72 Stunden - Fürchte die Stille - Ben Escher - E-Book
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72 Stunden - Fürchte die Stille E-Book

Ben Escher

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Beschreibung

Ein abgelegenes Schloss, kein Kontakt zur Außenwelt und mittendrin ein wahnsinniger Mörder

Seit ihr kleiner Sohn spurlos verschwand, ist Moderatorin Bea nicht mehr dieselbe. Nach einem peinlichen Aussetzer währen einer Live-Sendung beschließt sie, ein dreitägiges Schweigeseminar in einem abgelegenen Schloss zu besuchen. Vielleicht kann Stille ihr helfen, die Trauer zu verarbeiten?

Aber die Methoden der Seminarleiterin sind mehr als seltsam, und dann findet Bea am ersten Abend des Seminars plötzlich einen Schuh ihres Sohnes auf ihrem Kopfkissen. Wie kommt der Schuh hierher? Weiß möglicherweise einer der Anwesenden etwas über das Verschwinden ihres Sohnes? Noch bevor Bea mehr herausfinden kann, wird eine Teilnehmerin ermordet, und der wahre Alptraum beginnt ...

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Seitenzahl: 417

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INHALT

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumDezember, zwei Jahre zuvorDruck zu groß – Moderatorin bricht vor laufender Kamera zusammenMärz – Noch drei StundenNoch zwei StundenNoch vierzig MinutenNoch dreissig MinutenStunde EinsStunde DreiStunde ElfStunde ZwölfStunde DreizehnBekannte Fernsehsprecherin verursacht AutounfallStunde VierzehnStunde FünfzehnStunde SechzehnStunde SiebzehnStunde AchtzehnStunde NeunzehnStunde ZwanzigStunde ZweiundzwanzigJuniMärz – Stunde DreiundzwanzigJuniStunde FünfunddreissigStunde SechsunddreissigStunde NeununddreissigIhr Kind ist weg – droht jetzt Ehe-Aus?JuniMärz – Stunde EinundvierzigStunde ZweiundvierzigJuniStunde VierundvierzigStunde FünfundvierzigJuniStunde SechsundvierzigStunde NeunundvierzigJuniStunde AchtundfünfzigStunde SechzigStunde EinundsechzigStunde ZweiundsechzigKeine Spur in bizarrem MordfallStunde FünfundsechzigStunde SiebenundsechzigStunde AchtundsechzigJuniStunde NeunundsechzigJuniStunde SiebzigJuniStunde EinundsiebzigStunde ZweiundsiebzigJuni – Epilog

ÜBER DAS BUCH

Ein abgelegenes Schloss, kein Kontakt zur Außenwelt und mittendrin ein wahnsinniger Mörder Seit ihr kleiner Sohn spurlos verschwand, ist Moderatorin Bea nicht mehr dieselbe. Nach einem peinlichen Aussetzer währen einer Live-Sendung beschließt sie, ein dreitägiges Schweigeseminar in einem abgelegenen Schloss zu besuchen. Vielleicht kann Stille ihr helfen, die Trauer zu verarbeiten? Aber die Methoden der Seminarleiterin sind mehr als seltsam, und dann findet Bea am ersten Abend des Seminars plötzlich einen Schuh ihres Sohnes auf ihrem Kopfkissen. Wie kommt der Schuh hierher? Weiß möglicherweise einer der Anwesenden etwas über das Verschwinden ihres Sohnes? Noch bevor Bea mehr herausfinden kann, wird eine Teilnehmerin ermordet, und der wahre Alptraum beginnt …

ÜBER DEN AUTOR

Ben Escher ist das Pseudonym eines preisgekrönten deutschsprachigen Thrillerautors. Er arbeitete unter anderem als Journalist und Werbetexter, bevor er begann, seine Leidenschaft für düstere, psychologische Geschichten im Schreiben von Thrillern auszuleben. Heute pendelt der begeisterte Hobbykoch und -musiker zwischen Stadt und Land, bevorzugt mit der Bahn. Folgen Sie dem Autor auf Twitter: @BenEscher

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Originalausgabe

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: René Stein, Kusterdingen

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock.com: Nicola_K_photos

Umschlaggestaltung: Kristin Pang

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-2079-3

luebbe.de

lesejury.de

 

»Die Zunge ist ein außergewöhnliches Organ. Sie ist Trägerin des Geschmackssinns, Werkzeug, Lustobjekt und Musikinstrument. Alle Glieder des menschlichen Körpers brauchen ein stützendes Knochengerüst, doch die Zunge ist darüber erhaben, sie besteht nur aus miteinander im Wechselspiel stehenden Muskeln. Wussten Sie, dass die Zunge eines Wals mehrere hundert Kilo schwer sein kann? Die von Affen sieht der eines Menschen sehr ähnlich, doch mit ihr lassen sich keine Worte bilden. Es gelang Forschern, Schimpansen eine Zeichensprache beizubringen, doch mehr nicht – die Anatomie erlaubt es nicht. Querschnittgelähmte, die nicht mehr selbst atmen können, sind immer noch in der Lage zu sprechen! Nur der Verlust der Zunge macht Menschen wirklich stumm.«

Ich warte auf eine Reaktion des Riesen, der mir gegenübersitzt und so überhaupt nicht aussieht wie ein Psychiater, doch er hat die Hände verschränkt und sein Blick ist unergründlich.

»Wenn sie so vor einem liegt, sieht sie fast unscheinbar aus«, fahre ich fort. »Ein einfacher Fleischklumpen. Eine Laune der Natur, die uns nur Unglück bringt und uns glauben macht, wir könnten Gefühle artikulieren. Was passiert ist, war unvermeidlich. Wenn Sie mir zuhören, werden Sie das verstehen. Bea sah es nicht kommen. Sie war immer noch zu sehr mit Reden beschäftigt. Sie konnte das ganze Bild noch nicht sehen, weil sie ignorierte, was sich direkt vor ihren Augen befand.«

DEZEMBER, ZWEI JAHRE ZUVOR

»Natürlich freue ich mich! Auch wenn ich nicht weiß, ob ich das wirklich verdient habe.«

Bea spürt, wie ihr die Einkaufstasche aus Leinen von der Schulter rutscht. Sie bleibt stehen und lässt die Hand ihres Sohnes Elias los. In der Tasche befinden sich zwei Flaschen Champagner, die dumpf klirrend aneinanderstoßen, als sie sie abstellt. Ihr Handy hat sie zwischen Schulter und Kopf eingeklemmt, und aus ihrer Handtasche ragt unförmig die gläserne Trophäe.

Über dem Abendkleid trägt Bea nur eine dünne Weste. Sie friert, doch all das nimmt sie kaum wahr, so aufgewühlt ist sie. Sie ist gleich von der Gala noch hierhergefahren. Das Einkaufszentrum hat geöffnet, es ist Vorweihnachtszeit, und die Geschäfte wimmeln vor gestressten Leuten. Ein mechanischer Weihnachtsmann klettert ein Seil auf und ab, und aus einem Lautsprecher erklingt Last Christmas so laut, dass es in den Ohren dröhnt.

Ihr Bruder spricht am anderen Ende der Leitung weiter, doch Beas Handy verrutscht und sie versteht ihn nicht.

»Was sagst du?«

»Natürlich hast du dir das verdient, Bea. Du darfst nicht daran zweifeln.«

»Findest du?«

»Das ist so ein schreckliches Business. Ich begreife immer noch nicht, wie du es aushältst.«

»So schlimm ist es nicht.«

»Du bist einfach so gut, dass sie dir nichts anhaben können. Ich bin so stolz auf dich, dass du deine Karenzzeit voll genutzt hast. Es hat dir nicht geschadet.«

»Weil Harry zu mir steht, nur darum.«

»Dein Chef ist doch nicht dumm. Er hat sonst niemanden wie dich.«

»Er hätte Lisa nehmen können. Sie hätte die Unterstützung vom Management gehabt.«

»Das ist ein Witz, oder?«

»Sie ist noch jung.«

»Lisa wird nie etwas anderes als das Wetter moderieren. Sie eifert dir nach, aber sie hat keine Chance.«

Ihr Bruder spricht weiter, doch Bea nimmt das Handy vom Ohr, um sich nach Elias umzusehen, der ein paar Schritte entfernt vor einem Schaufenster mit glitzernder Weihnachtsdekoration steht, mit der roten Zipfelmütze auf dem Kopf, die sie ihm an einem Stand mit Krimskrams gekauft hat, ein billiges Produkt aus dünnem Stoff. Sie wollte wissen, wie er damit aussieht – ihr eigener kleiner Weihnachtsmann –, und natürlich hat er sich sofort in die Mütze verliebt.

»Elias! Bleib hier!«

Der Kleine scheint sie nicht zu hören, also nimmt sie ihre Einkaufstasche mit dem Champagner auf und läuft ihm nach.

»Elias! Was habe ich dir gesagt? Über das Fortlaufen?«

Der Kleine sieht sich erschrocken zu ihr um. Sie ist laut geworden. Kurz sieht es so aus, als würde er zu heulen beginnen, was bei ihm herzzerreißend aussieht, mit der Mütze auf dem Kopf. Also geht sie in die Hocke. Sie will ihn trösten, doch sie sieht, dass er sich bereits beruhigt hat und begeistert auf etwas hinter dem Schaufenster zeigt.

»Mama, schau!«

Er hat schnell verstanden, dass Mama heute nicht böse sein kann, denn für einen Vierjährigen ist er verdammt gerissen. Normalerweise lässt sie ihm so etwas nicht durchgehen. Sie ist keine strenge Mutter, aber wenn es um seine Sicherheit geht, kennt sie kein Pardon.

Elias will sie zum Eingang des Geschäfts zerren.

»Nein, wir können da jetzt nicht hinein«, sagt Bea.

Sie bemerkt, dass ihr Bruder noch dran ist. Er fragt, ob alles gut ist.

»Ja, ich bin mit Elias einkaufen. Wir stoßen später noch darauf an. Kommst du vorbei?«

»Ich kann nicht. Nicht nur du hast Kinder.«

»Bring sie doch mit!«

Ihr Bruder zögert. Bea sieht, dass Elias seinen Blick auf ein neues Schaufenster gerichtet hat. Sie fasst nach seinem Handgelenk, als er entwischen will. Dabei fällt ihr Handy zu Boden.

So geht das nicht. Ich brauche unbedingt etwas zum Knabbern für die Gäste.

Sie hebt das Handy auf, und als sie sich wieder aufrichtet, sieht sie im Schaufenster die Reflexion eines Blitzes. Bea dreht sich um, doch sie kann nicht ausmachen, was sie da gesehen hat. Es sah aus wie der Blitz einer Kamera. Elias zieht mit aller Kraft an ihrer Hand, und sie folgt ihm zum nächsten Schaufenster.

Bea hält erneut nach einer Kamera Ausschau, als der Kinderspielplatz des Einkaufszentrums ihre Aufmerksamkeit fesselt. Dort gibt es ein Klettergerüst und ein Bällebad – einen Pool aus bunten Plastikbällen. Elias ist ganz verrückt danach. Als sie ihn das letzte Mal dort spielen ließ, war er fast eine Stunde beschäftigt. Danach wollte er nicht nach Hause gehen und heulte während der ganzen Heimfahrt. Bea hat eine Idee. Heute könnten die bunten Bälle ihre Rettung sein.

Bea vergewissert sich, dass die Trophäe noch an ihrem Platz ist, und geht los, wobei sie Elias hinter sich herzieht. Der Bereich des Spielplatzes ist rundum verglast, der Zutritt ist nur über eine kleine Eingangstür möglich. Als Elias das Bällebad sieht, beginnt er zu jauchzen. Er läuft voraus und zieht Bea hinter sich her.

Bea kniet sich hin und zieht Elias die Schuhe aus.

»Hör zu, du musst Mama jetzt einen Gefallen tun. Mama ist im Stress. Wenn du ganz brav bist, darfst du zwanzig Minuten ins Bällebad.«

Elias kann sein Glück nicht fassen. Er will sich losreißen und hat den Blick schon auf die bunten Bälle gerichtet, zwischen denen zwei Kinder herumtoben.

»Warte!«, fordert Bea. »Schau mich an! Du gehst ins Bällebad und wartest dort, bis ich wiederkomme, verstanden?«

Elias nickt eifrig.

»Ich bin gleich wieder da«, sagt Bea.

Doch da hat er sich bereits befreit und rennt zu den Bällen, wobei die weiße Quaste seiner Mütze baumelt. Sie sieht, wie er kopfüber in dem Becken verschwindet. Er wird die Mütze bestimmt verlieren, doch das ist egal. Die nächsten zwanzig Minuten wird er beschäftigt sein.

Hier ist er sicherer als an meiner Hand, denkt Bea, während sie zum nächsten Supermarkt eilt. Ich kann ihn einen Moment aus den Augen lassen. Andere Mütter tun so etwas auch.

Sie braucht nur noch Antipasti und etwas Parmesan, das muss für heute genügen.

Sie bemerkt, dass sie ihr Handy immer noch in der Hand hält. Ihr Bruder ist noch in der Leitung.

»Bea, was ist los, bist du noch dran?«

»Ja, ich muss nur noch ein paar Sachen besorgen. Für heute Abend.«

»Mach dir keinen Stress. Ich kann etwas mitbringen.«

Bea freut sich, das zu hören. »Du kommst also?«

»Ich versuch’s.«

Als Bea sich durch eine Warteschlange drängt, die an einem Stand für Kerzen und Christbaumschmuck ansteht, sieht sie in ihrem Augenwinkel erneut etwas blitzen. Diesmal kann sie erkennen, dass der Blitz aus der Silhouette eines Mobiltelefons kommt. Jemand fotografiert sie.

»Was soll das?«, murmelt sie.

»Mit wem sprichst du?«

»Da hat mich gerade jemand fotografiert.«

»Wer?«

»Weiß ich nicht. Manchmal hasse ich es, prominent zu sein.« Bea bleibt am Eingang des Supermarkts stehen. »Hör zu, ich muss jetzt Schluss machen. Wir sehen uns später, ja?«

Sie beendet das Gespräch und sieht sich um. Das Einkaufszentrum gleicht einem Bienenstock. Leute hetzen mit vollen Einkaufstaschen von einem Shop zum nächsten, weichen einander aus, ohne sich anzusehen. Das Bild hat etwas Kunstvolles, wie eine zu schnell abgespielte Aufnahme eines Stummfilms. Niemand beachtet sie, niemand macht ein Foto von ihr. Der unbekannte Fotograf ist bestimmt längst über alle Berge. Sie trägt noch ihre Studio-Frisur, so erkennt sie jeder Idiot. Die Fans werden langsam lästiger. Bea tastet nach dem kalten Glas der Trophäe, die aus ihrer Tasche ragt. Heute kann dieser Gedanke ihre gute Laune nicht trüben.

In einer Auslage entdeckt sie ein Buch, das eine Hütte an einem See zeigt, irgendwas über kleine Häuser in der Natur. Es ist ein Bild, das gute Erinnerungen heraufbeschwört – sie im Urlaub mit ihrem Bruder, der einige Jahre jünger ist als sie. Bea führt ihn an der Hand. Es riecht nach Lagerfeuer und Gegrilltem. Der Gedanke zaubert ihr ein Lächeln ins Gesicht und lässt sie den Fotografen vergessen.

Doch dann geschieht plötzlich etwas mit ihr. Die Erinnerung löst eine Kettenreaktion aus. Ihre Gedanken wandern von ihrem Bruder zu ihren Eltern und schließlich zu Elias. Diese Elemente sind wie eine Gleichung in ihrem Kopf, deren Lösung sie plötzlich spüren kann, ohne sie genau benennen zu können.

Elias.

Bea kehrt um und eilt zu dem Kinderspielplatz zurück. Auf halbem Weg beginnt sie zu rennen. Sie bemerkt nicht, dass die Trophäe dadurch aus ihrer Tasche gerüttelt wird. Jemand rempelt sie an, und der Preis für die »Journalistin des Jahres im Bereich TV« fällt zu Boden, wo er in unzählige Splitter zerbirst. Bea versucht, zwischen den Köpfen der Menschen einen Blick auf das Bällebad zu erhaschen. Sie sieht dort Kinder, doch sie kann sie nicht genau erkennen. Als sie den Teppich erreicht, auf dem die Kinder ihre Schuhe abgelegt haben, sucht sie nach den Schuhen ihres Sohnes.

Doch sie sind nicht da.

Druck zu groß – Moderatorin bricht vor laufender Kamera zusammen

Gerüchte über persönliche Probleme gab es schon lang, gestern kam es dann zur Katastrophe. Volle zehn Sekunden blieb das Mikrofon der bekannten Nachrichtensprecherin Bea Winterleitner mitten in der Anmoderation des Wetters plötzlich still, vor den Augen von Millionen Zusehern. Sie schnappte nach Luft, ihre Augen irrten umher – eine bizarre Situation, wie sie wohl in der Geschichte des Fernsehens einzigartig ist.

»Das ist ihr Ende«, sagt ein Insider und Vertrauter Winterleitners. Er fühle sich schuldig: »Ich hätte ihr raten sollen, eine Auszeit zu nehmen.« Über Winterleitners persönlichen Abstieg seit dem Verschwinden ihres Sohnes war seit Monaten viel spekuliert werden, auch von Medikamentenmissbrauch war die Rede. Nun scheinen sich die Gerüchte zu bestätigen. Bea Winterleitner war für eine Stellungnahme nicht erreichbar, ein Sprecher der Nachrichtenredaktion des Senders tritt Spekulationen über eine Kündigung entgegen. Winterleitner sei eine verdiente Mitarbeiterin, man werde sie bestimmt nicht fallen lassen. Was ihren Aufenthaltsort angeht, hält man sich bedeckt.

MÄRZ

NOCH DREI STUNDEN

Bea hat sich verlaufen.

Von dem verlassenen Bahnsteig, an dem sie ausgestiegen ist, führte ein enger Tunnel unter einer Bahntrasse hindurch. Dahinter ein Einkaufszentrum, das geschlossen hatte, leblos und kahl ohne die Menschen. Nun marschiert sie durch ein Gewerbegebiet. Eine Spenglerei befindet sich hier, daneben ein Reifenhändler. Weiter hinten sieht sie eine aufgelassene Tankstelle, mit Bauzäunen umgrenzt.

Das Gebäude, das sie sucht, ist nirgends zu sehen, dabei müsste es ganz in der Nähe sein. Bea stellt ihren Trolley ab und holt ihr Handy heraus. Die Koordinaten liegen direkt zu ihrer Rechten. Dort ragt ein Berg aus Erde auf, dahinter ertönt der Lärm von Baumaschinen.

Es ist absurd. Sie ist hier falsch. Jemand aus der Redaktion hat sich einen Scherz erlaubt. Sie sollte nicht überrascht sein und ist es doch.

Bea fährt den Teleskopgriff ihres Trolleys ein, hebt ihn auf und hält auf die Baustelle zu. Der Erdhügel grenzt auf einer Seite an eine Hecke, auf der anderen Seite versperren ein Transformator und ein abgestellter Kleinlaster den Weg. Aus Trotz visiert Bea direkt den Hügel an.

Sie ist froh, nicht die hohen Schuhe angezogen zu haben. Als sie den höchsten Punkt des Hügels erreicht, sieht sie auf der anderen Seite einen Bauarbeiter mit weißem Helm neben einer Baugrube stehen. Ein zweiter sitzt in einem kleinen Bagger in der Grube. Der Schaufelarm bewegt sich zuckend, wobei der Bagger erzittert und der Motor stöhnt.

Vorsichtig steigt Bea die Böschung hinab und tritt zu dem Stehenden hin. »Entschuldigen Sie!«

Er dreht sich um. Bea zeigt ihm ihr Handy mit den Koordinaten.

»Ich suche diese Adresse.«

Der Bauarbeiter starrt sie an.

»Wissen Sie, wo das ist?«

Bea hebt das Mobiltelefon vor seine Nase.

»Verstehen Sie mich?«

Der Typ zeigt keine Reaktion.

Sie will es auf Englisch probieren, als er seinen Arm ausstreckt und nach rechts deutet.

Bea stapft davon, wobei sie eine Spur feuchter Erdbrocken hinter sich herzieht, die von ihren Schuhsohlen abfallen.

Ich kann nicht einmal nach dem Weg fragen. So viel also zu meinem Kommunikationstalent.

Sie erreicht einen asphaltierten Weg. Sie passiert große Holzstapel, die mit Planen abgedeckt sind. Weiter hinten sieht sie Baumwipfel aufragen. Das Gewerbegebiet ist hier zu Ende und geht in dichten Wald über. Und da entdeckt sie das Ziel ihrer Reise. Unmittelbar am Rand des Waldes liegt ein mächtiger Gebäudekomplex mit zwei Türmen und einem verglasten Eingangsbereich, wie in einem Krankenhaus.

Bea hat das Schloss gefunden.

*

Der Parkplatz vor dem Eingang ist leer. Die Rollen von Beas Koffer sind klein, immer wieder verhaken sich Schottersteine und blockieren die Räder. Bea tritt vor das Tor, zischend öffnet sich eine gläserne Schiebetür.

Der Raum hat einen dunklen Teppichboden, der alles Licht schluckt. Links und rechts führen Korridore weg, vor ihr ist ein Treppenhaus, daneben eine Rezeption, die den Charme eines Hotels aus den Sechzigern versprüht. Da erst sieht sie, dass dort jemand steht und sie ansieht. Er ist klein, hat eine Glatze und trägt das wallende orange Gewand eines buddhistischen Mönchs.

»Guten Tag!«, grüßt Bea verlegen.

Die Lippen des Mannes zeigen die Andeutung eines Lächelns. Er scheint jung zu sein, vielleicht zwanzig, doch seine asiatischen Augen sind älter.

»Ich komme zu dem Retreat«, sagt sie.

Wortlos zeigt er auf ein Blatt Papier auf dem Tresen. Daneben liegt ein Zimmerschlüssel mit einem schweren Schlüsselanhänger aus Messing. Sie hat die Zimmernummer 15.

Bea ringt sich ein Lächeln ab, trägt ihren Namen und ihre Adresse in das Formular ein und nimmt den Schlüssel. Der Mönch gibt ihr noch einen Computerausdruck.

»Danke«, murmelt Bea und macht sich auf die Suche nach ihrem Zimmer. Sie muss in den linken Trakt des Gebäudes.

Auf dem Weg überfliegt sie den Zettel, bei dem es sich um ein Programm für die nächsten Tage handelt. Das Wort Meditation springt ihr ins Auge, aber viele der Begriffe hat sie noch nie gehört, wie: Zazen oder Samu.

Sie steckt den Zettel ein.

Zweiundsiebzig Stunden schweigen, fasten und meditieren. Nun, da sie das Programm gesehen hat, fühlt sie sich beklommen. Ihr Kommunikationstalent ist ihre große Stärke, mir ihm kann sie jedes Problem lösen. Sie weiß immer, was zu sagen ist. Doch von einem Tag auf den anderen funktionierte das plötzlich nicht mehr. Worte sind auf einmal schrecklich kompliziert geworden.

Mit Rainer musste sie nicht reden. Dafür liebte sie ihn. Als sie dann hätten reden müssen, konnten sie es nicht.

Bea versteht inzwischen, dass sie nicht der Mensch ist, den sie nach außen hin gespielt hat. Sie weiß nicht mehr, wer sie wirklich ist. Sie muss es herausfinden.

NOCH ZWEI STUNDEN

Bea sitzt auf einer Bank vor dem Schloss in der Sonne. Es ist beinah idyllisch hier, wären da nicht die schmutzigen Planen über den Holzstößen in hundert Metern Entfernung. Das winzige Zimmer, in dem sie ihren Koffer abgestellt hat, bietet kaum Platz für ein schmales Bett und eine Stehlampe aus Messing. Statt einem Badezimmer gibt es neben der Eingangstür eine Nische mit einer Duschwanne. An der Wand hängt ein Bild mit einem Jagdmotiv, ein röhrender Hirsch. Nichtssagend und doch unangenehm düster. Sie hat die Tür wieder abgeschlossen und ist zurück ins Freie gegangen. Der Frühling zeigt sich gnädig. Sie glaubt, dass ihr das warme Gefühl im Gesicht guttut.

Bea hört Schotter knirschen. Ein schwarzes SUV nähert sich, ein Modell eines deutschen Autobauers mit lackierten Alufelgen und getönten Scheiben. Es hält in einiger Entfernung vom Schloss, als bemühe sich der Fahrer, nicht weiter aufzufallen, was mit so einem protzigen Wagen natürlich unmöglich ist. Einige Minuten lang passiert gar nichts, dann steigt ein Mann in einem Anzug aus dem Fahrzeug und geht zum Kofferraum, um eine Sporttasche herauszunehmen. Er sperrt sein Auto ab, das kurz aufblinkt, und kommt auf Bea zu. Da wird ihr klar, dass sie ihn kennt. Ohne Gel in seinen Haaren sieht er ganz anders aus, aber er ist es.

»Was sagt eigentlich Ihre Frau dazu? Stimmt es, dass Ihre Partei erwägt, sie auszuschließen?«

Ein Mann mit einem gemeißelten Lächeln, der ihr im Fernsehstudio gegenübersitzt.

»Ich verstehe nicht, was mein Privatleben hier zur Sache tut. Ich bin Politiker.«

»Aber waren das nicht Sie, der den Stellenwert der Familie über alles gehoben hat? Der alternative Lebensentwürfe als Verirrung bezeichnete und beklagte, dass Paare zu wenig Kinder haben? Der sich darüber beschwerte, dass Treue keinen Wert mehr habe?«

Das Knirschen seiner Zähne kann man im Fernsehbeitrag förmlich hören.

»Das Leben ist kompliziert.«

Matthias Lang, ein konservativer Politiker und Abgeordneter. Der mit flotten Sprüchen und einem aufgeräumten Auftreten als Landespolitiker einige bemerkenswerte Wahlerfolge einfuhr und als Parteichef im Gespräch war. Vor wenigen Wochen kam er dann zu Bea ins Studio, um sein Lebenswerk zu verteidigen. Ein Mann, der Familienwerte gepredigt hatte, die Treue zwischen Eheleuten, die Verantwortung gegenüber den Kindern. Bis zum Auftauchen des Videos, das ihn beim enthemmten Liebesspiel mit einer Politikerkollegin der Linken zeigt. Die beiden verstanden sich prächtig und machten sich über ihre Parteien lustig, Alkohol und Kokain wurden in Mengen konsumiert. Das hat den Staatsanwalt auf den Plan gerufen. Seither ist in Langs Leben kein Stein auf dem anderen geblieben. Seine Frau ist auf Tauchstation, seine Parteimitgliedschaft ruht, parteiinterne Konkurrenten teilen sich bereits seine politische Hinterlassenschaft untereinander auf. Die Medien schlachteten die Sache genüsslich aus, und Bea machte natürlich mit, solche Gelegenheiten kann auch sie sich nicht entgehen lassen. Auffällig war, dass die erregten Anrufe seiner Parteifreunde in der Nachrichtenredaktion ausblieben, mit denen normalerweise versucht wurde, eine günstige Berichterstattung zu erzwingen. Man hatte ihn offenbar bereits fallen gelassen. Und auch sie empfand Schadenfreude, wobei sie das Video selbst nicht wirklich skandalös fand, sondern äußerst amüsant. Wie er über seine Partei sprach, war schon beinahe sympathisch.

Kurz darauf gab er alle Ämter auf und tauchte unter. Seither hat Bea nichts mehr von ihm gehört.

Als er an ihr vorbeigeht, wendet sie sich ab, in der Hoffnung, dass er sie nicht anspricht. Er scheint zum Glück so mit sich selbst beschäftigt zu sein, dass er Bea nicht bemerkt.

Matthias Lang ist hier? Wo ist sie da gelandet?

Sie versucht, nicht zu viel darüber nachzudenken. In den nächsten drei Tagen werden sie schweigen, so ist es ausgemacht. Bea muss mit niemandem kommunizieren.

Noch hat sie über eine Stunde Zeit. Als sie den Motorenlärm eines weiteren Autos hört, steht sie auf und geht wieder hinein.

Das Schloss ist viel größer, als es auf den Bildern gewirkt hat. Der Weg in den Garten ist nicht ganz einfach zu finden, sie steht mehrmals vor verschlossenen Türen. Der ganze rechte Gebäudeflügel scheint abgeschlossen zu sein. Sie geht von der Rezeption eine Zwischenetage nach unten und durchquert einen Keller, in dem ausgeblichene Coca-Cola-Sonnenschirme an der Wand lehnen. An einer niedrigen Tür prangt ein Schild mit einem Lieferanten für Heizöl. Schließlich findet sie einen Ausgang durch einen Raum mit Gartengeräten.

Der Garten besteht aus einer kleinen Rasenfläche, die von Unterholz zwischen hohen Bäumen begrenzt wird, und dahinter beginnt der Wald. Der Ausgang befindet sich neben einer Veranda, die etwas erhöht ist und von einer Trauerweide überragt wird. Davor stehen vier Hochbeete, trockene Tomatenpflanzen ranken sich gewundene Stangen aus Stahl empor. Neben den Beeten hängt ein Gong aus Bronze, von einem kleinen Holzdach geschützt. Mitten auf der Wiese steht ein Springbrunnen mit Fischen aus Stuck, die Wasser speien sollten, aber deren Mäuler trocken sind. Im Auffangbecken sammelt sich eine grünliche Brühe, in der eine Gruppe Spatzen badet. Sie tauchen kurz ein und flattern dann wild mit ihren Flügeln, wie spielende Kinder. Bea sieht keinen Zaun, nur eine Umgrenzungsmauer, die beim Schloss beginnt und sich in den Bäumen verliert. Es scheint zu aufwendig zu sein, diesen Garten zu pflegen, also lässt man ihn verwildern. Der Wald holt sich sein Gebiet zurück.

Als sie sich umdreht, sieht sie, dass das Schloss an der rückwärtigen Front in einem schlechteren Zustand ist als die Fassade am Eingang. Schwarze Wasserstreifen verlaufen über die Ziegel. Der rechte Flügel des Schlosses scheint nicht genutzt zu werden, bei fast allen Fenstern sind die Jalousien heruntergelassen. Diese Ecke des Gebäudes ist mit einem Baugerüst versehen. Frische Säcke mit Zement liegen auf einer Palette im Gras davor. Die Fenster des Erdgeschosses sind vergittert, die schwarz gestrichenen schmiedeeisernen Stangen wölben sich bauchig hervor. Fenstersimse aus Sandstein erodieren, zerfallen langsam zu dem Sand, aus dem sie entstanden sind, an manchen Stellen wurden brüchige Stellen mit zu hellem Mörtel fixiert. Das Gebäude hat etwas Tragisches an sich, als wäre Draculas Schloss von einem Gewerbegebiet eingekesselt worden. Der Graf konnte sich die Erhaltung nicht mehr leisten und musste in ein Altersheim.

Bea schlingt die Arme um ihren Körper. Hier ist es kühl. Wann war sie zum letzten Mal draußen in der Natur? Sie weiß es nicht mehr. Ihr Leben spielte sich in ihrer Wohnung ab. Sie liebte es, ihren Wohnraum zu gestalten, eine Höhle, in der sie sich verkriechen konnte. Ihre letzte Höhle hatte zweihundert Quadratmeter in bester Lage, mit Möbeln aus geöltem Holz. Sie hat einen teuren Geschmack, aber sie konnte es sich leisten, wobei die beiden Privatdetektive ein Loch in ihr Budget gerissen haben. Auf die Kosten hat sie nicht geschaut, bis sie den ersten Mahnbrief bekam.

Zumindest kann ich sicher sein, dass die beiden mich hier nicht finden, so unfähig, wie die sind.

Galgenhumor. Auch das ist neu. Sie wusste nicht, dass sie dazu fähig ist.

Welche Ironie, dass die Wohnung jetzt leer steht. Jetzt erst realisiert sie, dass sie sich dort eingeschlossen hatte. Ihr Leben bestand nur aus ihrer Arbeit und dieser Wohnung.

Ihr bleibt ganz plötzlich die Luft weg. Die Bilder brechen über sie herein, und sie braucht all ihre Kraft, um sie zurückzudrängen. Die Arbeit hat sie davon abgelenkt, aber nun, da sie allein ist, kommen sie heftiger und in kürzeren Abständen.

Einige Sekunden lang schließt sie die Augen. Dann ist der Moment überwunden.

Das muss irgendwann besser werden.

Die Natur. Sie muss öfter ins Freie. Sie sollte die Zeit hier nutzen, um sich in dieses Unterholz zu schlagen, den Garten zu erforschen. Bea versucht sich einzureden, dass das die Lösung für ihre Probleme ist. Doch sie weiß, dass es nicht stimmt. So einfach liegen die Dinge nicht. Vielleicht gibt es für ihr Problem keine Lösung. Aber noch ist sie nicht bereit, ihr Schicksal zu akzeptieren. Lieber jagt sie sinnlosen Hoffnungen nach.

Ich bin armselig.

Ihr Bruder würde ihr widersprechen, doch sie will niemanden, der sie aufbaut. Sie will mit dem klarkommen, was ist.

»Schön hier«, sagt eine Stimme neben ihr. Matthias Lang ist neben sie getreten und blickt in den Garten hinaus. »Wild, aber schön.« Er dreht den Kopf. »Finden Sie nicht?«

»Doch«, sagt Bea.

»Ich hätte Sie fast nicht erkannt. Das war nicht so angenehm, bei Ihnen im Studio. Sie haben mich ganz schön in die Mangel genommen.«

»Tut mir leid.«

Er zuckt mit den Schultern. »Wissen Sie, was mit dem Mönch an der Rezeption los ist? Er hat auf keine meiner Fragen geantwortet. Hat man ihm die Zunge herausgeschnitten?«

Lang lacht unsicher, doch Bea lacht nicht mit.

»Ich weiß es nicht«, gesteht sie.

Einige Sekunden herrscht Stille, dann hört sie ihn seufzen.

»Schon gut. Ich lasse Sie in Ruhe.«

Bea verkrampft sich. Sie will ihm widersprechen, doch er ist bereits wieder auf dem Weg hinein und murmelt etwas vor sich hin. Bea spürt ein Gefühl des Verlusts, als die Tür hinter ihm zugeht.

Ist es so? Will ich in Ruhe gelassen werden?

Bea weiß es nicht. Sie weiß im Moment gar nichts mit Sicherheit.

Und plötzlich bemerkt sie, dass da noch jemand ist. Eine Frau, die aus einer anderen Tür den Garten betreten hat. Getönte Kurzhaarfrisur, lange Perlenohrringe. Sie steht direkt beim Schloss und blickt hinaus. Feiner Dunst steigt auf, sie raucht eine Zigarette. Sie hat Bea noch nicht bemerkt, deshalb tritt sie einen Schritt zurück, damit das so bleibt.

Sie ist es. Die Frau von der Website. Dr. Katalina Klaffer, die Leiterin des Retreats. Psychiaterin und Spezialistin für depressive Störungen, Mitglied mehrerer Forschungsgremien zu Methoden der Gewaltprävention sowie Autorin, wenn man ihrer Kurzbiografie glauben kann. 72 Stunden Stille – finde auch du deine innere Stimme. Bea konnte über das Werk nichts Genaueres herausfinden, es scheint vergriffen zu sein. Klaffer ist jung, strahlt etwas Vertrauenerweckendes aus. Man wird sehen, Vertrauen ist nicht Beas Stärke. Aber zweiundsiebzig Stunden, das klingt gut. Wenn sie in dieser Zeit etwas lernen kann, wird sie die Chance dazu nützen.

Etwas an Klaffer ist anders als auf den Bildern, aber Bea kann es nicht genau eingrenzen. Egal. Sie ist hier, weil sie etwas über sich herausfinden will, nicht über andere Menschen. Wenn diese Frau ihr dabei helfen kann, genügt das.

Klaffer drückt ihre Zigarette aus und sieht plötzlich zu Bea her. Sie wusste offenbar die ganze Zeit, dass da jemand steht. Bea will ihr zunicken, doch da wendet sie sich ab und verschwindet im Haus.

Es fröstelt Bea, und auch sie geht hinein. Sie muss noch kurz in ihr Zimmer, sich umziehen, bevor sie zur offiziellen Begrüßung in den Meditationsraum geht, wo sie die anderen Teilnehmer kennenlernen wird.

Sie schließt die Zimmertür auf und ist gezwungen, über ihren Trolley zu steigen, so winzig ist der Raum. Als sie die Verschlüsse öffnet, entdeckt sie zuoberst ihre Kopfhörer. Sie hat sie als Letztes hineingelegt. Etwas Musik kann nicht schaden, war ihr Gedanke.

Bea nimmt ihr Handy aus der Tasche, steckt die Kopfhörer an und drückt die Knöpfe in ihre Ohren. Ihr Telefon fragt, ob es den letzten Song fortsetzen soll, den sie gehört hat. Sie erinnert sich nicht, was das gewesen ist, es muss ein Jahr her sein. Lithium von Nirvana. Ein Song aus Jugendtagen. Warum sie ihn gehört hat, weiß sie nicht mehr, aber sie drückt auf Play, und Curt Cobain erzählt ihr etwas über die Freunde in seinem Kopf.

I’m so lonely, that’s okay, I shaved my head, I’m not sad.

Sie schließt die Augen und versucht zu verstehen, was ihr der Text früher gesagt hat.

I like it, I’m not gonna crack …

Sie kann es nicht mehr fassen, die Person, die diese Musik damals gehört hat, ist zu weit weg. Vielleicht hilft es, sich an diese Person zu erinnern. Die Bea von früher hat zu dieser Musik getanzt und ihre Haare wild hin und her geworfen.

Die Bea von heute schafft es, mit dem Kopf zu dem Text zu nicken, den sie nicht ganz ernst nehmen kann. Vielleicht muss man dafür ein Teenager sein. Doch sie vermutet, dass es auch damals nicht darum ging, den Text für voll zu nehmen. Es ist ein Liedtext, eine Geschichte, die erzählt wird. Es ist nicht Curt Cobain, der ihr erzählt, wie es ihm geht. Er hat nur kokettiert, die Gründe für seinen Selbstmord waren andere. So muss es gewesen sein.

Als sie die Augen wieder öffnet, um die Wäsche auf das Bett zu legen, liegt dort etwas.

Die Musik verschwindet mit einem Mal, so gefesselt ist sie von dem Anblick.

Es ist ein winziger Turnschuh, der Schuh eines Kindes. Er liegt auf der Decke, als wäre er schon immer da gewesen. Doch er war vorhin noch nicht da, sie hätte ihn doch bemerkt, als sie das Zimmer betrat, oder etwa nicht?

Sie zieht die Kopfhörer aus den Ohren und horcht. Draußen vor der Tür ist alles still. Und hier drin ist niemand außer ihr. Das bedeutet, dass der Schuh schon da gewesen ist. Natürlich, was denn sonst?

Bea hebt den Schuh auf und dreht ihn hin und her. Als sie hineinsieht, um zu lesen, um welche Größe es sich handelt, sieht sie, dass er benutzt wurde. Die Aufschrift mit der Schuhgröße ist abgewetzt und nicht mehr lesbar. Sie führt ihn vorsichtig an die Nase und riecht daran, doch er riecht nach gar nichts.

Beas Herz schlägt schnell und schwer. Sie lässt den Schuh wie ein glühendes Stück Eisen auf das Bett fallen und stürzt zur Tür, reißt sie auf und bleibt mitten auf dem Gang stehen.

Dort wartet sie, dass die Panik sie einholt.

Es kann nicht sein. Das ist nicht sein Schuh.

Seine Schuhe sahen doch ganz anders aus, oder etwa nicht? Sie forscht in ihrer Erinnerung, doch sie war zu oft dort, alles ist verschwommen. Sie hat diese Bilder zu oft gewaltsam heraufbeschworen und sie dabei beschädigt. Sie fühlen sich an wie die Erinnerung an einen Traum, unwirklich und fremd.

Er kann es nicht sein. Du bist verwirrt. Du kannst dir selbst nicht vertrauen.

Bea wird sich bewusst, was für ein Bild sie abgibt. Sie blickt sich um. Niemand hat ihre kleine Episode bemerkt, also geht sie zurück ins Zimmer.

Unschuldig liegt der Schuh da. Nichts an ihm ist ungewöhnlich. Es ist nur ihr Verstand, der sich zur Wehr setzt. Beas persönliche Geschichte lässt ihn besonders erscheinen, obwohl es einfach nur ein Kinderschuh ist, der vermutlich nichts bedeutet.

Sie denkt daran, ihn in den Mülleimer zu werfen.

Sei vernünftig. Deshalb bist du doch hier, weil du vergessen willst.

Doch so sehr sie es sich auch einreden will, sie glaubt nicht, dass es so einfach ist. Sie beginnt stattdessen, das Zimmer zu durchsuchen. An der Badezimmerwand ist ein Metalldeckel eingefasst, den sie mithilfe einer Nagelfeile abschrauben kann. Dahinter befindet sich ein Rohr mit einem Ventil, und drumherum etwas Platz. Bea hebt den Schuh mit spitzen Fingern auf, wickelt ihn in ein Halstuch ein, dann schiebt sie ihn hinter das Rohr und dreht die Schrauben wieder hinein.

Das bedeutet nichts, sagt sie sich beim Hinausgehen. Es ist nur irgendein Schuh. Aber womöglich hat sie einen Verdacht, von wem er stammen könnte.

NOCH VIERZIG MINUTEN

Das Schloss hat zwei Stockwerke und ist in zwei Trakte unterteilt, die annähernd symmetrisch sind. Nur die beiden Türme sind unterschiedlich, der eine breit und gedrungen, der andere spitz aufragend, mit einem Wetterhahn aus Metall.

Der Saal liegt genau in der Mitte zwischen den beiden Gebäudeflügeln und sieht aus, als wären hier früher Bälle veranstaltet worden. Der Parkettboden glänzt, zwei Kristalllüster hängen von der stuckverzierten Decke. Die Wände sind weiß vertäfelt, großzügige Glasfenster öffnen sich zur Veranda in den Garten hinaus. In der Mitte steht ein Kreis aus Holzstühlen. Dort sitzt bereits der Politiker Matthias Lang mit zwei Frauen. Eine davon ist jung und sehr zart, mit langen Haaren, die ihr ins Gesicht fallen. Sie sitzt still da und wartet. Die andere ist kleiner, mit einem Pagenschnitt. Sie scheint so mit sich und ihrem Mobiltelefon beschäftigt zu sein, dass sie ihre Umgebung nicht wahrnimmt.

In diesem Moment betritt ein weiterer Mann den Raum, und als Bea ihn erkennt, setzt ihr Herz kurz aus. Der Mann hat eine Glatze und ist so groß und kräftig, dass der Stuhl, auf den er sich setzt, unter ihm beinah verschwindet. Seine rechte Hand ist bandagiert, und er legt sie auf seinen Schoß, als wollte er sie schonen. Als er zu ihr herblickt, kann Bea sehen, dass auch er sie erkennt. Sie wendet sich schnell ab.

Otto Jacobi, ein Comedian. Das Publikum liebt ihn, seine Vorstellungen auf den Kabarettbühnen des Landes sind ausverkauft. Ein Clown mit dem Körper eines Schlägers, ein sanfter Riese, der sich hinreißend über sich selbst lustig macht. Den Sprung ins Fernsehen schaffte er als Co-Kommentator für Sportveranstaltungen, später gelang ihm als Stimmenimitator mit überraschend piepsiger Kopfstimme der Aufstieg zum Publikumsliebling. Seither ist er auf den Bildschirmen nahezu omnipräsent, sei es bei Comedy-Stammtischen, Reality-Soaps oder Lifestylemagazinen. Früher hat er geboxt, Schwergewicht, in verschiedenen regionalen Verbänden, bis der Körper nicht mehr mitspielte. Wenn er geht, sieht man, dass er Knieschmerzen hat, obwohl er gerade einmal fünfzig sein kann.

Bea zwingt sich dazu, nicht zu ihm hinzusehen. Ihr ist übel. Sie verflucht sich dafür, dass sie nicht nachgefragt hat, wer sonst noch an diesem Seminar teilnimmt. Vielleicht hätte es einen Ausweichtermin gegeben.

Egal. Es muss auch so gehen. Sie wird ihn einfach ignorieren, wie die anderen.

Bea setzt sich neben Lang, in sicherem Abstand zu Jacobi.

NOCH DREISSIG MINUTEN

Als Klaffer eintritt und ihre Absätze über den Parkettboden klappern, blicken alle auf. Sie trägt nun eine Brille zu den großen Ohrringen. Die sauber zurechtgemachte Frisur bewegt sich beim Gehen kein bisschen, nicht ein Haar rührt sich. Im Fernsehen fällt so etwas nicht auf, hier schon. Klaffer geht zu einem Beistelltisch an der Wand, auf dem neben einem Tee-Spender aus Edelstahl eine Karaffe mit Wasser und ein leeres Glas stehen. Neben dem Tisch lehnen einige Stapel mit Polstern. Sie schenkt sich Wasser ein und trinkt einen Schluck, um schließlich die Polster durchzuzählen. Bea könnte schwören, dass die Brille aus Fensterglas besteht.

Klaffer kommt auf sie zu und stellt sich vor den Halbkreis aus Stühlen. Als Bea ihr kurz in die Augen sieht, glaubt sie dort einen Anflug von Unsicherheit zu erkennen.

Doch plötzlich wird Klaffer merkwürdig ruhig. Sie sieht zu Boden und scheint sich zu sammeln. Als sie aufblickt, ist in ihrem Gesicht ein Lächeln und die Unsicherheit verschwunden.

»Herzlich willkommen! Mein Name ist Katalina Klaffer, und ich werde Sie während der folgenden zweiundsiebzig Stunden begleiten. Die buddhistische Gesellschaft stellt uns dankenswerterweise dieses wunderbare Haus zur Verfügung. Es freut mich, dass Sie alle den Weg hierher gefunden haben.«

Sie kann sprechen, denkt Bea. Ihre Stimme ist melodisch und tiefer als erwartet.

Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft hier im Schloss denkt Bea, dass es vielleicht doch eine gute Entscheidung war hierherzukommen.

»Retreat bedeutet Rückzug«, erklärt Klaffer, wobei sie den Blick senkt, als müsste sie sich konzentrieren, die richtigen Worte zu finden. »Wir alle brauchen hin und wieder Orte, an die wir uns zurückziehen können, um uns zu sammeln und mit neuer Kraft in unser Leben zurückzukehren. Wie Sie wissen, ist das Thema dieser Veranstaltung das Schweigen. Schweigen ist eine unterschätzte Kunst. Worte lenken unseren Alltag, aber das Wesentliche liegt tiefer, und Worte führen uns davon weg. Ich habe das in meiner jahrelangen Praxis als Therapeutin oft genug erlebt. Irgendwann erkannte ich, dass Worte nicht die Lösung sind. Der Schlüssel zur Lösung unserer Probleme, zu unserem Glück, liegt in uns selbst. Nur wir allein können ihn finden, indem wir ganz in uns gehen. Ich freue mich, Sie dabei in den nächsten Tagen zu begleiten. Nach diesen zweiundsiebzig Stunden wird jeder von Ihnen ein neuer Mensch sein.« Klaffer macht eine Kunstpause, bevor sie in die Runde blickt. »Ich bitte Sie nun darum, sich vorzustellen. Sie werden in den kommenden Tagen nicht miteinander kommunizieren, deshalb ist es gut, wenn Sie die Gelegenheit nutzen, einander etwas kennenzulernen. Herr Lang, möchten Sie beginnen? Was Sie tun, warum Sie hier sind.«

Er möchte nicht, das sieht man ihm an. Ihm wäre es am liebsten, wenn ihn niemand kennen würde. Doch er holt Luft, hält kurz den Atem an und beginnt.

»Matthias Lang, Politiker.« Er lacht bitter. »Ich weiß nicht, was ich mir erwarte. Aber vorerst genügt mir, wenn mich niemand auf die letzten Wochen anspricht. Vielleicht kann ich hier ein paar Dinge auf die Reihe kriegen, ich weiß es noch nicht.«

Klaffer wartet, ob noch mehr kommt, dann nickt sie und wendet sich Jacobi zu.

»Otto Jacobi«, sagt der Comedian. »Schauspieler, Autor.«

Diese Vorstellung ist vorbereitet, sie kommt ohne Zögern. Bea erinnert sich, Jacobi hat unlängst ein Buch geschrieben. Und wie andere Comedians hat er in Filmen mitgespielt.

»Ich muss beruflich viel reden«, erklärt er. »Einmal im Jahr nehme ich mir Zeit nur für mich. Ich finde das befreiend.«

Jacobi ist nicht hier, weil er ein Problem hat, das ist seine Botschaft an die Anwesenden. Im Gegensatz zu ihnen weiß Bea, dass das eine schamlose Lüge ist, doch sie schweigt natürlich. Sie will nicht daran denken. Jacobi ignorieren, das ist der Plan.

Als Nächstes spricht die junge Frau mit dem Pagenschnitt.

»Hallo, ich bin Cleo. Cleo Wiesinger. Ihr kennt mich wahrscheinlich aus dem Fernsehen. Ich habe bei dieser Show mitgemacht.«

Da erkennt Bea sie plötzlich. Cleo Wiesinger, die Sängerin. Sie hat Cleo wirklich schon einmal gesehen, damals war ihre Frisur anders. Sie war gerade Dritte bei einer landesweiten Casting-Show geworden und schwärmte von ihrem ersten Album, betete brav die von der Marketingabteilung vorbereiteten Messages herunter. Sie hat ein wenig zugenommen, seit sie bei Bea im Studio war. Es steht ihr.

Noch ein Fernsehpromi? Die Veranstaltung hier scheint der letzte Schrei zu sein.

»Mein Agent hat das hier für mich gebucht«, sagt sie. »Er sagt, das würde mir guttun. Ich überlege, mit dem Singen aufzuhören. Ich will eine Ausbildung als Masseuse machen, wenn ich hier fertig bin. Ich will etwas mit meinen Händen machen.«

Bea versteht. Sie vermutet, dass die Kleine den branchenüblichen Knebelvertrag bekommen hat. Ihr Agent, mit dem sie vermutlich eine Affäre hat, will verhindern, dass sie abspringt, weshalb er sie im erstbesten Retreat angemeldet hat.

Während Bea darüber nachdenkt, wer ihr Agent sein könnte – sie kennt selbst einige dieser Typen –, stellt sich die zweite Frau vor. Bea nimmt am Rande wahr, dass sie Cindy Hermann heißt, als Verkäuferin arbeitet und im Internet auf das Retreat gestoßen ist.

Plötzlich merkt Bea, dass es still geworden ist und alle sie anstarren. Sie spürt, wie sie rot wird, gibt sich einen Ruck und nennt ihren Namen. Sie sagt, dass sie beim Fernsehen arbeitet und sich über ein paar Probleme klar werden will, darüber aber nicht reden möchte.

Klaffer und die anderen scheinen das zu akzeptieren.

»Sie alle haben das Programm bekommen«, fährt Klaffer fort.

Bea erinnert sich an den Ausdruck und an die kryptischen Begriffe.

»Wir treffen uns jeden Morgen um fünf Uhr fünfundvierzig hier im Saal, er ist aber natürlich schon vorher geöffnet, falls Sie allein meditieren wollen. Beginn ist um sechs Uhr, aber ich ersuche Sie, immer pünktlich eine Viertelstunde früher hier zu sein. Wir praktizieren gemeinsam Zazen, das ist eine Meditationspraxis aus dem Zen-Buddhismus.«

Bea kann spüren, wie sich ihr Nacken verspannt. Sechs Uhr? Sie kann sich nicht erinnern, darüber in der Ankündigung gelesen zu haben. Währenddessen spricht Klaffer weiter, erläutert den Begriff Samu und erwähnt etwas über Gartenarbeit. Bea muss sich konzentrieren.

»Samu dauert bis zwölf. Währenddessen finden die Therapiegespräche statt, zu denen ich Sie nach und nach in mein Büro bitten werde. Danach essen wir. Um ein Uhr nachmittags sind wir wieder hier zum Zazen. Ab zwei steht wieder Samu auf dem Programm. Um sechs gibt es Tee, danach folgt die Samadhi-Meditation. Anschließend haben Sie eine Stunde für sich, um neun Uhr herrscht Nachtruhe. Bis dahin bitte ich Sie, in Ihren Zimmern zu sein.«

Bea kann sehen, dass Lang und Cleo genauso schockiert sind wie sie. Nachtruhe um neun Uhr abends? Ist das ihr Ernst? In den letzten Wochen hat Bea nie vor drei Uhr morgens Schlaf gefunden, zumindest nicht ohne pharmazeutische Hilfe. Nur Jacobi scheint damit einverstanden zu sein.

Doch Bea verkneift sich einen Kommentar. Sie hat nicht vor, den Rammbock für die anderen zu machen. Und wenn sie nicht zumindest versucht, Klaffer zu vertrauen, hat es ohnehin keinen Sinn.

»Sie können sich hier natürlich frei bewegen«, fährt Klaffer fort. »Ein paar Regeln gibt es allerdings zu beachten. Sobald wir schweigen, vermeiden Sie jeden Kontakt zueinander. Keine Gesten, keine Berührungen, kein Blickkontakt, auch nicht bei der Arbeit im Garten. Außerdem bitte ich Sie, während Ihres Aufenthalts auf Alkohol, Nikotin oder andere Substanzen zu verzichten. Und noch eine Warnung: Teile des Schlosses werden gerade renoviert. Manche Räume sind abgeschlossen. Das dient zu Ihrem Schutz, auf der Baustelle besteht Verletzungsgefahr. Das sind die wichtigsten Punkte. Ich gehe davon aus, dass Sie sich daran halten. Haben Sie sonst noch Fragen?«

Cleo strahlt. »Müssen wir wirklich die ganze Zeit über still sein?«, fragt sie. »Ich stelle mir das sehr schwierig vor, drei ganze Tage.«

Klaffer sieht sie einige Sekunden lang an, als müsste sie sich vergewissern, dass die Frage ernst gemeint ist. »Es ist weniger schwierig, als Sie denken.«

Cleo lächelt unschuldig. »Für Sie vielleicht. Aber nicht alle sind so wie Sie! Mir wird immer schrecklich langweilig, wenn ich nichts tue.« Sie sieht sich im Raum um und zwinkert in die Runde.

»Das wird sich nicht ändern lassen«, erwidert Klaffer lapidar. »Was Sie als Langeweile wahrnehmen, ist der Beginn eines wichtigen Prozesses, das gehört zum Meditieren dazu.«

Die junge Sängerin seufzt gekünstelt. »Können wir wenigstens beim Essen reden?«

»Versuchen Sie es doch einfach einmal«, sagt Klaffer schnell, »gerade beim Essen sollte man schweigen.«

»Also ich rede immer beim Essen!«

Klaffer geht nicht mehr darauf ein und spricht wieder zur ganzen Gruppe.

»Ich möchte eines festhalten: Was wir hier vorhaben, ist kein Entspannungstrip. Schweigen kann eine sehr intensive Erfahrung sein. Sie werden Momente erleben, wo es sich schwierig, ja, vielleicht unerträglich anfühlt. Sie werden an Ihre Grenzen gelangen. Ich will Ihnen nichts vormachen, manche der Methoden, die wir anwenden werden, haben genau diesen Zweck. Wir wollen alles entfernen, was Ihnen den Blick auf Ihr Innerstes verstellt. Wenn es schwierig wird, halten Sie sich vor Augen, dass es nur daran liegt, dass tief in Ihnen verborgene Dinge zum Vorschein kommen. Dinge, die Sie vielleicht nicht sehen wollen oder die Ihnen Angst machen. Auch diese Dinge gehören zu Ihnen, zu Ihrer Persönlichkeit. Bei Veranstaltungen dieser Art ist deshalb ein tägliches Therapiegespräch mit einer speziell ausgebildeten Person vorgesehen – mit mir. Das Schweigegebot gilt dann natürlich nicht. Diese Gespräche sind wichtig, und ich erwarte, dass Sie pünktlich erscheinen. Ich habe ein Büro im ersten Stock und erwarte Sie dort, der Zeitplan hängt jeden Tag bei der Rezeption aus.« Klaffer macht ein betont ernstes Gesicht. »Diese Therapiegespräche sind unerlässlich. Unbetreut kann diese intensive Art der Selbsterfahrung unerwartete Nebenwirkungen haben. Aber seien Sie unbesorgt, ich habe viele Jahre Erfahrung in diesem Bereich. Lassen Sie mich Ihnen helfen, zu sich selbst zu finden, sich selbst besser kennenzulernen.«

Das scheint nicht zu sein, was Cleo hören wollte. Ihr Lächeln ist verschwunden, und Bea kann sehen, dass sie sich unwohl fühlt.

»Ist das hier also ein Zen-Retreat?«, fragt Lang plötzlich. Er scheint davon nicht begeistert zu sein.

Doch Klaffer schüttelt den Kopf. »Wir praktizieren kein Zen, wenn Sie das meinen. Es gibt keinen Zen-Meister, keine Sprüche. Aber Sie haben recht, ich benutze effektive Methoden aus dem Zen-Buddhismus, die ich nach psychologischen Gesichtspunkten ausgewählt habe.«

»Methoden, die nicht unumstritten sind, oder?«, fügt Lang hinzu und wartet auf ihre Reaktion.

Die beiden sehen sich an.

»Wo haben Sie das denn her?«

Er zuckt mit den Schultern. »Man findet so einiges, wenn man Sie googelt.«

»Sie sollten nicht alles glauben, was Sie im Internet lesen.« Klaffer wendet sich wieder an die ganze Gruppe. »Da ist noch etwas: Es ist möglich, dass nicht alle von Ihnen es schaffen. Nicht jeder ist bereit für die Stille. Daran kann ich nichts ändern.«

Nun wagt niemand mehr zu widersprechen. Klaffer nickt zufrieden.

»Gut. Dann geht Hanh nun durch und wird Ihre Mobiltelefone einsammeln.«

Klaffer deutet auf den jungen buddhistischen Mönch von der Rezeption, der plötzlich in der Nähe des Eingangs steht. Sie haben ihn nicht kommen gehört.

Cleo reißt die Augen auf. »Waaas?«

»Das stand deutlich in der Ausschreibung.«

»Ich möchte aber …«

Klaffer schneidet ihr mit einer scharfen Geste das Wort ab. »Keine elektronischen Medien, bitte geben Sie auch Ihren Laptop ab, falls Sie noch einen auf dem Zimmer haben. Die Dinge werden in meinem Büro sicher verwahrt. Und versuchen Sie nicht, die Geräte vor mir zu verstecken, ich merke das.« Klaffer ist nun sichtlich gereizt.

»Wenn ich das gewusst hätte …«, murmelt Cleo.

Plötzlich schaltet Lang sich ein. »Ich verstehe, dass Sie Ablenkung vermeiden wollen, aber ich muss morgen dringend meinen Anwalt anrufen.«

»Das wird nicht möglich sein«, sagt Klaffer kühl.

»Es wird nicht lang dauern«, sagt Lang ruhig, sichtlich überzeugt, dass sie ihn verstehen wird. »Es geht um einen Prozess. Ich bin als Beschuldigter geführt.«

»Wie gesagt, es ist nicht möglich. Wenn Sie teilnehmen wollen, müssen Sie Ihr Handy abgeben. Das war bei der Anmeldung ganz klar ersichtlich.«

Lang ist irritiert. Derartigen Widerstand scheint er nicht gewohnt zu sein. »Das heißt im Klartext, Sie werfen mich raus, wenn ich telefoniere?«

»Ich schlage vor, Sie tätigen Ihren Anruf jetzt gleich«, sagt Klaffer.

Da steht Lang auf, holt sein Handy aus der Tasche und wählt eine Nummer, während er eilig den Raum verlässt. Auf eine Geste Klaffers hin beginnt der Mönch, die Telefone einzusammeln und in einen Müllsack aus blauem Kunststoff zu legen. Cleo schaltet ihr Gerät umständlich aus, was eine Ewigkeit dauert, doch der Mönch wartet, bis sie fertig ist. Auch Bea kramt ihres widerwillig hervor. Ein Blick aufs Display verrät ihr, dass sie vierzehn entgangene Anrufe und elf neue Sprachnachrichten hat. Sie hatte das Gerät auf lautlos. Sie überfliegt die Liste zwei Mal, aber ein Anruf von Rainer ist nicht dabei. Bea schaltet das Handy aus und steckt es in den Sack.

»Gut«, sagt Klaffer, »dann möchte ich zur Einstimmung mit einer Meditationsübung starten.

Bea legt ihr Polster in größtmöglichem Abstand zu den anderen hin. Sie hört, wie Lang zurückkommt und sein Handy abgibt. Bea weiß nicht, wie sie am besten sitzen soll, und blickt sich nach den anderen um. Jacobi sitzt im Lotossitz, mit nach oben gedrehten Fußsohlen. Es sieht bei ihm ganz einfach aus, doch als Bea es probiert, stellt sie fest, dass sie zu ungelenkig ist. Lang dagegen hat sich hingekniet und setzt sich auf seine Fersen. Bea überlegt, es ihm nachzumachen, entscheidet sich aber dann für einen Schneidersitz.

Als alle sitzen, geht Klaffer zur Kontrolle durch die Reihen. Bei Bea bleibt sie stehen und gibt ihr Anweisungen, wie sie sich positionieren soll. Bea sitzt sonst nie im Schneidersitz. Das Polster unter ihr soll dieses Defizit ausgleichen. Dennoch schläft ihr schon nach Sekunden das linke Bein ein. Bea soll den Körper noch weiter aufrichten und das Kinn nach hinten nehmen. Die Schultern sollen locker sein. Zugleich sollen die Hände vor dem Bauchnabel gehalten werden, in einer komplizierten Geste mit aneinanderliegenden Daumen, die sie als kraftraubend empfindet.

»So«, sagt Klaffer.

Beas ganzer Körper ist nun unter Spannung, und sie fragt sich, ob das so sein soll.

»Kann ich die Hände nicht ablegen?«, fragt sie und gönnt ihren Fingern eine Ruhepause.

Klaffer sieht sie nur fragend an und deutet dann erneut auf die Hände, bevor sie sich Lang zuwendet.

Nachdem alle einigermaßen die Position halten, die Klaffer sich vorstellt – entspannt sieht das nur bei Jacobi aus –, erläutert sie noch einige Punkte.

»Diese Art der Meditation wird von Zen-Buddhisten praktiziert. Ihr Ziel ist dabei die Erleuchtung. Das wird uns hier nicht gelingen. Uns wird es aber helfen, uns selbst besser wahrzunehmen. Im Alltag lenken uns unzählige Gedanken und Eindrücke davon ab – all der Lärm ist hier ausgeschaltet. Sie werden merken, dass der Geist das Fehlen von Ablenkung nicht gewohnt ist. Er wird versuchen, den bekannten Zustand wiederherzustellen. Sie werden unzählige Gedanken haben, vielleicht zu grübeln beginnen. Falls das passiert, besinnen sie sich auf das Hier und Jetzt. Konzentrieren Sie sich auf Ihre Atmung. Außerdem rate ich Ihnen, einen Punkt vor Ihnen auf dem Boden anzuvisieren. Sehen Sie nur diesen Punkt an, nichts sonst. Schließen Sie die Augen nicht! Sie sollen schließlich nicht einschlafen, sondern ganz wach sein. Zu Beginn wollen wir es nicht übertreiben, eine halbe Stunde genügt. In den nächsten Tagen werden wir die Zeiten dann kontinuierlich steigern.«