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Seit Gaviero Maqroll und der Libanese Abdul Bashur vor Jahren in Port Said das erste Mal miteinander Geschäfte gemacht haben, verbindet die beiden Männer eine unverbrüchliche Freundschaft. Immer wieder kreuzen sich ihre Wege. Den rastlosen und ehrenhaften Abdul Bashur treibt die Sehnsucht nach dem Schiff seiner Träume, der er um die halbe Welt folgt. Dabei werden er und Maqroll vorübergehend Millionäre, transportieren mit einem Fährschiff muslimische Pilger nach Mekka, begegnen einer Inkarnation des Bösen und verlieren beinahe ihr Leben. Und nicht zuletzt sind es die Frauen – oder besser die eine Frau –, die ihre Spuren auf Abdul Bashurs Lebensweg hinterlassen.
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Seitenzahl: 249
Den rastlosen und ehrenhaften Abdul Bashur treibt die Sehnsucht nach dem Schiff seiner Träume um die halbe Welt. Dabei werden er und Maqroll vorübergehend Millionäre, transportieren mit einem Fährschiff Pilger nach Mekka und verlieren beinahe ihr Leben. Und nicht zuletzt sind es die Frauen, die ihre Spuren auf Abdul Bashurs Lebensweg hinterlassen.
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Álvaro Mutis (1923–2013) verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Brüssel, kehrte jedoch jedes Jahr nach Kolumbien zurück. Das Land ist die Inspirationsquelle seines Schreibens. Seit 1956 lebte der Autor in Mexiko. 2001 wurde er mit dem Premio Cervantes geehrt, 2002 mit dem Neustadt-Literaturpreis.
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Peter Schwaar (*1947) studierte Germanistik und Musikwissenschaft, war Redakteur und ist seit 1987 freiberuflich tätig als Übersetzer u. a. von Tomás Eloy Martínez, Carlos Ruiz Zafón, Zoé Valdés und Adolfo Bioy Casares.
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Álvaro Mutis
Abdul Bashur und die Schiffe seiner Träume
Roman
Aus dem Spanischen von Peter Schwaar
Die Abenteuer und Irrfahrten des Gaviero Maqroll
E-Book-Ausgabe
Unionsverlag
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Die Originalausgabe erschien 1991 bei Editorial Norma, Kolumbien.
Die Übersetzung aus dem Spanischen wurde unterstützt durch die Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. in Zusammenarbeit mit der Kulturstiftung PRO HELVETIA.
Ein Band im Zyklus der Maqroll-Romane: Der Schnee des Admirals, Ilona kommt mit dem Regen, Ein schönes Sterben, Die letzte Fahrt des Tramp Steamer, Das Gold von Amirbar, Abdul Bashur und die Schiffe seiner Träume, Triptychon von Wasser und Land.
Originaltitel: Abdul Bashur, soñador de navíos
© by Álvaro Mutis 1991 und seinen Erben
© by Unionsverlag, Zürich 2024
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Peter Aschoff (Unsplash)
Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz
ISBN 978-3-293-31068-1
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Cover
Über dieses Buch
Titelseite
Impressum
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Inhaltsverzeichnis
ABDUL BASHUR UND DIE SCHIFFE SEINER TRÄUME
I – Damals arbeitete ich bei einem großen internationalen Erdölkonzern …II – Wie Maqroll und Bashur sich in Port Said …III – Es ist mir nicht gelungen, Abdul Bashurs Begegnung …IV – Der Moment ist gekommen, das Ereignis zu schildern …V – Wie auch immer, als sie in Vancouver eintrafen …VI – Die Richtung von Abduls Leben sollte sich sehr …VII – Und so schaffte es Bashur, wieder aufzutauchen und …VIII – Unter den letzten Papieren, die mir Maqroll aus …Dialog in Belém do ParáEpilogMehr über dieses Buch
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Über Peter Schwaar
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Leopoldo Mutis hörte, kurz bevor er uns verließ, mit Interesse vom Projekt dieses Buches, und sagte mit einer Stimme, die nicht mehr von dieser Welt war: »Sehr schön. Das ist nur recht und billig gegenüber Abdul.«
Years, years spent pouring words
we couldn’t fathom. Only through death
we speak in honest fashion.
Peter Dale, »He Addresses Himself to Reflection«
Monody shall not wake the mariner.
This fabulous shadow only sea keeps.
Hart Crane, »At Melville’s Tomb«
Seit Langem trage ich mich mit dem Vorhaben, einige Episoden aus dem Leben von Abdul Bashur zusammenzustellen, dem langjährigen Freund und Komplizen des Gaviero und Mitbeteiligten in etlichen der Unternehmungen, bei denen sich Maqroll regelmäßig in Gefahr brachte. In vielen davon spielte Bashur den Retter, indem er Maqroll mit der listigen Geduld, die einen der vorherrschenden Züge des levantinischen Charakters bildet, aus kritischen Situationen erlöste. Nun habe ich beschlossen, diese immer wieder auf unbestimmte Zeit verschobene Aufgabe des Chronisten endlich anzugehen. Der Grund dafür hat sich aus einem für das Auf und Ab und die zahllosen Überraschungen im Leben des Gaviero bezeichnenden Ereignis ergeben.
Als ich, unterwegs nach Saint-Malo, wo ich an einem Treffen von Freunden teilnehmen wollte, deren Ziel es ist, die Tradition der Abenteuer- und Reisebücher hochzuhalten, in Rennes umsteigen musste, verpasste ich den Anschluss und musste auf den nächsten Zug warten, der mich zu dem berühmten bretonischen Hafen bringen würde. Es fiel eisiger Dauerregen, sodass ich beschloss, mich nicht aus dem Bahnhofwartesaal wegzurühren und ein Buch von Michel Le Bris über das mittelalterliche Okzitanien zu lesen. Diese Säle sind auf der ganzen Welt gleich. Eine Niemandslandstimmung, der heruntergekommene Ausschank, wo man uns den bewussten dünnen, undefinierbar nach Verlassenheit schmeckenden Kaffee und die widerlichen Schnäpse der Region mit ihrem ziemlich unwahrscheinlichen Farbton und Aroma anbietet, der Kiosk mit den mehrere Wochen alten Zeitungen und Zeitschriften, die keine Beachtung mehr finden, da ihre Meldungen und die belanglosen, blassen Lokalbilder veraltet sind. Die Tourismusplakate an den Wänden empfehlen immer Kurorte mit einem Beigeschmack von Krankheit und Dekadenz oder zeigen verschneite Gipfel mit nichts sagenden Namen, die nicht im Geringsten zur albernen Großtat ihrer Besteigung laden. Die Fahrgäste auf den stets harten, wackligen Bänken warten so schicksalsergeben auf ihren Zug, als hätten sie jede Hoffnung aufgegeben, die Nacht zu Hause zu verbringen. Alle fügen sich in das, was geschieht, was immer es sei.
Auf einmal sagte jemand meinen Namen, in einer Ecke des Saals, wo ein Gasofen vergeblich gegen Kälte und Feuchtigkeit ankämpfte. Ich sah nicht, wer es war, und trat neugierig und zugleich verdrießlich näher, beunruhigt, dass mich im Bahnhof von Rennes, wo ich noch nie zuvor gewesen war, jemand kannte. Neben dem Ofen saß, einen etwa zehnjährigen Jungen in den Armen, eine Frau, die noch immer die Anmut der Frauen des Nahen Ostens zeigte, und lächelte mir schüchtern und ein wenig ängstlich zu. Ihre Gesichtszüge, der Akzent, etwas in ihren Bewegungen lösten auf dem Grund meines Gedächtnisses eine Welle verschwommener Erinnerungen aus.
»Ich bin Fatima. Fatima Bashur. Erinnern Sie sich nicht? Wir haben uns in Barcelona gesehen, als ich das Geld brachte, um Maqroll aus dem Gefängnis zu holen«, sagte sie halb lächelnd, halb betrübt. Ich beugte mich nieder, um sie auf die Wangen zu küssen, und setzte mich dann neben sie, während ich eilig irgendeine Entschuldigung murmelte, dass ich sie nicht gleich erkannt hatte.
Fatima Bashur. Warum muss der Zufall so oft den Tonfall eines bestürzenden Rufs der Götter annehmen? Die ganze Episode unserer Begegnung kam mir in den Sinn, mit der ungeordneten Hast dessen, was wir dem Vergessen überantwortet haben, um das labile Gleichgewicht unserer Tage zu wahren. Tatsächlich war Fatima, Abduls jüngere Schwester, mit der Summe in Barcelona erschienen, die ihr Bruder schickte, um die Kosten eines Prozesses zu bestreiten, der Maqroll den Gaviero beinahe für lange Jahre hinter Gitter gebracht hätte. Als er im kleinen Hafen von L’Escala eine Ladung Waffen und Sprengstoff löschte, die in Ersatzteilkisten für eine Fischkühlanlage versteckt waren, erschien, zweifellos im Voraus von einem Denunzianten benachrichtigt, die Hafenpolizei. Abdul und Maqroll hatten den Transport der Ladung mit einem Paar vereinbart, das angeblich seine Flitterwochen in Tunis verbrachte. In Wirklichkeit gehörten sie zu einer Anarchistenbande, deren Aktionszentrum damals Barcelona war. Seit längerem hatten sie die Fahrten des zypriotischen Frachters verfolgt, den die beiden Freunde auf dem Mittelmeer betrieben, und kamen zum Schluss, diese seien die idealen Figuren, um die Ladung an die Costa Brava zu bringen. Bashur war als Geisel in Bizerte geblieben. Als die Beschlagnahme des Schiffs mitsamt Maqroll und der Ausrüstung bekannt wurde, war das Paar wie vom Erdboden verschwunden. Bashur reiste nach Beirut ab und kratzte dort so viel zusammen, wie er konnte, um seinen Partner zu retten, der vor der spanischen Polizei darauf beharrte, einem Betrug zum Opfer gefallen zu sein und nicht gewusst zu haben, was die Kisten wirklich enthielten, die er nach L’Escala gebracht hatte. Aus berechtigter Vorsicht beschloss Abdul, eine seiner Schwestern zu schicken, anstatt selbst zu fahren, und übertrug die Mission Fatima, deren Ernst und Ausgeglichenheit aufs Beste zu dieser Aufgabe passte. Abdul hatte drei Schwestern: Yamina, schon verheiratet und mit einem Sohn, der an einer seltsamen, von den Ärzten beharrlich als Leukämie diagnostizierten Krankheit litt; Fatima, damals noch ledig, deren heitere, etwas zurückhaltende Anmut im ersten Moment jeweils kaum beachtet wurde, um dann, wie es bei mir der Fall war, zu einem obsessiven, rätselhaften Bild zu werden; und schließlich Warda, von blühender, umwerfender Schönheit, deren Geschichte teilweise zu erzählen ich bereits Gelegenheit hatte.
Von der Verhaftung Maqrolls erfuhr ich durch Bashur in Paris, wo ich mich, von Hamburg kommend, auf der Durchreise nach Hause befand. Sogleich änderte ich meine Pläne und brach nach Barcelona auf, um zu sehen, was wir für unseren Freund tun konnten. Als ich ihn im Modelo-Gefängnis besuchte, war er in eine seltsame Apathie versunken, was bei ihm unter solchen Umständen üblich war. Ich legte ihm Bashurs Pläne dar und erzählte ihm, in Kürze werde Fatima mit dem nötigen Geld kommen, um einen Anwalt zu nehmen. Er zuckte die Schultern und lächelte vage.
»Ich glaube nicht«, sagte er, »dass es sich lohnt, eine solche Summe auszugeben, die sie selbst dringend brauchen. Entweder ringt sich die Polizei dazu durch, mir meine Geschichte abzukaufen, die zugegeben ziemlich unglaubhaft klingt, oder man begräbt mich hier für weiß Gott wie viele Jahre. Ich habe es allmählich satt, ziellos durch die Welt zu fahren und ständig in Scherereien zu geraten, denen ich im Grunde wenig abgewinnen kann. In diesen Tagen habe ich darüber nachgedacht, dass es vielleicht an der Zeit ist, das Roulette anzuhalten und das Schicksal nicht weiter herauszufordern. Nun ja, ich weiß nicht. Wir werden sehen.« Ich mochte ihn nicht daran erinnern, dass ich schon bei früheren Gelegenheiten dieselben oder ähnliche Worte von ihm gehört hatte.
Doch er kehrte immer wieder zu seinen Abenteuern zurück. Solche Erwägungen waren seine Sache nicht. Ich teilte ihm nur mit, ich bliebe in Barcelona, bis Fatima käme und ich erführe, was sie unternehmen würde, um ihn freizubekommen. Er stimmte mit resignierter Miene zu, stand auf, warf sich, während er sich mit einer Handbewegung verabschiedete, die Lederjacke über die Schultern und verschwand durch die Tür des Besuchszimmers.
Zwei Tage später rief mich Fatima vom Flughafen aus an. Sie hatte ihre Reise vorverschoben, und man hatte vergessen, es mir mitzuteilen. Ich gab ihr die Adresse meines Hotels und änderte dann an der Rezeption das Datum ihrer Reservierung. Später schreckte mich ein vorsichtiges Klopfen an der Tür aus dem Halbschlaf, in den ich nach dem Mittagessen gefallen war. Ich machte auf und sah mich einer groß gewachsenen Frau mit kräftigen, schlanken Gliedern und geraden Schultern gegenüber, die ihr ein leicht martialisches Aussehen verliehen und auf denen ein Kopf saß, dessen Proportion und Gesichtszüge mich an indohellenische Skulpturen erinnerten. Ich bat sie herein, und sie nahm mit einer schlichten Vertraulichkeit Platz, die mir aus irgendeinem Grund rührend erschien. Sie sprach ein korrektes Französisch, wie es von fast keinem Franzosen mehr zu hören ist, dagegen von einigen Libanesen und Syrern des Handel treibenden Großbürgertums. Ich berichtete ihr von meinem Gespräch mit Maqroll, und sie sagte bloß: »Es ist ganz natürlich, dass er sich so fühlt. Immer passiert ihm das Gleiche. Irgendwie werden wir ihn da schon herausholen.« In ihren Worten lag eine derartige Sicherheit, dass sich meine Meinung über das Schicksal des Gaviero mit zwar grundlosem, aber nichtsdestoweniger festem Optimismus tönte.
Am nächsten Tag begannen wir alles Nötige in die Wege zu leiten. Am selben Nachmittag suchten wir einen Anwalt auf, dessen Ruf vor allem in der erfolgreichen Verteidigung von Ausländern gründete, die mit der spanischen Justiz in Konflikt geraten waren. Mehrere Wochen lang pilgerten Fatima und ich in Begleitung des beflissenen Juristen von einer Behörde zur andern, legten Schriftsätze vor und unterhielten uns mit den verschiedenartigsten Beamten. Es war eine Parade von reservierten und undurchdringlichen Gesichtern, die nicht den geringsten Anlass zur Hoffnung gaben. Unterdessen merkte ich allmählich, dass Fatima Bashurs Gesellschaft all diesen Gängen einen ganz besonderen Reiz verlieh. Ich muss erwähnen, dass ich eine Abneigung habe gegen jeden Kontakt mit der Welt der Justizbürokratie. Nach einem Abendessen mit Fatima im Restaurant ›La Puñalada‹, bei dem wir etwas persönlichere Themen jenseits des Falls unseres Freundes anschnitten, kam ich in einer flüchtigen Gewissensprüfung zum Schluss, dass ich mich möglicherweise in Abduls Schwester zu verlieben begann. Doch das war eine äußerst verzwickte Sache. Inzwischen kannte ich Fatima gut genug, um zu wissen, dass sie weder eine Frau für oberflächliche Flirts war noch sich für mich über eine normale Sympathie hinaus interessierte, die immer im Zusammenhang stand mit den Verantwortlichkeiten, die ihr der Bruder übertragen hatte. Zum Glück erkannte ich die Situation, sodass ich beschloss, Fatima nicht einmal anzudeuten, was ich allmählich für sie empfand.
Maqrolls Probleme fanden auf dem unerwartetsten Weg ihre Lösung. Eines Abends probierte ich in der Bar ›Boadas‹, wo mich mein Freund Luis Palomares mit der Empfehlung an das Personal eingeführt hatte, mich besonders aufmerksam zu bedienen, zum x-ten Mal das ideale Rezept des Dry Martini aus, als ein Engländer auf mich zutrat, allem Anschein nach ein Angestellter des Konsulats Ihrer Majestät in Barcelona, um mir zwei Varianten vorzuschlagen, die uns zum Paradigma dieses unerreichbaren Cocktails führen könnten. Die Ergebnisse fielen zwar positiv, aber nicht restlos überzeugend aus; hingegen brachte uns diese Erfahrung dazu, eine genau bis zu dem Grad herzliche Beziehung zu knüpfen, wie ihn die Bewohner von John Bulls Insel zulassen. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Idee kam, ihm den Grund für meinen Aufenthalt in Barcelona zu nennen, natürlich ohne dabei in Einzelheiten zu gehen. Er interessierte sich sogleich für das Thema und sagte am Ende bloß mit typischer Gelassenheit: »Besuchen Sie mich morgen im Konsulat. Mir fällt ein, dass sich da für Ihren Freund allenfalls etwas arrangieren lässt. Sie sagten, er reist mit einem in Zypern ausgestellten Pass, nicht wahr?«
Ich bestätigte diesen Punkt, und wir verabschiedeten uns mit der Zusicherung, das ideale Dry-Martini-Rezept ein andermal auszuprobieren.
Anderntags stellte ich mich auf dem britischen Konsulat ein. Mein Gefährte vom ›Boadas‹ hatte jetzt, ohne die vorherige Herzlichkeit einzubüßen, einen offizielleren, etwas distanzierten Ton. Er führte mich in sein Büro, schloss die Tür und kam ohne Umschweife auf die Angelegenheit zu sprechen. Maqroll hatte einen während der englischen Herrschaft in Zypern ausgestellten Pass. Aufgrund einer Reihe von Umständen, die er nicht im Einzelnen ausführte, hatte England ein besonderes Interesse daran, dass Spanien diesen englischen Staatsbürger auf freien Fuß setzte, um auf diese Weise einen Spanier in Gibraltar freilassen zu können, der dort in verdächtigen Beziehungen ertappt und verhaftet worden war und den die Madrider Regierung unbedingt ausgeliefert haben wollte. Nun ging es darum, im Gegenzug etwas dafür zu erhalten, damit kein unannehmbarer Präzedenzfall geschaffen würde. Ich wähnte mich mitten in einer der Romane Eric Amblers würdigen Intrige, aber das Schlussergebnis konnte nicht willkommener sein. Maqroll kam frei, nachdem er fast drei Monate im Modelo-Gefängnis gesessen hatte. Er musste nach Zypern zurückfahren und sich dort den Behörden zur Verfügung stellen. Das Schiff würde beschlagnahmt, und die Hafenbehörden würden entscheiden, was damit zu geschehen hätte.
Fatima hatte nur einen bescheidenen Teil des mitgebrachten Geldes ausgegeben, und das beruhigte den Gaviero ziemlich, der wusste, dass sich die Familie und Abdul selbst in einem finanziellen Engpass befanden. Maqroll machte sich an Bord eines griechischen Schiffs auf den Weg nach Zypern – mit diesem Pass, der ihn gerettet hatte und an dessen Echtheit man guten Grundes Zweifel hegen konnte. Beim Abschied auf der Mole sagte er mit maliziösem Lächeln: »Vielen Dank für alles. Ich freue mich, dass das für Sie beide nicht lästiger geworden ist. Und wie das Leben so spielt – ich komme frei, und Sie wären um ein Haar in ein Gefängnis geraten, ein bezauberndes zwar, aber voll unberechenbarer Konsequenzen. Erinnern Sie sich immer daran, dass Allah auf seine Frauen achtet, mein Freund. Es ist wichtig, das zu bedenken, wenn man durch islamische Lande zieht.«
Am selben Nachmittag nahm Fatima das Flugzeug zurück nach Beirut. Ich begleitete sie bei sämtlichen Formalitäten, und als sie zur Passkontrolle kam, schaute sie mich einen Augenblick fest an, bot mir die Wangen zum Abschiedskuss und sagte mit einer wegen ihrer angeborenen Schüchternheit etwas belegten Stimme: »Es war ein großes Vergnügen, Sie kennen zu lernen, und ich danke Ihnen für Ihre ritterliche Zurückhaltung, die übrigens bei westlichen Männern nicht sehr oft anzutreffen ist. Ich beglückwünsche Sie und werde Ihnen immer dankbar sein. Auf Wiedersehen.«
Es war ein so endgültiges »Auf Wiedersehen«, dass es sich mir für lange einprägte. Später musste ich mich oft fragen, was geschehen wäre, wenn ich bei Fatima die Taktiken des Chevalier de Seingalt angewandt hätte. Bei solchen Gelegenheiten bleibt uns immer diese Ungewissheit. Dass die Frauen unergründlich sind, ist ein nicht mehr erwähnenswerter Gemeinplatz, weniger bekannt ist indessen, dass wir Männer eine inkonsequente, eingebildete Spezies sind, und aus diesem Grund ziehen wir immer den Kürzeren.
Von dieser Begegnung mit Abduls Schwester in Barcelona blieben ein Gesicht, dessen Harmonie der Zeit angehört, da Hellas in den Orient eindrang, eine warme Samtstimme und eine Gelassenheit der Bewegungen und Reaktionen haften, die sehr viel Byzantinisches an sich hatte. Und das Ganze empfunden als etwas, was mir nicht vergönnt und das zu genießen unvorstellbar war. Jetzt, viele Jahre später, traf ich in einem eisigen Bahnhof mitten in der regengepeitschten Bretagne erneut auf Fatima, die bereits zu der Korpulenz neigte, wie sie für die mediterranen Frauen mittleren Alters typisch ist, das Gesicht noch immer schön, wenn auch von einer gewissen Müdigkeit gezeichnet, das heitere Lächeln von einer leichten Beugung der Mundwinkel festgehalten, ein Ausdruck von Jahren schleichender Enttäuschungen und elender Alltagsängste. Wieder schaute sie mich mit einer Mischung aus Staunen und Sympathie an, und ich versuchte, triviale Fragen aneinander zu reihen wie: Wie war es ihr in all den Jahren ergangen? Wer war der Junge in ihren Armen? Wie ging es ihren Schwestern? Seit der weit zurückliegenden Episode in Barcelona war so viel geschehen, dass jede einzelne Antwort lange Stunden erfordert hätte. Zwar lagen mehrere vor uns, doch sie antwortete nur knapp, wenn auch liebenswürdig. Kurz nach ihrem Besuch in Barcelona hatte sie einen entfernten Vetter geheiratet, der von Kindesbeinen an für sie bestimmt war. Es war ein wohlhabender, fantasieloser Tuchhändler, der sie immer wie ein kleines Mädchen behandelte. Mit ihm hatte sie drei Kinder. Der Junge in ihren Armen war ein Enkel, den sie für eine Wirbelsäulenbehandlung nach Paris brachte. Seine Eltern lebten in Brest, wo Fatimas Sohn an einem Kurs über Seewege teilnahm. Er war Zweiter Offizier der libanesischen Handelsflotte. Der Junge war beim Spielen auf dem Wellenbrecher hingefallen und hatte Schmerzen im Rücken. Fatima war vor über zehn Jahren Witwe geworden und lebte jetzt ausschließlich für ihre Enkelkinder. Ihre beiden andern Söhne hatten bereits akademische Titel erworben, der eine war Anwalt, der andere Augenarzt, beide verheiratet. Die ältere Schwester, Yamina, war kurz nach Abdul gestorben. Warda lebte noch immer ihr zurückgezogenes, stilles Leben ganz im Dienst des libanesischen Roten Halbmonds und der palästinensischen Flüchtlinge. Wir gingen zu andern Themen und Menschen über, mit denen uns gemeinsame Beziehungen verbanden. Von Maqroll hatten wir beide schon seit Langem nichts mehr gehört. Meine letzten Nachrichten stammten aus Pollensa, wo er einige verlassene Werften hütete. Ich stellte fest, dass sich ihr Gesicht bei der Erwähnung des Gaviero leicht rötete und ihre Stimme kräftiger wurde, und ich fragte mich, ob sie vielleicht einmal in ihn verliebt gewesen war. Zwangsläufig kamen wir am Ende auf Abdul zu sprechen. Er war der verwöhnte, ihr am nächsten stehende Bruder gewesen. Sie war nach ihm geboren worden, und sie waren zusammen aufgewachsen.
»Abduls Güte«, sagte sie, »war von ganz besonderer Art. Sie war nicht augenfällig, zeigte sich nicht in offenkundigen Taten. Sie war tief in ihm verborgen, aber jederzeit einsatzbereit. Er hat uns alle, auch seine Freunde, mit einer dauernden, diskreten Zuvorkommenheit geliebt, die ihn unentbehrlich machte, obwohl man nie genau sagen konnte, wofür. Er war wie ein Schutzengel, dessen Abwesenheit schmerzlich war. In seinem umtriebigen Dasein erlebte er die widersprüchlichsten Situationen, ohne je darauf Acht zu geben, ob sie inner- oder außerhalb des Gesetzes lagen. Für ihn galt kein weiteres Gesetz als das, das ihm seine Gefühle diktierten. Nun, Sie haben ihn ja gut genug gekannt. Ich weiß nicht, warum ich Ihnen all das erzähle.«
Ich antwortete, eigentlich hätte ich mit ihm keinen so nahen Umgang gepflegt, und ein großer Teil dessen, was ich über ihn wisse, stamme vom Gaviero, schließlich sei der ja sein unzertrennlicher Kamerad und Komplize gewesen. Wir hatten uns nur zwei-, dreimal gesehen. Allerdings hatte auch ich festgestellt, dass die Hingabe an die Menschen seines Herzens eine Konstante in seinem Charakter bildete. Maqroll sprach über ihn immer in dem liebevoll-scherzhaften Ton, in dem wir von einem jüngeren Bruder sprechen. Er hatte Abdul in vielen Berichten und Briefen erwähnt und Letztere mir überlassen, als ich anfing, seine Unternehmungen zu erzählen.
»Nun, Ihre Informationen kann ich nun vervollständigen«, antwortete Fatima bewegt. »Ich bewahre viele Briefe meines Bruders und weitere Dokumente im Zusammenhang mit seinen Reisen und Erlebnissen auf. Wenn Sie daran interessiert sind, werde ich sie Ihnen sehr gern schicken. Sie werden sie bestimmt besser zu verwenden wissen als wir. Wir heben sie in einer Truhe auf, aus Liebe zu seinem Andenken.«
Ich bedankte mich für ihr Angebot und schrieb ihr meine Adresse auf, damit sie mir diese Papiere zusenden konnte. Damit würde ich zweifellos die Unterlagen ergänzen können, die ich benötigte, um einige Zwischenfälle in diesem Leben vollständig erzählen zu können, das so lange parallel zu demjenigen meines Freundes Maqroll des Gaviero verlaufen war.
Unser Gespräch nahm seinen Fortgang, kam aber immer wieder auf dieselben Themen zurück. Fatima hatte sich ihren schwer zu beschreibenden Charme bewahrt; er bestand aus der Zustimmung zum Leben und seinen Überraschungen und einem tiefverwurzelten Wirklichkeitssinn, der sich jede Übertreibung und jede Träumerei versagte, welche die schlichte Wahrheit des einzelnen Tages hätten widerlegen können. Sie bewunderte ihren Lieblingsbruder Abdul sehr, der ein ebenso bewegtes wie regelloses Leben gelebt hatte. Als ich einige Bemerkungen hierzu machte, sagte sie in einem Ton, als wollte sie etwas definieren, dessen sie sich bisher noch nie gewahr geworden war: »Abdul war bekanntlich immer ruhelos. Er gab sich nie so mit den Dingen zufrieden, wie das Leben sie ihm darbot. Aber niemals hat ihn eine eigentliche Abenteuerlust oder das Verlangen, Außergewöhnliches zu erleben, umgetrieben. Er war praktisch und methodisch in seinem unersättlichen Wunsch, den Lauf der Dinge zu ändern und zu korrigieren, was für ihn immer eine inakzeptable Laune von ein paar wenigen war, von eben denen, für die die Gesetze und Normen gedacht sind, die das Verhalten der Menschen in die richtigen Bahnen lenken. Sein Lieblingssatz lautete: ›Und warum versuchen wir nicht eher dies oder jenes?‹, und dann stellte er die radikale Übertretung dessen zur Diskussion, was sich anderen als unverrückbare Regel darstellte. Aber immer tat er es verbunden mit einem Urteil über die Menschen, das alles andere als nachsichtig war. Nie machte er sich über irgendjemand Illusionen, und doch glaubte er unerschütterlich an die Bande der Zuneigung zu seinen Verwandten und Freunden. Das eine stand nicht im Widerspruch zum andern. Es ist schwer zu erklären und noch schwerer zu verstehen, aber so war er.«
Mich überraschte Fatimas intelligente Einschätzung der Nuancen und scheinbaren Widersprüche im Charakter ihres Bruders, die ich auch schon festgestellt, aber nie genau hatte benennen können. Wir kamen wieder auf den Gaviero zurück, und ich fragte sie, ob man in ihrer Familie nicht dachte, Maqroll hätte dazu beitragen können, ihren Bruder vom Weg abzubringen, vor allem in der letzten Phase von Abduls Leben, wo er sich auf den obskursten Pfaden der Unterwelt im Nahen Osten bewegt hatte. Sie schaute mich befremdet an und sagte ohne zu zögern: »So etwas haben wir nie gedacht. Abdul war nicht der Mann, der sich von anderen auf Abwege bringen ließ. Von Anfang an haben wir verstanden, dass er einfach auf jemanden gestoßen war, der seine Art, das Leben zu sehen, in vielerlei Hinsicht teilte. Darum waren sie so lange zusammen. Auf ihre Art haben sie sich ergänzt. Maqroll war ein guter Freund von uns, und die Erinnerung an ihn ist ebenso gegenwärtig wie die an Abdul.« Ich hatte die Frage in der Absicht gestellt, Fatimas Gefühle für den Gaviero etwas eingehender zu ergründen, aber ganz offensichtlich hatte ich danebengeschossen.
Als der Moment kam, den Zug nach Saint-Malo zu besteigen, stand ich auf und sie ebenfalls, obwohl sie ihren Enkel in den Armen hatte. Wir verabschiedeten uns mit wenigen Worten voneinander. In diesem Augenblick wurde uns klar, dass wir eine Wolke delikater Erinnerungen aufgewirbelt hatten, mit denen unter solchen Umständen und nach so langer Zeit schwer umzugehen war. Ich küsste sie auf beide Wangen, und sie tat mit spontaner, unverhohlener Herzlichkeit dasselbe. Ich stieg in den Zug und sah durch das schmutz- und feuchtigkeitsblinde Fenster, dass sie mir zum Abschied noch einmal zuwinkte. Es dauerte mehrere Stunden, ehe ich in den Strudel von Wehmut und widersprüchlichen Gefühlen, die die Begegnung mit Fatima in mir hervorgerufen hatte, ein wenig Ordnung bringen konnte.
Nach kaum einem Monat erhielt ich von ihr aus Kairo ein umfangreiches Paket mit Briefen und einigen Fotos. In einem Begleitbrief erklärte sie, sie habe sich in Ägypten niedergelassen, denn die Lage in ihrem Land sei äußerst kritisch und von Gewalttätigkeit bestimmt. So gelangte die Dokumentation in meine Hände, mit deren Hilfe ich mein altes Vorhaben verwirklichen konnte, für meine Leser einige Episoden aus dem unvergleichlichen, unsteten Leben des treusten und ältesten Freundes des Gaviero nachzuerzählen. Das Gedächtnis hat die für uns gnädige Eigenschaft, bestimmte Erinnerungen jenseits der Ernüchterung zu bewahren, die uns die Jahre in Form von Überraschungen bereiten können, wie mir in Rennes eine beschert worden war. Aus diesem Grund kommt mir auch jetzt noch, wenn ich an Fatima denke, die junge Frau mit dem Gesicht einer indohellenischen Statue, mit kräftigen Schultern und elastischen Gliedern in den Sinn, die in Barcelona erschien, um Maqroll dem Gaviero aus der Patsche zu helfen, und nicht die reife, robuste Frau mit dem Enkel in den Armen, mit der mich der Zufall in der regnerischen Bretagne zusammenführte.