut zuerst um sich und nickt sachte. Will er nicht, dass jemand mitbekommt, dass er mit dem Polizisten spricht?
»Lochi«, sagt er, »das ist Lochi.«
»Wann haben Sie ihn letztmals gesehen?«
Szabó denkt nach, fingert ein zerknülltes Zigarettenpaket aus der Jackentasche und klopft sich eine heraus. Sie ist krumm, aber in Ordnung. »Hast du Feuer?«
Gormann hat nicht.
»Ich habe das Feuerzeug irgendwo verloren, oder einer hat sich’s geliehen und nicht zurückgegeben.«
Gormann wartet.
»Darko, hast du Feuer?«, ruft der Zottelige zur nächsten Bank.
Ein Langer, Magerer mit Bürstenschnitt reagiert und tastet seine Jackentaschen ab. Dann kommt er her, stutzt aber, als er Gormann beim rauchwilligen Kollegen entdeckt.
»Lochi ist tot«, sagt der Zottelige.
Der Lange scheint zu überlegen, von wem die Rede ist.
»Die Bullen wollen herauskriegen, was mit ihm passiert ist.«
»Heute nicht gesehen Lochi«, sagt Darko, »weiß ich nichts. Gestern war da.«
»Bis wann? Mit wem?«
»Viele. Kenne ich nicht von allen Namen.«
»Und bis wann ist er hiergeblieben?«
»Zehn? Halb elf? Elf? So etwa.«
Szabó bestätigt: »Ungefähr, ja.«
Gormann wiederholt, was die zwei Männer soeben gesagt haben: »Zehn, halb elf, elf, so etwa, ungefähr, ja …« Er wartet. »Was denn jetzt?«
Schulterzucken.
»Können Sie mir das genauer sagen?«
Kopfschütteln. Schließlich fügt Darko (Personenkontrolle ergibt: Name lautet Edin Lacevic) hinzu: »Sind nicht alle da, jetzt, wo sind normalerweise. Vielleicht wieder morgen?«
Lacevic hat sich nicht sofort verzogen, als sich Markus Gormann mit dem Foto des Toten an ihn gewandt hat. Er hätte verschwinden können. Im Gegensatz zu manch anderen Männern und Frauen bei den Bänken vor dem Bahnhof. Manche starren vor sich hin, gewisse sind in sich zusammengesackt, einer hat sich gegen die Kälte in einem Schlafsack verkrochen. Bei einigen dringt die linke Gehirnhälfte nicht mehr konsequent zu dem durch, was die rechte vorhat. Und der Restkörper tut ohnehin, was er nicht will.
***
Kleinarbeit.
Während die Müllerequipe im Umkreis des Bahnhofs ermittelt, versuchen im Gemeinschaftsbüro der Kripo Aspirantin Odermatt und Aspirant Vakulic Angehörige des Toten zu finden. Ergebnis: nichts. Keine Partnerin, kein Partner amtlich registriert, Eltern vermutlich tot, keine Geschwister. Keine Wohnadresse, an der die Ermittlungen ansetzen könnten. Ist wirklich niemand von Karlheinz Lochers Ableben zu benachrichtigen?
***
Gute Nacht?
Freddie Dominguez und Romina Wäckerlin, unsere, sagen wir’s ohne Blümlein, handfesten Polizeikräfte → zur Notschlafstelle für Männer an der Alemannengasse. Öffnet – wir sagten’s – um 20 Uhr, verfügt über 75 Betten in Vier- bis Sechs-Bett-Zimmern. Die Uhren zeigen exakt 22:17 Uhr, als der dunkelblaue Skoda vorfährt. Dominguez und Wäckerlin steigen aus, richten die Kleider, drücken das Kreuz durch und betreten das Haus. Ein Mitarbeiter (Anfang 30, Jeans, dunkelroter Hoodie, Haare zu einem kleinen Dutt aufgesteckt) tritt auf sie zu. Sie zeigen ihm ihre Dienstausweise und Lochers Foto.
Sebastian Knauss, so heißt der Mitarbeiter, erkennt Locher sofort. »Das ist Lochi. Er ist regelmäßig hier.«
»Wann zum letzten Mal?«, fragt Wäckerlin.
Das Foto, die Formulierung »zum letzten Mal« … Knauss schaut die beiden an. Was geht ihm durch den Kopf? Denkt er an all das Elend, das er als Mitarbeiter der Notschlafstelle tagtäglich mitbekommt? An die Gewalt, die ihm nicht selten begegnet?
»Lochi war diese Woche hier, das war …«, sagt er nachdenklich. »Das muss … in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag gewesen sein. Ja, vorletzte Nacht.«
»Nicht letzte Nacht?«, erkundigt sich Wäckerlin so vehement, als könnte sie durch ihren Tonfall die Fakten beeinflussen.
Sebastian Knauss schüttelt den Kopf. »Nein, gestern Nacht nicht. Da habe ich ihn nicht gesehen.«
»Wir müssen die Leute hier befragen«, sagt Wäckerlin, »die, die hier übernachten.«
Karlheinz Locher sei nämlich tot, erklärt Dominguez.
»Wenn’s nicht anders geht, tun Sie das«, gibt ihnen Knauss sein Einverständnis.
Im Erdgeschoss fangen sie an. »Behutsam vorgehen. Keine Personenkontrollen, um die Menschen nicht zu irritieren. Die haben es schwer genug«, hat ihnen der Kommissär eingeschärft. »Nur das Foto herumreichen und fragen, ob jemand Locher gesehen hat und falls ja, wann, wo und mit wem.«
Nicht alle Besucher der Notschlafstelle erkennen den Mann auf dem Foto. Manche sind erst seit Kurzem in der Stadt und ziehen morgen weiter. Andere haben ihn noch nie gesehen. Weitere wirken wenig kooperativ. Bei denen aber, die ihn kannten, sorgt die Nachricht von seinem Tod für Aufruhr, Unruhe und Trauer. Resigniertes Kopfschütteln, Seufzer, Fluchwörter.
René Morandi (43), ein ausgemergelter Schnauzträger und Veteran der Polytoxikomanie, besonders von Diacetylmorphin (C21H23NO5, sprich: Heroin), gibt an, Locher »einige Tage nicht gesehen« zu haben. »Wir haben andere Interessen«, sagt er. Andere Drogenprobleme, denkt Dominguez.
Lajos Szabó (39), den Zotteligen, ebenfalls der Anwendung der organischen Chemie zugetan (C2H6O, Alkohol), hat Gormann vor einer knappen Stunde am Bahnhof befragt. Gegenüber Freddie Dominguez zeigt er sich gesprächiger, vielleicht stimmt jetzt der Pegel. Er sei ein Freund des Toten, erklärt er. »Er ist ein lieber Siech, der tut niemandem etwas zuleide.« Ihm ist an Karlheinz Locher nichts Ungewöhnliches aufgefallen. »Er war nicht nervös oder so was.« Am Vorabend hat er ihn ja vor dem Bahnhof getroffen und einige Zeit mit ihm verbracht.
Fridolin Galati (62) ist anzusehen, dass er sich viel im Freien aufhält und viel trinkt. Wettergegerbt und rotgesichtig, hält er sich an einer Gehhilfe fest und schwadroniert von einem Auto. Was er damit sagen wolle, will Wäckerlin von ihm wissen. Doch Galati kann sich nicht erklären. Er klagt über das nasskalte Wetter, das ihm nichts schenkt, sein Knie, das schmerzt, saumäßig schmerzt, ein Arbeitsunfall vor zwanzig Jahren, und bei Wetterumschwüngen spürt er die verdammte Verletzung immer noch. Ein Glarner, denkt Wäckerlin, das höre ich am Dialekt. Er ärgert sich auch über die Passanten, die vortäuschen, ihn und seinesgleichen krampfhaft zu übersehen. »Die schauen extra weg.« Wenn sich die Blicke ausnahmsweise begegnen, wenden die Leute den Kopf sofort ab, als wäre Obdachlosigkeit ansteckend. Ausblenden. Wegsehen. In Luft auflösen. »Ich habe seit Monaten mit keinem gesprochen, der nicht auch auf der Gasse lebt.«
»Doch«, unterbricht ihn Szabó, »mit den Leuten, die hier arbeiten, mit denen von der Gassenküche und im Soup & Chill. Und beim Sozialamt warst du doch auch, oder?«
Galati zuckt die Schultern und brummt etwas. Spricht er wieder von seinem Knie oder von diesem Auto?
Sollten wir Galati fragen, was das für eine Arbeit war, bei der er vor zwanzig Jahren verunfallt ist? Würden Sie sich bei Lajos Szabó erkundigen, wo er die fast drei Jahrzehnte verbracht hat, bis er vorübergehend und immer mal wieder hier in der Notschlafstelle für Männer an der Alemannengasse untergekommen ist? Was waren die Hoffnungen und Träume, was der Weg, was die Hindernisse, die René Morandi als kostbarsten Besitz eine abgenutzte wattierte Jacke übrig gelassen haben? Wollen wir das wissen? Haben wir die Zeit für eine Sozialreportage? Detektivkorporalin Romina Wäckerlin und Detektiv Freddie Dominguez haben sie nicht. Sie interessiert, was fallrelevant sein könnte. Davon abgesehen, ergeht es ihnen wie der überwiegenden Mehrheit: zu wenig Zeit für Menschen, keine Zeit für Menschen in Not.
Der Älteste in der Notschlafstelle heißt Koni Schäublin (71). Rentner mit Ergänzungsleistungen, vor Kurzem hat er wegen Totalsanierung die Wohnung verloren und es nicht geschafft, eine neue zu finden. Er hustet, keucht und ist nicht gut zu Fuß. Die Hüfte. Auch er kennt den Toten, findet es einen Skandal und eine Ungerechtigkeit, dass … kann jedoch, »ich würde gerne, aber …«, nichts zur Ermittlung beitragen, verspricht jedoch herumzufragen.
Wie Schäublin bietet auch Gusti Kramer (54) an, sich unter seinen Bekannten umzuhören. »Was Lochi gestern Nacht gemacht hat, willst du wissen?«, fragt er Dominguez, »gestern spät«, denkt er laut.
»Haben Sie ihn da gesehen oder nicht?«
»Später am Abend … was er da gemacht hat, weiß ich nicht.«
»Und früher am Abend? Oder am späten Nachmittag?« Dominguez gibt nicht auf.
»Wir waren etwas angetütelt«, lautet Kramers Antwort.
»Wir?«
»Ich und … Lajos und andere, ich weiß nicht mehr genau.«
Dominguez, beharrlich: »Bedeutet das, dass Sie Herrn Locher früher am Abend gesehen haben? Bis wann etwa?«
»›Herrn Locher‹ … haha! Dass ihn einer ›Herr Locher‹ genannt hat. Das muss ewig her sein.« Er lacht. Kein glückliches Lachen.
»Haben Sie ihn nun gesehen oder nicht?« Auch Wäckerlin lässt nicht locker.
»Nicht nur gesehen, er saß neben mir.«
»Wo?«
»Natürlich auf der Bank vor dem Bahnhof.«
»Bis wann? Ist er irgendwann weggegangen?«
Kramer kratzt sich am Kopf und sagt: »Ja, irgendwann war er weg. Ich … ich kann das nicht rekonstruieren. Ich hab doch gesagt: Wir hatten einen sitzen.«
Diese Namen und Aussagen nehmen Wäckerlin und Dominguez sorgfältig zu Protokoll.
Lajos Szabó kennt sogar Details aus Lochers Lebensgeschichte. »Früher hat er auf der Bank gearbeitet, nicht am Schalter, im Büro. Das Haus hat er mir mal gezeigt … St. Alban-Anlage, wo das Tram 14 rausfährt, außerhalb vom Aeschenplatz. Aber irgendwas ist ähm schiefgegangen. Bei der Bank haben sie ihn rausgeworfen, gell, und die Frau hat ihn auch sitzen lassen. Er hatte etwas mit einer anderen, glaube ich. Die wollte dann auch nichts mehr von ihm wissen und hat ihm den Schuh gegeben.« Er zögert, weil er nachdenkt. »Vielleicht bringe ich da etwas durcheinander. Aber … ja, gesoffen hat er schon länger. Job weg, Frau weg … Das hat ihn fertiggemacht.« Pause. »Eines Tages hat er die Miete nicht mehr bezahlt, konnte er nicht mehr, monatelang. Hat er mir erzählt. Dann ist er auch aus der Wohnung geflogen, auf die Straße.« Szabó schüttelt den Kopf, mit leerem Blick. »Keiner hat ihm geholfen. Er kannte doch Leute, aus der Bank, gell. Alle haben eben gedacht: Dem gebe ich nichts, der versäuft es sowieso. Hätte er wahrscheinlich. So ist er hier gelandet, in der Notschlafstelle und am Bahnhof. Vor drei, vier Jahren? Ich weiß nicht genau, ich war ja nicht immer hier, sondern in der Klinik wegen meiner …« Pause. »Aber Lochi war ein guter Kerl. Der hat einen nicht reingelegt. Der war nicht falsch.«
Wofür er sich interessiert hat, fragt Dominguez leise.
»Früher, meinst du? Er hat halt auf der Bank gearbeitet, gell. Wofür interessiert sich so einer? Fürs Auto, nehme ich an, Skiferien und so. Der FCB hat ihn beschäftigt, glaube ich. Aber genau weiß ich nicht, was ihn neben der Arbeit interessiert hat. Kann einen überhaupt etwas … in dieser Situation? Jetzt waren bei ihm außer den … Flaschen und einem warmen Schlafplatz nicht mehr viele Interessen.« Szabó wiegt den Kopf hin und her und schließt den Monolog so ab: »Alkohol ist ein Vollzeitjob.«
Dominguez fragt nochmals in die Runde, ob jemand etwas Ungewöhnliches oder Verdächtiges wahrgenommen hat. »Vielleicht einen Streit?«
Schulterzucken von Schäublin, Morandi und Kramer. Galati sitzt auf einem Stuhl und scheint in sich hineinzuhorchen. Er reagiert nicht.
»Streit vor dem Bahnhof?«, antwortet Lajos Szabó, »manchmal ja, manchmal nein.«
»Und das bedeutet?« (Wäckerlin).
»Man sitzt herum, trinkt einen Schluck, redet, redet, und manchmal gerät man sich in die Haare. Manche geben sich auf die Nase. Aber alles geht vorbei. Außer ein Psycho hat ein Messer dabei …«
»Und gestern? Gab’s da auch Streit?« (Dominguez).
Warten, nicht drängen. »Nein«, wiegelt Szabó ab, »nichts Besonderes. Gell, Fridi?«
Der Angesprochene, Fridolin Galati, der Glarner mit der Gehhilfe, antwortet nicht.
***
Das Leben als Pixel.