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Leonie möchte unbedingt mit ihrer Clique nach Spanien fliegen. Meer, Party, Zelten - das ist die perfekte Gelegenheit, um ihrem großen Schwarm Daniel näherzukommen. Doch Leonie hat die Rechnung ohne ihre Eltern gemacht, die sie auf keinen Fall in den spanischen Partyurlaub ziehen lassen möchten. Stattdessen soll die 17-Jährige nach Agadir zu den Verwandten ihres marokkanischen Vaters geschickt werden - für Leonie klingt das wie ein schlechter Scherz. Was soll sie denn auf der falschen Seite des Mittelmeers, so weit entfernt von ihrem Angebeteten? Erst als ihre beste Freundin Maja ganz begeistert von der Idee ist, Leonie in das arabische Land zu begleiten, willigt sie halbherzig ein. Nicht ahnend, dass den Freundinnen der wohl aufregendste Sommer ihres Lebens bevorsteht...
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Seitenzahl: 282
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ISBN 978-3-649-62016-7 (eBook)
© 2014 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise
eBook-Produktion: book2look Publishing 2014
ISBN 978-3-649-61762-4 (Buch)
Buch © 2014 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,
Hafenweg 30, 48155 Münster
Text: Heike Abidi
Umschlaggestaltung: Ute Kleim, unter Verwendung
eines Motivs von © Azat 1976/www.shutterstock.com
Lektorat: Christina Grams, Katharina Kavermann, Sara Mehring, Antje Winkler
www.coppenrath.de
Sind wir jetzt zusammen?
Erde an Leonie, Erde an Leonie – pennst du schon oder schmachtest du noch?«, flötet mir eine helle Stimme ins Ohr und bringt mich zurück auf den Boden der Tatsachen. Genauer gesagt in den Nachtbus Richtung Weststadt. Und die helle Stimme gehört Maja, meiner besten Freundin, der ich einfach nicht böse sein kann, auch wenn sie gerade die herrlichsten Träume unterbricht und mir dabei sogar noch mit spitzem Zeigefinger in den Oberarm pikst.
»Ich bin hellwach«, behaupte ich, und das ist nicht einmal gelogen, denn zum Träumen muss man schließlich nicht unbedingt schlafen. Im Gegenteil, es ist sogar viel besser, dabei wach zu bleiben, denn dann kann man wenigstens das Drehbuch bestimmen. Und in meinem Script dreht sich alles nur um einen Superhelden: Daniel!
Daniel, der mit seiner blonden Wuschelmähne aussieht wie Brad Pitt, als der noch jung und knackig war.
Daniel, der erst seit ein paar Monaten an unserer Schule ist und für den seitdem alle Mädchen schwärmen, selbst die aus der Unterstufe – und vielleicht sogar die eine oder andere Referendarin.
Daniel, der nicht nur ein Einser-Abi anpeilt, sondern auch den Sprung in die U19-Nationalmannschaft der Basketballer. Oh ja, er ist groß. Seeehr groß. So groß, dass einem beim Küssen ein klein wenig der Nacken wehtut.
Aber ach, was für ein angenehmer Schmerz das doch ist! Den habe ich gern in Kauf genommen, vorhin bei der Oberstufen-Sommerparty. Denn das ist die große Nachricht des Tages: Daniel hat mich geküsst! Hach …
»Okay, Süße, ich muss aussteigen«, reißt mich Maja schon wieder aus den Gedanken. »Bis Montag, schlaf gut!«, sagt sie noch, drückt mir einen fetten Schmatzer auf die Wange und verschwindet zum Hinterausgang des Busses.
»Du auch«, rufe ich ihr hinterher. Ein bisschen plagt mich das schlechte Gewissen, weil ich sie heute Abend mehr oder weniger links liegen gelassen habe. Aber hey – als beste Freundin versteht sie das, wetten?
Deal mit mir selbst: Wenn sie sich gleich noch mal zu mir umdreht, ist alles okay.
Der Bus hält und Maja steigt aus. Durch das leicht beschlagene Fenster sehe ich noch, wie sie mir fröhlich zuwinkt, und ich winke zurück. Sie wirkt kein bisschen beleidigt! Uff. Dann wendet sie sich um, und ihre Gestalt, die mich immer ein wenig an die Penny aus The Big Bang Theory erinnert, nur mit ein paar Kilos mehr auf den Rippen, verschwindet um eine Hausecke.
Für einen kurzen Moment denke ich nicht an den Kuss, sondern daran, dass ich mich wirklich glücklich schätzen kann, Maja zur Freundin zu haben, und das schon seit einer halben Ewigkeit. Damals drehte sie eine Ehrenrunde, wiederholte die siebte Klasse und wurde meine Banknachbarin. Keine Ahnung, wie ich ohne Maja die Mittelstufe überstanden hätte! Sie war es, die mir mit einer Engelsgeduld die binomischen Formeln so erklärt hat, dass ich sie halbwegs kapierte und in der Arbeit immerhin eine Vier schrieb. Sie war es auch, die mir gezeigt hat, wie man sich aus nervigen Zickenkriegen heraushält, und die mir erfolgreich eingeredet hat, ich sähe auch trotz Megapickel am Kinn aus wie Robin in How I Met Your Mother, mit dem Unterschied, dass ich Locken habe und braune anstelle von grünen Augen.
Ja, wir sind schon ein klasse Team – eine rundliche Penny und eine wuschelhaarige Robin. Oder wie Maja zu sagen pflegt: Wir sind die Originale, die Fernsehstars sind doch bloß unsere mageren und glatt geföhnten Doppelgängerinnen.
Ohne Maja hätte ich wohl auch den aufregendsten Moment meines Lebens verpasst, denn eigentlich wollte ich heute lieber zu Hause bleiben. Ein bisschen chillen, ein bisschen Musik hören, einfach mal nichts tun. Hey, das hab ich mir verdient! Schließlich habe ich vorher fünf Abende am Stück geschuftet.
»Darf’s noch ein Dessert sein?« – »Vorsicht, das Lamm ist sehr heiß!« – »Haben Sie schon gewählt?« – »Dort drüben wird gleich ein Tisch frei!« – »Das macht dann dreiundfünfzig achtzig, zahlen Sie bar oder mit Karte?«
Ja, man hat’s nicht leicht als einzige Tochter zweier Restaurantbesitzer, auch wenn man dadurch quasi im Schlaraffenland aufwächst. Denn so ein Schlaraffenland macht ganz schön viel Mühe, und wenn man darin arbeitet, bekommt man Plattfüße, Rückenschmerzen und obendrein jede Menge dummer Fragen zu hören: »Kann ich das Couscous mit Reis bekommen statt mit Weizengrieß?« – »Warum steht denn kein Schweineschnitzel auf der Karte?« – »Wie groß ist denn ein nullfünfer Bier?«
Oh ja, dieser Job kostet ganz schön viel Schweiß und Nerven, und besonders anstrengend ist es, dabei auch noch freundlich zu bleiben und »Natürlich können Sie auch Reis haben!« zu sagen, anstatt stöhnend zu erklären, dass Couscous ohne Weizengrieß ungefähr so paradox ist wie ein Schnitzel ohne Fleisch – oder wie ein Schweinefleischgericht auf einer orientalischen Speisekarte. Und wer nicht weiß, wie viel ein halber Liter ist, dem ist eh nicht mehr zu helfen …
Wie komme ich da jetzt drauf?
Ach so, ja. Wegen Maja. Weil sie mich davon abgehalten hat, heute Abend zu faulenzen, obwohl ich mir einen Couchabend redlich verdient hätte.
»Stell dich nicht so an«, hat sie gemeint, »du bist doch noch nicht hundert!«
»Arbeite du erst mal so hart wie ich«, habe ich empört widersprochen und mir damit ein gepflegtes Eigentor geschossen. Denn während ich nur ab und zu im Marrakesh Nights aushelfe, arbeitet Maja fast täglich. Sie hat sogar gleich mehrere Jobs – trägt Zeitungen aus, geht für Senioren einkaufen, gibt Nachhilfeunterricht und fotografiert für ein Stadtmagazin. Fotografieren ist ihre große Leidenschaft. Wie auch immer: Irgendwie schafft sie all diese Jobs mit links. Liegt wohl daran, dass sie mit superwenig Schlaf auskommt – ganz im Gegensatz zu mir. Wenn man mich ließe, bliebe ich bis kurz vorm Mittagessen im Bett. Leider orientiert sich das deutsche Schulsystem mit seinen Unterrichtszeiten nicht an meinem Biorhythmus …
»Reiß dich mal zusammen und komm mit«, hat Maja mich angefeuert, »die Stufenparty wird garantiert legendär.« Tja, und damit hat sie tatsächlich recht behalten.
Dabei sah es zuerst gar nicht so aus. Auf der Party trieben sich auffällig viele Lehrkräfte herum – wandelnde Stimmungskiller. Offiziell wollen sie »den Umsatz ankurbeln«, wie sie immer behaupten, denn bekanntlich werden diese Veranstaltungen vor allem organisiert, um ordentlich Kohle zu machen für die Abifeier im nächsten Jahr. Inoffiziell sind die Party-Pädagogen natürlich als Schnüffler unterwegs – und somit als Spaßbremsen.
Dagegen gibt es nur ein wirksames Rezept: Bowle. Besser gesagt: Gratis-Bowle. Darauf fahren sie alle ab. Und nach ein paar Gläsern ist selbst der strengste Pauker plötzlich richtig verständnisvoll und hält den berühmten Wir-waren-schließlich-auch-mal-jung-Monolog.
Naja, auf jeden Fall ist dann Daniel aufgetaucht. Ich hatte gar nicht damit gerechnet, ihn dort zu sehen, denn als disziplinierter Supersportler meidet er sonst eigentlich allzu ausgelassene Partys. Mein Herz hat sofort einen Riesensatz gemacht, als ich seinen Blondschopf entdeckte. Verdammt, sah er mal wieder gut aus! Weiße Jeans, weiße Sneakers, hellblaues Hemd, braun gebrannt, durchtrainiert und so was von lässig! Ich hätte wer weiß was drum gegeben, von ihm ein Lächeln zu bekommen oder wenigstens irgendwie beachtet zu werden. Doch erst einmal ist nichts passiert. Er hat sich ein Bier geschnappt – natürlich ein alkoholfreies, wer würde schon so einen Luxusbody mit Drogen vergiften? – und mit seinen Basketball-Kumpels gequatscht.
Dass um ihn herum alle Mädchen wie auf Knopfdruck den Bauch einzogen, die Brust rausstreckten, aufreizend mit dem Po wackelten, den Kopf neckisch schief hielten und eine Haarsträhne um den Finger wickelten, schien er überhaupt nicht wahrzunehmen.
Na ja, wenn er mich eh nicht registriert, kann ich derartige Balzbemühungen ebenso gut bleiben lassen, dachte ich mir und entspannte mich. Maja zog mich auf die Tanzfläche, wo wir ausgelassen zu Katy Perry abrockten.
Danach war mir heiß, und ich bin mit einem Glas Wasser rausgegangen, um mich abzukühlen.
Das mit dem Abkühlen hat dann allerdings nicht geklappt, denn plötzlich stand Daniel so dicht neben mir, dass meine Temperatur eher in Richtung Fieber anstieg.
»He, Fräuleinchen – das hier ist die Endhaltestelle! Wollen Sie etwa im Bus übernachten?«
Oops! Ich habe völlig verpeilt, dass ich hier aussteigen muss.
»Bin schon weg«, beeile ich mich zu rufen und springe auf. Wenig später laufe ich durch die milde Sommernacht. Es sind nur zwei Straßen bis nach Hause. Im Biergarten des Marrakesh Nights ist noch einiges los. So viel Betrieb herrscht nur an Wochenenden, an denen es in Deutschland tropisch heiß ist und man fast glauben könnte, das Restaurant stünde tatsächlich in Nordafrika. Also durchschnittlich etwa drei bis zehn Mal im Jahr. Und heute ist so ein Tag. Ma und Pa hätten meine Hilfe bestimmt gut gebrauchen können. Aber für kein Trinkgeld der Welt hätte ich auf das verzichtet, was ich stattdessen erlebt habe! Und ich bin fest entschlossen, sofort wieder in den Schwärm-und-Schmacht-Modus zu verfallen, sobald ich mein Zimmer erreicht habe. Aber vorher muss ich unauffällig an zwei Menschen vorbeikommen, die die NSA geradezu harmlos erscheinen lassen: Miriam und Latif Madouni. Meine Eltern.
»Da bist du ja endlich, Leonie!«, kommt dann auch gleich die befürchtete mütterliche Begrüßung. »Du könntest mir rasch noch beim Abkassieren helfen. Oder die Theke übernehmen, was dir lieber ist. Sophie ist schon weg und allein ist es die Hölle heute.«
Na klasse. Ma schafft es mal wieder, so zu tun, als ließe sie mir eine Wahl.
Kurz überlege ich noch, ausführlich zu gähnen und die Ich-bin-zu-müde-zum-Arbeiten-Nummer abzuziehen, aber darauf fällt sie bestimmt nicht rein. Und Pa, der für meine Tricks eher empfänglich ist, scheint noch in der Küche zu sein. Außerdem wäre es wirklich fies, Ma im Stich zu lassen. Schlimm genug, dass die studentische Aushilfe so rücksichtslos war, pünktlich Feierabend zu machen. Also ergebe ich mich in mein Schicksal – das Weiterträumen muss warten.
»Ich kassiere ab«, entscheide ich. Wenigstens winkt dabei etwas Trinkgeld.
Dankbar gibt mir Ma einen Kuss, überreicht mir Geldbeutel und Kassenschlüssel und verschwindet hinter der Theke. Ich muss grinsen. Mit ihrer hellen Porzellanhaut, den rotblonden Haaren und den himmelblauen Augen passt sie in das orientalische Ambiente des Marrakesh Nights ungefähr so gut wie ein Eisvogel in die Wüste. Wenn es wirklich stimmt, dass sich Gegensätze anziehen, dann sind meine Eltern das perfekte Beispiel dafür.
Genau wie Daniel und ich …
Es dauert noch eine gute Stunde, bis sich das Restaurant endlich so weit geleert hat, dass Ma und Pa allein klarkommen und ich durch die Tür mit der Aufschrift »Privat« verschwinden kann. Müde, aber mit immerhin siebzehn Euro Trinkgeld in der Tasche, steige ich die Treppe hinauf zu unserer Wohnung. Die liegt zwar direkt über dem Marrakesh Nights, ähnelt dem Tausendundeine-Nacht-Stil des Restaurants aber kein bisschen. Hier gibt es keine verzierten Lampen, keine bemalten Keramikteller an den Wänden, keine Fliesen mit orientalischen Ornamenten und keine Teppiche mit verschnörkelten Mustern. Alles hier ist hell und modern gehalten. Eindeutig die Handschrift meiner Mutter. Sie steht auf Glas, Licht, Chrom und klare Linien. Ehrlich gesagt kommt mir Pa in dieser Umgebung manchmal mindestens so fehl am Platz vor wie Ma hinter der Theke. Mit seinen schwarzen Locken, den dunklen Bartstoppeln, dem hellbraunen Teint und seinem gemütlichen Kugelbauch wirkt er immer, als hätte er sich nur zufällig in diesen Raum verirrt. Doch der Anschein täuscht: Pa fühlt sich hier, wie er immer wieder betont, pudelwohl. Genauer gesagt: so wohl, dass ich nur dann die Chance auf einen Platz auf dem Sofa habe, wenn er nicht da ist.
Jetzt zum Beispiel wäre so ein Moment. Aber ich habe keine Lust, noch aufzubleiben. Auch auf das Entspannungsbad, mit dem ich mich eigentlich für die ungeplante Spätschicht belohnen wollte, verzichte ich lieber. Immerhin ist es schon halb zwei. Zeit, ins Bett zu gehen – und mich endlich wieder ganz der Erinnerung an den aufregendsten Moment des heutigen Abends hinzugeben.
Mein Bett ist der perfekte Ort zum Träumen. Pa hat es für mich unter der Dachschräge eingebaut wie eine Schiffskoje. An den Seitenwänden sind Bücherregale montiert, und direkt über dem Kopfende gibt es ein Dachfenster, das mir den Blick in den Nachthimmel freigibt.
Ich verzichte auf kosmetischen Schnickschnack, putze nur die Zähne und flechte meine langen Locken zu einem Zopf, damit sie morgen früh nicht komplett verfilzt sind. Dann krieche ich in meine Koje. Es gibt auf der ganzen Welt keinen gemütlicheren Ort!
Meine Arme um mein großes Kuschelkissen geschlungen, schließe ich die Augen und stelle mir vor, das Kissen wäre Daniel. Auch wenn der sich definitiv muskulöser anfühlt, kommt die Erinnerung sofort wieder, als hätte ich einen Film zurückgespult …
Erneut stehe ich mit einem Glas Wasser vor der Tür, während drinnen die Stufenfete weitergeht und Maja mit den anderen jetzt auf einen Song von Justin Timberlake tanzt. Und wieder taucht Daniel plötzlich so dicht neben mir auf, dass mir noch viel heißer wird, als mir ohnehin schon ist.
»Was für eine herrliche Nacht«, sagt er leise und ich spüre seinen warmen Atem an meinem Ohr. »Viel zu schade, um drinzubleiben.«
Ein paar andere sehen das offensichtlich genauso. Die Plätze auf der Terrasse sind voll besetzt, von dort dringen Gelächter und Gesprächsfetzen zu uns. Doch Daniel hat eine viel bessere Idee.
»Das Beste, was ich mir jetzt vorstellen kann, ist ein kleiner Spaziergang mit einer schönen Frau«, flüstert er. »Hast du Lust?«
An dieser Stelle stoppe ich den Film in Gedanken und spule ein Stück zurück:
»… ein kleiner Spaziergang mit einer schönen Frau. Hast du Lust?«
Und noch mal:
»… mit einer schönen Frau. Hast du Lust?«
Ich kann das einfach nicht oft genug hören, selbst wenn es nur das Echo seiner Worte ist, das mir mein Gedächtnis vorgaukelt.
Was dann kam, war allerdings noch viel besser, deshalb starte ich den imaginären Lovestory-Film erneut:
»Hast du Lust?«
Obwohl ich einen Frosch im Hals habe und nicht in der Lage bin zu antworten, legt Daniel seinen Arm um mich. Mit zittrigen Knien gehe ich mit ihm hinunter zum Fluss. Er liegt nur ein paar Schritte entfernt von dem hippen Vereinshaus des Ruderclubs, in dem wir unsere Party feiern dürfen, weil der Vater unseres Stufensprechers der Vereinsvorsitzende ist.
Daniels Arm auf meinem Rücken löst leichte Stromstöße aus, ich atme flach und würde mich nicht wundern, wenn ich gleich in Ohnmacht fiele. Doch stattdessen schwebe ich weiter – mein Kreislauf ist offenbar stabiler als befürchtet.
Mit jedem Meter wird die Geräuschkulisse aus Musik und Stimmen leiser, und als wir wenig später eng umschlungen am Ufer stehen, sind da nur noch wir beide. Alles andere habe ich völlig ausgeblendet. Oder besser gesagt: Das Rauschen des Blutes in meinen Ohren übertönt alles.
»Du bist mir gleich aufgefallen, Lea«, flüstert Daniel.
Ähm – ich muss mich wohl verhört haben!
Wahrscheinlich dämpfen meine Wuschelhaare seine Worte. Er hat inzwischen sein Gesicht darin versenkt, während eine Hand unter meinem T-Shirt dazu übergeht, mir die Stromstöße nun ohne dämpfende Stoffschicht zu verpassen.
Oder hat er mich tatsächlich Lea genannt?
Unwichtig. Ich spule diese Stelle einfach nicht zurück, obwohl mir die Sache mit dem »gleich aufgefallen« ausgesprochen gut gefällt.
»Hmmm, das fühlt sich heiß an«, wispert er, als er mit der anderen Hand über meinen Po tastet. »Machst wohl viel Sport, so wie ich, oder?«
»Hm«, antworte ich. Stimmt ja auch fast. Ich liebe Sport. Aber nur just for fun. Inlineskating macht mir Spaß, Beachvolleyball ebenfalls, genauso Schwimmen und Tanzen – aber nur zur Entspannung. Was mir völlig abgeht, ist jeglicher Ehrgeiz. Ich habe noch nie im Leben an irgendeinem Wettkampf teilgenommen, wenn man von den Bundesjugendspielen absieht. Planmäßiges Training wird früher oder später zu freudloser Schinderei, und was daran verlockend sein soll, ist mir ein Rätsel. Wozu sich quälen nur für eine Urkunde, einen Pokal oder eine Medaille? Ist doch vollkommen witzlos. Nein, ich bin eine überzeugte Spaßsportlerin. Aber das muss ich dem Leistungssportler Daniel ja nicht gleich auf die Nase binden. Hauptsache, meine Figur macht ihn an …
»Ach, Lea«, seufzt er, und diesmal sind keine Locken im Weg, die einen Hörfehler erklären würden. Es besteht kein Zweifel: Daniel kennt meinen Namen nicht. Aber hey – immerhin ist er relativ neu an unserer Schule! Und das hier ist unser erstes Gespräch überhaupt. Ein Wunder, dass er immerhin so ungefähr weiß, wie ich heiße.
»Leonie, nicht Lea«, will ich ihn gerade korrigieren, doch in diesem Moment treffen seine Lippen auf meine, und für die nächsten fünf Minuten bin ich weder dazu in der Lage noch daran interessiert, irgendetwas zu sagen. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt weiteratme.
Okay – im Moment atme ich ganz eindeutig. Und zwar heftig. So sehr wühlt mich die Erinnerung an den Kuss auf. Man könnte fast meinen, ich wäre bis heute ungeküsst gewesen. Was natürlich völliger Humbug ist, immerhin bin ich siebzehn und keine Nonne. Aber meine bisherigen Knutscherfahrungen waren eher lästig als berauschend – irgendwie zu nass, zu hektisch, zu anstrengend, zu ZU.
Ich werfe mich auf die andere Seite und noch immer halte ich das Daniel-Kissen fest umklammert. Mein Gedächtnis steht auf Repeat, und vor meinem inneren Auge läuft ungefähr die zwanzigste Wiederholung dieser Kussszene, die ich inzwischen in- und auswendig kenne. Aber sie wird mir nicht langweilig, oh nein, ganz und gar nicht! Daniels Lippen sind so weich, seine Hände so zärtlich, sein Körper ist so stark, sein Geruch so männlich … und seine Kusstechnik erst! Weltmeisterlich. Wenn Dauerküssen eine offizielle Sportart wäre, könnte ich mich womöglich doch für intensives Work-out erwärmen. Aber nur mit Daniel als Trainingspartner.
Aber halt – meine Gedanken preschen schon vor in Richtung Zukunft. Dabei ist die Wiederholung der Szene am Flussufer noch gar nicht abgeschlossen. Ich habe das Ende ein klein wenig hinausgezögert. Na gut, mehr als nur ein klein wenig. Aber jetzt muss ich da wohl durch.
Seufzend drücke ich wieder den imaginären Startknopf. Und schon passiert es: Drrrrrrringggg!
Daniels Handy hat den klassischen Retro-Klingelton. Wenigstens hat er keinen Songtitel ausgewählt, den ich nicht ausstehen kann. So was kann voll abturnen. Wobei – auch das Drrrrrrringggg wirkt in diesem Augenblick ziemlich abturnend. Jedenfalls führt es dazu, dass der unglaublichste Kuss meines bisherigen Lebens abrupt endet.
Ohne zu zögern, nimmt Daniel das Gespräch an, sagt ein paarmal »hm« und »ja klar«, dann steckt er das Handy wieder in die Hosentasche und streicht mir lässig über den Kopf. »Sorry, Lena, ich muss dringend los. Man sieht sich, ja?« Und weg ist er.
Auf weitere Wiederholungen dieser Szene habe ich definitiv keine Lust. Viel lieber würde ich sofort vergessen, wie ich so allein und verloren am Flussufer stand und ihm stumm hinterherglotzte, während ich zu ignorieren versuchte, wie er mich genannt hatte. Ich meine: Lena ist wenigstens schon näher dran als Lea. Immerhin ist da ein N drin. Fehlt nur noch ein kleines, unbetontes O und eine winzige Änderung am Ende. Vielleicht hab ich mich ja auch verhört.
Schon gut, nein: Ich hab mich nicht verhört. Aber wozu so kleinlich sein? Daniel mag vielleicht ein schlechtes Namensgedächtnis haben, aber na und? Ist das etwa ein Charakterfehler? Ich meine – ohne diese kleine Schwäche wäre er schlichtweg perfekt und das würde uns Normalos doch bloß einschüchtern.
Dabei war ich auch so schon eingeschüchtert genug, nachdem Daniel wie ein entfesselter Gefühlswirbelwind über mich hinweggefegt war. Tatsächlich stand ich mindestens eine Viertelstunde wie angewurzelt da, bevor ich schleppenden Schrittes wieder in Richtung Clubhaus schlich. Halb paralysiert von Daniels überwältigender Knutschattacke, halb erschüttert von seinem plötzlichen Verschwinden.
In diesem Zustand entdeckte mich Maja. »Da bist du ja, ich habe dich schon überall gesucht!«, rief sie erleichtert, als hätte akute Entführungsgefahr bestanden. »Unser Bus fährt gleich, wir müssen los.«
Maja ist wirklich ein Schatz! Unser Bus – das hat sie nur mir zuliebe gesagt. Denn eigentlich hätte sie so lange bleiben können, wie sie wollte. Schließlich ist sie schon achtzehn und damit volljährig. Außerdem sind ihre Eltern wesentlich gechillter als meine. Na ja, ihr Vater ist schließlich kein Marokkaner in permanenter Angst, die Ehre seiner Tochter könne in Gefahr sein …
Gut, ich will fair bleiben. Sooo übertrieben superstreng ist Pa gar nicht. Für einen Araber könnte man ihn sogar als einigermaßen cool bezeichnen. Aber er besteht nun mal darauf, dass ich vor Mitternacht zu Hause bin. An Wochenenden, wohlgemerkt. In der Woche schon um zehn. Und aus unerfindlichen Gründen ist Ma da ganz seiner Ansicht.
»Süße, du kannst doch noch bleiben«, sagte ich, aber davon wollte Maja nichts hören. »Ach, ohne dich ist es eh nur halb so lustig. Außerdem muss ich morgen früh raus. Zeitungen austragen.«
Auch wenn ich mich vielleicht wiederhole: Maja ist die beste Freundin, die man sich vorstellen kann. Jede andere hätte garantiert nachgefragt, was mit mir los sei. Warum ich aussah, als hätte ich einen Geist gesehen, und was in aller Welt mit meiner Frisur passiert sei. Vorhin hatte ich noch einen streng nach oben gekämmten Pferdeschwanz getragen, den Ma als Springbrunnen bezeichnet. Jetzt war das Haargummi in den Nacken gerutscht und bändigte nur einen Teil meiner Locken – der Rest hing wirr herab. Rasch ordnete ich meine Frisur notdürftig. Auch das ließ Maja unkommentiert. Sie ist einfach nicht neugierig. Kein bisschen. »Wenn du mir etwas erzählen willst, wirst du das bestimmt von selber tun, wozu also sollte ich dich nerven?«, hat sie mir irgendwann einmal erklärt. Bewundernswert, echt! In dieser Hinsicht ist sie fast eine Heilige. Vor allem im Vergleich zu mir, denn ich bin irrsinnig neugierig. Ja, das gebe ich offen zu. Ich bin neugierig. Na und? Jeder hat schließlich irgendeine Schwäche. Oder zwei.
Wie auch immer – ich wusste, dass Maja sofort gecheckt hat, dass ich eine, sagen wir mal, besondere Begegnung hatte. Vielleicht hat sie Daniel sogar noch weggehen gesehen und ihre Schlüsse gezogen. Daher auch ihre Bemerkung zum Thema »schmachten« im Bus. Aber sie würde mich nie danach fragen. Stattdessen wartet sie geduldig, bis ich so weit bin, ihr davon zu erzählen. Ja, Präsens, Gegenwart. Denn darauf wartet sie wohl noch immer. Statt mich ihr sofort anzuvertrauen, habe ich nämlich bisher die Klappe gehalten. Schweigend gingen wir zur Haltestelle, schweigend warteten wir auf den Nachtbus, schweigend fuhren wir, bis Maja aussteigen musste. Ich träumte von Daniel und sie wahrscheinlich von einer Freundin, die weniger geheimnistuerisch ist als ich.
Aber hey, ich war doch selbst noch viel zu verwirrt, um darüber reden zu können! Und ich bin immer noch verwirrt. Superverwirrt sogar. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Vor allem habe ich keine Ahnung, was Daniels »Man sieht sich« zu bedeuten hat. Heißt das einfach nur: »Wir werden uns wohl oder übel in der Schule über den Weg laufen und dann werde ich dir vielleicht zuzwinkern«? Oder bedeutet es: »Bei nächster Gelegenheit machen wir genau an der Stelle weiter, an der wir eben aufgehört haben«?
Ich bin so verdammt durcheinander!
Und das ist auch kein Wunder. Schließlich bin ich siebzehn, über beide Ohren verknallt – und so gut wie entschlossen, dass es höchste Zeit ist, meinen Status »noch immer Jungfrau« demnächst zu ändern. Denn tief in mir drin habe ich das Gefühl, dass Daniel dafür genau der Richtige ist.
Aber will er das auch?
Und überhaupt: Sind wir jetzt zusammen, oder wie?
Gefühls-Achterbahn
Ich bin todmüde, als ich am Montagmorgen in unsere Küche schlurfe. Wie immer bin ich vor meinen Oldies auf. Die bleiben meistens bis neun oder zehn Uhr in den Federn. Sei ihnen auch gegönnt, immerhin arbeiten sie bis in die frühen Morgenstunden. Mir täten noch ein paar Stunden Ruhe auch ganz gut. Am liebsten hätte ich mein Handy an die Wand gefeuert, als es mich vorhin weckte. Endlich war ich mal eingenickt. Doch dann hab ich mich aus dem Bett gequält. Noch drei Schultage – da muss ich durch. Außerdem werde ich ihn heute wiedersehen. Als mir das einfiel, hielt mich nichts mehr in meiner Koje.
Noch im Halbschlaf bereite ich mir einen Sojamilchmalzkaffee mit Honig zu. Klingt übrigens schräger, als es schmeckt. Ich finde diese Kombi jedenfalls lecker. Und koffeinfrei ist mein Standard-Frühstücksgetränk außerdem – echter Kaffee macht mich eh viel zu hibbelig. Wobei mir heute eine Hallowach-Dosis nicht schaden würde … Kein Wunder, nach zwei fast schlaflosen Nächten. Mannomann, Liebe kostet eine Menge Energie! Wie wird das erst, wenn aus Fantasie Realität wird? Nicht auszudenken.
Gestern hätte ich immerhin Gelegenheit gehabt, tagsüber den verpassten Nachtschlaf nachzuholen, schließlich war Sonntag. Stattdessen habe ich abwechselnd auf mein Handy und mein Facebook-Profil gestarrt, in der Hoffnung, etwas von Daniel zu hören oder zu lesen. Natürlich vergeblich. Wie auch? Er kennt meine Nummer nicht, und wenn er sich bei seinen Freunden nach einer gewissen Lea oder Lena erkundigt, wird sicher so schnell niemand auf mich kommen. Natürlich hätte ich ihm eine Freundschaftsanfrage schicken können, aber das sähe ja aus, als liefe ich ihm hinterher. Kommt gar nicht infrage!
Okay, ich geb’s zu: Ich war ungefähr fünfundachtzig Mal kurz davor, genau das zu tun, aber dann habe ich jedes Mal an Maja und ihre Engelsgeduld gedacht und beschlossen, mir daran ein Beispiel zu nehmen. Wenigstens bis heute will ich warten. Alles kommt darauf an, wie er mich begrüßt, wenn wir uns in der Schule sehen. Wird er mich liebevoll umarmen? Händchen haltend mit mir über den Hof schlendern? Mich zur Begrüßung küssen?
Ich trinke einen Schluck und schließe die Augen, um mir meine Lieblingsszene vorzustellen – die, in der Daniel strahlend auf mich zuläuft, ich in seine Arme falle und er mich übermütig im Kreis herumwirbelt, bis wir beide wie verrückt lachen müssen und leicht benommen ins Gras sinken, wo er mich zärtlich küsst und überglücklich »Oh, Leonie« wispert. Hach!
Verzückt öffne ich meine Augen wieder, doch dann fällt mein Blick auf eine Broschüre, die mir sofort die Laune vermiest: Die schönsten Campingplätze im Schwarzwald steht da, und das sagt ja wohl alles. Camping! Im Schwarzwald! Wochenlang zu dritt in einem beengten Wohnmobil – das klingt nach Horror pur … Einen blöderen Plan hätten meine Eltern wohl kaum aushecken können. Man könnte fast glauben, sie hätten sich zum Ziel gesetzt, mir die Sommerferien unter allen Umständen gründlich zu vermiesen. Aber nein, die Oldies meinen das völlig ernst und sind davon überzeugt, dass es dort traumhaft ist! »Natur pur, ohne Stress, mildes Klima und das alles quasi vor der Haustür«, hat mir Ma gestern vorgeschwärmt. Natürlich habe ich versucht, ihr das Ganze auszureden. Aber die Broschüre auf dem Tisch zeigt mir, dass Ma ihre Pläne nicht aufgeben will. Unsäglich. Dabei ist sie doch noch gar nicht so alt. Keine Ahnung, warum sie daherredet wie eine Tattergreisin. Schwarzwald! Also ehrlich … Das geht ja gar nicht! Es sei denn, Daniel wäre in der Nähe. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass übermorgen eine Eins in Mathe in meinem Zeugnis steht, ist wohl größer, als dass jemand wie Daniel seinen Urlaub in einem schnarchigen Rentnerparadies verbringt.
Meine geheime Hoffnung ist, dass er gar nicht verreist und jeden sonnigen Tag im Schwimmbad oder am Baggersee verbringt. Wo ich ihm meine durchaus ansehnliche Bikinisammlung vorführen könnte – und natürlich meine vom Spaßsport wohlgeformte Figur. Wir würden gemeinsam Beachvolleyball spielen, uns bei jedem gewonnenen Punkt umarmen, und wenn unsere Körper zu verschwitzt wären, würden wir uns ins kühle Wasser stürzen, um darin verliebt herumzutollen …
Ich muss meine Eltern unbedingt davon überzeugen, dass ich alt genug bin, um allein daheim zu bleiben, wenn sie schon unbedingt ins Land der Langeweile und der Kuckucksuhren fahren wollen. Gestern habe ich schon mal so was angedeutet, von wegen, es wäre doch für ihre Paarbeziehung auch cool, einmal wieder zu zweit zu verreisen. Aber Ma meinte nur, mit ihrer Paarbeziehung wäre alles easy, und sie würde lieber noch mal einen gemeinsamen Urlaub mit mir genießen, bevor ich zum Mitfahren endgültig zu erwachsen wäre.
Auf welchem Planeten lebt diese Frau eigentlich? Ich bin siebzehn und damit längst zu erwachsen für so was!
Und überhaupt: Kann mir mal jemand erklären, was am Campen so toll sein soll? Ich fand das schon immer einfach nur nervig. Neulich ist mir eine Pro- und Kontra-Liste in die Hände gefallen, die ich vor Jahren mal aufgestellt hatte:
Was doof ist am Campingurlaub:
Eklige Gemeinschaftsduschen
Keine Privatsphäre (Pa schnarcht!!!)
Alles viel zu eng (ich muss mein Bett wegklappen, damit Platz für den Frühstückstisch entsteht, wäääh)
Blöde Gemeinschaftsaktivitäten mit nervigen Stellplatznachbarn
Im Wohnwagen ist es entweder viel zu heiß oder viel zu kalt
J
Keine Spülmaschine, kein DVD-Player, keine Wii
Leben wie in der Steinzeit macht keinen Spaß!!!
Was cool ist am Campingurlaub:
Nix!
Tja, und daran hat sich leider nicht das Geringste geändert. Auch nicht die Tatsache, dass Ma und Pa weiterhin vollkommen begeistert von diesem »Aussteigen auf Zeit« sind, wie sie es nennen. »Dabei kann man so wundervoll entschleunigen«, findet Ma, und das Einzige, was ich daran nachvollziehen kann, ist, dass einem dabei die Zeit unendlich lang vorkommt. Mit anderen Worten: ein Albtraum.
»Meine Eltern haben sowieso keine Kohle für Urlaub«, versucht mich Maja zu trösten. Wir sitzen wie jeden Morgen vor der Schule auf der Treppe, die vom Schulhof zum Sportplatz führt. Hier ist man einigermaßen ungestört. Die Wahrscheinlichkeit, dass nervige Unterstufenschüler einen umrennen, ist relativ gering, und auch die Aufsicht treibt sich selten hier herum.
Für einen Moment schäme ich mich dafür, dass ich Maja die Ohren volljammere, denn seit ihr Vater arbeitslos ist und ihre Mutter den Job gekündigt hat, um die schwer kranke Oma zu pflegen, müssen die Kellers jeden Cent dreimal umdrehen. Andererseits ist mein Schicksal auch kein leichtes. Ich sage nur: Schwarzwald.
»Dann kommen sie wenigstens nicht auf die Idee, dich zu einem Seniorenurlaub zu zwingen«, beharre ich störrisch. In Sachen Urlaub würde ich liebend gerne mit Maja tauschen, auch wenn sie sich ihr komplettes Taschengeld selbst verdienen und auf vieles verzichten muss. Kino, Klamotten, Konzerte – so etwas ist einfach nicht drin bei ihr. Zumal sie fast alles für ihre Fotoausrüstung ausgibt. Das ist ein echter Tick von ihr. Mir jedenfalls reicht mein Smartphone, damit habe ich schon echt tolle Schnappschüsse geknipst. Aber ich will ja auch keine Profi-Fotografin werden.
»Deine Eltern haben nun mal einen stressigen Job und brauchen Erholung. Da träumt man eben von einem möglichst unspektakulären Urlaub.«
»Ohne mich!«, schnaube ich.
»Vielleicht geschieht ja noch ein kleines Wunder«, versucht Maja, mich aufzumuntern. Das mag ich so an ihr: Sie ist eine unverbesserliche Optimistin! Ganz gleich, was passiert, sie sieht das Ganze immer irgendwie positiv.
Gerade will ich antworten, dass dazu eher ein Riesenwunder passieren müsste, da erstarre ich. Er kommt: Daniel! Den Rucksack lässig über eine Schulter geschwungen, die andere Hand cool in der Tasche seiner Jeans, läuft er geradewegs auf mich zu.
Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott!
Was sage ich bloß? Schnell, mir muss eine witzige Begrüßung einfallen! Vielleicht irgendeine, die zu dem Spruch auf seinem T-Shirt passt? Keep smiling steht da. Ja, das ist gut: »Wenn ich dich sehe, kann ich gar nicht aufhören zu smilen«, könnte ich sagen. Nee, das ist albern. Vielleicht: »Keep kissing«? Nein, zu offensiv. Es ist wohl doch am besten, wenn ich ihn einfach anstrahle. Genau das mache ich auch.
Er nähert sich, ich lächele, er geht weiter, ich lächele breiter, er geht … an mir vorbei. Ohne mein Lächeln zu erwidern.
Hallo? Was war denn das bitte?
Mein bestürzter Gesichtsausdruck bringt Maja zum Kichern. »Sorry, dein Blick war wirklich zu komisch«, japst sie. »Erst hast du geguckt, als hättest du gerade von einem Megalottogewinn erfahren, und dann, als wäre dir eingefallen, dass du das Los gar nicht abgegeben hast.«
»Glücksspiel ist erst ab achtzehn erlaubt«, erwidere ich tonlos.
»Mensch, Leonie, das war ein Vergleich. Was ist denn nur los mit dir? Ist etwas passiert?«
»Daniel«, seufze ich. »Daniel ist passiert.«
Fünf Minuten später habe ich Maja auf den aktuellen Stand der Dinge gebracht.
»Er hat dich bestimmt nicht erkannt«, meint sie nachdenklich.
»Nicht erkannt? Du spinnst wohl! Ich seh aus wie immer!«
»Tust du nicht. Erstens hattest du am Samstagabend bei der Party einen hohen Pferdeschwanz, keinen Ballerinaknoten im Nacken. Zweitens hattest du einen heißen Minirock an und ein enges Shirt. Und drittens siehst du heute aus wie ausgespuckt. Etwas weniger Schwärmerei und dafür mehr Schlaf hätten dir gutgetan.«
»Du redest schon wie deine Mutter. Schlafen kann ich, wenn ich alt bin oder tot. Außerdem gibt es Models, die ihre komplette Karriere auf diesem Look aufbauen. Denk nur an Kate Moss. Ihr ganzer Ruhm basiert darauf, dass sie immer ein bisschen müde, krank und fertig aussieht. Das ist hip!«
»Du bist Leonie Madouni, nicht Kate Moss. Bei dir sieht das einfach nur scheiße aus.«
Hatte ich mal behauptet, Maja sehe alles immer positiv? Scheint nicht ganz zu stimmen. In diesem Fall sieht sie die Sache … leider völlig objektiv, wie ich zugeben muss, denn Maja zerrt mich in die Mädchentoilette und zwingt mich, in den Spiegel zu schauen.
Grundgütiger! Ich biete ja wahrhaftig einen schlimmen Anblick! Fahle Gesichtsfarbe, müder Blick, dazu ein verwaschenes T-Shirt (das war eben das erste, das mir heute früh in die Finger kam) und eine Hose, die nicht eng genug ist, um meine Figur zu unterstreichen, aber auch nicht weit genug, um cool zu sein.
»Ihr müsst euch nicht auf dem Klo verstecken«, mischt sich Melina ein, während sie sich am Waschbecken nebenan die Hände wäscht. »Bio fällt aus, die ersten zwei Stunden haben wir also frei. Ein paar von uns gehen ins Café, kommt ihr mit?«
»Lieb von dir«, gibt Maja zurück, »aber wir haben schon was anderes vor.«
»Haben wir das?«, frage ich verwirrt, nachdem Melina abgezischt ist.
»Und ob«, grinst Maja. »Wir stylen dich und ziehen dir was Vernünftiges an!«