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Anthologie zum fünften Bubenreuther Literaturwettbewerb - Der Bubenreuther Literaturwettbewerb hat die fünfte Runde überstanden. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Texte, die einen Überblick über die Aktivitäten jener deutschsprachigen Autoren geben, die noch ihren Weg suchen. Sie sind die Zukunft! Eine neue Zeit hat begonnen. Andere Schwerpunkte werden nun gesetzt. Gefälligkeit, einst verpönt, ist wieder gefragt. Harte Arbeit am Text zahlt sich aus. Man sieht sie dem Werk später oft gar nicht mehr an, wenn es scheinbar schwerelos im Raum schwebt, und doch ist sie fast immer notwendig. Die Literatur wird breiter, mehr und mehr Menschen beteiligen sich. Das spiegelt sich in dieser Anthologie mit ihren 271 Werken wider.
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Seitenzahl: 414
Veröffentlichungsjahr: 2019
Christoph-Maria Liegener (Hrsg.)
5. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2019
© 2019 Christoph-Maria Liegener
Herausgeber: Christoph-Maria Liegener
Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg Druck in Deutschland und weiteren Ländern
ISBN:
978-3-7497-7135-6 (Paperback)
978-3-7497-7136-3 (Hardcover)
978-3-7497-7137-0 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Das Copyright der einzelnen Texte liegt bei den jeweiligen Autoren. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autoren unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhalt
Vorwort
Die Siegertexte
Erster Platz: Marvin Jüchtern
Zweiter Platz: Milena Tebiri
Dritter Platz: Thomas Herholz
Weitere ausgewählte Werke
Werner Krotz
Mona Ullrich
Michael Hetzner
Helene Etminan
Oliver Bruskolini
Roland Ruether
Christine Rieger
Helga Lüsebrink
Thyra Thorn
Christoph Grimm
Werner Siepler
Herbert Glaser
Franziska Dittert
Ulrike Grömling
Alexander Estis
Eusebius van den Boom
Wolfgang Rinn
Paul Theobald
Thimo Buchmüller
Lilo Wessel
Herbert Jost-Hof
Jutta Gornik
Rainer Daus
Kerstin Fischer
Torsten Krippner
Carina Plinke
Dörte Müller
Jenny Schon
Susan Tumbrel
Gisela Baudy
Jago Bauhaus
Christian Baudy
Ingeborg Henrichs
Joshua Clausnitzer
Mykola Istyn
Karin Jessica Krause
Herbert Kuboth
Tamara Schinner
Torsten Jäger
Sonja Dohrmann
Monika Heintze
Hella Sehnert
Saskia Bannister
Alex J. Nitrak
Claudia Kemmer
Samira Schogofa
Diana Keppler
Sascha Sprikut
Irmgard Wackerzapp
Benedict Friederich
Frank-Thomas Mitschke
Hille Maiweg
Hazuki Fukuda
Sarah Hagemeister
Michael Kothe
Andreas van Appeldorn
Carsten Stephan
Sandra Barbosa da Silva
Lieselotte Degenhardt
Wolfgang Rödig
Natascha Tesar-Pelz
Barbara Blume
Giuseppe Corbino (Luzern)
Nina Felber
Roland Rothfuß
Nora Schramm
Regina Levanic
Franziska Bauer
Ludmilla Pettke
Alina Rupp
Elisa Marski
Falk Andreas Funke
Walther Stonet (Werner Theis)
Bernhard Weigl
Kathrin Stamm
Leonard Merkes
Kurt Blessing
Doreen Jaafar
Dieter Gruner
Christina Grösser
Uwe Kullnick
Katrin Benning
Matthias Dapprich-Crawford
Isabelle Thier
Falco Rüffer
Meike Bruhns
Noreen Schuck
Jörg Reinhardt
Harald Gritzner
Heike Britt Taubert
Monika Grasl
Claudia Dvoracek-Iby
Margret Küllmar
Jessica Feicke
Tatjana Susann Mark
Renan Spode
Anke Grützmacher
Marion Redzich
Bianca Daniel
Manfred Steuer
Didi Costaire
Gabriel T. Collins
Veronika Koch
Ralf Dreßler
Heiko Ullrich
Evelyn Langhans
Andrea Lopatta
Sebastian Martinköwitz
Ingo Hilbert
Shana Diekmann
Peter Biro
Kristina Holler
Kristina Baumgarten
Jutta v. Ochsenstein
Miklos Muhi
Hans-Joachim Kuhn
Victoria Lubarski-Goldbeck
Heinz Kröpfl
Spunk Seipel
I.J. Melodia
Elfi Pauli
Kevin Coordes
Helmut Glatz
Nadine Buch
Daniel Spieker
Jürgen Rösch-Brassovan
Christopher Decker
Martin Troger
Angelika Illner
Inge Klose
Jessica Pietschmann
Magdalena Freitag
Monika Loerchner
Magdalena Brandstötter
Elisabeth Rosche
Leonie Schaaf
Erich Carl
Katharina Zanon
Paola Reinhardt
Renate Maria Riehemann
Michael Köhler
Lara Robbie Schwoch
Claudio Deriu
Dominik Staab
Michael Gotter
Verena Maier
Jens-Philipp Gründler
Anna Noah
Dagmar Ebert
Wolf Hamm
Kaia Rose
Torsten Gostschegk
Timo Mezger
Andreas Zimber
Franziska Barthel-Helbig
Susanne Fleckenstein
Christopher Selbach
Theres Pötzsch
Max Schatz
Arlene Peukert
Horst-Volkmar Trepte
Emmy Wilmink
Claudia Heyder
Natascha Maier
Julia Hoch
Peter Coon
Katrin Arnast
Sabine Reifenstahl
Vanessa Pany
Eline Menke
Susanne Ulrike Maria Albrecht
Lisa Strobl
Matthieu Jimenez
Alexandra Dorn
Raven E. Dietzel
Konrad Grein
Dietmar Peitsch
Elke Richter
Paul-Gerhard Theymann
Elisa Stemler
Carmen Keßler
Franzisca Weitzhofer
Narah Rain
Manfred Pricha
Lisa Deutschmann
Nina Rinner
Manuela Nimmervoll
Lean Malin Wejwer
Matthias Delbrück
Gabriele Nakhosteen
Leon Novak
Susanne Mathies
Elisabeth Schiefer
Angelika Zöllner
Melanie Seedorf
Alissa Franz
Wolfgang R. Strauß
Nini Schlicht
Lena Marlier
Gernot Weise
Diana Busch
Anne Sylvia Zänkert
Christine Steindorfer
Guntram Wette
Regina Lehrkind
blume (michael johann bauer)
Meike Wanner
Heike Hoffmann
Wolfgang Mach
Andreas Glanz
Vera Lörks
J. A. Heger
Bernd Daschek
Franziska Parschau
Beate Rola
Kathrin Stricker
Leona Falkenstein
Tobias Stenzel
Karl-Martin Harms
Tuula Schneider
Annika Kaune
Sonja D. Stern
Karina Hentges
Anna Barthel
Luca Pümpel
Stephan Tikatsch
Martin Bertschinger
Helmut Beushausen
Eika Ehme
Albert Zeller
Kathrin B. Külow
Alexander Makowka
Bianca Körner
Amelie Jägersberg
Wolfgang Matschl
Peter Das
Ulli Krebs
Karolin Hingerle
Katharina Bauer
Isabel Folie
Andrea Kerstinger
Iris Schoell
Sabine Reyher
Melanie Sondershaus
Susanne Seedorf
Norbert Sternmut
Simon Bernart
Sabrina Mohr
Dyrk-Olaf Schreiber
Finn Lorenzen
Annegret Döse
Simon Brombacher
Roswitha Zatlokal
Lara Ubben
Tina Ludwig
Julia Häussler
Sibylle Meyer
Christoph Steven
Regina Appel
Laura-Luisa Neitz
André Riedl
Daniela Benseddik
Grisella Kreiterling
Nicole Pfeiffer
Nina Fuhrmann
Kerstin Meixner
Vorwort
Dieser Literaturwettbewerb wird online veranstaltet. Das bringt auf klimaneutrale Art viele Interessierte zusammen, heutzutage ein wichtiger Gesichtspunkt. Die zugehörige Anthologie ist da schon problematischer. Sie ist zwar als umweltfreundliches E-Book zu haben, aber eben auch in Papierform. Darauf wollte ich dann doch nicht verzichten. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass es mir großen Spaß macht, so ein Buch mit meinem Text auch anfassen zu können. Für mich fühlt es sich erst dann wirklich so an, als wäre mein Text in der Realität angekommen.
Bei der Gedichtauswahl gilt: Das Stückchen muss klingen! Rezepte, wie das zu erreichen ist, gibt es zuhauf, jedoch dürfen sie nicht zu starren Regeln werden. Man muss nicht päpstlicher sein als der Papst. Es sollte keine Sperrwörter geben. Wer Herz und Schmerz in sein Gedicht aufnehmen will, darf das tun. Warum nicht? Nicht automatisch wird Kitsch daraus, und selbst wenn: Dies ist eine freie Welt. Wer mit Kitsch experimentieren will, soll das tun dürfen. Ebenso soll weitgehende Freiheit bei der Prosa gegeben sein. Allerdings ist dies hier nicht die Bühne für politische Auseinandersetzungen. Eine Meinung zu äußern, ist andererseits nicht verboten. Es kommt auf die Gewichtung an. Der Übergang ist fließend. Im Mittelpunkt sollte immer die Literatur stehen.
Die Zeiten haben sich geändert. Der Zwang zur Originalität gehört der Vergangenheit an. Das schließt nicht aus, dass brilliante Selbstdarsteller weiterhin Genialität versprühen dürfen – sollen sie! Jedoch sind sie nicht mehr die Helden, die sie einmal waren. Es ist eine neue Zeit angebrochen, aber sie ist tolerant. Das Alte muss nicht auf den Müll kommen. Andere Schwerpunkte werden nun gesetzt. Gefälligkeit, einst verpönt, ist wieder gefragt. Harte Arbeit am Text zahlt sich aus. Man sieht sie dem Werk später oft gar nicht mehr an, wenn es scheinbar schwerelos im Raum schwebt, und doch ist sie fast immer notwendig. Das ermöglicht auch denen, die sich nicht für Genies halten, wesentliche Beiträge zur Literatur zu leisten. Damit ergibt sich ein weiteres Kennzeichen unserer Zeit: Die Literatur wird breiter, mehr und mehr Menschen beteiligen sich.
Der Wettbewerbsgedanke sollte nicht in die Irre führen. Die hier getroffene Auswahl ist nach wie vor subjektiv. Immerhin wird die Entscheidung zwischen je zwei Werken von einem unabhängigen Dritten getroffen. Trotzdem kann diese Entscheidung nur ein Impuls sein. Ein Feedback.
Der wichtigste Leser eines Textes bleibt nach wie vor der Verfasser selbst. Er verwirklicht sich in seinem Werk. Es aus seinen Gedanken entstehen zu lassen und es zu formen, bis er es für vollkommen hält, das ist sein ureigenstes Erlebnis. Keiner kann es ihm nehmen. Auch kein Kritiker. Man kann es nicht oft genug betonen: Ihm selbst muss es gefallen. Das hat mit Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber zu tun. Man muss zur Selbstkritik fähig sein. Das bedeutet letztlich auch, dass man der Welt nicht ein halbgares Erzeugnis vor die Füße werfen sollte.
Wie auch in den vergangenen Jahren bleibt die Verantwortung für die Texte allein bei den Autoren. Es herrscht Meinungsfreiheit. Der Abdruck eines Textes bedeutet nicht automatisch seine Billigung.
Dieses Jahr wurde die Zahl der Zeichen pro Einsendung auf 3000 inklusive Leerzeichen begrenzt. Das hat nicht allen gefallen, aber es war notwendig, da die letzten Anthologien aus allen Nähten zu platzen drohten, obwohl bei weitem nicht alle Einsendungen aufgenommen worden waren. Dieses Jahr soll nun der Umfang reduziert werden.
Wie im letzten so bleibt auch in diesem Jahr die Verantwortung für die Texte allein bei den Autoren. Mit Korrekturen wurde sparsam umgegangen. Der ursprüngliche Eindruck sollte erhalten bleiben.
Wieder wurde mit den Siegertexten begonnen. Die weiteren ausgewählten Texte erscheinen in der Reihenfolge ihres Einganges. Auch diesmal konnten nicht alle eingereichten Texte aufgenommen werden. Mit einer Ablehnung ist jedoch keine Wertung verbunden. Verschiedenste Kriterien spielten eine Rolle.
Leider ist es bei der Vielzahl der Einsendungen wie immer nicht möglich, jedem, der es nicht in die Anthologie geschafft hat, eine entsprechende Begründung zu geben. Es kann jedoch gesagt werden, dass alle, auch die nichtveröffentlichten, Beiträge etwas Eigenes hatten, keiner achtlos verworfen wurde.
Meiner Familie möchte ich für die fortwährende Unterstützung danken. Auch den vielen Einsendern sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Ihre Teilnahme machte diese Anthologie erst möglich.
Dr. Dr. Christoph-Maria Liegener
Die Siegertexte
Erster Platz: Marvin Jüchtern
Der Geruch von Regen
Es sickert in die Sinne wie ein Duft
von fremder Würze, der sich niederlegt
und zarte Sprenkelmuster in die Luft
und durch die Luft in deine Tiefe trägt.
Ein Raues, Fernes, das ganz nah dich trifft
und plötzlich, weckend, auf dich fällt,
so wie ein Kuss von trautem Lippenstift,
den deine Wange noch im Schlaf erhält.
Und es treibt in eine Schwere
auch ein Feines, das wie eingerührt,
als eine feine Note in die Leere
dieser Stille, zu Empfindung führt.
Kommentar: Naturbeobachtung von innen – durch die Wirkung auf die Seele. Dadurch wird die Sprache poetisch. Der Stil erinnert in seiner Zartheit an Rilke. Fließender Rhythmus, kunstvolle Reime.
Das Preisgeld wurde an die Stiftung Childaid Network gespendet.
Zweiter Platz: Milena Tebiri
Abschiedsgeschenk
„Ich ruf dich an“, waren seine letzten Worte. Ich starre auf das Display. Hatte ich ihm die falsche Nummer geben? Die Vorwahl der Schweiz vergessen? Es war zu schön gewesen. Zu schön, um wahr zu sein. Der Sand, das Meer, der Mond. Das alles – mit ihm. Ich kontrollierte, ob mir vielleicht ein Anruf in Abwesenheit entgangen war in den letzten 10 Sekunden. Nein. Sicher? Nochmals check. Nein, wirklich nicht. Ich stand auf. Aus den kleinen Boxen des Cafés seufzte, sang und schluchzte Liz Fraser von Massive Attack. Die Trauer und Melancholie von Teardrop traf mich mit voller Wucht. Ich schluckte und stiess heftig die Tür auf. Draussen atmete ich tief die kühle Abendluft ein und joggte los – das Leben ging weiter, nicht?
Fast schon flott sprang ich die Stufen zu meiner Wohnung hinauf. So einfach ging das. Mit jeder Stufe fühlte ich mich etwas besser. In jedem Stockwerk liess ich einen Teil meines Liebeskummers zurück. Oben angekommen, übersah ich vor lauter Euphorie zuerst das hellbraune Päckchen, das vor meiner Tür lag. Was in aller Welt?!? Fett, mit schwarzem Edding, stand meine Adresse auf dem Päckchen. In SEINER Handschrift! Mein Bauch zog sich zusammen. Ok, keine Panik jetzt. Vorsichtig nahm ich es in die Hände. Keine Briefmarke. ER war also HIER gewesen als ich WEG war! Warum hatte er nicht angerufen! Warum bin ich raus, warum gerade jetzt, warum wartete ich so blöd auf ihn und warum hatte ich damals nicht auch nach SEINER Nummer gefragt! Ich setzte mich auf den borstigen Fussabtreter. Egal. Keine Zeit jetzt, aufmachen. Mit zittrigen Händen riss ich das Papier weg und brach mir dabei einen Fingernagel ab, erst gestern schön grün lackiert. Mist. Nur jetzt nicht heulen! Konzentrier dich! Du bist ihm wichtig, er denkt an dich! Dann hielt ich sie in den Händen. Meine Gummilatschen, die ich bei ihm vergessen hatte. Keine Notiz, keine Nummer. Nur meine alten, vergessenen Gummilatschen.
Kommentar: Komödie aus der Alltagswelt. In der Kürze liegt die Würze. Gelungene Pointe.
Dritter Platz: Thomas Herholz
Selbsterkenntnis
Ach, wie klug sind meine Freunde,
jeder ist ein Original
und kann stundenlang erzählen-
Fortsetzung: das nächste Mal.
Ich sitz schweigend in der Ecke,
fühle schon Verlegenheit,
höre zu, träum und entdecke
meine Mittelmäßigkeit.
Kommentar: Ein satirisches Gedicht. Die Spitze geht gegen die furchtbar wichtigen Menschen, neben denen mancher sich ganz klein vorkommt, obwohl er selbst sehr wertvoll ist. Dabei Humor pur. Es macht Freude, dieses Gedicht zu lesen, und es klingt auch noch!
Das Preisgeld wurde an Unicef gespendet.
Weitere ausgewählte Werke
Werner Krotz
ein feuer in mir
lange verborgen unter der glut
ein feuer in mir
von anfang an vorhanden
immer gegeben
es versengt nicht
es wärmt und belebt
ein feuer in mir
zu hellem schein erwacht
und voll kraft
sich auszubreiten
ein strahlendes feuer
es kann nicht gelöscht werden
meine augen geben kunde
von dem feuer
und halten ausschau
nach den funken
in den augen
anderer menschen
Kommentar: Die mehrfache Wiederholung der Schlüssezeile (ein feuer in mir) verleiht ihr ein gewisses Gewicht. Die Kehrseite der Medaille ist, dass damit auch ein Druck auf diese Zeile aufgebaut wird. Kann sie dem standhalten?
Mona Ullrich
Lucky Lutz
Das Gericht urteilte: „Nicht schuldfähig. Ihm fehlt die Einsicht in seine Verbrechen.“
Mit diesem Spruch in den Ohren ging Lutz zurück auf die Straße. Er gähnte, denn er war müde. Er war für den ersten Prozess seines Lebens früh aufgestanden und ans Ausschlafen gewöhnt. Außerdem war er hungrig. Zum Frühstücken hatte die Zeit gefehlt.
Er ging gleich ins Salto Vitale, ein schummeriges kleines Café am Rande des Stadtparks. Dort traf er immer seine Freunde, die Verbündeten im Kampf gegen Langeweile und Resignation.
Vormittags war da noch niemand, den er kannte. Er setzte sich an einen kleinen Tisch vor der Tür und bestellte bei der jungen Studentin, die hier dazuverdiente, einen großen Kaffee mit Milch, viel Milch, und zwei Hörnchen mit Butter.
Die Hörnchen in diesem Lokal waren das Lieblingsgebäck seiner Freundin Melanie, die auch studierte und deswegen die Stadt verlassen hatte. Lutz dachte oft an sie. Er hatte ein gutes Gedächtnis und wusste noch alles, was sie zu ihm gesagt hatte. Sie war jünger als er, aber klüger, seiner Meinung nach. Sie hatte ihm immer wieder geraten, Musiker zu werden. „Du bist hübsch und singst gut,“ hatte sie gesagt, „du brauchst nur ein bisschen Gitarrenunterricht.“
Gitarrenunterricht hatte ihm bis vor kurzem sein Freund Frank gegeben, aber der war jetzt tot. Die Freunde von Lutz starben leicht. Sie hatten kein Geld, lebten gefährlich und machten von billigen, oft unbekömmlichen Drogen Gebrauch. Frank hatte selber mit Drogen gehandelt und war von einem Rivalen getötet worden.
„Sie müssen weg von der Straße,“ hatte der Richter gesagt, „sonst werden Sie ganz schnell wieder straffällig.“
Aber er lebte doch gar nicht auf der Straße! Er hatte eine eigene Wohnung in dem Gartenhaus eines Altbaus nahe der Innenstadt. Melanie hatte ihm dazu verholfen, als das mit ihr befreundete Studentenpaar, das dort mit seiner Katze gehaust hatte, zerstritten war und nicht mehr weitermachen wollte. Sie hatten die Wohnung schnell loswerden wollen, auch den Großteil des Inventars, deshalb hatte sich Lutz kein Bett und keinen Küchenschrank kaufen müssen. Er schlief unter einer Häkeldecke, die die Vorbewohnerin selbst angefertigt hatte, und er war stolz darauf. Die stammte doch von einer Studentin!
Eine so billige Wohnung war ein Glückstreffer, das hatte der Herr vom Sozialamt gesagt. Lutz hatte sich nicht darüber gewundert, denn er hatte oft Glück, wie ihm schien. Er war nie krank, hatte höchstens einmal einen Schnupfen, er fand leicht Anschluss, und er hatte keine Geldsorgen. Die Sozialhilfe hätte ihm genügt, aber er konnte auch immer zu seiner Freundin Ulli kommen, die als Bardame gut verdiente. Sie war schon zufrieden, wenn sie ihm durch die welligen blonden Haare streichen konnte.
Angefasst werden war nicht immer erträglich. Männer versuchten es oft und boten ihm dabei Geld an. Er wusste, was sie von ihm wollten, und er schreckte davor zurück, denn seine Freunde hätten ihn dann verachtet.
Nach dem Frühstück ging er in das Hinterzimmer des Cafés und machte sich am Billardtisch zu schaffen, aber es machte ihm nicht viel Spaß, denn um diese Zeit war noch niemand da, der ihn hätte bewundern können.
Bewundern ließ sich Lutz gern. Bewunderung wärmte ihn. Dann fühlte er sich zugehörig, und das war keine Selbstverständlichkeit für einen jungen Mann, der im Heim aufgewachsen und von Pflegefamilie zu Pflegefamilie geschoben worden war. Fast alle hatten in der Schule mehr gelernt als er. Er war ein Außenseiter in einer Welt, die ihm ungeheuer groß und kompliziert erschien. Er wusste nicht einmal, was er durfte und was nicht, da hatte der Richter nicht Unrecht. Aber dass er in Läden nichts ohne Bezahlung mitnehmen durfte, das hatte er gewusst. Er sah es nur nicht ein. Er wollte seiner lieben Ulli doch auch einmal einen schönen Ring schenken!
Er ging zurück in seine Wohnung, räumte ein bisschen auf und legte sich dann hin auf ein Schläfchen. Was sonst konnte er so früh am Tag tun?
Er schlief zwei Stunden und träumte dabei viel. Als er erwachte, nahm er das Notizbuch zur Hand, das ihm Melanie geschenkt hatte, damit er seine Träume aufschreiben konnte. Es stand nicht viel drin. Nicht einmal Melanie wusste, dass er kaum schreiben konnte. Das war ein Grund, warum er so schwer Arbeit fand. Der andere war seine Unzuverlässigkeit. Lutz hatte und wollte keine Uhr. „Ich lass mich nicht gerne hetzen,“ sagte er, wenn sich jemand darüber wunderte.
Wozu Träume aufschreiben? Seine Träume waren oft scheußlich. Er wurde verfolgt, er litt Durst, er stürzte aus großer Höhe. Melanie redete viel mit ihm darüber. Melanie fand Lutz interessant, und das war ein Ansporn.
Er nahm seinen teuren schwarzen Füllfederhalter, das Geschenk einer anderen, älteren Bardame, der er von seinem Traumtagebuch erzählt hatte, und kritzelte mit der Zunge zwischen den Lippen: „Ich habe geträumt. Dass ich in die Hose mache und das Bett versaue. Und dann hat es meine Mutter bemerkt. Meine Mutter war wieder da und schrie mich an. Ich will sie nie wiedersehen.“
Seine Mutter hatte ihn und seine Schwestern und seinen alkoholkranken Vater verlassen, als er zehn Jahre alt war. „Wir brauchen sie nicht!“ hatte sein Vater gesagt. „Die soll nur wegbleiben!“
Es tat nicht gut, von ihr zu träumen. Das war immer so. Allein schon ihr Name brachte Unglück. Dann fiel zum Beispiel leicht etwas auf den Boden und ging zu Bruch. Lutz sprach diesen Namen nie aus. Vielleicht würde er einmal Melanie seine Träume vorlesen und sich von ihr trösten lassen.
Er ging wieder zum Salto Vitale und schaute sich um. Zwei Leute saßen am Tresen und winkten ihm. Freunde. „Na, haben sie dich laufenlassen?“ „Ja, aber ich soll von der Straße weg. Das hab ich nicht ganz verstanden.“ „Das haben die schon zu hundert Leuten gesagt.“
Er bestellte eine Flasche Sekt und stieß mit den beiden an, weil er der Bestrafung entkommen war.
Von da an war es ein Tag wie immer.
Michael Hetzner
Totes Holz
Am liebten ein Besen sein! Ein alter Besen aus solidem Holz, das Jahrzehnte lang gewachsen in der Natur. Bekannt mit Wind, Regen, Schnee. Am besten auf einem Berg, wo es rau ist und kalt. Dann gefällt, gesägt, gehobelt. Einfach zusammengefügt ohne Nägel oder Schrauben. Mit ein paar groben Borsten am Ende.
Ein Stück Holz ohne Seele. Kein Wünschen, kein Wollen und Planen. Nichts. Sich benutzen lassen, wenn man gebraucht wird. Mit Riefen, Kerben, Schlieren. Alles ganz einfach.
Aus dem Schrank holen, benutzt werden, putzen und fegen. Überall wo Schmutz ist und Staub. Der Sauberkeit dienen. Nichts fühlen müssen, nicht denken.
Die Haare, dünn, abgenutzt, borstig. Der Stil braun von den vielen Händen die ihn angefasst haben.
Unendliches Glück.
Helene Etminan
Ach, könnt´ ich doch bleiben
Wohl bist Du da
und hast uns gern,
bist uns ganz nah,
doch ich bin fern.
Bin so allein,
kenn´ kein Gebet.
Darf nicht hinein,
umsonst gefleht.
Doch wenn ich mich wende,
und zu Dir lausche,
dann bist Du innen
und nicht im Außen.
Im Jetzt und im Hier,
verborgen in Allem.
In mir eine Tür
zu göttlichen Hallen.
Dahinter ist Friede,
sind Stille und Ruh´,
sind Gnade und Liebe:
Dahinter bist Du!
Ach, könnt´ ich doch bleiben.
Ach, müsst´ ich doch nimmer …
Irgendwann bleib´ ich ganz,
in Dir, für immer.
Kommentar: Ein Blick nach innen, der weiterhilft.
Oliver Bruskolini
Vielleicht
Endlich ist der Tag geschafft. Das letzte Geschirr ist in der Spülmaschine verstaut und die Couch ruft. Ich ziehe meinen Pyjama an und freue mich auf eine waagerechte Liegeposition.
Es klingelt. „Gehst du?“, höre ich aus dem Wohnzimmer. Solche Fragen stelle ich auch. Eigentlich sind es keine Fragen, sondern Anweisungen, deren Nichtbefolgung eine breit gefächerte Diskussion mit sich zieht. Aber weil auch ich zu solchen Fragestellungen tendiere, sei ihr verziehen.
Hoffentlich ist es kein Besuch, denke ich. Ich will heute niemanden mehr sehen oder hören, außer meinen Fernseher. Auf einem Stuhl möchte ich auch nicht sitzen. Lediglich die Couch kommt für mich noch in Frage.
Unten in der Tür steht ein Mann. Ich schätze ihn spontan auf Mitte dreißig. Blut läuft über sein Gesicht. Meine erste Reaktion ist keine Reaktion. Ich stehe in meiner Tür und starre ihn an. Er starrt zurück. „Entschuldigung“, lallt er. „Ich hatte gerade eine kleine Auseinandersetzung. Ich bin eigentlich auf dem Weg zu einer Verabredung, darf ich mich kurz bei Ihnen waschen?“.
Zum Glück haben wir uns für die Erdgeschosswohnung eines Eckhauses entschieden, denke ich. Was man sonst verpassen könnte, wäre kaum auszumalen. Ich rieche seine Alkoholfahne quer durch den Hausflur. Whisky, glaube ich.
Der Betrunkene wankt einen Schritt in den Hausflur. „Hören Sie, ich möchte mich wirklich nur waschen“, lässt er mich wissen. Das hoffe ich doch. Meine Tochter liegt in ihrem Bett. Wäre ich alleinstehend, hätte ich ihn sicher sofort hereingelassen. Aber ich trage eine weitreichendere Verantwortung als nur die für mich selbst.
Doch ich trage auch eine andere Verantwortung, eine menschliche, ermahnt mich mein Gewissen. Ich bin überzeugt, dass allen Menschen geholfen werden muss. Täglich vertrete ich diesen Standpunkt.
Warum zögere ich jetzt? Das darf nicht sein, dessen bin ich mir bewusst. Ich trete einen Schritt zurück und weise mit meiner Hand in die Wohnung. „Kommen Sie herein, das Bad ist geradeaus durch.“
„Ich danke ihnen“, stammelt er und quält sich die sechs Treppenstufen nach oben. An der letzten bleibt er hängen und stolpert in meinen Flur. Reflexartig stütze ich seinen Arm, damit er nicht fällt. „Entschuldigung“, lallt er. Die Alkoholfahne ist unerträglich.
Während er sich in Richtung meines Badezimmers begibt, betrachte ich mich angeekelt im Spiegel. Einerseits angeekelt von dem Blut, dass sich auf meinem Pyjama befindet, andererseits angeekelt von meinem Zögern. Es war menschlich, möchte man meinen. Ein menschliches Zögern, das von einer gewissen Unmenschlichkeit zeugt.
Meine Freundin hatte das Szenario vom Wohnzimmer aus verfolgt. Als sich unsere Blicke treffen, fragen mich zwei braune Augen ob ich den Verstand verloren habe. „Wer weiß, was der hier will? Vielleicht ist der völlig verrückt oder will uns ausrauben“, flüstert sie mir vorwurfsvoll zu. „Vielleicht“, entgegne ich. „Vielleicht will er sich aber auch einfach nur waschen.“
Kommentar: Ein interessantes Gedankenexperiment, über dessen Ausgang man diskutieren kann.
Roland Ruether
DELIRIUM
Delirium I
Die Wunden schmerzten noch immer. Er hatte viel Blut verloren. Gott weiß, wie lange er da schon so liegen mochte. Nur selten war Frankie kurz bei Bewusstsein, fiel immer wieder in bizarre Fieberträume. Es waren bildhafte Fetzen, inhaltlich zusammenhanglos und wie ein Film, der an ihm vorüberzog. Er sah, wie er selber mit einem großen Lastwagen quer durch die Vereinigten Staaten fuhr. Hatte er überhaupt einen Führerschein für solch ein Gefährt? Scheinbar sollte er irgendetwas Verbotenes transportieren, und allerlei Gestalten versuchten ihn daran zu hindern. Die Gestalten kamen ihm bekannt vor. Tatsächlich, es waren die Helden seiner Kindheit. Starsky und Hutch, den glatzköpfigen Kojak und Batman, den Superhelden aus Gotham City, konnte er wiedererkennen. Wie kamen die bloß in seinen Fiebertraum? Eine Antwort fand er nicht mehr, fiel stattdessen wieder zurück in die schmerzfreie Bewusstlosigkeit…
Delirium II
Mit den Schmerzen kamen auch die Bilder zurück. Diesmal saß er in einem Boot auf dem Ozean. Es war ein kleines Boot ohne Segel. Er dachte schon, er sei allein, da rührte sich etwas unter der Persenning. Es war ein ausgewachsener Tiger. Auch diese Geschichte kam ihm seltsam bekannt vor. Doch er hatte keine Angst. Als das Raubtier zum Sprung auf ihn ansetzte, wurde er durch einen lauten Werbejingle aus seinem Traum gerissen. Frankie riss die Augen auf und sah die Alexander von Humboldt mit ihren grünen Segeln über den Bildschirm schwimmen. »Sail away…« Der Fernseher war die ganze Zeit gelaufen und hatte seine Protagonisten in Frankies Unterbewusstsein entsandt. Jetzt hatte er Lust auf ein Bier, es ging bergauf…
Christine Rieger
Blitzeis
Sie hatte urplötzlich das Gefühl, in Grönland zu stehen. Die senkrechte Felswand zur Linken, der fast ebenso steil abfallende Hügel auf der anderen Seite, der schmale Wanderweg vor ihr, den sie gerade noch bei schönstem Wetter entlang gelaufen war – alles war mit einem halbmeterhohen Eispanzer überzogen. Als hätte ein hinterhältiger Teufel einen Deckel aus Eis über die ganze Landschaft gestülpt …
Dicke Nebelschwaden waberten um sie, verschwammen mit der Eisschicht zu einer grauen, undurchsichtigen Masse.
Wie sollte sie jetzt zu ihrer Mutter gelangen, die in der Almhütte, nur eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt, dringend auf die Lebensmittel wartete, die sie, Fanny, im Rucksack hatte?
Ja, es war kalt geworden in der letzten Viertelstunde – ein Wettersturz, wie sie im Gebirge häufig vorkommen. Doch diese dicke Eisschicht wie aus dem Nichts … unbegreiflich!
Vorsichtig versuchte Fanny, weiterzugehen. Doch die Sohlen ihrer Turnschuhe waren glatt und für so einen Untergrund ungeeignet. Der schwere Rucksack behinderte sie zusätzlich.
Sie krallte ihre Fingernägel in das Eis auf der linken Seite, schob sich Millimeter für Millimeter voran.
Plötzlich stieß sie gegen ein Hindernis in Gestalt einer Wegmarkierung. Jedenfalls vermutete sie, dass es eine sein müsse – sehen konnte sie so gut wie nichts. Vorsichtig versuchte sie, sich daran vorbeizschieben. Doch sie blieb mit dem rechten Fuß hängen, verlor das Gleichgewicht und stürzte.
Fanny ruderte mit den Armen, versuchte, sich irgendwo festzuhalten – vergeblich. Tiefer und tiefer rutschte, kollerte, schlitterte sie mit rasender Geschwindigkeit den Abhang hinunter, streifte einen Felsen, drehte sich um ihre eigene Achse, glitt unaufhaltsam auf den Abgrund zu. Schon konnte sie das Tosen des Gebirgsbaches hören, der am Grund der Schlucht das Wasser von der Schneeschmelze ins Tal transportierte. Wenn sie da hineinfiel, hatte sie keine Chance.
Wieder stieß sie gegen irgend etwas. Diesmal war es ein Baum, der sich mit seinen Wurzeln am Bachufer festklammerte. Ihr Rucksack, den sie seltsamerweise nicht verloren hatte, verfing sich darin. Ihre Höllenfahrt wurde gebremst.
Sie hing mit dem Kopf genau über dem Abgrund. Das eisige Wasser des Baches spritzte in ihr Gesicht. Sie schrie, versuchte, irgendwo Halt zu finden, aber da war nichts.
Wieder schrie sie: „Hiiiilfe! Hiiiilfe!“ Und noch einmal: „Hiiiilfe! Warum hört mich denn niemand?“
Sie strampelte und zappelte, um von den tosenden Wassermassen wegzukommen. Doch mit jedem Versuch glitt sie ein paar Zentimeter weiter hinunter. Schon hing ihr ganzer Oberkörper über den Rand. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis …
Hiiiilfe! Ihre Schreie wurden allmählich leiser, gingen in ein Stöhnen über.
Plötzlich schüttelte sie jemand.
„Fanny, Liebling … wach auf, Fanny, du hast einen Albtraum!“, sagte die Stimme ihres Mannes.
Helga Lüsebrink
Die Münze
Ich bin eine Münze und komme aus Dänemark, dort wurde ich in die Welt gepresst. Fast überall bin ich zuhause. Von Hand zu Hand wandere ich, ja sogar von Land zu Land, manchmal gar zwischen verschiedenen Kontinenten hin und her, und das schon viele, viele Jahre lang.
Meine Zukunft, sie liegt offen vor mir! Wer weiß schon, wie eine Zukunft auszusehen hat? Stabil und widerstandsfähig gehe ich meiner Wege, auch dann, wenn ich hier und da alt und verbraucht erscheine. Das ist nur meine Äußerlichkeit, den eigentlichen Wert trage ich in mir selbst.
Die Menschen behandeln mich ganz nach ihrem jeweiligen Ermessen: manchmal gut, manchmal ohne nachzudenken oder ohne zu wissen, was wirklich gut für mich wäre, nur selten auch mal verächtlich.
Natürlich bleiben Ausnahmefälle am besten in Erinnerung. So kann ich mich noch gut daran erinnern, wie es war, als ich vor geraumer Zeit einmal in einem Schaukasten gelandet bin, als bewundertes Einzelstück, eingefasst von Wänden aus Glas, sicher gehalten von einer PlexiglasVorrichtung auf einem Podest. Ich war geputzt und poliert, glänzte auf beiden Seiten und überall. Selbst meine kleinen Verzierungen und Zahlen, die doch so schnell stumpf und dreckig werden, erstrahlten wieder wie an meinem ersten Tag.
Ich hatte das große Glück gehabt, in die Hände eines Sammlers zu gelangen.
Leider verstarb er eines Tages. Und seine Erben wussten mich nicht wertzuschätzen. In ihren Augen war ich nichts Besonderes. Nicht mehr wert als mein aufgeprägter Betrag angibt. Sie … brachten mich wieder in Umlauf.
Nun wurde ich von einigen kurz interessiert betrachtet, wenn sie mich zufällig in die Hand nahmen. Und gelegentlich strich jemand zart mit dem Daumen über mich, bevor er mich ausgab. Andere wiederum behandelten mich unachtsam, schleppten mich in dunklen Hosentaschen mit sich herum, in denen ich eng aneinandergepresst mit anderen Münzen, mit Schlüsseln, Feuerzeugen und Taschentüchern (ja, auch benutzten!) ausharren musste. Oder ich langweilte mich in der behüteten, dunklen Enge teils wahnsinnig überfüllter Geldbeutel. Oder aber ich lagerte, nachdem ich hastig in einen dieser Automatenschlitze gesteckt worden war, im Münzbehälter, mal nahezu allein in dieser kalten Düsternis, oder mal von unten und oben bedrückt von unzähligen anderen Münzen.
Am allerschlimmsten aber war es, wenn ich, was mir zwei Mal passiert ist, verloren wurde. Einmal konnte mich eine Hosentasche nicht mehr halten. Und ein anderes Mal wurde ich von einem hektischen Besitzer unbemerkt aus seinem Portemonnaie geschleudert.
In beiden Fällen lag ich für Tage im Rinnstein, nass und verdreckt, und bald schon am Ende aller Hoffnung. Doch dann, immerhin, wurde ich jeweils geborgen.
Zurzeit werde ich mal wieder kräftig hin- und hergeschaukelt: Ich befinde mich in einer großen Geldbörse, in einer Damenhandtasche.
Das ist in Ordnung. So komme ich zwar nie zur Ruhe, und es ist meist dunkel, doch ich bin wenigstens sicher hier und habe ausreichend Platz. Ab und zu, ja da sehe ich auch mal Licht und kleine Ausschnitte von der Welt.
Es könnte wirklich schlechter sein – aber seit der Zeit bei dem Sammler, die viele Jahre zurückliegt und nur wenige Wochen umfasst hat, habe ich einen Traum: Dass eines Tages sämtliche Münzen nur noch als Erinnerungsstücke zur Schau gestellt werden. Dass sie Licht haben und Ruhe, dass sie bewundert werden und gepflegt. Und dass ich eine von ihnen bin – und keinesfalls eine der endgültig verlorenen.
Thyra Thorn
Violet
Spiegelreflexe auf der Schaufensterscheibe behindern die Sicht. Violet tritt näher heran und formt die Hände zu einem Tunnel, um sich das Bild näher anzusehen. Eine Komposition in weiß hängt in der Galerie. Nicht rein weiß, Grauschattierungen, fließende Übergänge, dann wieder scharfe, wie mit dem Lineal gezogene Kanten. Chiaroscuro, ein Spiel mit Licht und Schatten. Das Unabänderliche einer spontanen Faltung wurde für die Ewigkeit festgehalten, jetzt nur noch Linie und Fläche, nur das Weiß, nur das Grau, aber das für immer.
Das Bild misst bestimmt zwei auf einen Meter. In dieser Größe wird es zur Landschaft. Keine reale, aber doch eine, die man aus unzähligen Ausflügen ins Innere kennt. Die Seele wandert in Arkadien, würde die Kante entlang schlendern und ins Gleißende, Strahlende, Ruhende eintauchen. Das Bild sollte in einem hohen hellen Zimmer mit zahlreichen immer geöffneten Fenstern hängen. Der Wind würde die Vorhänge blähen und das Bild nähme diese Bewegung auf.
Es ist sicher teuer. Die Galerie hat einen guten Ruf. Ein Schild im Schaufenster weist auf den Künstler hin, nur der Nachname, eine Koryphäe des Fotorealismus. Aber so genau kann man das aus der Entfernung nicht sehen. Violet müsste sich Kunstverständigkeit ins Gesicht schreiben und mit Kennermiene auf das Bild zusteuern. Erst von Nahem könnte sie sich davon überzeugen, dass das, was photographiert erscheint, gemalt ist. Die Galeristin würde hinzukommen und an Zeichen, die nur sie zu interpretieren verstünde, Violets fehlende Kaufkraft erkennen und eine Atmosphäre arroganter Missbilligung schaffen, die nur an verzogenen Mundwinkeln oder einer leichten Veränderung der Körperhaltung erkennbar wäre.
Violet stellt sich den Künstler als älteren, abgeklärten Mann vor, dessen Jahre des Tüftelns und Probierens schließlich in diesem e i n e n Werk kulminieren, das Resultat eines tiefen Lebens voller Schicksalsschläge, voller Träume und Erkenntnis. Vielleicht lebte der Maler in seiner Jugend in Griechenland und in seinen Erinnerungen glänzt noch das Licht der Kykladen oder es schien ihm die Mitternachtssonne des Nordens, allenfalls begleitet vom einsamen Schrei einer Möwe. Aus der Summe all´ dessen schuf er diese Landschaft aus Licht.
Ein Frauenleben taugt jedenfalls für so ein Werk nicht.
„Mama?“, Violets Jüngster zerrt an ihrem Rock, „Eis“. Sehr viel mehr kann Alex noch nicht sagen. Er ist erst zwei und ist mit seiner Schwester zur Eisdiele um die Ecke gegangen. Die beiden haben sich jeweils zwei Kugeln in der Waffel gekauft. Es waren nur fünf Meter Weg, aber in dieser Zeit muss Alex´ Eis Furchtbares zugestoßen sein. Rund um seinen Mund ist es nur noch dichte klebrige Masse, auf der Stirn schon etwas angetrocknet. Das gelbe T-Shirt ist mit großen runden Punkten und kleineren Wischspuren übersät, in seiner kleinen Hand ein matschiger Klumpen – die Reste der Waffel.
„Offenbar Heidelbeereis“, sagt Violet zu dem Bild.
Es zeigt ein achtlos hingeworfenes Papiertuch in Großaufnahme.
Christoph Grimm
Der Geruch von frisch gemähtem Gras
„Lasst mich raus!“, schrie Sara in die Dunkelheit.
Wild schlug sie um sich und fühlte Begrenzungen zu jeder Seite. Sie musste sich in einer Kiste oder – in einem Sarg! – in einer Röhre befinden. Sara wusste nicht, wieso, aber das war ihr auch egal. Verzweifelt hämmerte sie weiter, die Schmerzen ignorierend.
„Lasst mich-“
Ein Zischen erklang und ließ Sara innehalten. Sie kniff die Augen zusammen, als sich eine Öffnung bildete und ihr grelles Licht entgegenschlug. Als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnten, erblickte sie einen alten Mann und schrie.
„Alles in Ordnung“, rief der Greis und hob beschwichtigend die Hände. „Hören Sie, alles ist in Ordnung. Beruhigen Sie sich.“
„Was … Wo … Wer?“
„Ich bin der Wächter“, antwortete er.
„Wächter …?“
Sie sah ihn verwirrt an, ehe die Erinnerungen zurückkehrten.
Der Kollaps. Das Sterben. Das Programm.
Schmerzverzerrt fasste sich Sara an die Stirn.
„Ist normal“, erklärte der Alte. „Eine plötzliche Unterbrechung des Kälteschlafs ist ein Schock für den Körper.“
„Ich sollte gar nicht aufwachen?“
„Fehlfunktion“, murmelte der Alte kopfschüttelnd und machte sich an der Kontrolleinheit der Kammer zu schaffen. „Schon die dritte dieses Jahr, haben wir gleich.“
„Der Planet ist immer noch toxisch?“, fragte Sara enttäuscht.
„Mhmm.“
Sara senkte resigniert den Kopf, ehe ein seltsamer Geruch in ihre Nase drang. Irritiert sog sie die Luft in Stößen ein.
„Was stinkt hier so?“
„Die Narkosechemikalien riechen-“
„Ist das … Gras?“
Der Alte zuckte zusammen. Dann nickte er.
„Spielerei der Lüftungsanlage. Es … erinnert mich an damals.“ Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu und lächelte verschämt. „Man wird wohl komisch, wenn man so lange allein ist.“
Sara lief ein Schauer über den Rücken. Wie einsam der Hüter der Anlage wohl sein mochte?
„Wann werden Sie abgelöst, Wächter?“, fragte sie leise.
„Dauert noch. Hoffentlich mein letzter Zyklus.“
„Ich hoffe es für Sie“, sagte Sara lächelnd, ehe sie sich in Liegeposition begab. „Das nächste Mal machen wir es besser. Danke, Wächter.“
Dann glitten die Flügel der Kühleinheit über ihr zusammen. Der Alte warf einen prüfenden Blick auf die Anzeigen, ehe er sich abwandte.
„Bestimmt“, murmelte er. „Nichts zu danken.“
Gedankenversunken schritt der Wächter die Reihen entlang. Der Hauptkontrolltafel warf er einen flüchtigen Blick zu; wissend, dass das Ende schon programmiert war, und schritt zügig an ihr vorbei. Die junge Frau hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Dabei war er sich vor wenigen Stunden noch so sicher in seiner Entscheidung gewesen.
Morgen kann das Nervengift immer noch die Anlage fluten, entschied er.
Die trüben Gedanken verbannend trat er ins Freie und stellte lächelnd fest, dass die Mähroboter ihre Arbeit vollendet hatten. Bis zum Horizont hatten die Halme in seinem kleinen, gegönnten Stück der Erde die akkurate Höhe. Er schloss die Augen und genoss den Geruch des frisch gemähten Grases, der angenehm in der Luft hing.
Werner Siepler
Der Ehestreit
Bei einem Ehepaar es mal zum Streit kam,
den jeder der beiden jetzt zum Anlass nahm,
den anderen nun boshaft mit zahlreichen
und auch bekannten Tieren zu vergleichen.
„Du hat einen Vogel,“ sie zu ihm sagte,
worauf er nicht zu widersprechen wagte.
Antwortete jedoch schmeichelnd seinem Schatz:
„Das weiß ich doch schon lange, mein kleiner Spatz.“
Kommentar: Das ist niedlich, nur die Metrik stört ein wenig.
Herbert Glaser
Vertippt
Inge setzte ihre Brille auf und las die SMS.
Ich liebe Dich!
Offenbar ein Versehen, denn nur wenige Freundinnen kannten ihre Nummer.
Eine schöne Nachricht ist es trotzdem, dachte sie schmunzelnd. Umständlich gab sie eine Antwort ein.
So etwas Reizendes habe ich lange nicht mehr gelesen.
Entschuldigen Sie bitte, kam als Erwiderung.
Spontan rief Inge die unbekannte Nummer an. Eine tiefe Männerstimme meldete sich.
„Es gibt schlimmere Versehen“, sagte sie.
Er lachte. „In meinem Handy sind häufig benutzte Sätze gespeichert, so wie etwa Ich rufe zurück, Bitte um Terminverschiebung, und eben auch Ich liebe Dich. Eigentlich wollte ich einen neuen Kunden um Rückruf bitten. Dabei habe mich um eine Zeile vertan und dann noch bei der Nummer vertippt.“
„Auf jeden Fall war es schön zu lesen.“
„Es berührt mich, wenn Sie das sagen. Natürlich ist es ein schöner Satz.“
„War er denn immer ernst gemeint?“, hakte Inge nach.
„Am Anfang schon … aber später …“
„Das klingt nicht gut!“
„Ich bin frisch geschieden. Sie hat die Kinder mitgenommen.“
„Tut mir leid. Ich wollte nicht indiskret sein.“
„Sie sind der erste Mensch, dem ich das so offen erzähle.“
„Dabei kennen wir uns doch gar nicht.“
„Vielleicht deshalb. Sie klingen so vertrauenswürdig. Aber ich wollte Sie nicht mit meinen Problemen belasten.“
„Sie belasten mich nicht“, gab Inge schnell zurück.
„Darf ich fragen, wo Sie gerade sind?“
„München“, erwiderte sie etwas verlegen.
„So ein Zufall … ich auch.“
„Nicht zu fassen! Ein Festnetzgespräch wäre deutlich billiger.“
„Dann hätten wir uns aber nicht kennengelernt.“
„Stimmt! Ich bekomme nicht sehr viele Anrufe, wissen Sie.“
„Haben Sie gerade etwas zu tun“, fragte er.
„Nichts Besonderes.“
„Kennen Sie das Cafe am Gasteig?“
Inges Herz schlug deutlich schneller. „Ja, das ist nicht weit von hier.“
„Wollen wir uns um halb vier dort treffen?“
„Das ist eine wunderbare Idee!“
„Sie erkennen mich an meinem weißen Hut.“
Inge hatte ihr feinstes Sommerkleid angezogen, kecke rote Schuhe und eine Handtasche.
Als sie sich dem Cafe näherte, erkannte sie ihn sofort an dem Hut, der vor ihm lag.
Ohne sich etwas anmerken zu lassen, setzte sie sich an einen benachbarten Tisch und musterte ihn. Er hatte volle schwarze Haare und wirkte sportlich.
Ich hätte ihm sagen sollen, überlegte sie, dass ich in einigen Wochen meinen achtzigsten Geburtstag begehe. Er wird furchtbar enttäuscht sein, wenn er mich sieht.
Schulterzuckend tippte Inge in ihr Handy:
Hallo Fremder, vielen Dank für das bezaubernde Gespräch. Leider kann ich Sie nicht persönlich treffen, aber ich wünsche Ihnen alles Gute. Lieben Gruß
Inge
Sie winkte einer Bedienung, plauderte kurz mit ihr und bestellte sich Kaffee und ein Stück Kuchen.
Gerade als sie das Handy ausschaltete, deutete der Unbekannte vor ihr eine Verbeugung an.
„Hallo Inge, erlauben Sie?“ Er zeigte auf den Stuhl ihr gegenüber. „Woher …?“
„Ihre unverwechselbare Stimme.“
„Sehr gerne, nehmen Sie Platz.“
„Nennen Sie mich doch bitte Frank. Schön, Sie persönlich kennenzulernen.“
Kommentar: So schöne Geschichten müssen nicht glaubhaft sein. Herzerfrischend!
Franziska Dittert
Wirklichkeit
in Wirklichkeit komme ich aus dem Kino und
die Welt ist fremd
durch meine Tage laufen die grünen Gnome der Leinwand sie
sind klarer und lauter und greifbarer als die Stadt
die wie Dornröschen atmet
in Wirklichkeit komme ich aus deinen Armen in die Stadt und die Stadt ist fremd
ich kenne alle die Menschen nicht sie sind durchscheinend und möglicherweise sind sie nicht
ihren Stimmen traue ich nicht habe sie nie gerochen habe nie geglaubt sie riechen zu können
in Wirklichkeit sehe ich das Gras wachsen und
nicht das Haus auf der Baustelle
das Gras ist feucht und voll grünem Saft an der Spitze welk eine
kleine Spinne fällt herunter
das Haus ist Dreck der Nebel hüllt es ein was jener heute baut
in Wirklichkeit sehe ich wenn ich aus dem Fenster blicke
den Wind
er bewegt jedes Blatt am Baum lässt die Vögel auf seinen Schwingen gleiten zerrt an den Kleidern der Menschen
die Menschen lassen zerren sie verschwinden am Ende der Straße
Der Wind bleibt.
Ulrike Grömling
Eine neue Liebe
Ben drehte den Kopf und warf mir einen unsagbar traurigen Blick zu. Tonlos flüsterte ich: »Warum? Ich möchte es verstehen!« Er griff nach seinem Koffer und ging ohne Antwort, ging wie getrieben, nahm sich nicht die Zeit, die Tür ins Schloss zu ziehen. Wie versteinert stand ich da, unfähig das Geschehene zu begreifen. Dann meldeten sich die Gedanken: Das meint er nicht ernst, gleich wird er zurückkommen und über diesen Spaß kichern. Er ist mein Freund! Ich kann ohne ihn nicht leben!
Mit ihm waren Lachen und Liebe aus der studentischen Wohngemeinschaft ausgezogen. Als ich abends realisierte, dass Ben nicht scherzte, schrie ich den Schmerz raus. Weinkrämpfe schüttelten mich, und ich heulte das Kopfkissen nass.
Er kam nicht zurück. Nicht an diesem Tag und nicht später.
Nach drei Wochen sah ich ihn in der Fußgängerzone. Er schlenderte neben einer schwarzhaarigen Bohnenstange und sein Arm lag auf ihrer Schulter. Dieser Anblick versetzte mir Stiche in die Brust. Mit weichen Knien und zitternden Händen kehrte ich in die Wohnung zurück. Dort lag die Einladung zu Pauls Geburtstagsfete. Ben gehörte auch zu dem Freundeskreis, er würde bestimmt kommen. Mir blieben 14 Tage. Genau 14 Tage, in denen ich unzählige Pläne entwickelte und wieder verwarf.
Paul hatte für 20 Uhr eingeladen. Eine Stunde zu früh kreuzte ich völlig konfus auf und sah zu, wie die Besucher eintrudelten. Ben kam, aber er war nicht allein. Er brachte diese Dürre und einen jungen Mann mit. Weltmännisch stellte er mir Saskia vor, die ihre Haare affektiert nach hinten strich. Bei Bens Begleiter Oliver zeichneten sich die muskulösen Oberarme unter dem T-Shirt ab. Der sanfte Blick aus seinen leuchtend blauen Augen brachte mein Herz aus dem Rhythmus.
Am Buffet drängte ich mich rücksichtslos vor und kam direkt hinter Saskia zu stehen. Vorsichtig nahm ich von der Suppe, und ein kurzer, kräftiger Ruck genügte, um lauwarmen Fischsud und eine Krabbe auf Saskias Kleid schwappen zu lassen. Sofort beteuerte ich mein Bedauern, aber sie reagierte äußerst ungehalten und zog wutschnaubend ab. Sehr zufrieden löffelte ich die restliche Brühe. Sie schmeckte köstlich.
Im Gewühl lief ich Oliver hinterher und trat ihm beim dritten Versuch erfolgreich auf den Fuß. Ein Missgeschick nannte er es, überspielte es charmant und führte mich zur Tanzfläche. Dort verlor ich mich in den Abgründen seiner Augen. Plötzlich gab es nur noch ihn und mich und diese Schmetterlinge im Bauch. Als die Musik ausklang, murmelte ich etwas von »frischmachen« und ging, beruhigte meinen Atem und strich Puder über die rotglühenden Wangen.
Auf dem Rückweg entdeckte ich Oliver, der in Richtung Garten verschwand. Sofort eilte ich hinterher und fröstelte in der Abendluft. Durch eine Lücke zwischen hohen Büschen sah ich, wie Oliver zu Ben trat, sah, wie sie sich sanft berührten und sah, wie sie sich innig küssten.
Dort, wo ich noch vor kurzem quälende Stiche gefühlt hatte, war jetzt nichts mehr, gar nichts. Noch nicht einmal Schmerz.
Alexander Estis
moderne ly
moderne ly
rik schreiben heißt
immer und im
mer wieder die
zeilen um
brechen
immer und im
mer wie
der die nomen
klein schreiben
und keine satzzeichen
setzen
moderne lyrik schreib
en heißt reim und rhy
thmus zu hassen
modern
e lyrik schr
eiben hei
ßt
keine ti
efen ged
anken
zu ä
ußern
um nic
ht pathet
isch zu k
lingen
moderne ly
rik schreiben heißt jedoch, um wahr zu sprechen,
zuweilen alle eignen Regeln brechen.
Kommentar: Es gab eine Zeit, da das Brechen von Regeln als Rezept für Modernität galt. Allerdings waren dann irgendwann alle Regeln schon einmal gebrochen. Es wurde die Postmoderne geboren.
Das Verwirrende ist, dass damit die „Moderne“ zur „klassischen Moderne“ wurde und damit im umgangssprachlichen Sinn nicht mehr modern war.
Eusebius van den Boom
Mietshausmadonna
Mietshausmadonna
gerade eben in Szene gesetzt
auf der anderen Straßenseite
mit glänzend feuchter Haut
und sinnlich roten Lippen
suchst du jeden Blick
in deinen Bann zu ziehen
Mietshausmadonna
eingerahmt zwischen
Graffiti und Verkehrslärm
Baustellenstaub und Abgasen
lächelst du mild auf uns herab
während zu deinen Füßen
Hunde ihr Geschäft verrichten
Mietshausmadonna
ohne dir dessen bewusst zu sein
hängt dein lächelndes Gesicht
in ausgeblichenen Fetzen herab
du gibst uns dein Inneres preis
morgen sehen wir hier vermutlich
Werbung für Zigaretten oder Bier
Wolfgang Rinn
Angekommen am großen Ziel
Es scheint, als ob nach einer langen Reise
du angekommen wärst am großen Ziel
und bist getaucht ganz unvermerkt und leise
hinein in dieses Farbenspiel,
da Licht und Dunkel sich die Hände reichen,
und vor dir liegt das Meer unendlich weit,
das Ende suchst du, kannst es nicht erreichen,
weil außerhalb von Raum und Zeit
das andre Ufer liegt, und jenes Land
dir fremd noch ist, wo solche Wesen leben,
die schwerelos durch deine Träume schweben.
Dein Schicksal hat dich nun hierher gesandt;
wenn dunkle Schatten sich mit Licht verbinden,
magst du den Weg zur ewgen Heimat finden.
Kommentar: Die Form ein Sonett mit der Besonderheit, dass die letzten Zeilen der Quartette jeweils nur vierhebig sind. Der Inhalt erzählt von jener letzten Reise, die uns allen bevorsteht.
Paul Theobald
„Das machen wir schon!“
Als wir uns zur Vorbesprechung der Ausstellung „Anwalt ohne Recht“ und der Verlegung von neun Stolpersteinen im Dienstzimmer des Herrn Landgerichtspräsidenten Harald Jenet in Frankenthal (Pfalz) trafen und dieser ausgeführt hatte, was alles zu tun ist, schaute mich der Justizrat und Rechtsanwalt Willibrord Zunker aus Ludwigshafen am Rhein an und sagte zu mir: „Gell, Herr Theobald, das machen wir schon!“ Alle Beteiligten erledigten ihre Aufgaben in vorzüglicher Weise, so dass es würdige Veranstaltungen wurden.
Doch manchmal kommt ein anderes Resultat heraus, wenn gesagt wird: „Das machen wir schon!“ als es gewünscht war.
Ein Vater hatte drei Kinder und er erzählte diesen, dass er mehrere Geschwister hatte, denn von Verhütungsmitteln wusste man nichts und jedes Kind, das auf die Welt kam, wurde als „göttliches Geschenk“ angesehen. „Aber heute ist das anders“ sagte er zu seinen Kindern. „Ihr seid aufgeklärt und wisst, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, um eine Schwangerschaft zu verhüten. Macht das also, wenn es erforderlich ist!“ „Das machen wir schon!“ versprachen der Sohn und die beiden Töchter. Sie waren im Alter zwischen 16 und 20 Jahren und jede/r hatte einen Freund oder eine Freundin. Sie erzählten, wenn sie von ihren Discothekenbesuchen nach Hause gekommen waren, was sie am Wochenende getrieben hatten. Der Vater, aber auch die Mutter sprachen dann: „Denkt daran zu verhüten und du, mein Junge, hast doch bestimmt immer Kondome dabei und auch für die beiden Töchter wäre es ratsam, diese mit sich zu führen. Denkt daran, dass ihr am Beginn eures Berufslebens steht und auch studieren wollt!“ Die Kinder antworteten: „Wir sind keine kleinen Kinder mehr. Warum immer diese Predigt? Das machen wir schon!“ Der Vater entgegnete: „Dann bin ich ja beruhigt!“
Eines Tages saß die Familie zusammen und der Vater sprach: „Der Mama ist aufgefallen, dass ihr in letzter Zeit ziemlich kleinlaut seid. Sonst steht euer Mund nicht still. Was ist los mit euch?“
Der Sohn druckste herum und der Vater sagte: „Sag‘ was los ist!“ So kam heraus, dass seine Freundin im Alter von 16 Jahren schwanger ist und der Sohn sprach: „Es ist passiert, als ich gerade kein Kondom dabeihatte und wir uns darauf verlassen haben, dass „einmal keinmal ist.“ Jetzt war die jüngste Tochter an der Reihe und sie informierte ihre Eltern darüber, dass sie zweifache Großeltern werden, denn sie bekomme Zwillinge. „Das machen wir schon!“ ist in die falsche Richtung ausgeschlagen.
Nun fasste sich die älteste Tochter ein Herz und berichtete, dass sie ihre Eltern noch mehr beglücken wird, „denn die Kinderzahl, die sie bekommen werde, umfasse die Anzahl ihrer beiden Geschwister. Sie werde Mutter von Drillingen“ verkündete sie ihren Eltern stolz.
Schließlich kamen die werdenden Großeltern zum Ergebnis: Was kann man daran ändern, wenn es passiert ist und die Ehefrau sagte zu ihrem Gatten: „Gell, liebes Männle, das machen wir schon! Wir werden uns um den Nachwuchs kümmern.“
Kommentar: Eine einfache und doch bewegende Geschichte.
Thimo Buchmüller
Die jagd
Der rabenhimmel hat sich stolz gefressen
An seinem tun
Wohnort so vieler stiller Helden.
Ich wähnte mich allein gelassen
Auf einer langen jagd
Hielt Frühstück mit den Wölfen
Den tierischen, den fletschenden.
Zuletzt, im Grenzbereich,
Wuchsen die Nackenhaare mir.
Kurz vor der Mauer
Kehr ich um.
Lilo Wessel
so/weit ist alles fern
miriam makeba münchen 1972 E0719
if I would be a shimmering star
I shine now how I would shine
realiter paris (05/01/05) betrachtender: sternenhimmel
mit typischem winter
charakter dem himmels
jäger folgen
zwei hunde sothis & prokyon die erde (lucy)
passagiert sonnennächsten punkt acht minuten &
zehn sec. - sonne licht erde (conakry cky - paris cdg?)
someone
I love has promised to be mine now
im spiegelkabinett leerer versprechungen
so/oft so/weit ist alles nichts so fern
ich immer noch
geschlagen
mit blindheit usw.
in erwartung des maximalen nichts
Kommentar: Der Text lädt zum Rätselraten ein. Gemeint ist er aber als Wiedergabe eines Gedankenflusses.
Herbert Jost-Hof
J. M.
mein blick kehrte in den seinen ein
hungrig nach geborgenheit
dürstend nach ruhe
alt gebrochen
lebenswund
und meine augen nahmen seinen auf
der müde war von kampf und streit
zerrissen und geschunden
abgemagert bis aufs ich
und bloß
soviel schönheit soviel angst
soviel schwerverletzte güte
soviel unverbrauchte liebe
soviel wut und traurigkeit
ihm wollte ich ein labsal sein
ein menschenort voll stille und
wollte lachen schenken das
ich doch selbst verloren hatte
lange schon zuvor
Kommentar: Wundervolle Formulierungen.
Jutta Gornik
Sommer
Überall Sonne.
Überall nur
diese Glut.
Darin
so schwer
der Duft
von Blüten.
Lichtflut
in den Augen,
brennt auf
der Haut,
rinnt durch
die Finger
wie die Zeit
Kommentar: Einfache Worte, aufs Wesentliche konzentriert.
Rainer Daus
Aufklärung
Hart an des Lebens Marterpfahl gebunden,
Erflehend Gnade – nichts tiefer je empfunden,
Stoßen wir Sehnsuchtsschreie aus in grabesdüst'rer Nacht -
Doch bleiben wir allein mit uns'rer schweren Leidensfracht.
»Wo ist ER, der zarte Träume spendet, wärmend Licht?
ER, der tröstet, hilft – und nicht
Mit harten Schlägen aufreißt neue Wunden?«
Hoffnung, Träume, Liebe – alles liegt zerschunden.
Die schöne Welt? Der gute Mensch? - Misslungen!
Des Menschen Wahn hat jedes Erdenglück bezwungen. -
Aussichtslos die kühne Flucht ins Märchenland.
Auch wenn wir weinend uns winden in größter Seelenpein -
Zu spät! - Auf ewig zerbrochen bleibt des Menschen Sein. -
Und es flattert zerrissen im Sturm das Gottesband.
Kerstin Fischer
Der Wind in deinem Körper berührt meine Mohnblume
in den Bewegungen des Sommers