7MONDI - Günther Ferstl - E-Book

7MONDI E-Book

Günther Ferstl

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Beschreibung

Spoiler-Alarm! Multimediale Interaktivität ist der neue Trend. Diese Erstauflage wird dich fesseln! Tauche ein in 7MONDI und erlebe die Geschichte auf eine völlig neue Art - mit exklusiven QR-Codes, die dich zu Hörbeispielen, realen Karten, Fantasy-Welten, Fotos und Videos führen. Verfolge die Jagd hautnah und begleite die Protagonisten online. Die Gedankenkralle darf nicht siegen! Stell dir vor, jemand stiehlt dir deine Gedanken, dein Wissen, all deine Fähigkeiten. Genau das passiert, wenn du der Gedankenkralle begegnest. Stella und Riccardo, Artisten des italienischen Zirkus Bonelli, sehen sich dieser düsteren Macht gegenüber, während sie durch eine mysteriöse, verhexte Stadt gejagt werden. Auf der Suche nach der Wahrheit über das Verschwinden ihrer Eltern ist die Wahrsagerin Mürre ihre letzte Hoffnung. Doch das Schicksal führt sie über eine magische Schatulle zu einem geheimnisvollen Ort namens 7MONDI. Dort lauern finstere Mächte, die bereit sind, alles zu tun, um die Wahrheit im Dunkeln zu halten. Denn sollte diese ans Licht kommen, wäre die Macht der Gedankenkralle gebrochen. Zum Glück haben Stella und Riccardo nicht nur ihre Zirkuskünste, sondern auch unerschütterlichen Mut und Entschlossenheit auf ihrer Seite. Doch werden diese Talente ausreichen, um den dunklen Mächten zu entkommen und das Geheimnis ihrer Eltern zu enthüllen? Jede Entscheidung zählt, jede Wendung birgt Gefahr - und das Schicksal vieler Menschen in dieser verhexten Stadt liegt in ihren Händen. Ein fesselndes Abenteuer voller Magie, Intrigen und Geheimnisse wartet auf dich - bist du bereit, dich der Gedankenkralle zu stellen und die Wahrheit zu entdecken? Das Abenteuer beginnt jetzt!

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Seitenzahl: 720

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Günther Ferstl, geboren 1964 in Graz, hat ein vielseitiges Leben geführt. Nach seinem Studium der Sportwissenschaften an der Karl-Franzens-Universität Graz arbeitete er über drei Jahrzehnte als Trainer, Lehrer, Kameramann, Cutter, Redakteur und Produzent für nationale und internationale TV- und Business-Produktionen. Gleichzeitig gab er sein Wissen als Lektor an der Universität Graz weiter und lehrte für das Bundesministerium für Unterricht und Kunst, das BMLV und an Fachhochschulen im Bereich „Audiovisuelle Realisierung und Umsetzung“.

Neben der Arbeit in der Medienwelt entdeckte Günther Ferstl die Freude am Schreiben. In seinen Geschichten ist es ihm besonders wichtig, jungen Leserinnen und Lesern zu vermitteln, dass der Glaube an das eigene Talent der Schlüssel ist, um Herausforderungen zu meistern und über sich hinauszuwachsen.

FANTASY ABENTEUER ROMAN

Dieses Buch entführt dich in ein Abenteuer, das von Freundschaft, Zusammenhalt und dem mutigen Lösen schwieriger Situationen erzählt.

Für Leseratten zwischen 11 und 111 Jahren.

Für meine liebe Tochter Stella-Maria

Dieser Fantasy-Abenteuer-Roman beinhaltet auf verschiedenen Seiten

Interaktive QR -Codes!

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Was erwartet Dich?

Digitale Karten, Videos, sowie Bilder oder interessante Links und genaue Backstory-Informationen über unsere Helden der Geschichte.

Hör mal rein!

Ich habe außerdem mehrere Hörbuchbeispiele beigefügt. Sie sollen dir dabei helfen, eine passende Stimmung aufzubauen und das Buch „7MONDI Die Gedanken-Kralle“ noch intensiver zu erleben

Viel Spaß bei der Durchsicht dieses interaktiven Romans!

Inhaltsverzeichnis

Die 1. Welt

Die Schatulle der Wahrsagerin

Die schreckliche Nachricht

Der Schrei und der Papagei

Der Streit um das Bild

Der Fluch der Mürre

Dieser Roman bietet dir zusätzlich interaktive Tools

Die 2. Welt

Der Diebstahl

Das Versprechen an den Kobold

Die Grotte von Bue Marino

Der alte Robbenmönch

Dieser Roman bietet dir zusätzlich interaktive Tools

Die 3. Welt

Die Unterstadt

Die Uhrenjagd

Die Springer

Der Springerkönig

Die Schlacht um Springereden

Das rothaarige Mädchen

Das Wiedersehen

Die 4. Welt

In der Zwischenstadt

Der Brunnen der Wahrheit

Das Verhör und der Plan

Tief drinnen in der Schmiede

Der Hinterhalt

Dieser Roman bietet dir zusätzlich interaktive Tools

Die 5. Welt

Verletzt und gefangen

Der Verrat

Der Kampf um die Freiheit

Der Angriff der Hortlaks

Die 6. Welt

Sardinischer Boden

Nach der Schlacht

Nuraghe San Pietro und der Uhrturm

Das Ringen um die wahre Zeit

Die achtstellige Zahlenkombination

Die 7. Welt

Die letzten Erinnerungen

Die Geschichte geht weiter

DIE 1. WELT

Primo Mondo

DAS BEKANNTE

Die Schatulle der Wahrsagerin

Es war nach einer Vorstellung, spät abends, als die letzten Besucher lachend den großen Zirkus Bonelli verließen. Allmählich kehrte Stille in der Wohnwagenstadt ein. Hie und da hörte man vereinzelt noch das Schnauben der erschöpften Pferde, das Kratzen der gähnenden Löwen an den Käfigwänden und das Geplapper der immer quirligen Affen. Verlassen stand eine kleine Laterne vor dem großen Manegenzelt, spendete einen matten Schein und vermischte sich mit dem bläulichen Licht des Vollmondes.

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Die meisten kleinen Fenster der Zirkuswagen wurden innen von undurchsichtigen Vorhängen verdeckt und schützten so vor neugierigen Blicken. Artisten, Clowns, Tierwärter, Zirkusangestellte und Tiere begaben sich nun zur Ruhe. Eine anstrengende, heiße Sommerabendvorstellung lag hinter ihnen.

Nicht weit entfernt schoben die ersten, größeren Wellen unregelmäßig mit enormer Kraft und Wucht gegen die felsigen und sandigen Küstenbereiche. Ihr Wechsel zwischen Wildheit und Ruhe nahm stetig zu, als würden sie kämpfen, ob der Rhythmus schnell oder langsam sein sollte. Weit draußen auf dem Meer erhellten die ersten Blitze den nächtlichen Himmel, gefolgt von einem Donnergrollen. Die Natur hatte ihre Augen auf die sardinische Küste gerichtet und war bereit, das Ende eines hitzigen Sommerabends in eine stürmische, nasse Nacht zu verwandeln.

Nur zwei kleine Gestalten waren noch munter, sprangen in der Dunkelheit von Wagen zu Wagen, blieben manchmal stehen, lauschten und näherten sich immer mehr dem großen, gelben Sternenwagen am Rande der Zirkusstadt.

»Riccardo, bist du sicher, dass die alte Mürre heute die Nacht am Hafen verbringt?«, flüsterte Stella und zerrte am Ärmel ihres Bruders.

»Ja sicher, oder glaubst du, ich habe geträumt? Sie ist gleich nach der Vorstellung mit dem Direktor weggefahren.«

Riccardo gingen die lästigen Fragen seiner kleinen Schwester auf die Nerven. Stella war unersättlich, wenn es ums Fragen ging.

»Du Riccardo ... Mürre ist doch Wahrsagerin. Sie kann also sicher voraussehen, dass wir ihren Wohnwagen betreten werden.«

Riccardo drehte sich zu dem kleinen Mädchen um, blickte etwas verstört in die Dunkelheit, da er sie kaum sah und erspähte ihre zappelnden Umrisse. Noch bevor Stella weiter bohren konnte, drückte er ihr seine Handfläche auf den Mund.

Das Mädchen wollte sich wehren, aber da erkannte sie auch schon den Grund, aus dem ihr Bruder so überraschend gehandelt hatte. Kaum zehn Meter von ihnen entfernt, torkelte mit schwankendem Schritt der dicke Kapellmeister vorbei. Mit seiner rechten Hand fuchtelte er noch immer dirigierend in der Luft herum, in der linken umklammerte er mit seinen wulstigen Fingern den Hals einer Rotweinflasche. Schnaubend, wie ein gehetzter Bär, brummte er ein Zirkuslied in die dunkle Nacht hinaus und steuerte in einem Slalomlauf auf das große Vorzelt zu. Dann verschwand er darin.

Die beiden Geschwister atmeten tief durch, grinsten ein wenig und vergewisserten sich, dass die Luft rein war. Danach öffnete Riccardo die Türe des Sternenwagens und trat ein. Hinter ihm stolperte Stella ins Wageninnere.

»Riccardo, was ist mit Mürre? Sie kann ja in die Zukunft sehen. Sie weiß wahrscheinlich schon, dass wir uns hier befinden.«

»Stella sei endlich ruhig! Mürre ist nichts anderes als eine Zirkusattraktion mit einer ‚Huuu-ich-sag-dir-die-Zukunft-voraus-Nummer‘. Wahrscheinlich kann sie nicht mal den Montag nach dem Sonntag voraussagen. Also beruhige dich und beginne, das magische Bild zu suchen!«

Riccardo kramte seine Taschenlampe aus der Jackentasche und knipste sie an. Plötzlich kreischte eine krächzende Stimme im Inneren des Wagens.

»Einbrecher, Einbrecher, Mürre aufwachen, Mürre aufwachen, böse Einbrecher!«

Die zwei Eindringlinge schreckten auf und wollten schon das Weite suchen, als sie den Papagei der Wahrsagerin in einer Ecke, nahe dem runden Tisch, entdeckten. Aufgeregt trippelte er auf seinem Käfigstab hin und her und wollte sich gar nicht mehr beruhigen. Erst als Riccardo eine Decke über den Käfig warf, verstummte das aufgebrachte Federvieh.

»Schlaf schön, Piccolo, beruhige dich.«

Etwas beunruhigt zog der Junge den Vorhang des Fensters ein Stück zurück und prüfte mit einem Blick, ob jemand aufgewacht war.

»Hm, gut so, alles beim Alten.«

Schnell wurde das Fenster zusätzlich mit einer Tischdecke verhängt. Langsam schlich er weiter ins Wageninnere.

»Wo sollen wir denn zu suchen beginnen? Da herrscht ja ein riesiges Durcheinander«, jammerte Stella, setzte sich auf ein Sofa mit buntem Stoffüberzug, verschränkte ihre Arme und schmollte in der Dunkelheit. Das Mädchen konnte besonders störrisch sein, und vom Bruder, der nur zwei Jahre älter war, ließ sie sich ohnehin nicht gerne herumkommandieren.

»Benutze deine Lampe und beginne mit den Schubladen! Oder blättere die alten Bücher im Regal durch! Irgendwo muss das Bild doch versteckt sein.«

Riccardo griff in eine alte Schachtel, zog verschiedene Papierstücke heraus, ließ sie prüfend durch seine Finger gleiten und in die Schachtel zurückfallen.

»Mist, bei dieser Unordnung brauchen wir wahrscheinlich die ganze Nacht«, fluchte er und nahm Mürres Wahrsagerkoffer näher in Augenschein. Glaskugeln verschiedener Größe, Perlen, Spielkarten, eine tote Maus in einem Glasbehälter und Unmengen von Seidentüchern kamen zum Vorschein. Aber nirgendwo befanden sich Bilder. Stella beteiligte sich noch immer nicht an der Suche.

»Lass uns gehen, Mürre wird sicher sehr böse werden. Sie hat uns ausdrücklich verboten, in ihrer Abwesenheit den Wagen zu betreten. Außerdem wird sie uns bestimmt schimpfen, weil wir ihr Vertrauen missbraucht haben.«

»Sprich du nicht von Vertrauen! Wer schleicht sich denn immer heimlich in den Wohnwagen und nascht an Mürres Schokoladendose?«

Der Junge öffnete eine der bunt bemalten Schranktüren.

»Das ist was anderes! Ich hab es Mürre einmal gebeichtet und sie hat mir verziehen.«

Stella hielt sich interessiert Mürres Handschminkspiegel vors Gesicht und schielte nebenbei über den Rand zum lästernden Bruder.

»Ja, ja, sie hat dir verziehen - aber am darauffolgenden Tag hast du dich wieder an der Dose bedient.«

»Das mit der Dose wird sie mir sicher verzeihen. Aber wenn sie draufkommt, dass wir beide hier unerlaubt herumschnüffeln, ihre Schubladen öffnen und in ihren Wahrsagerklamotten herumwühlen …«, Stella unterbrach seufzend, holte tief Luft und stotterte verlegen weiter, »dann ... dann ... dann kann ich in Zukunft nicht einmal mehr ungestraft naschen.«

Riccardo grinste über beide Ohren, hatte er doch den wahren Grund von Stellas Furcht erkannt und entgegnete mit forschem, ruhigem Ton:

»Du denkst nur an deine Schokoladensucht! Raunz nicht, sondern such weiter! So eine Möglichkeit bietet sich uns erst in Monaten wieder. Kontrolliere den Küchentisch und forsche nach Geheimladen!«

Genervt und zugleich enttäuscht begab er sich in den rückwärtigen Teil des Wohnwagens, denn hinter der bunt bemalten Schranktür befand sich nur ein verlassener Besen. Stella rollte mit ihren Augen und stapfte murrend ins Küchenabteil, erwähnte aber vorher noch trotzig, dass ein Fluch von Mürre mindestens zehn Jahre anhalten und die Schokoladendose für ewig verschlossen sein würde.

Unmotiviert und leise vor sich hin keifend, tastete sie im Schein ihrer Taschenlampe den Küchentisch mit ihren Händen ab.

Die Möbel des Wohnwagens waren alt und teilweise aus einem Museum. Die Wahrsagerin sammelte am liebsten alte Schiffsmöbel und hatte sie extra im Wagen einbauen lassen. Sie nannte ihr rollendes Heim deshalb auch öfters „ihr altes Wrack“. Stella war bewusst, dass ihr unerlaubtes Betreten der alten Dame nicht unbemerkt bleiben würde. Als sie bei einem Schiffskajütenspiegel mit einem Beistelltisch ankam, entdeckte sie ein seltsames Kästchen und warf deshalb eine seltsame Frage in den Raum.

»Riccardo … hast du jemals gesehen, dass Mürre eine Pfeife raucht?«

»Nein, wieso?«, kam es vom hinteren Wohnwagenabteil.

»Weil ich hier ein Holzkästchen gefunden habe, das auf allen Seiten die Abbildung einer Pfeife zeigt.«

Neugierig klappte sie den Deckel der eigenartigen Schatulle auf.

»Du, schau mal! Da ist ein Brief in der Schatulle.«

Stolz hielt sie dem herbeigeeilten Bruder das Fundstück unter die Nase. Interessiert untersuchte Riccardo den Umschlag und las folgende Anschrift.

»An die Einbrecher, Riccardo und Stella. … Oje! Stella, der Brief ist an uns gerichtet. Heilige Maria, du hattest recht. Mürre weiß bereits, dass wir uns hier befinden. Wir müssen von hier verschwinden, oh mein Gott, sie hat alles vorhergesehen. Raus, Stella, nichts wie raus!«

Noch ehe sie einen Schritt machen konnten, begann sich der Boden des Wagens geisterhaft stoßartig zu bewegen. Glas brach, und einige Bücher fielen aus den Regalen. Ein dumpfes Grollen kam aus der Schatulle. Irgendwo, als wäre es weit weg und doch ganz nahe, schrie eine Stimme einen hohen kreischenden Ton.

Es war die Stimme einer Frau. Nun blitzte etwas auf und erhellte das Innere des Wagens lichterloh. Plötzlich konnten sie die Anwesenheit eines fremden Wesens im Raum spüren.

»Pass auf Stella, da bewegt sich was im Spiegel!«, konnte Riccardo noch warnend rufen, bevor ihm selbst ein kalter Schauer durch Mark und Bein fuhr. Eine furchterregende, faltige Frauenfratze mit leeren weißen Augen starrte plötzlich suchend in den Raum und fixierte ihre Opfer.

War es Mürre, die Wahrsagerin?

Den beiden Zirkuskindern blieb keine Zeit zum Überlegen, denn gebannt standen sie vor dem schrecklichen Abbild, das sie hämisch angrinste und ihnen die Angst in die Haarspitzen trieb. Eine unsichtbare Kraft, ausgehend von den unheimlichen weißen Augen, fesselte die beiden Erschrockenen und zerrte zugleich an ihren Kleidern.

»Hilfe, ich kann meine Beine nicht mehr bewegen. Riccardo, sie will uns in den Spiegel ziehen!«

»Ich merke es auch, halt dich bei mir fest. Schau nicht in ihre Augen.«

Doch die faltige Alte verlangte von ihnen, das Schauspiel weiter zu beobachten. Wie gebannt und kaum fähig auch nur einen Finger zu rühren, glotzen die beiden Zirkuskinder in das monsterartige Gesicht.

Das alte Möbelholz ächzte des Wohnwagens laut auf und zugleich öffnete die Fratze ihren fauligen Mund. Heulend hauchte ein frostiger Wind aus dem Spiegelbild ins Wageninnere, ließ Schranktüren auf und zu knallen und verfing sich am Ende in den kleinen Vorhängen. Als wäre es noch nicht genug, flatterte auf einmal das weiße, lange Haar der Mürre aus dem Spiegel. Wie ein im Sturm zerrissenes Spinnennetz, wehte es in den Raum, als wollte es, im Auftrag seiner Herrin, auf Beutejagd gehen.

Wumm, ein Donnerschlag krachte direkt über dem Wagen. Stellas Beine schlotterten vor Furcht, und sie schrie so laut sie konnte, im Gleichklang mit ihrem am ganzen Körper zitternden Bruder. Zugleich aber verformte sich im Spiegel das abscheuliche Gesicht des Schreckens zu einem kreisenden Brei und verschwand blitzartig auf der glatten Fläche. Erst jetzt löste sich auch die bleiartige Verankerung in Riccardos und Stellas Beinen. Die beiden Geschwister hätten noch länger ihren Stimmen freien Lauf gelassen, doch das Folgende verblüffte sie so sehr, dass ihnen die Angstschreie im Halse stecken blieben.

Der zu Boden gefallene Brief begann, hell aufzuleuchten und schwebte überraschend die Luft. Wie von magischer Hand bewegt, peilte er vor den Köpfen der beiden staunenden Eindringlinge sein altes Zuhause an. Flatternd legte er sich in die Schatulle zurück.

Schnapp, machte es, als sich der Deckel schloss. Danach war es totenstill.

Riccardo und Stella standen verdutzt und wie angewurzelt da. Sie blickten sich fassungslos an, dann aber stürmten sie blindlings und kopfüber aus dem Wohnwagen ins Freie. Dort angekommen, ergoss sich über ihren Köpfen ein peitschender Regenschauer, begleitet von einem höllisch lärmenden Donnerrollen. Der Himmel brach blitzend und grollend über sie herein. Stechend bohrten sich Unmengen von niederprasselnden Regentropfen wie Nadeln durch ihre Kleidung. In Panik flüchteten die Geschwister Hand in Hand und im Zickzackkurs durch die kleine Wohnwagenstadt. In ihrer Aufregung stolperten sie öfters über gespannte Seilverankerungen und herumstehende Klappstühle. Nur weit weglaufen, war alles, was sie noch denken konnten.

Als sie ihren Wohnwagen erreichten, stemmten sie die Handflächen in den Rücken und schnauften wie alte Kutschenpferde vor Erschöpfung. Doch sie hatten sich kaum einige Sekunden ausgeruht,

»Habe ich euch! Ihr Nichtsnutze! Was fällt euch ein, zu solch später Stunde bei diesem Wetter herumzulaufen?«

Es war der Zirkuslehrer Fu, bei dem Riccardo und Stella als Waisenkinder untergebracht waren. Seine große Gestalt bäumte sich hinter ihnen auf, und im Aufleuchten der Himmelsblitze konnte man seinen Spitzbart mit dem des Teufels verwechseln.

»Nichts, Lehrer Fu, wir dachten nur, bei den Elefanten nach dem Rechten zu sehen«, stammelte Riccardo und duckte sich vorsichtshalber, da eine Tracht Prügel die häufigste Antwort des Lehrers war. Doch ausnahmsweise begnügte sich dieser, beide mit einem Tritt in den Allerwertesten direkt ins Bett zu befördern.

Diese Schläge taten den beiden nicht weh, denn sie waren in diesem Moment eher froh, sich unter einer Decke verbergen zu können. Zu schauderhaft war das Erlebnis mit dem unheimlichen Spiegelantlitz der Wahrsagerin Mürre und der Stimme der schreienden Frau gewesen. So schlossen sie unter ihren Decken erschöpft ihre Augen und waren heilfroh, den furchtlosen Lehrer Fu im Wageninneren zu wissen.

Wie in den Schlaf getreten, so wurden sie am nächsten Morgen auch geweckt. Stella sprang aus Gewohnheit sofort auf, um weiteren Misshandlungen zu entgehen. Riccardo quälte sich täglich, sein warmes Nest zu verlassen und nahm deshalb die Schimpferei des Lehrers Fu in Kauf. Schweigend setzte er sich zu Stella an den Tisch und verschlang eilig sein Morgenbrot. Währenddessen verließ Lehrer Fu grimmig das fahrbare Zuhause, um seine alltägliche Morgentour durch die Wohnwagenstadt zu machen.

»Ich kann mir nicht erklären, was heute Nacht passiert ist. Schweigen wir also darüber. Niemand im Zirkus darf je erfahren, was im Sternenwagen geschehen ist«, murmelte verschlafen Riccardo.

»Das glaubt uns sowieso niemand«, antwortete kurz und überraschend das kleine Mädchen.

Die schreckliche Nachricht

Die Arbeitstage der Zirkuskinder Riccardo und Stella waren stets anstrengend. Außer Montag, denn der Montag war der Sonntag der Zirkusleute. An diesem Tag fuhren manche in die nahe gelegene Stadt oder versuchten, sich vor ihren Wohnwagen zu entspannen. Es war auch der Tag der Freunde. Man besuchte sich gegenseitig in der kleinen Wagenstadt oder trank gerne mal einen über den Durst.

Für Riccardo und Stella war dieser Tag weniger entspannend. Sie mussten zwar nicht in die Schule, da der Zirkus mit der Schuldirektion für diesen freien Tag eine Abmachung hatte, doch Fu ließ sich immer was Besonderes für die beiden einfallen.

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So war es auch an diesem Montag. Bereits um sechs Uhr in der Früh mussten sie zwei Stunden lang an einer neuen Jonglier- und Bodenakrobatiknummer arbeiten. Das war noch ertragbar, da sie von der Artistin Mariella trainiert wurden. Sie war in den mürrischen Fu verknallt und achtete wesentlich mehr auf ihn als auf die beiden Geschwister. Danach wurde es aber für Riccardo äußerst unangenehm.

Die Trainingszeit bei Fu mit einer Taschendiebnummer begann. Eine eingekleidete Holzpuppe stellte den Zirkusbesucher dar, und Riccardo sollte ihm, die Brieftasche, den Gürtel und die Uhr abnehmen. Doch die befestigten Glöckchen an den Jacken- und Hosentaschen durften dabei nicht erklingen. Heute jedoch war es ein Ding der Unmöglichkeit, und Riccardo verzweifelte innerlich. Zu sehr haftete er noch immer mit seinen Gedanken bei den Erlebnissen der vergangenen Nacht. Er konnte sich kaum konzentrieren. Auch bei den Ablenkungsmanövern scheiterte der Junge immer wieder, da entweder seine Ball-Jonglage in einer Hand oder seine Bewegungen zu wenig den darauffolgenden Taschengriff verdeckten.

Lehrer Fu war zwar grob und streng, doch er verlangte nichts, was er nicht selbst beherrschte. So bewies er seinem Schüler, wie geschickt man eine Person bestehlen konnte. Sein Zugriff passierte immer in Windeseile und er war kaum sichtbar. Kein verräterisches Glöckchen erklang.

Schon einmal hatte Fu die große Chance gehabt, allen Artisten auf der Welt zu beweisen, dass er der größte Taschentrickdieb aller Zeiten war. Damals in Monaco bei der großen Zirkusgala. Ganz knapp hatte ihn damals eine zwergwüchsige Artistenfamilie aus Rom geschlagen. Vor staunendem Publikum klauten sie die Uhr des Fürsten von Monaco und hatten deshalb alle Bewertungsrichter auf ihrer Seite. Dabei war es eigentlich Fus Idee gewesen, den Fürsten vor versammeltem Publikum zu bestehlen. Dummerweise hatte er am Vorabend der Veranstaltung zu tief ins Weinglas geguckt und wahrscheinlich sein Vorhaben mit gelockerter Zunge verraten. Da Fu nach den Zwergen aufgetreten war, hätte er dem gesamten Publikum die Unterhosen stibitzen können, gegen den Trick mit der gestohlenen Uhr des Monarchen gab es keine Möglichkeit mehr, die Wertungsrichter umzustimmen. So musste er zusehen, wie die begehrte Trophäe Der goldene Clown, dessen Bedeutung einem Sieg bei einer Weltmeisterschaft gleichkam, an diese unbekannten Zwergartisten überreicht wurde. Niemals mehr danach trat Fu bei einem Wettkampf an.

Dieser Dummkopf wird es nie begreifen, dachte sich Fu und brüllte in Riccardos Richtung.

»Lenk ihn endlich ab! Hast du nicht zugehört? Der eigentliche Trick ist es, das Sichtbare ungesehen zu machen! Zeig ihm deine Hände! Erzähl ihm deine Geschichte und lenke ihn dadurch ab! Wenn er angebissen hat, dann greifst du zu, schnell und behutsam. Vergiss aber nie, dass du erst dann deinen Erfolg hast, wenn die Beute sicher in deiner Tasche versteckt ist.«

Fu sprach sich förmlich in einen Lehrerrausch. Vergaß aber nie, seine Worte mit einigen Schlägen zu untermauern. Riccardos Können war bereits weit über dem Durchschnitt. Man konnte sagen, das Handwerk eines Taschendieb-Artists beherrschte er schon mehr als perfekt. Aber sein Lehrer ergötze sich an der Demütigung seines Schülers.

Träumerisch, fast ein bisschen neidisch beobachtete der Junge seine Schwester Stella, die bereits mit fast zwölf Jahren als Luftakrobatin hoch oben an der Trapezstange sämtliche Kunststücke sicher beherrschte und in dieser Höhe stets auf sich allein gestellt war.

Riccardo erschrak ein wenig, als er von Lehrer Fu wieder in die Welt der Wachen, mittels eines Klapses auf den Hinterkopf, zurückbefördert wurde.

»Du Lümmel träumst schon wieder vor dich hin. Wir trainieren heute das Begleiten!«, befahl Fu und murmelte für Riccardo unhörbar in seinen Spitzbart.

»Na warte nur Bürschchen. Eines Tages wirst du für mich noch richtig schwitzen, arbeiten und die Brötchen verdienen. Hehe! Dann werde ich endlich meinen Bauch in die Sonne hängen und meiner wahren Berufung nachgehen können.«

Die Aufgabe des nächsten Tricks bestand darin, während des Begleitens einer fremden Person näher an sie heranzurücken. Diese sollte mit dem Jonglieren von drei Bällen in einer Hand so geschickt abgelenkt werden, dass sie den Griff mit der freien Hand in ihre Hosentasche nicht bemerkte. Riccardo bemühte sich extrem, aber statt der Versuchsperson in der Gestalt des Lehrers Fu die Brieftasche zu stehlen, wurde er selbst abgelenkt und rannte schnurstracks in eine rote Zeltstange. Als das Schwarz vor seinen Augen sich allmählich lichtete, knisterte über seinem Kopf der Platzlautsprecher, und die kratzige Stimme des Platzsprechers ertönte in aufgeregtem Tonfall.

„Attentione, Signore e Signori, bitte versammeln Sie sich auf dem Piazza - Manege!“

Lehrer Fu kochte wieder einmal vor Wut und schimpfte in Richtung des Lautsprechers, da er sich ungern stören ließ. Außerdem hasste er Versammlungen, da er mit den übrigen Zirkusleuten nicht mehr als geschäftlich zu tun haben wollte. Erst jetzt wurde Riccardo bewusst, dass diese einberufene Versammlung vielleicht mit dem gestrigen Einbruch in den Sternenwagen zu tun haben könnte.

Auf dem Weg zum Piazza-Manege blickte Stella ihn vorwurfsvoll an und knurrte in seine Richtung.

»Jetzt wird uns Mürre zur Rede stellen. Riccardo, ich bring dich um, wenn Mürre beleidigt ist, sie uns verflucht oder ...«

»... Stella, halte den Mund! Du denkst doch nur an deine Naschereien. Außerdem habe ich Mürre heute noch nicht gesehen. Wahrscheinlich ist sie noch gar nicht zurückgekehrt. Lass dir nichts anmerken! Wir haben nichts Schlimmes getan.«

Riccardo fauchte zwar zurück, doch sein Herz war im Begriff in die Hose zu rutschen. Allzu gerne würde er jetzt mit einem Löwen im Käfig tauschen. Faul herumliegend und gähnend, wann immer ihm danach war. Zu große Angst hatte er vor Mürres Vorwürfen und dem Tadel, ihr Vertrauen missbraucht zu haben. Obendrein konnte die alte Wahrsagerin schnell beleidigt sein. Riccardo wusste, dass sie dann sehr lange nicht mehr mit ihm sprechen würde. Was so viel bedeutete, dass jene Person, die ihn besonders mochte, für längere Zeit kein Ohr mehr für seine Sorgen und Probleme hätte. An wen sollte er sich dann wenden, wenn ihm wieder einmal danach war, sich über Fu und dessen Strenge auszuklagen?

Auf dem Platz vor der Manege stand er, der große, rundliche Manegenmeister. Er war die rechte Hand des Zirkusdirektors Bonelli, hatte Macht und liebte die schleimigen Komplimente seiner Angestellten. Die Daumen in die Hosenträger geklemmt, den Bauch hervorgerollt und mit den Zehen auf und ab wippend, erwartete er die Ankunft aller Mitarbeiter. Protzend thronte er auf einem rundlichen Podest, welches in der Manege als Elefantensessel diente. Sein eingebildetes Verhalten wurde von dem aufgedrehten, schmalzigen Oberlippenbart betont. Er sollte ein Zeichen seiner besonderen Stellung im Zirkus darstellen. Seine knollige Nase fiel sogar noch mehr auf, denn sie war röter als die Uniform der Feuerwehrleute und verriet seine besondere Liebe zu guten Weinen. Vielleicht war auch deshalb die Dame des Getränkestandes im Vorzelt seine Ehefrau.

»Leute, seid ruhig und hört mir zu!«, bellte er mit schwerfälliger Stimme.

»Wir haben heute Montag … und, und, und gestern hatten wir Sonntag.« Die versammelte Mannschaft stimmte ihm nickend, aber auch fragend zu.

»Ihr wisst, ich habe immer schon an den Zirkus geglaubt, und als ich noch ein Junge ...«

»Verdammt, deine Kindheit interessiert niemanden, komm zur Sache, Adolfo!«, schrie Lehrer Fu schäumend dazwischen, ohne auf Adolfos Rang und Machtposition im Zirkus zu achten.

Er hasste den Manegenmeister, so wie er alle anderen Zirkusleute ebenso hasste. Für Fu verkörperte dieser kleine, dicke Mann einen Emporkömmling, dessen einzige Aufgabe darin bestand, „den großen Fu“ als Attraktion des Zirkus Bonelli allabendlich anzusagen. Adolfo blickte strafend in Fus Richtung und sprach mit etwas verunsicherter Stimme.

»Ja, ... natürlich. Also, ... ihr kennt doch alle die alte Wahrsagerin Mürre, die sich auch als Elefantendompteuse einen Namen gemacht hat ...«

Riccardo wurden die Knie weich, und das bleiche Gesicht von Stella verstärkte seine plötzliche Übelkeit.

Der Manegenmeister fuhr fort.

»Mürre wollte gestern am Abend mit unserem Direktor Bonelli vom Hafen in Olbia auf einer gemieteten Privatjacht Richtung Festland nach Civitavecchia reisen. Dort gibt es dieses Jahr die europäische Tierbörse für Zirkus, Zoo und Tierparks. Direktor Bonellis geheimes Vorhaben war es, all unsere Wildtiere gegen Pferde, Kamele und Kleintiere einzutauschen. Ich selbst war dagegen und wollte das natürlich nicht. Ihr könnt verstehen, mein Sohn ist Raubkatzendompteur und wäre von heute auf morgen arbeitslos. Da unsere Tiere nicht den Dompteuren gehören, sondern das Eigentum des Zirkus sind, ist es alleinig des Direktors Entscheidung, was mit ihnen passiert. Leider ist die Haltung von Wildtieren in einem Zirkus bald in ganz Europa verboten. Unser Direktor hatte die Absicht, Vorverträge zu schließen, um spätestens in drei Monaten unsere Tiere an verschiedene Zoos zu überstellen.«

Die Menge tuschelte miteinander und raunte nicht nur enttäuscht, sondern auch wütend. Wildtiere waren lange Zeit die Publikumsmagneten. Das bedeutete für den Zirkus immer gut besuchte Vorstellungen. Jetzt so radikal das gesamte Zirkuskonzept zu verändern, brachte einige in Schwierigkeiten, da sie sich in Zukunft um neue Jobs umsehen müssten.

»Adolfo, mach es nicht so spannend oder war es das schon?«, Lehrer Fu, dem das Problem mit den Tieren egal war, handelte sich in seiner ungeduldigen, missgelaunten Art einige böse Blicke ein.

»Schon gut, Lehrer Fu! Dein vorlautes Mundwerk geht uns langsam auf die Nerven … also, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, wie ihr alle wisst, gab es heute Nacht ein starkes Unwetter. Das Schiff, auf dem sich Bonelli und Mürre befanden, ist auf der Hinreise ...«, Adolfo unterbrach kurz, blickte auf den Boden, atmete einmal tief durch und sprach weiter, »... wahrscheinlich in Seenot geraten.«

Entsetzt blickten die Zirkusleute auf den Manegenmeister und lauschten stumm weiter.

»Von den beiden fehlt jede Spur. Ja, ... sie sind nie in Civitavecchia angekommen. Die Beamten der italienischen Küstenwache meinten, sie wären höchstwahrscheinlich in der stürmischen See untergegangen und ertrunken. Der Herrgott sei ihren Seelen gnädig!«

Damit endete der Manegenmeister, zog ein Taschentuch heraus und schnäuzte sich.

Die Menge am Piazza Manege war fassungslos. Einige weinten, andere wollten es gar nicht wahrhaben und fragten nach, ob ein Irrtum ausgeschlossen wäre. Trotz der Ankündigung in Bezug auf die bevorstehende Änderung im Zirkus waren die Verschollenen äußerst beliebt. Viele wussten, dass Direktor Bonelli niemals Teile seiner Belegschaft kündigen wollte und stattdessen sicher irgendeine Lösung gefunden hätte, die annehmbar und akzeptabel gewesen wäre. Er war eine Person, der man vertrauen konnte. Alle Angestellten in seinem Zirkus wurden, wie die Mitglieder einer großen Familie behandelt. Man wollte den Krokodilstränen des Manegenmeisters schon gar nicht glauben schenken, doch dieser wandte sich ab und schritt kopfschüttelnd direkt zum Getränkestand, um sich bei einem guten Tropfen Wein zu trösten.

Riccardo und Stella waren geschockt. Ihr nächtlicher Ausflug in Mürres Wohnwagen war jetzt belanglos und liebend gerne hätten sie einen Tadel und eine Strafe für ihre Tat erhalten. Doch nun wussten sie, dass Mürre und der Zirkusdirektor Bonelli niemals mehr mit ihren gütigen Augen vor ihnen stehen würden. Regungslos und verstört standen sie schluchzend, eng umschlungen auf dem Platz und wollten diese Schreckensnachricht noch immer nicht wahrhaben.

Die beiden Waisenkinder hatten ihre wichtigsten Freunde verloren. Riccardo nannte Mürre gerne Mürrische Alleswisserin. Es gab keine Frage, die sie nicht beantworten konnte. Sie stand dem Jungen immer zur Seite und schützte ihn oft vor den Wutausbrüchen seines Lehrers Fu. Anderseits schimpfte die alte Dame stets ermahnend, wenn er, statt seine Tricks zu trainieren, hinter den Büchern im kleinen Zirkusbibliothekswagen hockte, um in fremde Welten einzutauchen.

Für Stella war der Verlust des Zirkusdirektors Bonelli besonders groß. Er nannte sie immer Zirkusprinzessin der Lüfte und sorgte sich sehr um ihre Ausbildung. Dass sie im Wagen von Lehrer Fu leben musste, hatte Stella ihrem Bruder Riccardo zu verdanken, denn der Zirkusdirektor meinte, beide Geschwister dürften nicht getrennt werden.

Über die Eltern der Geschwister wussten auch Mürre und Zirkusdirektor Bonelli wenig zu berichten. Angeblich waren sie nur für einige Wochen im Zirkus gewesen und verschwanden eines Tages spurlos. Es wurde gemunkelt, sie wären auf einer Geschäftsreise für den Zirkus im Kolosseum von Rom überfallen und getötet worden. Ob das die Wahrheit war, wusste zwar niemand, doch sie blieben bis zum heutigen Tag spurlos verschwunden. Riccardo und Stella waren damals noch zu klein und konnten sich daher kaum an ihre Eltern erinnern.

In ihren ersten Lebensjahren sorgte Mürre für die beiden Waisenkinder. Später wurden sie unter die Aufsicht des Lehrers Fu gestellt. Riccardo interessierte brennend, welche Art von Artisten seine Eltern gewesen waren, bekam aber von allen Zirkusleuten ein unwissendes Achselzucken als Antwort. Nur wenige konnten sich schemenhaft an die Eltern der beiden Kinder erinnern. Außerdem wechselten von Jahr zu Jahr immer mehr Personen in andere Zirkusse. Es war nicht Sitte, über Tote zu sprechen.

Die Seelen toter Zirkusleute durften nicht geweckt werden. Hoch oben, knapp unter dem Manegenzelt hatten Geister keinen Platz und würden Artisten nur gefährden. Deshalb schwieg man.

Drei Tage gab es keine Vorstellung. Man trauerte, besprach sich, diskutierte, fuhr zum Hafen von Olbia, um sich umzuhören, hinterfragte alle Einzelheiten beim Jachtvermieter und erkundigte sich in der Zentrale der Küstenwache. Doch alle Anstrengungen blieben vergebens.

Da Zirkusdirektor Bonelli keine Nachfahren hatte, übernahm Manegenmeister Adolfo die Führung aller Geschäfte. Dies war schon Jahre zuvor in einem Vertrag zwischen den beiden geregelt worden. So begab er sich mit großen Schritten, hochmütig und gestärkt durch seine neue Funktion als Direktor und als neuer Besitzer des Zirkus Bonelli, zum Bürowagen der Werbeabteilung. Mit wild fuchtelnder Hand und Zigarre im Mund befahl er in strengem Ton den Technikern und dem Werbechef:

»Ab heute gibt es einen neuen Namen. Ändert alle Ankündigungen, Aufschriften auf den Wohnwagen, Plakate, Karten und was euch noch so einfällt. Adolfo ist ab heute der neue Zirkusname. AAAAAdolfooo. Montiert sofort das schreckliche Bonelli vom Dach des Zeltes! Ich will den Namen dieses Herrn, der unsere besten Attraktionen verkaufen wollte, nie mehr sehen. Gibt es noch Fragen?«

Die Angesprochenen blickten demütig auf und wussten, dass ab jetzt ein strenges Regime herrschen würde.

Für Stella und Riccardo gab es ebenfalls Veränderungen. Direktor Adolfo nannte es Glück im Unglück für die Kinder. Lehrer Fu nannte es Schweinerei, Diebstahl und in dieser Tonart noch vieles mehr. Die Rede war von Mürres Testament. Die Wahrsagerin hinterließ den Geschwistern ihren Wohnwagen samt Inhalt.

Der Schrei und der Papagei

Langsam, aber sicher wanderte die Angst von Riccardos Rücken bis zum Scheitel hinauf. Stella schluckte hörbar laut. Es hörte sich so ähnlich wie der Abgang einer Lawine an.

Dass dabei ein großes Schokoladenstück mitrutschte, konnte man an ihrem verschmierten Mund sehen. Heute, drei Tage nach Mürres Verschwinden und nach dem nächtlichen Erlebnis, standen beide Geschwister mit gebannten Augen und mulmigem Gefühl vor dem Wohnwagen der Wahrsagerin.

»Was meinst du, Riccardo, wird diese Stimme wieder kommen, wenn wir den Wagen betreten?«.

»Hm, weiß ich nicht. Aber eins ist sicher. Die Schatulle mit den Pfeifenabbildungen rühre ich nicht an.«

»Aber wenn doch noch ein Fluch über dem Wohnwagen liegt?«, stichelte Stella weiter.

Ihrem Bruder war diese Schwarzmalerei schon zuwider, aber als er sie beruhigte, glaubte er seinen eigenen Worten nicht.

»Es wird nichts passieren. Mürre war ein geheimnisvoller, aber guter Mensch. Jetzt ist es wichtiger, das Bild zu finden. Nun haben wir die Gelegenheit, uns ungestört umzusehen.«

Nach diesen Worten marschierten die beiden Hand in Hand auf die Türe zu, öffneten diese und wären fast in Ohnmacht gefallen, als die feindlichen Augen des Lehrers Fu ihnen hinter der Tür aus dem Wohnwagen entgegenfunkelten.

»Na, ihr beiden Strolche, jetzt habt ihr endlich euer Zuhause. Aber gebt Acht, ich werde euch noch im Auge behalten. Der Wagen sollte mir gehören. Die Alte hat mir nämlich Geld geschuldet.«

»Das wussten wir nicht, Lehrer Fu.«

Riccardo bemerkte, wie Schweiß aus seinen Poren trat.

»Das wussten wir nicht!«, spöttelte der Lehrer und nannte auch schon die Begründung.

»Weil du ein dummer, ungezogener, nicht ernst zu nehmender, fauler, verkommener, unfähiger Nichtsnutz bist, dessen einziges Können darin besteht, mich zum Gespött der Leute zu machen. Ich werde dir zeigen, mit wem du es ...«

»AUFHÖREN, VERSCHWINDE, SONST SCHREIE ICH!«, brüllte da plötzlich die kleine Stella, und wenn sie nicht so winzig gegenüber dem riesig gewachsenen Lehrer gewirkt hätte, weiß Gott, man hätte annehmen können, eine Löwendompteuse wüchse aus dem Zirkusboden heraus.

Fu blieb der Speichel im Munde hängen, er wusste nicht mehr, wie ihm geschah, und als er sich wieder im Griff hatte, zog er bedrohlich den Gürtel aus seiner Hose, holte zum Schlag Richtung Riccardo aus, aber da war es bereits zu spät.

Stellas Schrei klang wie ein lang gezogenes »a«, und doch färbte sich noch ein »e« und ein »i« dazu und wurde lauter und lauter. Es war ein dröhnender Schmerz in den Ohren von Riccardo. Ein Schmerz, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Seine Beine wackelten, gaben nach und mit den Handflächen an die Ohren gepresst, stürzte er zu Boden. Dem Lehrer Fu erging es nicht besser. Von der Wohnwagenschwelle herabgestürzt, wälzte er sich auf dem Boden und blickte dabei mit schmerzverzerrtem Gesicht in die aufgerissenen Augen von Riccardo.

Stella hingegen schloss den Mund, verschränkte lässig die Arme, drehte keck eine Hüfte hinaus, schnippte zufrieden mit ihren Fingern und wartete, bis sich beide langsam aufsetzten. Dann öffnete sie ihren Mund und wollte schon zum zweiten Schrei anheben, doch da kam es winselnd vom Lehrer.

»Nein nicht, bitte, bitte keinen weiteren Schrei mehr!«

Er raffte sich auf, ließ seinen Gürtel liegen und wollte davon stürmen. Riccardo drehte sich zu dem Fliehenden um, sah die Zeltsäule und nutzte die Gunst der Stunde für die gelernte Ablenkung.

»Lehrer Fu, dein Gürtel ...«

Weiter brauchte Riccardo nicht mehr zu rufen, denn der Lehrer drehte sich im Vorwärtslaufen sofort zum Jungen um und übersah das starre Hindernis.

Zack hörte man noch, nachdem Fu voll in die Zeltsäule geknallt war.

Die beiden Geschwister konnten sich das Grinsen nicht verkneifen. Wer weiß, wie viel Sternchen Fu danach gesehen und gestohlen hatte, jedenfalls lag er ruhig wie ein Stück Brett neben dem Zelt, und niemand kümmerte sich um ihn.

Inzwischen waren die Nachbarn und die meisten Zirkusleute zusammengelaufen. Diesen gewaltigen Schrei hatte jeder gehört, er hinterließ Spuren. Sämtliche Tiere jaulten in ihren Käfigen wie verrückt auf. Einige tobten und rüttelten an den Fußketten. Im Pferdezelt riss sich Sultan der Hengst los. Erschrocken galoppierte das Pferd quer durch das Hauptzelt auf die daneben liegende Weide. Das alles wäre ja nicht so schlimm gewesen, wenn nicht der frischgebackene Zirkusdirektor Adolfo, schnaubend wie ein Nashorn, die Wohnwagengasse entlang gestürmt wäre.

»Wer zum Teufel, hat da so laut geschrien?«, brüllte er und suchte den Schuldigen mit seinen kleinen Fuchsaugen. Als der Blick bei Stella endete und einige Leute auch auf das Mädchen zeigten, passte sich die Farbe seines Gesichtes seiner roten Nase an.

»Bist du wahnsinnig geworden? Mein gesamtes wertvolles Kristall ist plötzlich in tausend Stücke zerbrochen! Selbst das Glas in meiner Hand ist in alle Richtungen auseinandergesprungen.«

Adolfo zeigte auf sein neues weißes Vorstellungshemd, das durch einen riesigen Rotweinfleck verschönert war. Stella und Riccardo wussten weder ein noch aus.

»Entschuldigung, Herr Zirkusdirektor. Das war ein Versehen. Wir wollten das nicht. Es tut uns leid.«

Je mehr sie jedoch versuchten, unschuldig und demütig dreinzublicken, desto mehr spürte Adolfo, welche Macht von ihm ausging. Als er sich umdrehte, erkannte er, wie alle Schaulustigen betroffen auf den Boden stierten, um nicht ebenfalls in Ungnade zu fallen. Dieses Gefühl verlieh ihm Stärke, und er meinte, dass es Zeit wäre, seine Macht auch wirklich zu demonstrieren.

Diese beiden Kinder waren ihm immer schon ein Dorn im Auge. Direktor Bonelli verstand es stets, diese junge Luftakrobatin als besondere und einzigartige Attraktion den Journalisten zu präsentierten. Es waren keine zwei Wochen her, als Stella in einer großen Zeitung abgebildet worden war, während Adolfos eigener Sohn wieder einmal übergangen wurde. Schon der Gedanke daran, erzürnte den ehemaligen Manegenmeister.

Jetzt ist die beste Gelegenheit, diese Rotznasen loszuwerden, dachte er sich. Mit gehobenem Kinn, dünnen Spitzlippen und vorgeschobenem Unterkiefer verkündete er sein Urteil.

»Ab morgen will ich euch beide hier nicht mehr sehen. Nehmt mit, was euch gehört, aber verschwindet von hier! Ich kann auf euch verzichten. Ihr seid schon länger auf meiner Rauswurfliste. Eure Verträge sind ab dem Verschwinden von Mürre und Direktor Bonelli ungültig. Die Liste der Zirkusdirektoren und der italienischen Fürsorge für Jugendliche könnt ihr euch nachher bei mir abholen. Nehmt mit den zuständigen Personen Kontakt auf. Für mich seid ihr ab heute entlassen und Geschichte.«

Der Bannspruch endete mit einem Faustschlag in seine offen freie Handfläche, so als wollte er den Schlag eines Richterhammers nachmachen. Dann wandte er sich an die versammelte Menge und verkündete.

»Wir ziehen morgen weiter! Es wird Zeit, diesen undankbaren Ort zu verlassen. Nächste Station ist New York in Amerika. Die Verträge sind bereits unterzeichnet.«

»Amerika?«, tuschelten die herumstehenden Zirkusleute

untereinander und wunderten sich kopfschüttelnd, denn so weit war dieser Zirkus noch nie gereist.

»New York?«

Solch eine Stadt hätten sie in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet.

Riccardo versuchte noch einmal, den Direktor umzustimmen. Adolfos Entscheidung war jedoch gefallen. Der Bannspruch hatte im Zirkus allen Beteiligten klargemacht, wer ab jetzt das Sagen hatte. Jeder, der sich nicht dem neuen Zirkusdirektor unterordnen wollte, musste mit einem Rauswurf rechnen. Riccardos Rettungsversuche waren von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Die meisten Anwesenden bedauerten die beiden Geschwister und zeigten ihnen ihre Bestürzung, indem sie still und schweigend an sie herantraten, sie umarmten, ihnen auf die Schulter klopften und tröstende Worte zuflüsterten. Die Stimmung war traurig und man konnte fühlen, welch große Anteilnahme unter der Zirkusleuten herrschte. Einige fluchten und wollten Adolfo zur Rede stellen, doch die Angst selbst arbeitslos zu werden, hielt sie zurück.

Nachdem sich wieder alles beruhigt hatte und die Menschenmenge auseinanderströmte, saßen die Ausgestoßenen noch immer vor Mürres Wohnwagen. Lehrer Fu hatte von allem nichts mitbekommen. Nach seiner unfreiwilligen Umarmung der Zeltstange, torkelte er benommen, wie es der Kapellmeister jeden Abend tat, zu seiner fahrbaren Behausung, stolperte ungeschickt die Treppen hinauf und knallte die Türe hinter sich zu. Für den Rest des Tages ließ er sich nicht mehr blicken.

Stella hingegen schluchzte und wollte gar nicht mehr aufhören.

»Es ist meine Schuld«, bedauerte sie immer wieder und vergrub ihr Gesicht in Riccardos Jacke.

Ihr Bruder fühlte sich trotz allem erleichtert. Ab heute konnte ihn kein Lehrer Fu mehr schlagen, und kein Mensch würde sich darum kümmern, wie viele Bälle er in seiner Hand werfen konnte.

»Stella, wie hast du diesen Schrei zusammengebracht?«

»Mürre hat ihn mir beigebracht. Sie hat diesen Schrei in jungen Jahren auf einer Reise durch Afrika von einem alten Heiler erlernt. Angeblich könnte man damit Raubtiere erschrecken und von sich fernhalten. Sie war sich sicher, dass diese Kraft auch in mir sei. Komischerweise funktioniert es aber nur, wenn ich ohne Angst schreie. Wir haben es oft im Geheimen am Strand geübt. Mürre hat mich aber gemahnt. Ihrer Meinung nach könnte ich damit vieles verändern. Du siehst, sie hatte nicht ganz unrecht.«

Riccardo lächelte etwas gezwungen und streichelte Stella tröstend über den Kopf.

»Mach dir nichts daraus! Warne mich aber das nächste Mal, damit ich nicht wieder Staub schlucken muss. Tut höllisch weh. Meine Ohren singen jetzt noch und ich brauch sicher noch einige Stunden, um wieder klar zu hören. Komm, wir haben noch einen Wohnwagen zu durchsuchen und müssen unsere Sachen packen.«

Einmal tief durchgeatmet, frischen Mut getankt, öffneten sie erneut die Wohnwagentür, spähten vorsichtig ins Innere und traten ein. Alles war ruhig und eine bereits bekannte Stimme begrüßte sie.

»Einbrecher, Mürre aufwachen, Einbrecher, Einbrecher!«

Stella musste das erste Mal nach langer Zeit wieder lachen.

»Komisch, der Käfig war doch abgedeckt.«

Schnell schob sie ein Stück Brot zwischen die Stäbe hindurch. Piccolo beruhigte sich und pikte danach die roten Körnchen an seinem Fressring heraus. Inzwischen begannen die Geschwister, den Wagen gründlich zu durchsuchen. Jeder Winkel wurde abgetastet, und in jeden Spalt schob sich Stellas Hand. Riccardo wühlte währenddessen im Kleiderschrank, klopfte die Kästen nach Doppelböden ab und vermutete hinter jedem Buch ein Versteck.

Wäre Mürre anwesend gewesen, hätte sie die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, laut geflucht und wäre mit der Elefantenstange auf die neugierigen Besucher losgegangen.

Nach einer langen Zeit vergeblichen Suchens hockten beide Geschwister müden Blickes am Boden, zwischen Kochnische und Tischplatte. Hitze hatte sich im Wagen gestaut. Piccolo zupfte regelmäßig am Bändchen des Käfigglöckchens. Der eintönige Klang des Bim, Bim vermischte sich mit dem Schnaufen der erschöpften Geschwister.

»Mal ehrlich Riccardo. Bist du dir sicher, dass unsere Eltern auf dem Bild sind?«

»Nein, bin ich nicht. Aber Mürre sprach davon. Sie hat es von unserer Mutter geschenkt bekommen. Das sagte sie, als ich sie mit Lehrer Fu streiten gehört habe.«

»Was hat Fu damit zu tun? Dem können unsere Eltern egal sein. Er ist doch ein völlig Fremder.«

»Ich weiß! Aber das Gespräch war sehr heftig, und Mürre konnte Fu nur mit einem Holzprügel vom Wohnwagen fernhalten. Ich glaube, die beiden stritten sich um das Bild.«

Stella richtete sich auf, zerdrückte mit der Ferse eine Küchenschabe, die gerade am Wohnwagenboden auf der Flucht unter einen Kasten war und klopfte dem erschöpften Riccardo auf die Schulter.

»Vielleicht war der Lehrer Fu deshalb im Wohnwagen, weil er das Bild suchte und nicht das Geld.«

»Ja, das habe ich mir auch schon gedacht, doch es ergibt keinen Sinn. Warum interessiert sich Fu für dieses Bild?«

Riccardo konnte sich die selbst gestellte Frage nicht beantworten. Das machte ihn ein bisschen nervös. Zu gerne hätte er das Rätsel entschlüsselt. Lehrer Fu konnte er nicht fragen. Dieser würde es ihm nie verraten.

»Komm, lass uns den Spiegeltisch durchstöbern! Vielleicht haben wir Glück.«

Mit der Entschlossenheit eines Löwen, aber der Angst eines Hasen näherten sie sich dem Platz, an dem sie in jener Nacht fast zu Tode erschrocken waren. Im Vorraum hörte das Bim Bim des Glöckchens auf zu schlagen, und Piccolo presste neugierig seine gefiederte Wange gegen die Käfigstangen, um das Vorgehen der Geschwister am Spiegeltisch besser verfolgen zu können.

»Stella, sollen wir die Schatulle mit den Pfeifenabbildungen nochmals öffnen?«

Das Mädchen zuckte mit den Achseln, überlegte kurz, äugte zur Raumdecke und schüttelte verneinend den Kopf. Zu unsicher erschien ihr diese Situation, denn es könnte doch dieser Geist aus dem Spiegel herausspringen oder sich ihnen die Haare der Mürre um den Hals schlingen. Noch ganz in diesen Überlegungen versunken, fühlte Stella plötzlich einen eisigen Wind von hinten durch ihren Körper wehen. Riccardo überlegte noch immer, ob er die Schatulle öffnen sollte. Die Neugier war größer, und ohne seine Schwester vorzuwarnen, legte er die Hand auf den Deckel und wollte ihn anheben, da kreischte plötzlich eine Stimme vom Käfig her.

»Warten Sie, Signor Riccardo! Nicht öffnen!«

Blitzartig zog Riccardo seine Hand zurück, ließ die Schatulle ungeöffnet und starrte verwundert zum Vogelkäfig hinüber. Stella tat es ihm gleich, denn auch sie hatte diese Stimme gehört. Im Käfig huschte Piccolo seelenruhig auf seine Schaukel und zischte einige Male vergnügt ein

»Zschack, Zschack«.

»Hat das Piccolo gesagt?«

Stella rückte näher an den Käfig und musterte den blau gefiederten Vogel von oben bis unten.

»Piccolo, warst du das?«

Doch der Papagei kratzte sich mit der einen Kralle am gebogenen Schnabel, gähnte, ließ seine Zunge seitlich raushängen und blickte gelangweilt in die andere Richtung.

»Ich werde dem Vogel seine Federn rupfen, dann wird er schon sprechen!« Riccardo war es mit einem Male zu viel geworden. Zuerst die Geschichte mit der schreienden Schatulle, dann der Kampf mit Lehrer Fu, die Verbannung aus dem Zirkus und nun ein Papagei, der ihn auf den Arm nehmen wollte. Ein geschicktes Ablenkungsmanöver mit der Käfigdecke nahm dem Tier die Sicht und seine flinke Hand erfasste durch die Käfigtüre die Beine des Papageis.

»Hab ich dich, du gackerndes Huhn.«

Der kreischende Vogel wurde an den Beinen aus seiner Behausung herausgezogen. Für Piccolo gab es kein Entrinnen, immerhin war hier ein Zirkusjunge am Werk, dessen Finger geübt im Umgang mit Tieren waren.

»Pass auf, dass du ihm nicht wehtust!«

Stella fürchtete kurz um das Wohlergehen des Papageis, denn Riccardos Wutausbrüche waren selten, doch wenn der Vulkan im Inneren des Jungen auszubrechen drohte, war stets äußerste Vorsicht geboten. Doch diesmal war sie mit dessen Handlung vollkommen einverstanden. Auch ihr waren die letzten Tage zu viel geworden, da passte ein störrischer Papagei nicht mehr hinein.

»Also Piccolo! Was hast du zu sagen?«, fauchte Riccardo in drohendem Ton zu dem kopfüber hängenden Vogel.

»Sprich, wieso soll ich die Schatulle nicht öffnen!?«

»Grrr, grrr«, grunzte Piccolo beleidigt.

»Klingt wie, ich sag gar nichts. Vielleicht kann er uns wirklich nicht verstehen.«

Stella setzte sich so, dass sie dem verkehrt herum baumelnden Vogel auf gleicher Höhe in die Augen schauen konnte.

»Vielleicht ist er strohdumm?«

Riccardo stimmte ihr mit einem vertrauten Augenblinzeln zu.

»Ja, vielleicht haben wir es mit dem dümmsten Zirkuspapagei der Welt zu tun. Wenn ich da an die Elster Rocca denke. Mama Mia, diese Rocca war intelligent. Sie konnte im Flug eine geworfene Münze fangen. Die konnte sogar ...«

»Non è vero, papperlapapp, die konnte zwar fliegen, aber nicht sprechen!«, fiel Piccolo Riccardo ins Wort. Nun war das Geheimnis gelüftet!

Riccardo und Stella lachten zufrieden auf, hatten sie doch den Papagei mit einem einfachen Trick überlisten können.

»Also, du kannst doch sprechen«, triumphierte der Junge.

»Naturalmente, natüüürlich, Signor Riccardo, kann ich sprechen. Ich kann fliegen, sprechen, denken und sogar rechnen. Mein Stammbaum der sprechenden Hyazintharas ist der älteste Zirkuspapageien-Stammbaum.«

Die Antwort des Papageis ähnelte einer eigenartigen höfischen Sprache. Wenn man nicht wüsste, dass da ein gefiedertes Tier vollständige Sätze von sich gab, würde man einen eingebildeten Gelehrten mit einem venezianischen Akzent vor sich sehen. Riccardo ließ ihn frei und setzte sich auf das Sofa neben den Käfig.

»Hya ... Dingsbums … mir doch egal. Wieso hast du nie etwas gesagt?«, wollte Stella wissen.

»Weil niemand gerne in einem Käfig sprechen möchte. Schon meine Vorfahren verweigerten die Sprache in der GF oder besser gesagt Gefangenschaft. Die Wahrsagerin Mürre hat mich nur zur Tarnung in den Käfig gesetzt. Es soll nicht jeder dahergelaufene MG, die Abkürzung für Möchtegern, aus meinem Leben eine ZA machen, was so viel wie Zirkusattraktion heißt. So hatten wir ein beidseitiges AK.«

»Was ist ein AK?«

Stella nervte zunehmend dieses Geplapper.

»Ein Abkommen naturalmente ... so wie ein VT ... Vertrag ... eine AB ... Abmachung. Haben Sie verstanden, Sie junges Geschöpf?«

Der Vogel blickte dem Zirkusmädchen hochnäsig ins Gesicht und hätte er eine Nase gehabt, man hätte von der Spitze des Zirkuszeltes aus in seine Nasenlöcher schauen können.

Riccardo hingegen trieb die Ausdrucksweise des eingebildeten Papageis wieder mal die Zornesröte in die Ohrenspitzen. Murrend warnte er.

»Nur weiter so, Piccolo! Nochmals eine Abkürzung oder solch eine Wichtigtuerei, und ich gebe dir Unterricht in BPFT.«

Piccolo drehte den gefiederten Kopf interessiert herum.

»BPFT? Signor Riccardo, ich muss zugeben, diese Abkürzung ist mir völlig unbekannt!«

»Brat-Pfannen-Tango«, übersetzte Riccardo muffelig und erkannte, dass diese Drohung seine Wirkung tat. Piccolo schluckte ein wenig besorgt.

»Na gut. Ho capito. Ich habe verstanden. Nennen Sie mich aber nicht mehr gackerndes Huhn! Mit diesem ungebildeten, gefederten Nutztier möchte ich wirklich nicht verglichen werden. Meine Vorfahren stammen aus Südamerika und sind schon seit 5000 Jahren der Sprache mächtig. Außerdem hat jedes Mitglied unserer Papageienfamilie einen Papageienuniversitätsabschluss. Man nennt mich Professore Piccolo dei Medici. Unsere Urahnen waren die Hofpapageien der berühmten Medici aus Florenz.«

Stella langweilte diese Prahlerei.

»Hör auf, diesen Quatsch zu faseln! Komm auf den Punkt. Was hat es mit der Schatulle auf sich? Wieso beginnt, alles zu beben, und warum kommt der Geist von Mürre zum Vorschein? Wieso schreit eine Frau?«

Der Papagei rollte seine Augen, lüftete kurz das Gefieder und begann, beide aufzuklären.

»Diese grobe Unterbrechung, Sie junges Ding, werde ich Ihnen verzeihen. Man soll der Jugend nicht zu hart entgegentreten, eben weil Sie noch jung sind.«

Nach der frechen Antwort bemerkte der Vogel, wie schnell sich die Faust des Jungen ballte. Sofort schwenkte er zur Beantwortung der Frage um.

»Zurück zum Phänomen Schatulle. Man darf diese Schatulle nicht öffnen. Mai! Niemals. Sie öffnet sich von selbst. Aber nur dann, wenn die richtige Person zur richtigen Zeit, ich betone zur richtigen Zeit, vor ihr steht oder sich in ihrer Umgebung aufhält. Vor drei Tagen standen Sie beide zu früh vor der Schatulle. Die Wahrsagerin Mürre hat einen Zauber über diese Schatulle gelegt. Das Bild der Frau im Spiegel und der Schrei sollen jeden Unbefugten in die Flucht schlagen.«

Der Papagei machte kurz eine Pause, schlürfte schnell ein paar Tropfen Wasser aus seiner Trinkschale und fuhr fort.

»Da hätte ich noch eine Bitte an Signorina Stella. Falls Sie wieder vorhaben, jemanden anzuschreien, dann warnen Sie mich bitte vorher, damit ich aus der Gefahrenzone fliegen kann. Wie soll sich ein Papagei die Ohren zuhalten? Das ist unmenschlich ... äh ... ich meinte natürlich untierisch.«

»Piccolo, nicht ausweichen!«, mahnte Riccardo.

»Professore Piccolo, wenn ich bitten darf«, kam es zurück vom hochnäsigen Papagei.

»Also gut, wie Sie meinen - Professore Piccolo!«

Riccardo fühlte sich ein bisschen komisch, einen Vogel zu siezen.

»Was ist mit dem Brief in der Schatulle?«

»Er ist wahrscheinlich von Mürre geschrieben worden und darf erst gelesen werden, wenn sich die Schatulle von selbst öffnet. Der Brief ändert sich auch von Zeit zu Zeit. Es ist also ein geheimer Briefkasten, in dem man Nachrichten senden oder empfangen kann.«

»Vom wem empfangen und an wen senden?«, platzte Stella in die Ausführung des Vogels.

»VON Mürre oder AN Mürre! Wen sonst? Sie müssen endlich verstehen! Mürre befindet sich nicht in dieser Welt. Wo sie sich aufhält, das werden Sie beide bald herausfinden.«

»Schnell Riccardo, schreiben wir Mürre einfach einen Brief und legen ihn in die Schatulle. Vielleicht sendet sie uns eine Antwort.« Stella blickte sich schon nach einem Blatt Papier um, doch der Papagei unterbrach.

»Un momento, per favore, das wird nicht funktionieren. Niemand, außer Mürre weiß, wie man die Schatulle als Sendeschatulle verwendet. Sie beide können nur empfangen.«

»Und wie weiß Mürre, wann sie uns eine Information schicken soll?«

»Signorina Stella, haben Sie vergessen, dass die alte Mürre eine Wahrsagerin ist? Lei è una chiromante. Folglich kann sie auch in die Zukunft blicken.«

»Ja, ja Waaaahrsaaaagerin«, bemerkte Riccardo abwertend.

»Wer glaubt schon an Wahrsagerei? Diese Schwätzerei über Zauber und Fluch ist kaum zu glauben. Wahrscheinlich ist alles nur Zufall. Mürre ist sicher mit dem Schiff untergegangen und nun tot. Wir drei, also auch Sie, Professore, werden es herausfinden müssen, ansonsten müssen wir ständig an ein Märchen glauben.«

Der Junge kreiste den Finger in der Runde und endete beim Papagei.

»Ab heute gehören Sie zu uns Professore oder besser gesagt Sie gehören uns. Das war Mürres letzter Wille, und es steht im Testament.«

Damit wollte sich der Vogel gar nicht abfinden. Laut schimpfte er in seiner Vogelsprache, dann lästerte er los.

»Haben Sie nicht zugehört. Mio Dio, ach, diese jungen Menschenkinder! Wer sagt, dass Mürre tot ist? Sie befindet sich in einer anderen Zeit, an einem noch für Sie unbekannten Ort. Aber das werden Sie erst später verstehen. Übrigens, ich selbst gehörte und gehöre niemandem. Ich blieb zurück, um Sie aufzuklären. Alles klar? Hai capito?«

Stella wollte wissen, wieso Mürre den Zirkus verlassen hatte, doch ihr neuer gefiederter Verbündeter schwieg darauf.

»Wissen Sie, Professore, wo sich das Bild befindet?« Riccardo fiel Professore Piccolo ins Wort, als dieser zum wiederholten Male versuchte, mit seiner Familiengeschichte zu prahlen.

»Welches Bild meint der Herr?«, kam die Retourfrage.

»Das Bild, auf dem sich wahrscheinlich unsere Eltern befinden.« Stellas Augen leuchteten vor Neugier.

Professore Piccolo kratzte sich wieder am Schnabel, sprang auf das Küchenregal, um in einer etwas sicheren Position auf die beiden Wissbegierigen herabblicken zu können.

»Kommen Sie schon, Professore Piccolo, spannen Sie uns nicht auf die Folter! Sie wissen es doch. Sie müssen dann auch nie mehr in den Käfig zurück.«

Die schmeichelnden Worte Riccardos, gemischt mit einer entfremdeten, süßlichen Stimme entlockten dem eingebildeten Vogel nicht mehr als ein abwertendes »Pha«, und es hörte sich an, als wäre ihm das Angebot, nie mehr hinter Gittern zu leben, zu wenig. Doch als er Riccardos Augen genauer betrachtete, entdeckte er in ihnen eine ungewöhnliche Angriffslust. Die unangenehme Erfahrung, ein weiteres Mal verkehrt herum an den Beinen zu hängen, ließ den Vogel rasch eine Entscheidung treffen.

»Das Bild, von dem Sie sprechen, ist seit kurzer Zeit in den Händen des Lehrers Fu. Er stahl es kurz vor Ihrem Eintreffen. Leider konnte ich diesen unehrenhaften Menschen nicht daran hindern, denn Sie, Signor Riccardo, hatten mir drei Nächte zuvor die Decke über den Käfig geworfen. So konnte ich erst, als die Decke zufällig herabfiel, das Diebesgut in seinen Händen erkennen. Es war übrigens nie versteckt, sondern hing stets neben dem Spiegel. Wären Sie in der Nacht nicht vor Angst kopfüber hinausgestürmt, hätten Sie es sicher entdeckt. Dahinten unter dem Tisch liegt noch der Rahmen des Bildes.«

Stella schaute sich suchend im Wohnwagen um.

»Ich kenne diesen Wohnwagen von Mürre sehr gut und auch das Bild. Es sah aus wie eine Kinderzeichnung. Nichts mehr als ein schwarzes Blatt mit einer weißen, welligen Kreidelinie. Darüber befand sich ein weißer, gezeichneter, kreisförmiger Ring. Da waren nirgendwo Personen drauf. Das war eher ein Symbolbild. Schaut euch um. Mürre ist Wahrsagerin. Da hängen viele solche Symbole und Bilder. Der Wohnwagen ist mit solchen Dingen schon fast austapeziert.«

»Signorina Stella, ein Bild kann mehr aussagen, als Sie es im ersten Moment vermuten. Es ist vielleicht ein Schlüssel in eine andere Zeit oder eine Botschaft. Vielleicht war dahinter etwas vermerkt. Wer weiß?«

»Mist, so ein Pech!«, fluchte Riccardo und setzte sich entmutigt auf den Boden.

»Was sollen wir jetzt machen? Wie sollen wir dem Obertaschendieblehrer ein Bild stehlen? Das ist unmöglich!« Riccardo tröstete sich, indem er mit den Fingern durch sein Haar fuhr. Stella kaute auf ihrer Unterlippe, winkelte ein Bein an und legte ihr Kinn auf das angezogene Knie.

»Sagen Sie mir, Professore Piccolo, stimmt es, was stets über das Bild hinter vorgehaltener Hand gesagt wurde? Kann man damit wirklich einen Blick in die Vergangenheit werfen?«

»È vero. Signorina Stella. Es ist wahr. Ich nehme es zumindest an. Vielleicht auch in die Zukunft, was wahrscheinlich der Grund des Diebstahls war.«

Stella verzweifelte, und ihre Hoffnung schwand mit einem Male dahin.

»Riccardo, wir werden nie wissen, wer unsere Eltern waren. Wie sie aussahen und was sie dachten oder taten. Niemand ist mehr da, der uns helfen könnte. Wir haben alles umsonst gemacht und alles verloren.«

Dabei blickte Stella kerzengerade in die bunt bemalte Schranktüre, und ihr Blick verschwamm langsam. Die ersten Tränen kündigten sich an. Beklemmende Stille breitete sich aus. Im Wohnwagen wurde es bereits dunkler, und Stella wischte sich über die Augen, stellte schließlich eine kleine Kerze auf, die sich nach einigen Anfangsschwierigkeiten doch noch am aufgekratzten Docht entzünden ließ. Riccardo spielte mit seinen Fingern, fächerte sie ineinander, dehnte und streckte sie so lange durch, bis die Gelenke krachten. Der Professore sprang aufgeregt von einem Platz zum anderen. Er hob seine Schwanzfedern einmal an, um sie im nächsten Moment wieder fallen zu lassen. Dies wiederholte er so oft, bis Riccardo mit seinen knacksenden Fingerübungen fertig war. Dann räusperte sich der Vogel und verkündete kleinlaut.

»Mi scusi, ich sollte Ihnen doch noch etwas mitteilen, Signor Riccardo und Signorina Stella. Ihr mutwilliges Öffnen der Schatulle bringt leider ein kleines Problem mit sich.«

»Ja, welches?«, fragte der Junge, ohne es wirklich wissen zu wollen.

»Die Wahrsagerin Mürre hat einen Fluch über die Schatulle gelegt. Dies bedeutet, dass derjenige, der die Schatulle zuerst geöffnet hat, mit einem Fluch belegt wird.«

Stella wurde wieder aufmerksam, wischte ihr verschmiertes Gesicht mit einem Küchenhandtuch ab und warf dem Vogel einen wütenden Blick zu.

»Das sagen Sie erst jetzt? Wieso haben Sie so lange geschwiegen? Vielleicht wäre uns die ganze Geschichte nicht passiert, wenn Sie uns gleich an dem Abend gewarnt hätten.«

Professore Piccolo war sich bewusst, einen Fehler gemacht zu haben. Deshalb hatte er auch ein besonders schlechtes Gewissen.

Nervös herumflatternd, wechselte er seinen Standort von der Sessellehne auf das Regal.

»Sì sì, ja, ich gebe zu, ich hätte Sie warnen sollen. Deshalb bin ich auch nicht vorzeitig aus dem Käfig ausgebrochen. Obwohl es leicht für mich gewesen wäre. Stattdessen habe ich auf Ihr Wiederkommen gewartet.«

»Wie lange hält dieser Fluch an?«, fragte Riccardo.

»Bis Sie zwei gute Taten vollbracht haben. Und das innerhalb von vier Nächten, ansonsten werden Sie mit der Rückwärtssprache bestraft.«

Der Vogel schaute so bekümmert, als empfände er ehrliches Mitleid mit den beiden.

»Mit der Rückwärtssprache? Was soll das denn heißen?«

Stella rutschten bereits Eiszapfen über den Rücken.

»Rückwärtssprache ist ein alter, aber wirksamer Fluch und wurde schon vor 1000 Jahren in ganz Europa eingesetzt. Die Verfluchten mussten siebzig Tage rückwärts sprechen oder besser gesagt, sie konnten nur rückwärts sprechen. Diese Verfluchten wurden, da man sie nicht mehr verstand, ausgestoßen. Viele sperrte man in tiefe Verliese, weil man glaubte, il diavolo, der Teufel wäre in sie gefahren. Die meisten dieser unglücklichen Menschen haben diese siebzig Tage nicht überlebt. Aber so schlimm wird es bei Ihnen nicht sein, denn Sie haben ja noch eine Nacht vor sich, um zwei gute Taten zu vollbringen.«

Professore Piccolo war sich nicht ganz sicher, ob er die beiden jungen Zirkusartisten mit diesem Vortrag beruhigen konnte. Aber alle drei erkannten, dass es noch einen Ausweg gab.

Wiederum wurde es ruhig in Mürres Wohnwagen. Sie überlegten, was wohl eine gute Tat wäre. Da es bereits der Abend vor der vierten Nacht war, mussten die beiden sich besonders beeilen, einen Plan auszuhecken. Riccardo lief aufgeregt vor dem Wagen auf und ab und stellte sich immer wieder die gleichen Fragen. Wo war Mürre? Was hatte es mit dem Bild auf sich? Würde er die Geschichte seiner Eltern jemals erfahren? Wie konnte er diesen Fluch von seiner Schwester bannen? Nebenbei beobachtete Riccardo den Abbau des Zirkuszeltes und grüßte vorbeieilende Arbeiter. Er spürte besonders große Wehmut, wenn er zum Manegenzelt blickte.

Den Vorgang des Ab- und Aufbaues kannte er auswendig, und er half stets eifrig mit. Sein Lehrer Fu wunderte sich immer wieder, mit welcher Energie und Freude Riccardo bei den Arbeiten anpackte. Doch er selbst war der eigentliche Grund für den Eifer des Jungen. Während der Zeltbauzeit gab es für Riccardo keine Tracht Prügel. Er konnte dabei immer fern von seinem Lehrer sein und fühlte sich für kurze Zeit unbeobachtet. Außerdem war beim Aufund Abbau des Zeltes auch Lars, der Sohn des Zirkuszauberers Rubens, dabei.

Fu verachtete den Zauberer, da dieser mit seinen Illusionen stets mehr Applaus bei den Kindern einheimste und deshalb auch im Programmheft auf der ersten Seite mit Foto abgebildet war.

Aber Lars war ein netter Kerl, zwei Jahre älter und für sein Alter, mit einem Meter neunzig extrem groß. Manche meinten, sein Vater könnte vielleicht doch zaubern und hätte den Jungen mit einem Zauberwachstumstrank in die Höhe schießen lassen. So konnte Lars bereits mit seinen sechzehn Jahren, wie ein Erwachsener bei der handwerklichen Arbeit zupacken und nebenbei mit seinen lang gewachsenen Fingern besonders elegant Karten im Handrücken verschwinden lassen. Riccardos Traum, es ihm einmal nachzumachen, zerstörte Lehrer Fu immer wieder mit der Aussage.

»Zirkuszauberei ist ein primitives Geschäft. Man täuscht das Publikum mit irgendwelchen präparierten Gegenständen, versteckt in einer Geheimtasche eine Maus oder eine Taube, um sie dann, wenn das Publikum in die falsche Richtung gafft, zum Vorschein zu bringen. Das ist kein Geschick, sondern billiges Applausabzocken. Taschendieb-Artisten haben es dagegen wesentlich schwieriger, da jeder weiß, dass man bestohlen wird und jeder besonders auf die Bewegung der Hände achtet.«

Trotzdem faszinierte Riccardo die Fertigkeit von Lars Fingern, und wenn er sich unbeobachtet fühlte, trainierte er heimlich das Verschwinden von Gegenständen in seiner Hand. Lars brachte ihm regelmäßig einige geheime Tricks bei, was weder dessen Vater noch Fu wissen durften. Aber die beiden Freunde hielten zusammen, machten es zu ihrem Geheimnis und genossen die unbeobachteten Pausen während der Auf- und Abbauzeiten.

»Ihnen wird das Leben hier abgehen!«

Erst jetzt bemerkte Riccardo den gefiederten Professore, der ihm gefolgt war und nun auf der Anhängevorrichtung Platz genommen hatte.

»Ja, ganz bestimmt.«

Professore Piccolo nickte mit seinem Schnabelkopf verständnisvoll.

»Signor Riccardo, Sie waren auch in GF ..., ich meine, in Gefangenschaft. Jetzt sind Sie frei und sehen mit einem Male die Unfreien nicht mehr.«

Riccardo wandte sich zum Papagei und wollte die zuletzt gehörten Worte hinterfragen, da setzte der Vogel zum Flug an, kreiste einige Male über dem Jungen und rief ihm in einer Frauenstimme zu.

»Wir sehen uns, Riccardo, vergiss nicht, deinen Fluch zu bannen. Wir sehen uns bei den 7mondi – ciao, mein kleiner Riccardo, ciao, bella Stella!«