Ab heute mach ich's mir selber recht - Heike Abidi - E-Book

Ab heute mach ich's mir selber recht E-Book

Heike Abidi

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Beschreibung

Das Buch für alle, die allzu gerne Everybody's Darling wären und dabei meistens als Depp vom Dienst enden – scharfsinnig beobachtet und humorvoll erzählt von Bestsellerautorin Heike Abidi. People Pleaser erfahren, was die Gründe dafür sind, dass sie sich so bereitwillig verbiegen. Wie es sein kann, dass andere das so leicht durchschauen (und – natürlich – ausnutzen). Und wie ihnen ein Schuss gesunder Egoismus das Leben erleichtert. Egal, ob es ums Nein-Sagen geht oder darum, andere charmant in ihre Schranken zu weisen, ohne sie vor den Kopf zu stoßen. 

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Seitenzahl: 239

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Impressum

© eBook: 2024 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2024 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

GU ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Nikola Teusianu

Lektorat: Ulrike Auras

Bildredaktion: Simone Hoffmann

Covergestaltung: ki 36 Editorial Design, Anika Neudert

eBook-Herstellung: Teresa Klocker

ISBN 978-3-8338-9524-1

1. Auflage 2024

Bildnachweis

Illustrationen: Dóra Fekete (iStock)

Fotos: Gaby Gerster

Syndication: Bildagentur Image Professionals GmbH, Tumblingerstr. 32, 80337 München www.imageprofessionals.com

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GRÄFE UND UNZER VERLAG Grillparzerstraße 12

Wichtiger Hinweis

Die Gedanken, Methoden und Anregungen in diesem Buch stellen die Meinung bzw. Erfahrung der Verfasserin dar. Sie wurden von der Autorin nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für persönlichen kompetenten medizinischen Rat. Jede Leserin, jeder Leser ist für das eigene Tun und Lassen auch weiterhin selbst verantwortlich. Weder Autorin noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

Du willst kein Spielverderber sein, sondern lieber Everybody’s Darling? Es allen recht machen, damit jeder dich mag?

Kannst du versuchen. Aber erstens wird es eh nicht gelingen, weil es einfach unmöglich ist, und zweitens rate ich dringend davon ab. Denn: Ruckzuck bist du Everybody’s Depp vom Dienst …

Und dann drängt man dich zu Aufgaben, für die du keine Zeit hast, die dir unangenehm sind, die dich belasten. Bald bist du so damit beschäftigt, Rücksicht auf andere zu nemen und ihre Wünsche zu erfüllen, dass du dich selbst und deine eigenen Wünsche ganz vegisst. Und wozu das Ganze? Dafür, dass andere es leichter haben im Leben?

Am Arbeitsplatz, in der Clique, im Verein,

in deiner Beziehung, in der Familie – willst du wirklich überall an letzter Stelle stehen?

Hallo, bin ich denn hier die Einzige, die auch mal an dich denkt???

Vorwort

Sind wir nicht alle ein bisschen Pleasing?

Anderen gefallen zu wollen und dabei die eigenen Bedürfnisse zu ignorieren, nennt man People Pleasing. Oder – auf gut Deutsch – Gefallsucht.

Doch wer Everybody’s Darling sein will, wird leider allzu leicht Everybody’s Depp vom Dienst. Und wer möchte das schon sein? Ich jedenfalls nicht. Und du bestimmt auch nicht.

Warum ist es dann so schwer, einfach mal Nein zu sagen?

Zugegeben – die meisten von uns lieben es, anderen eine Freude zu machen. Vor allem, wenn sie dafür Anerkennung und Lob ernten und Komplimente zu hören bekommen wie: »Was täte ich bloß ohne dich?!«

Solche Reaktionen motivieren ungemein. Wir fühlen uns wichtig und gebraucht, und das tut einfach gut.

Auch ich bin nicht davor gefeit, mich manchmal ein bisschen zu verbiegen, um jemandem einen Gefallen tun zu können, obwohl mein Schreibtisch übervoll ist. Schließlich sind wir soziale Wesen, oder?

Ich kenne kaum jemanden, dem die Meinung anderer wirklich völlig egal ist. »Sollen sie doch denken, was sie wollen« – ja, das sagt man so dahin. Aber die Wahrheit sieht anders aus. Schließlich haben wir alle von Kindesbeinen an gelernt, dass wir rücksichtsvoll und uneigennützig sein sollen, nicht unsozial und ichbezogen.

Doch manchmal könnte es nicht schaden, ein bisschen an das eigene Wohlbefinden zu denken und etwas weniger Wert auf Anerkennung von außen zu legen. Sonst wird man, wenn man nicht aufpasst, nur ausgenutzt.

Gerade weil wir soziale Wesen sind, ist es wichtig, sich über die Mechanismen von People Pleasing bewusst zu werden: Was macht einen eigentlich zum People Pleaser? Was hat die Erziehung damit zu tun? Welche Rolle spielt die Kommunikation, und warum lassen sich People Pleaser so leicht manipulieren? Wie werden sie zuweilen selbst zu Manipulatoren? Was haben Rollenklischees mit dem Phänomen zu tun? Und inwiefern ist Egoismus tatsächlich gesund, gerade für Menschen mit Neigung zum People Pleasing?

Keine Angst – nachdem du dieses Buch gelesen hast, wirst du garantiert nicht zum ungehobelten Egoisten oder zum narzisstischen Egozentriker. Es geht nicht darum, nie wieder nett und hilfsbereit zu sein. Das wäre ja furchtbar! Vielmehr geht es darum, das Gleichgewicht zu wahren: hilfsbereit, menschlich und sozial zu sein, aber sich selbst nicht aufzugeben und sich vor allem nicht ständig mit anderen zu vergleichen. Wer diesen Balanceakt beherrscht, wird ein ausgeglicheneres, erfolgreicheres und zufriedeneres Leben führen.

Und richtig happy sind wir am Ende nur dann, wenn sich gegenseitiges Pleasing die Waage hält. Klingt gut, oder?

Heike Abidi

SEI ALLES, AUSSER BRAV!

Hast du dich schon einmal gefragt, warum das deutsche Wort »brav« etwas so komplett anderes aussagt als das englische brave, das ja bekanntlich »tapfer« bedeutet? Und dann gibt’s ja noch das italienische bravo, das so gar nicht dazu zu passen scheint.

Tatsache ist: All diese Wörter stammen vom lateinischen barbarus ab, das mit unserem »barbarisch« verwandt ist und sich mit »unkultiviert, wild« übersetzen lässt. Im Lauf der Zeit und über internationale Umwege verschob sich die Bedeutung zu »wild und grausam«, aber auch zu »tapfer und tüchtig«.

Während im Englischen die Tapferkeit dominiert, interpretieren wir Deutschen eher den Aspekt der Tüchtigkeit und der Eignung beziehungsweise Brauchbarkeit – und so wird unser »brav« vor allem mit folgsam, redlich und gehorsam in Verbindung gebracht. Was hat das nun mit People Pleasing zu tun? Ganz einfach: Betroffene erhoffen sich für braves Verhalten ein Bravo – aber ein Braveheart wird so leider nie aus ihnen …

Wofür wir gelobt werden

Wir sitzen im Restaurant – keinem besonders feinen, eher einer Art Bistro, aber es ist gemütlich, günstig und bekannt für seine leckeren Salate und eine Spielecke. Wir, das sind meine Freundin Alex, ihre beiden Kinder und ich. Mia und Jacob sind drei und fünf. Beide sehr aufgeweckt und drollig, aber nicht unanstrengend. Denn natürlich haben sie weder die Geduld, länger als zehn Minuten stillzusitzen, noch Lust, leise zu sein. Kaum sind sie satt, fangen sie an, sich gegenseitig mit den Resten ihrer Brezel zu bewerfen und dabei laut herumzujauchzen.

Alex bittet sie immer wieder, sich zu benehmen, aber da könnte sie ebenso gut mit der Wand reden. Als die Zwerge aufstehen wollen, erlaubt sie ihnen, in die Spielecke zu gehen. Aber warum sich auf eine Ecke beschränken, wenn man im ganzen Lokal so herrlich herumrennen und Fangen spielen kann?

»Das ist doch hier kein Abenteuerspielplatz«, empört sich ein Herr am Nebentisch, und ich frage mich unwillkürlich, wie er wohl als Fünfjähriger so drauf war.

»Ungezogene Bande«, ergänzt seine Begleitung, eine humorlose Perlenkettenträgerin, der ich es durchaus zutraue, sich als Kind kein einziges Mal schmutzig gemacht zu haben. Wie traurig für sie.

Alex zuckt zusammen. Die kritischen Kommentare sind ihr sichtlich unangenehm. Und ich kann das gut nachempfinden: Wer will schon, dass der eigene Nachwuchs als störend empfunden wird?

Noch unangenehmer ist ihr aber der Vergleich mit jener Mutter einen Tisch weiter, deren Sprösslinge weder schreien noch zappeln, sondern gehorsam an ihrem Essen herumnagen. Die Frau – nennen wir sie Annabell – sonnt sich in den anerkennenden Blicken der anderen Gäste. So ein liebes Mädchen! So ein artiger Junge! Wer könnte sich an Annabells Stelle da ein überhebliches Lächeln verkneifen, vor allem angesichts des offensichtlichen Versagens meiner Freundin Alex?

»Ich bin eine furchtbare Mutter«, raunt sie mir zu. »Warum müssen sich meine beiden bloß immer so unmöglich aufführen? Können sie nicht ein einziges Mal brav sein?«

Ich finde, dass sie eine hervorragende Mutter ist – allerdings auch eine gestresste und momentan arg unter Druck stehende. Deshalb schlage ich vor, mit den Kindern in den Park zu gehen. Dort können sie nach Herzenslust herumtoben, ohne dass jemand sich darüber mokiert. Und ich kann in Ruhe mit Alex reden.

»Definiere brav«, sage ich.

Überrascht schaut sie mich an. »Jeder weiß doch, was das bedeutet.«

»Stell dir vor, ich wäre ein Alien und wüsste es eben nicht. Erkläre es mir.«

Ich zücke ein Notizbüchlein, das ich zwecks Ideensammlung immer mit mir herumtrage. Eine Viertelstunde später lese ich ihr meinen Mitschrieb vor:

Brave Kinder …

… tun, was man ihnen sagt.… stellen Anweisungen nicht infrage und diskutieren nicht.… machen sich nicht dreckig.… sind nicht unangemessen laut.… stören Erwachsene nicht bei dem, was sie tun.… können auch mal still sitzen bleiben.

Kurze Zwischenfrage: Wärst du nach dieser Definition ein braves Kind gewesen? Ich hoffe nicht!

»Brave Kinder unterdrücken also sowohl ihren natürlichen Bewegungsdrang als auch ihre Fantasie und ihre angeborene Neugier, um ihren Eltern und überhaupt Erwachsenen zu gefallen«, fasse ich zusammen. »Merkst du was?«

»Krass«, erwidert Alex verblüfft. »Meine Kinder sind doch keine Haustiere!« Und nach ein paar weiteren Sekunden fügt sie hinzu: »Ich bin froh, dass Mia und Jacob nicht so ticken. Schließlich will ich, dass sie sich zu starken Menschen entwickeln.«

Ganz ähnlich … nur völlig anders

»Meine Kinder sind doch keine Haustiere«, hat Alex gesagt. Und doch hält sich die Theorie hartnäckig, einen Hund abzurichten, sei so ähnlich, wie ein Kind zu erziehen – für beides brauche man liebevolle Strenge, gutes Timing und Konsequenz. Es gab sogar mal eine TV-Sendung mit dem Titel Train Your Baby Like A Dog, bei der es darum ging, erwünschte Verhaltensweisen der lieben Kleinen durch positive Verstärkung zu fördern. Kleinkinder mit Leckerli konditionieren – das klingt zwar komisch, scheint aber in einem gewissen Maß zu funktionieren.

Trotzdem ist Alex’ Einwand vollkommen berechtigt. Liebevolle Strenge, schön und gut, aber welche Eltern sind schon immerzu konsequent? Und das ist auch überhaupt kein Drama, denn Menschenkinder begreifen es durchaus, wenn man nachträglich erklärt: »Gestern hab ich mal eine Ausnahme gemacht, da war ich einfach total müde und hatte Kopfschmerzen, aber heute gelten wieder die gewohnten Regeln, okay?«

Mit so einem Vortrag braucht man seinem Vierbeiner gar nicht erst zu kommen. Der versteht nämlich nur »chang-dong-wabumm-kawups-die-watsch«.

Tja, Hundesprache müsste man können! Aber auch das würde wenig nützen – denn für Begriffe wie »gestern«, »Ausnahme« und »ab heute« gäbe es da garantiert keine Übersetzung. Hunde leben ausschließlich im Hier und Jetzt – Vergangenheit und Zukunft existieren für sie einfach nicht. Die Glücklichen!

Aber ich schweife ab. Denn eigentlich spielt das alles gar keine Rolle, und der grundlegende Unterschied zwischen Kinder- und Hundeerziehung ist ein völlig anderer. Er betrifft nämlich nicht die Methode, sondern die Frage, welche Absicht man damit verfolgt.

Was heißt hier gut erzogen?

Die Erziehung eines Hundes gilt als gelungen, wenn er seinem Zweibeiner aufs Wort gehorcht, seine Impulse kontrollieren kann und entspannt an der Leine läuft, kurz: seinen Menschen als Rudelführer akzeptiert und ihm voll vertraut.

Je klarer die Rangordnung ist, desto harmonischer das Zusammenleben. Der Zweibeiner führt, der Vierbeiner folgt. Darum geht es – genau das ist das Ziel des Ganzen.

Von wegen »bester Freund des Menschen« – auch wenn die Bindung sehr eng ist, wird es doch nie eine Beziehung auf Augenhöhe sein.

Die Hundeerziehung ist darauf ausgerichtet, dass sich diese hierarchische Konstellation nie mehr verändert. Die Machtverhältnisse bleiben einzementiert. Und natürlich geht es niemals darum, den Vierbeiner auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten. Also darauf, dass er irgendwann auszieht, seine Zweibeiner zurücklässt, die Welt entdeckt und ein eigenes Rudel gründet.

Und da haben wir ihn auch schon identifiziert, den alles entscheidenden Unterschied! Denn unsere Kinder sollen, ja müssen sogar eines Tages ohne uns durchs Leben gehen können. Und unsere Erziehung zielt darauf ab, sie dafür stark zu machen.

Zum Glück haben meine Eltern mich nicht so erzogen, als wäre ich ein Dackel – und deine dich hoffentlich auch nicht!

People Pleaser – dressiert zum Bravsein?

Eigentlich liegt es ja auf der Hand, aber vielleicht muss es einfach mal laut ausgesprochen (oder zumindest in einem Buch aufgeschrieben) werden, damit es uns allen so richtig bewusst wird: Wer seine Kinder zu folgsamen Schoßhündchen erzieht, darf sich nicht wundern, wenn sie später schwache, unsichere Erwachsene werden.

Das hat die hochmütige Annabell aus dem Bistro wohl nicht bedacht, als sie sich in den anerkennenden Blicken ihrer Umsitzenden sonnte. Gut möglich, dass das liebe Mädchen und der artige Junge später einmal voller Komplexe stecken, ohne Selbstbewusstsein durchs Leben stolpern und absolut prädestiniert dafür sind, People Pleaser zu werden. Und dass diejenigen von uns mit People-Pleaser-Tendenzen früher vielleicht ein bisschen zu sehr auf Gehorsam getrimmt wurden.

Ich übertreibe? Vielleicht. Ein ganz klein wenig. Natürlich wird nicht aus jedem gehorsamen Kind ein Erwachsener, der sich permanent verbiegt, nur um anderen zu gefallen. Doch wer fürs Bravsein immer wieder gelobt wird, gewöhnt sich Verhaltensweisen an, die genau dafür prädestinieren.

Du willst Beispiele? Kein Problem! Darf ich vorstellen: Anne, Torben, Lily, Kai und Margit sind People Pleaser par excellence. Und oh, sie waren so brave Kinder! Schauen wir uns mal an, was die Verhaltensweisen, für die sie einst gelobt wurden, im Erwachsenenalter aus ihnen gemacht haben.

Anne (37): So gut wie unsichtbar

Schon als kleines Mädchen war es Anne wichtig, nicht aufzufallen. Vor allen Dingen nicht unangenehm aufzufallen. Deshalb verhielt sie sich meistens extrem ruhig. Die kleine Anne konnte stundenlang dasitzen und lesen, malen, puzzeln, mit ihren Puppen spielen oder – dafür gab’s noch mehr elterliches Lob! – aufräumen. Sie sprach leise und nur, wenn sie etwas gefragt wurde. Ein rücksichtsvolles, höfliches Kind. Oder anders gesagt: Ihr fehlte eine ordentliche Portion Pippi-Langstrumpf-Wildheit!

Jedenfalls machen ihr Fleiß und ihre Disziplin sie zu einer erstklassigen Sachbearbeiterin. Während andere stundenlang in der Teeküche tratschen oder im Internet surfen, arbeitet sie still und emsig weg, was erledigt werden muss.

Dreimal darfst du raten, wer bei Beförderungen immer wieder übergangen wird? Na klar – Anne. Sie ist so unauffällig, dass ihre Vorgesetzten nicht einmal bemerken, was sie leistet.

Schade für Anne. Aber würde sie sich deswegen beklagen? Niemals. Sie will schließlich nicht auffallen. Und schon gar nicht unangenehm …

Torben (44): Süchtig nach Feedback

Als ausgesprochen gehorsamer Junge hatte Torben großen Respekt vor seinen Eltern, den Lehrern, überhaupt vor allen Erwachsenen. Ihre Anweisungen zu missachten, wäre ihm niemals eingefallen. Zu schön war es, für sein artiges Verhalten gelobt zu werden. Hätte er bloß mal öfter im Dreck gespielt!

Sein Wertesystem basiert auch heute noch komplett auf dem Urteil anderer, denn er hat nie darüber nachgedacht, was er selbst gut findet und was nicht.

Einen Traum gegen alle Widerstände durchzusetzen, käme ihm nie in den Sinn. Während andere ihr Studium hinschmissen, um Rockstar oder Profifußballer zu werden, oder auf einen gut bezahlten Job verzichteten, weil ihnen ein anderer mehr Spaß machte, folgte Torben immer dem vorgezeichneten Weg.

Denn das, wofür er brannte, war die Anerkennung von außen: »Gut gemacht, Torben!« – »Auf dich kann man sich verlassen, Torben!« – »Wenn du nicht wärst, Torben!«

Er braucht dieses positive Feedback dringend, denn sein Selbstwertgefühl basiert einzig und allein darauf. Nicht auszumalen, wie es ihm geht, wenn es einmal ausbleibt.

Lily (25): Bloß keine Fehler machen

Auch Lily war schon immer sehr gut darin, Regeln und Anweisungen zu befolgen. Sehr zur Freude ihrer Eltern – und später zu der ihrer Vorgesetzten. Sie ist pünktlich, gewissenhaft, zuverlässig, ordentlich, loyal, sorgfältig. Sie gilt als Perfektionistin.

Die Kehrseite der Medaille: Lily hat panische Angst davor, etwas falsch zu machen. Neue Aufgaben erschrecken sie, und jedes Abweichen vom üblichen Pfad stellt für sie ein Risiko dar, das sie lieber nicht eingeht.

Leider ist Lily auf die Herausforderungen des Lebens damit nur unzureichend vorbereitet. Probleme zu lösen, erfordert nämlich ein gewisses Maß an Kreativität. Doch wer lieber Regeln befolgt, als unkonventionell zu denken, handelt in Krisensituationen nicht besonders flexibel.

Kai (53): Recht haben heißt nicht recht bekommen

Ein braver Junge gibt keine Widerworte, so hat es Kai gelernt. Er hat früh akzeptiert, dass man nicht immer Zustimmung bekommt, auch wenn man eigentlich im Recht ist. Aber deswegen streiten? Nein, das wäre ihm unangenehm gewesen.

Noch heute ist das so. Auseinandersetzungen geht er tunlichst aus dem Weg. Was Kai will, ist Harmonie. Und das um wirklich jeden Preis – sowohl im privaten wie auch im beruflichen Umfeld.

Aber es gibt nun mal kein Leben ohne Konflikte. Und weil er nie gelernt hat, auf seinem Standpunkt zu beharren, ihn zu verteidigen und entsprechend zu argumentieren, hat auch der erwachsene Kai stets das Nachsehen. Was schade ist, denn eigentlich ist er sehr clever und seine Ideen wären oft klüger als die seiner Mitmenschen, die sich durchsetzen.

Margit (56): Nein ist keine Option

Wer brav gehorcht und niemals widerspricht, wird prompt gelobt und entsprechend belohnt, diese Lektion hat Margit in ihrer Kindheit gelernt.

Was sie dagegen nicht gelernt hat, ist, einmal Nein zu sagen. Beispielsweise wenn sei gebeten wird, unangenehme Aufgaben zu erledigen. Natürlich übernimmt sie den Kuchenbasar, die Weihnachtspost, das Amt im Verein. Selbstverständlich schiebt sie Überstunden, räumt anderen hinterher, opfert ihre Freizeit.

Nur leider stellt sich – anders als in der Kindheit – die erhoffte Reaktion ihrer Mitmenschen immer seltener ein. Nichts anderes ist man von ihr gewohnt, ihr Engagement wird als normal erachtet. Doch die Anerkennung fehlt ihr. Umso mehr strengt sie sich an – ein Teufelskreis.

Und es kommt noch schlimmer: Nicht nur das Lob bleibt aus. Es gibt ja generell im Leben keine Erfolgsgarantie. Im Gegenteil, Misserfolge gehören einfach dazu – niemand ist davor gefeit. Doch Margit hat nie gelernt, damit umzugehen. Scheitern bedeutet für sie daher keine Chance, zu wachsen und zu lernen, sondern eine persönliche Niederlage, an der sie schwer zu knabbern hat.

Falls du selbst so ein braves Kind warst: Jetzt wäre der perfekte Moment, das hinter dir zu lassen! Und falls du Kinder hast: Überleg dir gut, wofür du sie in Zukunft loben willst.

Meine Freundin Alex hält die kritischen Blicke fremder Menschen inzwischen schon viel besser aus, wenn ihre Rasselbande mal wieder über die Stränge schlägt. Zuweilen allerdings würde sie den Annabells dieser Welt gerne die Zunge rausstrecken. Was wiederum alles andere als brav wäre.

Liebe Eltern, keiner hat gesagt, es würde leicht werden

Zugegeben, wer seine Kinder nicht dazu erzieht (oder soll ich lieber sagen: dressiert), immer brav zu sein, hat es schwerer. Dieses ständige Diskutieren. Und Begründen. Nicht zu vergessen das nervige Erklären!

Und dann muss man hin und wieder auch mal zurückrudern. Oder sich informieren. Womöglich sogar umdenken. Einfach mit »weil« zu antworten, läuft nicht. Genauso wenig, wie auf natürlicher Autorität zu bestehen. Echt mühsam! Meine Freundin Alex kann ein Lied davon singen.

Mia und Jacob – ihre Kinder – hast du ja schon kennengelernt. Sie sind lieb, aufgeweckt, drollig – und furchtbar anstrengend. Manchmal wünscht sich Alex, ihre beiden wären so artig wie Annabells Nachwuchs. Doch dann macht sie sich bewusst, warum sich der beschwerlichere Weg letztendlich lohnt …

Jacob denkt und fragt

Letzten Sommer fuhren Alex und ihr Partner Simon mit den beiden Kindern an den Gardasee. Während die dreijährige Mia fast die ganze Fahrt verschlief, kam der fünfjährige Jacob vor lauter Aufregung nicht zur Ruhe. Auf die »Wann sind wir endlich da?«-Dauerschleife hatte sich Alex eingestellt, doch was Jacob wissen wollte, war etwas anderes. Seine Frage (natürlich ebenfalls in Dauerschleife) lautete nämlich: »Wo genau beginnt der Urlaub?«

Alex und Simon hatten ihm ein Foto von dem gemieteten Ferienhaus gezeigt, und nun überlegte Jacob, ob der Urlaub genau dann anfängt, wenn dieses Haus in Sicht kommt. Oder vielleicht erst in dem Moment, wenn man es betritt? Möglicherweise hat er aber längst angefangen. Gehört die Fahrt schon dazu? Und was ist mit dem Kofferpacken? Fängt damit der Urlaub an? Aber wenn die Fahrt bereits Bestandteil des Urlaubs ist, warum ist sie dann so langweilig? Sollte Urlaub nicht Spaß machen?

Wohlgemerkt: Der kleine Jacob bombardierte seine Eltern nicht deshalb mit all diesen Fragen, weil er sie in den Wahnsinn treiben wollte. Auch wenn ihm das spätestens am Brenner beinahe gelungen wäre. Sondern aus purem Wissensdurst. Waren wir denn nicht alle so? (Serviervorschlag am Rande: Vielleicht wäre heute der richtige Tag, deinen Eltern für ihre unglaubliche Geduld zu danken, wenn du als Dreikäsehoch mal wieder auf dem »Warum?«-Trip warst.)

Interessanterweise brachte Jacob seine Eltern damit nicht nur gehörig ins Schwitzen, sondern auch zum Nachdenken. Nämlich darüber, warum sie die Fahrt als notwendiges Übel betrachteten statt als aufregenden ersten Teil ihrer Reise, der dazu dient, die Vorfreude zu steigern.

Sie hörten auf, sich über Staus zu ärgern und Kilometer zu zählen, sondern machten Spiele, sangen Lieder und dachten sich gemeinsam mit Jacob lustige Geschichten aus.

Fazit: Tja, Neugier ist eben gut gegen Langeweile – und macht außerdem kreativ!

Pluspunkt: Seine Überlegungen und das Fragenstellen fördern Jacobs Fähigkeit, unabhängig zu denken. Dass die Eltern seine Fragen ernst genommen haben, stärkt zudem sein Selbstvertrauen.

Bonus: Auch die Eltern haben etwas dazugelernt, und vor allem hat Jacobs Fragerei zu gemeinsamen Aktivitäten geführt – was wiederum die Eltern-Kind-Beziehung festigt.

Besser geht’s nicht!

Mia will aber nicht!

Die Großeltern sind empört: Mia will ihnen zur Begrüßung kein Küsschen geben. Nicht mal eine Umarmung lässt sie zu. »Ich will das nicht«, verkündet sie. »Aber wir haben dich doch lieb«, bettelt Oma, und Opa findet es unmöglich, dass Alex und Simon dem kleinen Mädchen solche »Marotten« durchgehen lassen.

Alex fühlt sich gestresst, weil ihre Eltern enttäuscht sind. Gleichzeitig findet sie es selbst schade, dass Mia zurzeit überhaupt nicht kuscheln will. Nicht mal mit ihr.

Simon ist da entspannter. »Sie wird es uns schon mitteilen, wenn sie wieder geknuddelt werden will.« Und er behält recht. Ein paar Monate später ist die Nicht-küssen-und-umarmen-Phase vorbei.

Fazit: Nein heißt Nein – das gilt für alle, auch für Kinder!

Pluspunkt: Mia entscheidet selbst, wer sie berühren darf. Niemand hat das Recht dazu, ihr einen Kuss oder eine Umarmung aufzuzwängen, obwohl sie das nicht will. Das stärkt Mias Selbstbewusstsein und schützt sie vor Missbrauch.

Bonus: Auch die Eltern und Großeltern machen eine Lernerfahrung. Nur weil sie erwachsen sind, dürfen sie noch lange nicht über Mias Körper bestimmen.

Respekt und Grenzen sind keine Altersfrage!

Jacob findet das voll unfair

Jeden Abend liest Simon seinem Sohn eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Michel aus Lönneberga liebt er ganz besonders. Kein Wunder, schließlich ist er dem berühmtesten aller Lausejungen gar nicht so unähnlich. Vielleicht reagiert er deshalb immer so empört darauf, wenn Michel für seine Streiche bestraft wird, obwohl er es doch eigentlich immer gut meint.

Oder es liegt einfach nur an Jacobs großem Gerechtigkeitssinn. Wann immer ihm etwas voll unfair erscheint, fängt er an zu diskutieren. »Warum darf ich nicht länger aufbleiben? Die anderen Kinder müssen nicht so früh ins Bett gehen!« – »Wieso ist meine Medienzeit so kurz, aber ihr habt das Handy andauernd bei euch?« – »Weshalb zählen Gummibären nicht als Obst, sie sind doch auch klein und bunt, genau wie Himbeeren, Brombeeren und Stachelbeeren?«

Zum Glück ist Simon ein extrem geduldiger Mensch. Sachlich und ruhig tauscht er mit seinem Sohn Argumente aus, und hin und wieder muss er sogar zugeben: »Der kleine Mann hat recht.«

Natürlich gibt es Regeln, die sich nicht wegdiskutieren lassen. Zum Beispiel, dass man nicht die ganze Nacht über wachbleiben darf. Aber das sieht Jacob letztendlich selbst ein – nachdem er sich die Begründung seines Vaters angehört hat. (»Weil ich das sage« zählt übrigens nicht als Argument …) Der kleine Mann findet sogar megaspannend, wie wichtig Schlaf für den menschlichen Körper ist und was passiert, wenn man zu lange wach bleibt.

Fazit: Diskutieren will gelernt sein. Und wer es als Kind nicht übt, bekommt in der Elternschaft eine zweite Chance.

Pluspunkt: Es ist wichtig, dass Jacob versteht: Argumente führen eher zum Ziel als Betteln, Jammern, Schreien und Toben. Er lernt, sich zu behaupten und seinen Standpunkt zu verteidigen.

Bonus: Jacob erlebt, dass sein Vater ihn ernstnimmt. Das stärkt die Bindung der beiden und natürlich auch Jacobs Selbstvertrauen.

Perfekte Vorbereitung für Schule, Beruf und Partnerschaft!

Mia will die Welt verstehen

Neulich war ich mit Mia im Zoo. Den Ausflug hatte ich ihr zum Geburtstag geschenkt, und die Kleine freute sich riesig darüber. Ihre Begeisterung war umwerfend. Wie sie jubelte, als sie die Waschbären beobachtete! Wie sie staunte, als ihr klar wurde, wie riesig Elefanten sind! Wie sie kicherte, als die Schimpansen ihre Kletterkünste vorführten!

Natürlich war ich auf jede Menge Fragen vorbereitet und hatte mir extra eine App aufs Handy geladen, um kindgerechte Infos über Tiere aller Art jederzeit abrufen zu können.

Prompt konnte ich also erklären, dass Flamingos rosa sind, weil sie sich von kleinen Krebstieren ernähren, die denselben Farbstoff enthalten wie Karotten, und dass Giraffen so einen langen Hals brauchen, um besser an ihre Nahrung, die Blätter der Bäume, zu kommen. Schwieriger wurde es, als Mia wissen wollte, warum Zebras Streifen haben und wie Fische unter Wasser atmen können. Doch es gelang mir, ihr auch die Sache mit der Tarnung und den Kiemen einigermaßen verständlich zu machen.

So richtig auf dem Schlauch stand ich dann aber, als sie fragte, warum Elefanten so lange Rüssel haben und Pferde nicht, weshalb Schildkröten so langsam sind und warum Löwen Fleisch fressen – könnten sich nicht alle Tiere einfach von Gras ernähren?

Natürlich hätte ich da einfach sagen können: »Weil das nun mal so ist.« Das hätte sie vermutlich akzeptiert. Aber das kam natürlich nicht in die Tüte. Ich versprach ihr, die Antworten auf all ihre Fragen herauszufinden, und notierte sie sorgfältig. Bei unserem nächsten Treffen lieferte ich die gewünschten Informationen nach. Und – noch etwas viel Besseres – einen Gutschein für eine Führung durch den Tierpark mit der Zoodirektorin.

Fazit: Kinder haben von Natur aus Lust aufs Lernen – wir müssen nur dafür sorgen, dass die Flamme der Neugier nicht erlischt!

Pluspunkt: Obwohl Mia noch so klein ist, ist ihr Interesse an der Welt riesengroß. Sie in ihrem Wissensdurst zu bestärken, ist wichtig für ihre intellektuelle Entwicklung.

Bonus: Es schadet nichts, Kindern zu gestehen, dass man selbst nicht allwissend ist – denn das ist ein echter Vertrauensbeweis, der die Beziehung stärkt. Zudem lernen sie, dass niemand perfekt ist.

Gemeinsam Neues erfahren verbindet!

Alles, bloß nicht artig!

Vergleichen wir noch einmal mit dem traditionellen autoritären Erziehungsstil, bei dem Gehorsam oberstes Ziel war. Ich denke, die Tabelle spricht für sich …

Okay, das ist wohl ziemlich eindeutig, oder?

Neue Loblieder sind gefragt!

Eine Frage ist noch offen: Wenn man seine Kinder schon nicht fürs Bravsein loben sollte, wofür dann?

Ich habe mich umgehört und nachahmenswerte Beispiele gesammelt. Hier eine kleine Sammlung – die du gerne erweitern darfst:

Für Selbstständigkeit: Zum Beispiel beim Anziehen, auch wenn das vielleicht länger dauert und die Farb- und Musterzusammenstellung etwas unkonventionell ausfällt.Für Ehrlichkeit: Wenn ein Kind traurig ist, sich Sorgen macht, ein Problem hat, einen Fehler einsieht, fällt es ihm nicht leicht, offen darüber zu sprechen. Umso toller, wenn es das doch tut!Für Anstrengung: Ist doch egal, wenn ein Kind nicht schneller laufen, besser kopfrechnen, flüssiger lesen oder schöner Klavier spielen kann als alle anderen. Einsatz und Durchhaltevermögen zählen!Für Empathie: Ein Kind freut sich mit einem Geschwisterkind oder ist ebenfalls traurig, weil ein Freund es ist? Beides ein Zeichen für emotionale Intelligenz – wunderbar!Für Konfliktfähigkeit: Konflikten aus dem Weg zu gehen, erscheint vielen als einfachere Lösung. Aber sie ist nicht die beste. Einen Konflikt friedlich austragen und eine Lösung finden, ist eine große Leistung!Für Mut: Wenn alle anderen über den Neuling in der Gruppe lachen, erfordert es Mut, dagegenzuhalten. Ein Kind, das aufsteht und mit dem Neuen spielt, zeigt echte Zivilcourage. Klasse!

Übrigens: Es ist nie zu spät

Du wurdest früher weder fürs Diskutieren gelobt noch für Empathie oder eine Vier in Mathe, obwohl du dich so angestrengt hast, sondern nur fürs Stillsitzen und Ruhigsein und für Höflichkeit?