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Das Leben ist zu kurz für später … Warum die Lebensmitte die perfekte Zeit ist, noch einmal neu durchzustarten!
Ein altes Sprichwort sagt: „Schuster, bleib bei deinem Leisten“ – Also bleib bei dem, was du gelernt hast. Was aber, wenn sich das Leben und die eigenen Pläne ändern?Immer dasselbe ist doch langweilig! Vielleicht möchtest du dich mit einer lang gehegten Idee selbstständig machen? Träumst davon, ein Buch zu schreiben, oder wolltest schon immer nach Schweden auszuwandern? Dann nichts wie los, denn deine beste Zeit ist jetzt!
Oder du findest dein Leben so, wie es ist, perfekt, bist aber neugierig auf alternative Lebensentwürfe? Dann sei gespannt auf Geschichten von ungewöhnlichen Menschen, die sich mitten im Leben noch einmal trauen: Da sind etwa Tanja und Annette, die "aus Versehen" ein Unternehmen gründen, Barbara, die aufbricht, um Tiere in Afrika zu retten oder Gerda, die mit 48 Jahren zur Bürgermeisterin einer Universitätsstadtgewählt wird.
Ein echtes Mutmachbuch, das zum Schmökern,Träumen und Pläneschmieden einlädt.
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Seitenzahl: 285
Über die Autorin
Heike Abidi (*1965) lebt in der Pfalz bei Kaiserslautern, wo die studierte Sprachwissenschaftlerin als freiberufliche Werbetexterin und Autorin arbeitet. Die mehrfache SPIEGEL-Bestsellerautorin schreibt Unterhaltungsromane und erzählende Sachbücher für Erwachsene sowie Geschichten für Jugendliche und Kinder.
Alle in diesem Buch veröffentlichten Aussagen und Ratschläge wurden von der Autorin und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann jedoch nicht übernommen werden, ebenso ist die Haftung der Autorin bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.
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Die Ereignisse in diesem Buch sind größtenteils so geschehen, wie hier wiedergegeben. Für den dramatischen Effekt und aus Gründen des Personenschutzes sind jedoch einige Namen und Ereignisse so verfremdet worden, dass die darin handelnden Personen nicht erkennbar sind.
Bei der Verwendung im Unterricht ist auf dieses Buch hinzuweisen.
echtEMF ist eine Marke der Edition Michael Fischer
1. Auflage
Originalausgabe
© 2022 Edition Michael Fischer GmbH, Donnersbergstr. 7, 86859 Igling
Covergestaltung: Michaela Zander, unter Verwendung eines Motivs von © StudioLondon / über Shutterstock.com
Dieses Werk wurde vermittelt durch Agentur Scriptzzz.
Redaktion: Marijke Leege-Topp
Bildnachweis: Alle Illustrationen über Shutterstock.com / © Aleksandra Kirichenko, © Alena Do, © AriffAmin Illustration, © ddok, © dimpank, © drawww.studio, © Eichiku, © Elena Zlatomrezova, © Fafarumba, © Gigonthebeach, © halimqd, © HJ Project, © JMCM, © Kamila Bay, © Ksu Ganz, © lesyauna, © Lexi Claus, © LHF Graphics, © Marish, © merion_merion, © msr melooo1, © muuraa, © nadiia_oborska, © Shorena Tedliashvili, © Speranskaia Daria, © Sunny Whale, © Svetsol, © tankataka, © Tatiana Goncharuk, © WinWinFolly, © Yuan_Mei
Layout/Satz: Michaela Zander
Herstellung: Amelie Engelhardt
ISBN 978-3-7459-1270-8
www.emf-verlag.de
Inhalt
Vorwort: Meine Großeltern, Udo Jürgens und ich
Teil 1: Neue Lebenssituationen
Wohnst du noch dort oder lebst du schon anders?
Lena und Tom: „Wir sind nicht zu alt für Abenteuer – und verschieben nichts auf irgendwann.“
Nadja: „Wenn der Ort cool ist, sind es die Menschen auch.“
Angelika: „Die wichtigste aller Fragen: Was bedeutet es, ein gutes Leben zu führen?“
Daniela und Wilfried, Kai und Katja: „Midlife-Crisis schön und gut, aber hätte es nicht auch ein Cabrio getan?“
Simone: „Ich habe jahrelang eine Scheinwelt aufrechterhalten. Jetzt habe ich mich davon befreit!“
Uli: „Im Leben gibt es immer wieder offene Türen. Man muss sie nur erkennen und hindurchgehen.“
Stefan: „Ich wollte einfach ein anderes Lebensgefühl haben, und das nicht nur im Urlaub.“
Alles andere als Luftschlösser – Alternative Wohnformen
Teil 2: Da geht noch was: Neuer Job, neues Business
Bist du schon das, was du immer werden wolltest?
Anton: „Ich habe meinen vermeintlichen Feind zum Freund gemacht – und bin sehr froh darüber.“
Annette und Tanja: Wir wollten eigentlich nie ein Unternehmen gründen. Das ist einfach so passiert.“
Ilona: „Misserfolge können dich nur stärken. Wenn du das geschafft hast, schaffst du noch viel mehr!“
Paul: „Warum sollte ich vorankommen, wenn ich schon genau da bin, wo ich sein will?“
Lass dich bloß nicht verunsichern!Das Bedenkenträger-Bullshit-Bingo
Gerda: „Eigentlich hatte ich ja schon meinen Traumjob. Sollte ich den einfach riskieren?“
Kerstin: „Bei der Berufswahl erzählt einem kein Mensch, wie schwierig die Work-Life-Balance wird …“
Siegfried: Geld ist nicht alles. Hauptsache, ich habe Spaß an der Arbeit – und kann wieder lachen!“
Sonja: „Das Worst-Case-Szenario hat mich nicht erschreckt. Notfalls hätte ich eben von vorn angefangen.“
Es muss nicht immer die Wunderkind-Karriere sein:Prominente Spätzünder, die Mut machen
Teil 3: Arabisch, Boxen, Cosplay? Neue Leidenschaften
Es muss nicht immer ein Kreuzworträtsel sein
Anke: „Das Laufen hat mich total verändert. Manchmal habe ich mich selbst überholt …“
Tanja: „Bisweilen muss man etwas machen, bevor man es sich leisten kann, sonst passiert es nie!“
Annette, Simone und andere Sportskanonen: „In unserem Alter weiß man einfach besser, wie man tickt – und was einem guttut“
Frank: „Wenn man aus purem Zufall eine neue Leidenschaft entdeckt, sollte man sie pflegen!“
Felix, Dagmar und andere Kreative: „Es ist einfach ein tolles Gefühl, mit den eigenen Händen etwas Schönes zu erschaffen.“
Barbara: „Afrika hat mir Gelassenheit geschenkt und mich selbstbewusster gemacht. Es hat mein Leben völlig verändert.“
Jan, Lara und mehr Sachenmacher: „Meine Lebensumstände ändern sich, also dürfen sich auch meine Hobbys ändern.“
Nachwort: Vom großen Glück, kein Wunderkind gewesen zu sein
Danke!
Literatur
Vorwort
Meine Großeltern, Udo Jürgens und ich
Erinnerst du dich an das Jahr 1977? Nicht so genau? Okay, dann helfe ich dir mal auf die Sprünge:
Damals wurde Jimmy Carter zum 39. Präsidenten der USA vereidigt, die „Landshut“ nach Mogadishu entführt und die letzte Dampflokomotive von der Deutschen Bundesbahn ausgemustert. ARD und ZDF präsentierten auf der Berliner Funkausstellung eine Innovation namens Videotext, die deutsche Erstausgabe von Stephen Kings Carrie erschien und Sylvester Stallone bekam einen Oscar für seine Hauptrolle in Rocky. Elvis Presley starb, Kronprinzessin Victoria von Schweden kam zur Welt … und ich wurde zwölf.
Zwölf!
Kein Kind mehr, aber noch weit davon entfernt, mich halbwegs erwachsen zu fühlen. Hätte man mich seinerzeit gefragt, wann das Leben richtig losgeht, hätte ich vermutlich geantwortet: Vielleicht so mit sechzehn – allerspätestens aber mit achtzehn.
Ja, ich war mir sicher: Dann endlich würden ganz aufregende Dinge passieren, die Welt stünde mir offen und ich hätte eine furchtbar spannende Zukunft vor mir.
Was ich dagegen nicht glaubte, war, dass das Leben erst im Rentenalter so richtig anfangen würde. Und doch landete Udo Jürgens mit dem Schlager Mit sechsundsechzig Jahren einen Riesenhit.
(Fun Fact: Der Künstler selbst war damals gerade mal Mitte vierzig. Mit anderen Worten: Uralt! Jedenfalls aus meiner Perspektive. Wenn man zwölf ist, sind alle über zwanzig halbe Greise. Und mit sechsundsechzig? Jenseits von Gut und Böse …)
Als großer Fan der Hitparade mit Dieter Thomas Heck („Und hier wieder aus dem Studio eins der Berliner Union …“) kannte ich den Song natürlich – war jedoch mit der Botschaft keineswegs einverstanden.
Nein, also was der gute Udo da singenderweise behauptete, konnte nicht so ganz stimmen. Zumindest die Zeile „Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an“ war definitiv Unsinn.
Andererseits kamen in seinem Hit ein paar Textpassagen vor, die vielleicht doch nicht so verkehrt waren. Zum Beispiel: „Mit sechsundsechzig Jahren, da hat man Spaß daran“ – ja, das konnte ich an meinen Großeltern durchaus beobachten.
Seit mein Opa in Rente war, reisten die beiden permanent durch die Weltgeschichte und waren gefühlt öfter unterwegs als zu Hause. Und wenn sie das dann doch mal waren, feierten sie. Anlässe gab es genug zwischen Neujahr und Silvester. An ihren Büttenreden feilte meine Oma meist schon Wochen vor Fastnacht und auf den Winterball fieberten die beiden ab Sommer hin. Dazwischen fanden Sommerfeste statt, außerdem Spieleabende, Ausflüge und natürlich (bei einem großen Freundeskreis ständig) Geburtstage.
Ja, wenn Udo Jürgens also sang „mit sechsundsechzig ist noch lange nicht Schluss“, dann musste er wohl meine Großeltern gemeint haben.
Auch dass man im Grunde nie zu alt ist, um noch etwas Neues
auszuprobieren, haben die beiden mir vorgelebt. Mein Opa war schon über siebzig, als er das Haus mit einer Zentralheizung ausstattete – ganz allein und ohne jemals eine entsprechende Ausbildung gemacht zu haben. Okay, er war Elektriker und handwerklich insgesamt sehr begabt, aber eben kein Fachmann. Doch das hat ihn nicht davon abgehalten, es auszuprobieren – und hinzubekommen! (Die Heizung funktioniert übrigens nach wie vor bestens, wie ich dir bestätigen kann, denn sonst würde ich jetzt ganz schön schnattern. Es ist Januar, draußen herrschen Minusgrade, aber in meinem Arbeitszimmer ist es mollig warm. Danke, Opa!)
Und meine Oma besuchte mit über fünfzig einen Schwimmkurs, was ich schon damals sehr beeindruckend fand. Zuvor hatte sie sich, während mein Opa seine Bahnen zog, ausschließlich im Nichtschwimmerbereich aufgehalten, wo sie den fürs Brustschwimmen typischen Armschlag andeutete und ein Bein nach hinten streckte, während sie auf dem anderen herumhüpfte, sodass es – wenn man nicht so genau hinsah – wirkte, als könnte sie es tatsächlich.
Mit diesem Trick war sie jahrzehntelang durchgekommen, doch damit sollte jetzt Schluss sein. Also besuchte sie einen Kurs, und auch wenn aus ihr keine zweite Franzi van Almsick wurde, schaffte sie es doch tatsächlich, aus eigener Kraft von einem Beckenrand zum anderen zu gelangen, ohne im tiefen Wasser unterzugehen. (Okay, nur quer durchs Becken, nicht längs, da wäre es vielleicht doch knapp geworden.)
Und das war doch ein Riesenerfolg, oder?
Es muss ja nicht immer ein Weltrekord sein. Wenn man das anstrebt, ist es nämlich auch mit zwölf schon viel zu spät, um anzufangen. (Doch das Leben als Wunderkind ist ja ohnehin nicht sonderlich erstrebenswert, ich bin heilfroh, dass mir das erspart geblieben ist.)
Will man dagegen einfach Spaß, dann ist es niemals für irgendetwas zu spät. Ist das nicht genial?
Du könntest also mit vierzig noch Medizin studieren, mit fünfzig auswandern und mit sechzig anfangen, Schach zu spielen. Na, wie wär’s?
Zugegeben – ich selbst gebe in Sachen lebensverändernde Entscheidungen eher ein langweiliges Beispiel ab. Ich bin seit dreiunddreißig Jahren mit demselben Mann verheiratet, pflege noch immer die Hobbys, die ich schon in meiner Kindheit toll fand, und bin seit drei Jahrzehnten nicht mehr umgezogen.
Okay, vor rund zehn Jahren – also mit Mitte vierzig – habe ich angefangen, Bücher zu schreiben. Für mich persönlich ein wahr gewordener Traum und damit durchaus eine große Sache, doch von außen betrachtet hat sich an meinem Alltag wenig geändert. Denn meine Bücher entstehen an demselben Schreibtisch, an dem ich seit 1996 sitze und Werbetexte verfasse.
Okay, meinen späten Durchbruch als Autorin findest du jetzt nur so mittelspannend? Da muss ich dir recht geben. Aber das Thema „Mitten im Leben neu durchstarten“ ist superspannend!
Deshalb habe ich mit allerhand Menschen gesprochen, deren Geschichte viel aufregender ist als meine – und das vor allem deshalb, weil sie sich in dem, was man gemeinhin „mittleres Alter“ nennt, dazu entschlossen haben, ihr Leben umzukrempeln.
Es hat mir riesengroßen Spaß gemacht, mit ihnen zu reden und ihre Geschichten zu Papier zu bringen – und ich hoffe, es macht dir ebenso großen Spaß, sie zu lesen und dich davon inspirieren zu lassen.
Hey, versteh mich nicht falsch: Niemand erwartet von dir, dass du deinen Wohnsitz ans andere Ende der Welt verlegst oder in deiner Freizeit wilde Tiere streichelst – aber ist es nicht großartig zu wissen, dass es möglich wäre?
Du könntest jederzeit alles verändern und ganz neu anfangen. Und sei es nur, indem du dir eine Blockflöte kaufst. (Gut, das würde dann vermutlich vor allem das Leben deiner Mitbewohner und Nachbarn nachhaltig verändern, aber du weißt, was ich meine, oder?)
Im Grunde ist es ganz so, wie ich als Zwölfjährige dachte: Die Welt steht uns offen. Allerdings nicht nur mit achtzehn, fünfundzwanzig oder dreißig, sondern solange wir leben.
Es ist unsere Entscheidung, ob wir offen für neue Dinge bleiben und noch etwas erleben wollen.
Und eins kannst du mir glauben: Solange wir das tun, sind wir nicht alt. Jedenfalls nicht so richtig.
In diesem Sinne: Bleib neugierig! Und viel Spaß beim Lesen!
Teil 1
Neue Lebenssituationen
Wohnst du noch dort oder lebst du schon anders?
Das Haus, in dem wir wohnen, ist das Geburtshaus meiner Oma. Sie hat hier bis zu ihrem Tod gelebt. Gibt es so etwas heute überhaupt noch? Ich vermute, eher nein. (Wäre das anders, könnte ich dieses Kapitel beenden, bevor ich es angefangen habe. Und glaub mir, es wäre schade drum.)
Aber viel mehr Abwechslung kann ich zum Thema Wohnsituation auch nicht bieten: In meinem Leben habe ich nur sechs Mal die Adresse geändert, davon zwei Mal als Kind und drei Mal im Studium. Und ausgewandert bin ich – im Gegensatz zu meinem Mann – schon gar nicht.
Das Aufregendste, was ich in dieser Hinsicht zu bieten habe, sind hausinterne Umzüge. Ja, wir tauschen gerne mal das Arbeitszimmer mit dem Schlafzimmer oder das Gästezimmer mit dem Büro oder … Im Grunde gibt es in unserem Haus keinen Raum, der nicht mindestens schon fünf unterschiedliche Funktionen hatte.
Nein, mich zieht es nicht in die Ferne. Ich mag die Gegend und die Menschen hier. Aber ich mag auch Menschen, die ihr Leben gerne mal vollkommen auf den Kopf stellen – und mir davon erzählen.
Übrigens: Wenn du deinen Wohnort (oder sogar dein Heimatland) wechseln müsstest, wohin würde es dich ziehen? Und warum? Und wenn du das so genau weißt, warum bist du noch nicht dort?
Lena und Tom
„Wir sind nicht zu alt für Abenteuer – und verschieben nichts auf irgendwann.“
Lena und Tom lernten sich Ende der Achtzigerjahre bei einem A-ha-Konzert in Hannover kennen. Dazu waren beide von weit her angereist – Lena kam per Zug aus dem Südwesten der Republik und Tom per Anhalter aus dem Nordosten, der damals noch sogenanntes Zonenrandgebiet war. Hätten sie sich beim wilden Tanzen zu You Are The One nicht gegenseitig angerempelt, hätten sie sich vermutlich nie kennengelernt.
„Es war Liebe auf den ersten Blick“, sagt Tom.
„Oder zumindest auf den zweiten“, ergänzt Lena. „Ich wäre verdurstet, hättest du mir nicht deine Apfelschorle geschenkt.“
„Und die Prinzessin verliebt sich schließlich immer in ihren Retter!“
Beide lachen. Sie sind ein gut eingespieltes Team. Tom gießt Kaffee nach, Lena geht zum Schrank und zieht ein Fotoalbum hervor, um es mir zu zeigen.
„Hier, diese Bilder entstanden an dem Tag des Konzerts. Selfies gab’s ja damals noch nicht, wir gingen in eine dieser Fotoboxen am Bahnhof, die eigentlich für Passbilder gedacht waren.“
Der Streifen besteht aus vier kleinen Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen sich ein junges Paar in eine enge Kabine drängt. Zuerst lachend, dann feixend. Auf dem dritten Bild halten sie die Konzerttickets vor die Kamera und auf dem letzten küssen sie sich.
Seither sind gut fünfunddreißig Jahre vergangen, doch es handelt sich eindeutig um das Paar, das mir jetzt gegenübersitzt. Die lange Mähne ist bei Tom zwar einem Ultrakurzhaarschnitt gewichen und Lenas Dreadlocks einem Pagenkopf, aber die Ähnlichkeit ist unübersehbar. Und, was besonders schön ist, sie wirken noch genauso verliebt wie damals.
Ihre Lovestory hört sich wunderbar unspektakulär an: Sie blieben nach dem Konzert erst in Briefkontakt und besuchten sich hin und wieder, dann zogen sie zusammen. In Marburg, weil das – mit dem Lineal gemessen – ungefähr auf halber Strecke lag. Zwei Jahre später heirateten sie und der erste Tanz als Brautpaar war kein Walzer, sondern ein ausgelassenes Gehopse zu You Are The One. Ihrem Lied.
Die Hochzeitsreise führte sie nach Norwegen, dem Heimatland der Band A-ha, der sie ihre Begegnung zu verdanken haben.
Tom, ein gelernter Schreiner und Restaurator, eröffnete einen Antiquitätenladen und Lena fand einen Job als Kindergärtnerin. Sie bekamen drei Söhne und eine Tochter. Sie bauten ein Haus in einem netten Vorort, in dem die Kinder unbeschwert aufwachsen konnten.
Barrierefreie Wohnung? Nein, danke!
Inzwischen haben alle vier das Nest verlassen. „Das Haus erschien mir in der ersten Zeit geradezu unheimlich still“, erzählt Lena.
Die ehemaligen Kinderzimmer haben sie unverändert gelassen – inklusive der Poster an der Wand. Sie standen meistens leer, außer an Weihnachten und bei anderen Gelegenheiten.
„Unsere Kinder wohnen alle im näheren Umkreis von Marburg, daher bleiben sie selten über Nacht“, sagt Tom. „Wir hätten die Räume umwidmen können, aber es gab bereits ein Gästezimmer und wir wollten schließlich kein Bed and Breakfast eröffnen. Uns wurde klar: Wir brauchten gar nicht so viel Platz.“
Daher kamen die beiden irgendwann auf die Idee, das Haus zu verkaufen und – schon im Hinblick aufs Alter – eine praktische Eigentumswohnung zu kaufen. Barrierefrei, mit Balkon, aber ohne Garten.
„Wir haben wirklich ernsthaft darüber nachgedacht und sogar schon einige Objekte besichtigt“, sagt Lena. „Einerseits kamen wir uns wahnsinnig vorausschauend und vernünftig vor, doch ganz geheuer war es mir dann doch nicht, schon jetzt für den letzten Lebensabschnitt zu planen. Wir dachten: Okay, immerhin sind wir beide Mitte fünfzig, fitter und gesünder wird man da nicht mehr. Aber andererseits sind das doch jetzt unsere besten Jahre!“
Das Haus war abbezahlt, die Kinder standen auf eigenen Beinen, Lena und Tom liebten ihre Jobs und genossen es, mehr Zeit füreinander zu haben.
Doch je konkreter die Pläne wurden, desto unwohler fühlten sich die beiden dabei.
„Es kam mir fast so vor, als würde ich meine eigene Beerdigung vorbereiten“, erklärt Tom. „Ich trainierte zu der Zeit gerade für meinen ersten Halbmarathon, Lena hatte mit einer Weiterbildung begonnen – wir standen ja noch mitten im Leben! Warum also in eine barrierefreie Seniorenwohnung umziehen?“
Allerdings war das große Haus auch nicht mehr das Richtige für sie. Sollten sie trotzdem darin wohnen bleiben?
„Die Idee kam uns bei einer Wanderung. Wir entdeckten ein wunderschön restauriertes altes Bauernhaus“, erinnert sich Lena, „und wussten beide: Genau das ist es! Wir mussten es gar nicht aussprechen, sondern schauten uns nur an. Und damit war die Entscheidung getroffen.“
Statt einer praktischen Eigentumswohnung suchten die beiden nun nach völlig anderen Objekten. Eine alte Mühle war in engerer Auswahl, sanierungsbedürftige Höfe und Fachwerkhäuser. Es wurde schließlich eine Bauernkate aus dem späten Mittelalter.
„Das Häuschen war in einem schlimmen Zustand, als wir es entdeckten“, sagt Lena und zeigt mir ein anderes Fotoalbum. „Aber wir hatten genug Fantasie, um uns auszumalen, in was für ein Schmuckstück wir es verwandeln würden.“
Und man brauchte wirklich jede Menge Vorstellungskraft, das wird mir klar, als ich die Fotos betrachte. Das Wort Bruchbude ist keineswegs übertrieben.
Einen Großteil der Sanierungs- und Umbauarbeiten konnten die beiden selbst erledigen. Fast zwei Jahre lang verbrachten sie jede freie Minute entweder auf der Baustelle oder im Baumarkt. Und sie liebten es!
„Es ist einfach toll, ein gemeinsames Projekt zu haben und für die Zukunft Pläne zu schmieden. Wir fühlten uns um Jahrzehnte jünger“, sagt Lena und lacht.
Dass sich der Umbau länger hinzog als gedacht, finden beide nicht schlimm. „Umso länger die Vorfreude“, sagt Tom. „Nur dass wir dann Hals über Kopf unser altes Haus verlassen mussten, weil wir einen Käufer fanden, der sofort einziehen wollte, brachte uns ein bisschen ins Schleudern.“
Sie ließen sich darauf ein, denn der Preis war mehr als fair und das Altbau-Projekt hatte sie gelehrt, auf Unvorhergesehenes flexibel zu reagieren. Bisher hatten sie für jedes Problem eine Lösung gefunden, so auch für dieses.
„Wir hatten ohnehin schon ganz viel ausgemistet, weil die Kate deutlich kleiner ist als unser Neunzigerjahre-Einfamilienhaus. Von dem, was wir behalten wollten, haben wir einiges eingelagert, der Rest steht jetzt hier in der Mietwohnung.“
Auf ins neue Zuhause
Darin sitzen wir nun, zwischen gepackten Umzugskisten, Fotoalben, Kaffee und Kuchen. Es ist ganz schön chaotisch und eine Frau Kondo bekäme mit Sicherheit keinen Happen herunter (und würde ganz schön was verpassen – Toms Apfelstreusel ist sensationell!), aber die beiden stört es kein bisschen und mich erst recht nicht.
In zwei Wochen steht der Umzug an. Bis auf wenige Feinarbeiten ist alles erledigt. Die beiden zeigen mir Fotos, die mich schier umhauen. Die heruntergekommene Kate ist kaum wiederzuerkennen. Alles wirkt hell, freundlich und modern, dabei dank des Holzbodens und der sichtbaren Balken unglaublich gemütlich.
„Ein Gästezimmer gibt es zwar nicht, aber um die Ecke liegt eine süße kleine Pension, in der unser Besuch jederzeit übernachten kann“, sagt Lena. „Wir haben bei der Raumaufteilung einfach nur an uns gedacht.“
Und zwar an die Menschen Tom und Lena, die ich gerade vor mir habe. Nicht an die eventuell kranke und pflegebedürftige Version, die sie vielleicht einmal sein werden.
„Wenn es so weit ist, ziehen wir eben wieder um. Aber jetzt wollen wir erst mal so leben, wie es uns gefällt“, sagt Tom. „Wer weiß denn schon, was die Zukunft bringt? Vielleicht fällt mir ein Ziegel auf den Kopf. Es kann jederzeit etwas passieren, was alles ändert. Aber wir haben einfach keine Lust mehr auf Kompromisse und darauf, alle Eventualitäten vorherzuplanen.“
Ich bin ganz schön beeindruckt. Im Moment leben – das ist ja ein Schlagwort, das voll im Trend liegt. Aber ich kenne niemanden, der es so konsequent umsetzt wie die beiden.
„Noch nie waren wir so wenig fremdbestimmt wie in dieser Lebensphase“, sagt Lena. „Erst waren es die Eltern, nach denen wir uns richten mussten, dann unsere Kinder – und die Umstände sowieso. Jetzt genießen wir die Freiheit, zu tun, was wir wollen!“
Auf den Umzug freuen sich die beiden wie Schneekönige. Auch wenn so etwas immer mit Stress und Arbeit verbunden ist. Aber das gehört eben dazu. Und die Kinder helfen beim Schleppen.
„Ich plane schon eine schöne Einweihungsfeier für die Großfamilie und liebe Freunde“, sagt Lena.
„Und danach geht’s erst mal auf in Richtung Nordkap“, ergänzt Tom. „Dahin wollten wir schon immer mal reisen. Und jetzt ist der richtige Moment dafür. Wir sind noch nicht zu alt für Abenteuer – aber alt genug, um zu wissen, dass man Träume nicht auf irgendwann verschieben sollte, sonst ist es vielleicht zu spät.“
Was für ein tolles Schlusswort! Ich glaube, ich mache gleich eine Liste der Dinge, die ich unbedingt mal erleben will …
Nadja
„Wenn der Ort cool ist, sind es die Menschen auch.“
Nadja lebt in Italien. Genauer gesagt nördlich von Mailand, unweit des Lago Maggiore.
Ein Traum, denkst du?
Ein Albtraum, findet Nadja! Deshalb will sie dringend da weg. Aber wie ist sie überhaupt dorthin geraten? Und warum gefällt es ihr in einer Region, wo viele begeistert Urlaub machen, so gar nicht? Ich meine – was spricht gegen charmante Bars und Cafés, mondäne Läden, enge Gässchen, Dolce Vita und einen herrlichen See vor Alpenpanorama?
„Die Leute haben einen Stock im Hintern“, bringt es Nadja auf den Punkt. „Es ist schwer bis unmöglich, Kontakte zu knüpfen oder gar Freundschaften zu schließen. Die Einheimischen interessieren sich nicht für Zugezogene, und Ausländern gegenüber sind sie schon gar nicht aufgeschlossen.“
Dabei kann man ihr wirklich nicht vorwerfen, es nicht versucht zu haben. Denn eigentlich hatte Nadja noch nie Probleme, Leute kennenzulernen. Ob in Hamburg oder Rom, im Engadin oder im Spreewald, überall, wo sie gewohnt hat, fand sie schnell Freunde, aber hier will es einfach nicht funktionieren.
„Die Leute sind sehr in ihren Großfamilien eingebunden und ihre Freunde kennen sie zumeist schon seit dem Kindergarten – sie brauchen einfach nicht noch mehr Kontakte.“
Du fragst dich, warum in aller Welt Nadja dann überhaupt dorthin gezogen ist?
Nun, die Antwort ist ein Klassiker: der Liebe wegen. Zusammen mit ihrem Partner war Nadja viel gereist, doch irgendwann beschlossen sie, sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen. Prompt fand er einen Job in Mailand und die beiden zogen in die Kleinstadt nördlich davon, wo auch seine Familie lebte.
„Als freiberufliche Grafikerin war es mir völlig egal, wo wir wohnten, Hauptsache, wir waren zusammen“, erzählt Nadja. „Ich war da wohl ziemlich blauäugig. Obwohl ich fließend Italienisch spreche und das Land gut zu kennen glaubte, tat ich mich mit der Mentalität sehr schwer. Norditalien ist nun mal nicht Sizilien. Und das konservative Kleinstadtmilieu macht das Ganze noch schlimmer.“
Doch bevor ihr das so richtig klar war, wurde sie auch schon schwanger und bekam einen Sohn. Als er sieben wurde, trennten sich Nadja und ihr Mann. Von da an hielt sie eigentlich nichts mehr dort – außer einer Sache.
„Ich wollte nicht, dass mein Sohn den Kontakt zu seinem Vater verliert. Er sollte auch nicht das Schulsystem wechseln müssen. Deshalb bin ich geblieben – und warte auf den wunderbaren Tag, an dem ich den Absprung machen kann.“
Hello again, Deutschland!
Das klingt jetzt so, als würde Nadja fürchterlich leiden. Na ja, ganz so schlimm ist es nun doch nicht. „Ich habe mich hier arrangiert“, gibt sie zu. „Das Lebensgefühl ist durchaus sehr italienisch und die Landschaft wunderschön, aber ich fühle mich einfach nicht zu Hause.“
Zwischendurch war sie kurz davor aufzugeben und den Sohn beim Vater zu lassen, aber dann hat sie es doch nicht durchgezogen. „Ich habe gemerkt, dass ich ihm das nicht antun konnte – er brauchte mich einfach noch. Mein Kind war mir doch wichtiger“, sagt Nadja.
Nun, sehr lange muss sie nicht mehr durchhalten – bald legt ihr Sohn seine Maturaprüfung ab, zu Deutsch: Er macht sein Abitur. Danach verlässt er sein Zuhause, um voraussichtlich in der Schweiz zu studieren, und auch Nadja hält dann nichts mehr in der norditalienischen Provinz.
Ihr Plan: „Ich will zurück nach Deutschland ziehen“, sagt sie. „Das ist ein lang gehegter Plan, der mich seit meiner Scheidung aufrechterhält.“ Und nun kann sie ihn endlich verwirklichen.
Wohin genau sie will? Tja, diese Entscheidung kann sie sehr autonom treffen. Sie ist ungebunden und arbeitet freiberuflich – theoretisch könnte sie das von überall auf der Welt aus tun, wo es Strom und Internet gibt.
Aber Nadja will ja nicht irgendwohin – sie verbindet den Umzug mit der Hoffnung auf ein besseres Dasein. Ein Leben nach ihren Interessen, Werten und Vorstellungen. Deshalb hat sie sich genau überlegt, was sie will – und was auf keinen Fall.
Beginnen wir mit dem Ausschlussverfahren:
Zurück in die fränkische Provinz? No way!
Tja, ihre Eltern hätten sich vermutlich sehr gefreut, wenn sie sich dafür entschieden hätte, dorthin zurückzukehren, wo sie aufgewachsen ist. Aber das kommt für Nadja nicht infrage. „Ich will da nicht leben. In dieser winzigen, katholischen Spießerstadt habe ich schon die ersten achtundzwanzig Jahre meines Lebens verbracht, das genügt.“
Stattdessen will sie lieber etwas Neues kennenlernen. Es gibt doch so viele interessantere Städte!
Apropos interessante Städte: Wie wär’s mit Berlin?
An sich keine schlechte Idee. Nadja hat sehr viele Bekannte in der Hauptstadt, einsam würde sie sich dort garantiert nicht fühlen. Aber sie winkt ab. „Berlin ist mir zu groß, zu kaputt, zu anstrengend. Man wird ja auch nicht jünger. Für einen Besuch ist Berlin großartig, aber dort leben möchte ich nicht.“
Okay, es soll eine lebendige, moderne Stadt sein – aber nicht gerade die größte des Landes. Dann vielleicht die zweitgrößte?
Hamburg wäre ein Traum – aber ein unbezahlbarer
Nadja kennt Hamburg sehr gut, sie hat vor Italien ein paar Jahre lang dort gewohnt, hat noch viele Freunde da und liebt diese Stadt. Also das perfekte Ziel für sie?
„Leider sind die Mietpreise in den letzten Jahren regelrecht explodiert. In den attraktiven Vierteln ist es mir einfach zu teuer. Und die Stadtteile, in denen ich mir die Miete leisten könnte, sind so weit außerhalb, dass die Vorteile der Großstadt kaum noch zu spüren sind.“
Nachdem Nadja die naheliegendsten Ziele ausgeschlossen hatte, überlegte sie, wie ihre Traumstadt eigentlich aussehen müsste. Nicht zu provinziell, nicht zu großstädtisch, nicht zu teuer – so viel stand schon mal fest. Und es kamen noch weitere Kriterien hinzu:
Ein Muss: Kultur
Nadja ist sehr kunstaffin, Kultur ist ihr enorm wichtig, vor allem ein gewisses Maß an alternativer Kultur. Sie wünscht sich die Möglichkeit, auch selbst aktiv zu werden, etwas auf die Beine zu stellen, etwa Kurse zu geben.
Auf meine Frage, ob sie es sich nicht schwierig vorstellt, in einer Stadt neu anzufangen, in der sie keine Menschenseele kennt, erwidert sie: „Wenn die kulturelle Szene meinen Vorstellungen entspricht, werde ich ganz automatisch Leute treffen, mit denen ich mich gut verstehe und die ebenfalls im kreativen Bereich arbeiten. Daraus werden dann von selbst gemeinsame Projekte und auch Freundschaften entstehen.“
Normalerweise zieht man ja eher dahin, wo man Leute kennt. Nadja dagegen ist sicher, in einer coolen Stadt wird sie garantiert nicht einsam sein. Eine interessante Perspektive – und eine schöne, mutige, wie ich finde.
Ebenfalls ganz wichtig: die Infrastruktur
Nadja kann sich nicht vorstellen, irgendwo zu leben, wo es keine Geschäfte oder schönen Bars und Cafés gibt. „Ich bin ein absoluter Stadtmensch“, sagt sie. „Am liebsten möchte ich mitten im Zentrum zu Hause sein und, wenn ich aus der Tür trete, mindestens fünf gute Cafés in fünf Minuten Laufweite haben.“
Okay, in dieser Hinsicht kann sie sich an ihrem derzeitigen Wohnort nicht beklagen. Aber Cafés alleine genügen eben nicht, um sie glücklich zu machen …
„Ich langweile mich schnell“, sagt Nadja. „Eine Stadt sollte vor allem interessant und vielfältig sein. Ich brauche immer Input und neue Erlebnisse.“
Ich frage mich, ob es so eine Stadt, von der sie träumt, tatsächlich gibt. Zumal das ja noch gar nicht alle Anforderungen waren …
Wenn’s perfekt sein soll: Wasser, bitte!
Ihre Traumstadt soll am Wasser liegen, das ist Nadja ganz wichtig. „Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, irgendwo zu leben, wo es kein Wasser gibt. Und damit meine ich nicht irgendeinen Fluss, sondern richtig viel Wasser – zumindest einen größeren See, am besten das Meer!“
Die Nähe zum Lago Maggiore gehört zu den wenigen Dingen, die ihr an ihrem jetzigen Wohnort gefallen.
„Ich liebe es, am Ufer entlangzulaufen. Das entspannt ungemein. Meistens ist es dort, wo Wasser ist, auch landschaftlich schön. Ich finde auch, dass Städte am Wasser eine andere Atmosphäre haben. Sie sind entspannter, weltoffener.“
Oh, das kann ich sehr gut verstehen. Gibt es etwas Schöneres, als einfach nur aufs Meer zu gucken?
Grau ist alle Theorie?
Ich kann Nadjas Gedankengänge absolut nachvollziehen – dennoch erscheint es mir zumindest sehr ungewöhnlich, den Ort, an dem man künftig leben will, nach rein theoretischen Erwägungen auszuwählen. Kann so etwas überhaupt funktionieren?
Nadja ist sich da ganz sicher – sie ist bei Entscheidungsfindungen schon öfter so vorgegangen. Neulich zum Beispiel war sie auf der Suche nach einem neuen Parfum. Statt sich durch zig Duftproben zu schnüffeln, hat sie alles darüber gelesen, was sie im Internet fand. Anhand der Online-Parfüm-Beschreibung entschied sie sich am Ende für Jil Sander Style – einen Duft, der ihr nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch ausgesprochen gut gefällt.
Fragt sich nur: Wie heißt das Jil Sander Style unter den deutschen Städten?
And the winner is … Lübeck!
Nachdem Nadja gründlich über ihre Kriterien nachgedacht und die Städte, die größenmäßig ins Profil passten, darauf überprüft hatte, kristallisierte sich ein unangefochtener Favorit heraus: Lübeck zeichnet sich durch bezahlbare Mieten, die Nähe zum Meer (und zu Hamburg) sowie eine interessante Kulturszene aus. Und schön ist die Hansestadt mit der jahrhundertelangen Geschichte und den 217.000 Einwohnern sowieso.
„Ich bin sicher, dort werde ich mich wohlfühlen“, erklärt Nadja, „zumal ich die Mentalität der Nordlichter sehr mag. Oft heißt es ja, sie seien abweisend oder verschlossen, aber das finde ich gar nicht. Nirgendwo schnackt man so viel wie in Norddeutschland. Da geht man nur zum Bäcker zum Brötchenholen, und dann redet man eine halbe Stunde mit der Verkäuferin, die man noch nie im Leben gesehen hat, aber total nett findet.“
Obwohl sie ein richtig gutes Gefühl hat, wird sie natürlich nicht umziehen, ohne die Stadt wenigstens einmal besucht zu haben. „Sobald ich mal wieder in Deutschland bin, werde ich eine Woche in Lübeck verbringen. Wenn sich mein Eindruck, den ich online gewonnen habe, bestätigt, ist der Umzug beschlossene Sache.“
Oh, ich zweifele nicht daran, dass es Nadja gefallen wird – sie ist nicht die Erste in meinem Bekanntenkreis, die ihren Wohnsitz ans Holstentor verlegt hat, und niemand von ihnen hat diese Entscheidung bereut …
Auch Nadja schätzt ihr persönliches Risiko sehr gering ein. Was soll schon passieren? „Wenn es mir in Lübeck nicht gefällt, ziehe ich eben weiter. Es ist ja nicht in Stein gemeißelt, dass ich da auf ewig bleiben muss.“
Davor, eventuell keinen Anschluss zu finden und einsam zu sein, hat sie keine Angst. „Das wird schon nicht passieren. Und selbst wenn mir in Lübeck mal die Decke auf den Kopf fällt, dann fahre ich eben nach Hamburg und besuche meine Freunde, die dort leben.“
Das Leben nach eigenen Kriterien leben
Während die meisten Menschen ihren Wohnort entweder nach den Menschen auswählen, die sie dort kennen, oder wegen einer Arbeitsstelle, geht Nadja also genau umgekehrt vor.
„Ich könnte das gar nicht anders entscheiden“, sagt sie. „Was hätte ich davon, wenn ich irgendwo einen Job und Freunde hätte, aber die Stadt total blöd fände?“
Nun hat sie als Freiberuflerin natürlich den Vorteil, bei der Arbeit ortsungebunden zu sein. Aber auch wenn sie das nicht wäre, würde sie eher in ihrer Wunschstadt gezielt nach einem Job suchen als andersrum. „Das habe ich einmal gemacht, und das ist schiefgegangen. Ich bin meinem Mann dorthin gefolgt, wo er Arbeit fand, um dort für immer glücklich und zufrieden zu leben. Doch dann ist die Ehe zerbrochen, unser Kleinfamiliending hat nicht funktioniert. Ich saß an einem Ort fest, an dem ich eigentlich gar nicht sein wollte, und guckte dumm aus der Wäsche.“
Aber natürlich ist ihr klar, dass das nur ihre persönlichen Erfahrungen sind – und jeder hat andere Prioritäten. Während für Nadja die Mietpreise, die Kultur und die Nähe zum Meer wichtig waren, sind es für dich vielleicht die Anzahl der Buchhandlungen, das Fahrradwegenetz und die Qualität der Schulen? Oder sind es womöglich die Karrierechancen in einer bestimmten Branche, die medizinische Versorgung und die Nähe zu einem Flughafen?
Wo würdest du leben wollen, wenn du ganz nach deinen persönlichen Vorlieben entscheiden könntest? Spannendes Gedankenspiel, oder?
Zur Inspiration: Die zehn lebenswertesten Städte der Welt …
Kennst du das internationale Städte-Ranking der Economist Intelligence Unit? Dieses Unternehmen, das sich auf Prognose und Beratung spezialisiert hat und dazu alle möglichen Wirtschaftsdaten analysiert, veröffentlicht alljährlich eine Liste der lebenswertesten Städte der Welt – den Global Liveability Index. Dabei spielen Aspekte wie Infrastruktur, Gesundheitsversorgung, Bildung, Stabilität sowie Kultur und Umwelt eine Rolle. Hier sind die Top Ten des Jahres 2021:
Platz 1: Auckland
Die neuseeländische Metropole punktet vor allem in Sachen Bildung und mit ihrer schnellen Eindämmung der Pandemie. Überhaupt hat Corona das Ranking stark beeinflusst – so hat es Wien, der Spitzenreiter von 2018 und 2019, gar nicht mehr unter die zehn lebenswertesten Städte geschafft.
Platz 2: Osaka
Noch vor der Hauptstadt liegt die drittgrößte Stadt Japans, und das in erster Linie wegen ihrer Bestnoten in den Kategorien Gesundheitsversorgung und Stabilität. Leider liegt auch Osaka nicht gerade um die Ecke …
Platz 3: Adelaide
… und das gilt ebenso für die südaustralische Küstenstadt. Sie verdankt ihr gutes Abschneiden übrigens der hohen Punktzahl für Gesundheit und Bildung.
Platz 4: Wellington und Tokio
Die Hauptstädte von Neuseeland und Japan teilen sich diesen Rang. Während Wellington besonders mit Bildung glänzen konnte, waren es bei Tokio die Stabilität und das Gesundheitswesen. Bei Kultur schnitten beide eher schlecht ab – was aber auch für fast alle anderen Städte gilt, Corona sei Dank.
Platz 6: Perth
Und wieder Australien! Die Stadt an der Mündung des Swan River in den Indischen Ozean gilt als eine der isoliertesten Städte der Welt – denn die nächstgelegene größere Stadt (Adelaide) liegt über 2000 Kilometer entfernt! Das nenn ich mal Einsamkeit. Dennoch ergatterte Perth im Ranking gleich drei Bestnoten – jeweils für Gesundheitsversorgung, Bildung und Infrastruktur.
Platz 7: Zürich
Endlich eine europäische Metropole in den Top Ten, und immerhin sogar eine deutschsprachige! Das hat die 400.000-Einwohner-Stadt am Zürichsee vor allem ihrem Gesundheitssystem zu verdanken. Wäre es in erster Linie nach dem Bildungswesen gegangen, hätte das Ergebnis deutlich schlechter ausgesehen.
Platz 8: Genf und Melbourne