Abenteuer Transkaukasien (Textedition) - Guido Lange - E-Book

Abenteuer Transkaukasien (Textedition) E-Book

Guido Lange

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Beschreibung

Das Abenteuer Transkaukasien für Guido Lange mit Bahn, Bus, Taxi, Fähre und natürlich im Laufschritt durch Russland, Aserbaidschan, Georgien, die Ukraine und über Wien durch Österreich nachhause zurück. Der Plan war ein Lauf vom Kaspischen Meer zum Schwarzen Meer über 1000 erlebnisreiche Kilometer. Ob der Plan gelang oder es ganz anders kam, und vor allem was er in den 9 Wochen alles erlebte, macht sein Buch so unterhaltsam und interessant. Es lebt von den Geschichten und Begegnungen in den Städten und auf dem Land im äußersten Südosten Europas. Ein Buch für alle, die gern laufen und auch sonst gern unterwegs sind. Für alle, die sich für Europa und eine seiner interessantesten Ecken interessieren. Ein Reiseabenteuer, das man amüsiert zuhause im Lehnstuhl mitverfaolgen kann oder als Anregung und Vorbereitung für einen eigenen Trip mit dem Auto, Motorrad, Fahrrad, Fähre, Bahn oder Bus nimmt. Kapitelübersicht Kapitel 1: Russland: Berlin - Moskau Kapitel 2: Russland: Der Süden - Rostow am Don Kapitel 3: Aserbaidschan: Baku Kapitel 4: Aserbaidschan: Das Land Kapitel 5: Georgien: Tiflis und Batumi Kapitel 6: Ukraine: Odessa und Lviv (Lemberg) Kapitel 7: Österreich: Wien bis Passau Donauradweg Kapitel 8: Deutschland: Passau bis nachhause

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Inhaltsverzeichnis

Auf nach Europa! Abenteuerlust

Rußland Berlin + Moskau - Москва

Rußland Nach Süden - Rostov am Don - Ростов-на-Дону

Aserbaidschan Baku - Bakı

Aserbaidschan Das Land

Georgien Tiflis - Tiblisi - თბილისი + Batumi - ბათუმი

Ukraine Odessa + Lemberg - Одесса + Львов

Österreich Wien - Passau Donauradweg

Deutschland Passau bis nachhause

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DANKE

Über den Autor

Impressum

Auf nach Europa! Abenteuerlust

Als ich von meinem Abenteuer Baltikum zurückkam, dauerte es nicht lange, bis ich gefragt wurde: "Na, wo soll's denn als nächstes hingehen?" Als wenn das so einfach wäre, das Leben eines Abenteurers, der sich von Luft und Liebe ernährt.

Ich war froh, heil und glücklich zurück gekommen zu sein von meinem Lauf - 2000 km entlang der Ostseeküste von Stralsund nach Tallinn und weiter zum Marathon nach Helsinki - dem Abenteuer Baltikum. Meine Familie hatte mich wieder, meine Freunde und Kollegen hatten mich wieder und ich würde es fortan viel mehr genießen, mit einer Tasse Kaffee im Büro zu sitzen und zu arbeiten. Was ist verkehrt daran, seinen Pflichten nachzugehen und den Alltag zu meistern - nichts. Es ist einfach wunderbar. Das kann ich schätzen, denn immer unterwegs zu sein hat auch seinen Preis. Die Abwechslung macht es. Das Leben ist gut so und schön, wenn es hin und wieder eine Prise Salz bereithält. Abenteuer sind ein Gewürz im Leben, kein Dauerzustand. Oder wie heißt es an einer Sprüchewand in einem Imbiß im Hamburger Schanzenviertel: "Das Leben ist nicht nur Pommes und Disko!"

So war ich zurück in meinem alten Leben und nicht unglücklich und hatte die Hoffnung auf eine weitere Eingebung, eine unbestechlich spannende Idee. Ich weiß nicht, ob so etwas geht, aber ich wollte auf keinen Fall 'überlegen', welches Abenteuer ich machen will. Es sollte einfach 'geschossen' kommen. Zumindest bildete ich mir ein, abwarten zu können, bis der nächste zündende Funke kommt. Zu überlegen gab es drum herum dann noch genug, nicht nur am Arbeitsplatz: Wenn ich nochmal ein Abenteuer machen möchte, würde es sicher nicht ein zweites Sabbattical geben können in meiner Firma. Ich könnte vielleicht den Urlaub von zwei Jahren zusammen ziehen und hätte dann 6-8 Wochen beisammen, um nochmal was zu machen. Da kam mir die Nachricht, meine Firma würde verkauft und man bräuchte mich dann nicht mehr, wie gerufen. Es war natürlich nicht ganz einfach zu verkraften, das Ende eines Weges, den ich in diesem Unternehmen lange gegangen war, näher rücken zu sehen. Aber ich konnte tatsächlich offen sein für 'Signale' zu einem Reiseziel, zu einem neuen Abenteuer!

Wieder war es ein kalter Wintertag, an dem ich ein Magazin las: In der Runner's World gab es einen Bericht zum Laufen in Georgien. Die Landschaft sei so toll, die Menschen so nett und das Essen so gut. Ich hatte nur gutes über Georgien gehört und sah mir mehr im Netz dazu an. Ich könnte nach Sotschi fliegen und am Schwarzen Meer entlang laufen bis nach Poti in Georgien und dann weiter in die Hauptstadt Tiflis. Nicht von Stralsund nach Tallinn sondern von Sotschi nach Tiflis. Das klingt verlockend. Why not? Laufen am Meer, das kenne ich von meinem Abenteuer Baltikum, das geht ganz gut. Aber dort nicht, denn da käme ich durch Abchasien. Das ist eine abtrünnige Region, die mit Moskaus militärischer 'Hilfe' von Georgien unabhängig wurde und dessen Grenze nun durch Blauhelm-Truppen bewacht wird. Ohh, als harmloser Fußgänger würde ich dort zwischen die Fronten geraten, das wäre dann kein Abenteuer mehr. So erstarb die Idee 'Georgien' vorübergehend und ich wartete wieder auf ein Signal.

Die Buchmesse in Frankfurt hatte Georgien als Gastland und ich war wieder wach. Vor dem Messeturm am Eingang hatte einer der Stände riesige Wandkarten und ich sah Europa auf einen Blick: Rechts oben war ich damals unterwegs im Baltikum, rechts unten am Rand sind Georgien, Aserbaidschan und Armenien - da will ich hin. Warum nicht Coast to Coast - vom Kaspischen Meer zum Schwarzen Meer? Das sind etwa 1000 km und Zeit hätte ich wohl, wenn es so käme wie es zu erwarten war: Freistellung von der Arbeit ab einem gewissen Punkt im Frühjahr 2019.

Ich fing an zu planen: Mit dem Nachtzug nach Wien und weiter bis Budapest, Bukarest und Sofia, von dort an die Schwarzmeerküste, mit der Fähre nach Georgien und dann im Laufschritt quer durch bis nach Baku, von dort mit dem Zug zurück. Oder besser umgekehrt, dann hätte ich die visapflichtigen Länder zuerst: Russland und Aserbaidschan, alles andere ging ohne und ich war nicht an konkrete Termine zum Grenzübertritt gebunden. Um das Laufen machte ich mir keine Gedanken. Meine Ausrüstung hatte ich vom Abenteuer Baltikum und die hat sich bewährt:

3 Behälter in einer wasserdichten Tasche die auf einem Ziehwagen "Benpacker" sitzt mit Klamotten, Küche, Proviant und Hygiene. Dazu GPS, Mobilfunk, Foto, Reisepass und Medizin (Die Drohne ließ ich letztendlich zuhause).

Insgesamt ca. 30 kg

Rußland Berlin + Moskau - Москва

Ich wollte eigentlich solange einen Bogen um das größte Land der Erde machen, bis der amtierende Präsident abtritt. Aber das kann noch sehr lange dauern. Und in meinem Baltikum-Abenteuer war ich ja schon in Kaliningrad, dem westlichsten (Horch-) Posten Rußlands. Nun also ging es los. Schon im Russischunterricht im Osten Deutschlands spielte er eine große Rolle: Der Schnellzug Berlin-Moskau. In allen Einzelheiten lernten wir, wie es sein würde, so dorthin zu fahren. Es solle Tee serviert werden in diesen typischen Gläsern und ganz wichtig, der Aufenthalt in Brest in Weissrußland zum Radwechsel wegen der breiteren russischen Spur. Stimmt, wir kommen über Polen nach Belarus und dann nach Russland. Auf mich wirkt so ein Reiseziel, angezeigt in einer Bahnhofshalle, entzückend. In Stuttgart gab es lange den 'Cisalpino' nach Mailand, in Frankfurt steht der TGV, über Koblenz fährt der Nachtzug nach Wien. Ganz zu schweigen vom Rheingold- oder erst recht dem Orientexpress.

Ab nach Berlin und dann bin ich drin, im nagelneuen "Strizh" Berlin-Moskau.

Ich bin total aufgeregt und gespannt, dabei geht es ja erstmal nur mit gutem Komfort und erhöhter Geschwindigkeit durch die Nacht. Die schönen nostalgisch anmutenden Teegläser haben sie ausgemustert und sollte es die Sofa-Gemütlichkeit in den früheren Zügen je gegeben haben, ist sie moderner professioneller Nüchternheit gewichen. Im Bordrestaurant gibt es nichts typisch russisches und so verflüchtigt sich in dieser Nacht die knisternde Spannung des beginnenden Abenteuers erst einmal.

Ich tauschte meine Schuhe gegen die Schlappen der РЖД, der Russischen Eisenbahn und klappte mein Bett herunter, während draußen die graue Landschaft eines nur langsam beginnenden Frühlings vorbei rauscht.

Gegen 6 Uhr bin ich endgültig wach. Vorher hatte ich schon wild geträumt von einer Zugfahrt in meiner Kindheit, denn die Schienenstöße, dieses typische Einsenbahngeratter, beamten mich zurück - tatam tatam tatam tatam. Der Zug ruckelt und zuckelt nur noch und es sieht eben so aus, wie man sich die Gegend ausmalt - trist, grau, Bahnanlagen und jede Menge Zäune. Ich bin an der EU-Außengrenze und es wird ernst. Der Zug hält und draußen wird kommandiert. Die belarussischen Grenzposten steigen zu und mich beschleicht ein mulmiges Gefühl. Es ist wie an jeder richtigen Grenze, man hat inzwischen das Gefühl dafür verlernt. 'Ganz ruhig, es ist alles OK', sage ich mir. Was soll schon sein?

Sie kommen durch den Zug und sind selbst noch einigermaßen müde. Die Vorgesetzte ist eine resolute Schönheit, die mit schneidender Stimme entscheidet, wen man genauer zu kontrollieren hat. Ich gehöre nicht dazu und das ist auch gut so. Ich hatte ein Foto von ihr, wie sie im kurzen pochenden Schritten den Gang auf mich zukommt. Ich nehme an, Ihr enger Rock ließ keine größere Schrittweite zu. Leider wurde mir das Foto gelöscht, von meinem Handy, als ich am südlichen Ende wieder ausreiste. Denn die Kontrolle beim Grenzübertritt von Rußland nach Aserbaidschan ist eine spannende Geschichte für sich. Hier und jetzt kontrollieren die belarussischen Polizisten gleich die Einreise nach Russland mit. Jeder der Staaten erfordert zwar ein eigenes Visum - also für eine Zugfahrt nach Moskau wurden eben extra nochmal 90€ für Belarus fällig, aber als eine Art Amtshilfe bin ich damit auch schon für Russland kontrolliert.

Ich habe tatsächlich das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen. Denn es gibt einen Zaun, den man zuschieben kann hinter dem durchfahrenden Zug. Es sind an diesem Tor Grenzpolizisten versammelt, die im Morgengrauen rauchen und frieren. Das ist kurz beklemmend, aber wer nicht reist, kann nichts erleben. Die Radsätze werden bei uns nicht gewechselt, denn wir haben den ersten Zug, der seine Spurbreite automatisch von mitteleuropäische auf russische Spurweite umstellt. Nur die umfangreichen Anlagen geben einen Eindruck von dieser sicher sehr schweren Arbeit der Eisenbahnwerker.

Ich bekomme mein karges Frühstück und spätestens in Brest, wo die Grenzbeamten wieder aussteigen, löst sich meine Stimmung. Brest, das kannte ich auch irgendwoher - ahh, aus der Bretagne, aber das ist hier nun sehr weit weg und da fahre ich eines Tages auch mal hin. Hier zeigt sich nur ein reinlichst geputzter Hauptbahnhof. Draußen nun für Stunden Birkenwälder, die auf den Frühling warten. Es sind nur 2 Grad. Drinnen koche ich mir einen Tee und gieße Quinoa-Trockensuppe auf, denn sie haben einen Boiler in einer Ecke eingebaut, aus dem man heißes Wasser zapfen kann. Wer hätte das gedacht, daß ich jetzt schon hier meine Nahrungsreserven anzapfen muß. Aber warum auch nicht?

Von der Hauptstadt Minsk bekomme ich nicht viel zu sehen. Meine Nachbarpassagiere wechseln und ich spaziere ein paar Minuten auf dem Bahnsteig herum. Meine Reise beginnt sehr komfortabel, wenn ich bedenke, daß ich später durch die aserbaidschanische Steppe laufen werde.

Sibirskaja Korona heißt das Bier im Speisewagen. Wir rollen auf Moskau zu und fahren hunderte Kilometer durch feuchtes Gebiet. Der Bahndamm ist gesäumt von abgebrannten Gräsern und Gestrüpp, das sich mit sumpfigen Löchern und Scheeresten abwechselt. Man könnte meinen, ich sei schon in Sibirien. Dabei weiß ich überhaupt nicht, was Sibirien wirklich bedeutet. Immerhin wird es kälter und einsamer mit jedem Kilometer Richtung Osten.

Die Hauptstadt wird irgendwie spürbarer. Erst sind kleinere, dann größere Siedlungen zu sehen sind mit immer höheren Häusern. Die Bahnanlagen sind jetzt eingezäunt, um den Müll draußen zu halten. Denn in der Provinz ist es offenbar üblich, wild Müll entlang des Bahndamms zu schütten. So kommen wir nun zurück in die Zivilisation - so fühlt es sich an. Dabei ist das wahrscheinlich nur meine Dekadenz eines Mitteleuropäers. Man kommt zurück in eine reichere Welt, das ist es wahrscheinlich, was ich empfinde. Und in Moskau sitzt nun mal das Geld. Ich habe irgendwo gelesen daß über 90% des Inlandsproduktes in Moskau und St. Petersburg umgesetzt wird. Der Rest das Landes arbeitet dafür, sieht davon aber wenig.

Meine Aufregung steigt wieder, denn gleich rollen wir ein in 'Belarusskaja', einem der acht Fernbahnhöfe der Stadt. Meine erste Station ist schon erreicht! Moskau, eine Weltstadt wie Paris, London, New York, Tokio oder neuerdings auch Berlin. Ich steige um in das Metrosystem mit seinen teils prächtigen Stationen. Auch die wurden ausführlichst behandelt im Unterricht der DDR. Darauf bin ich nun nicht länger angewiesen und kann alles mit eigenen Augen sehen. Ich komme in die Rushhour und sehe in die unterschiedlichsten Gesichter. Reiche, arme, dicke, dünne, europäisch oder asiatisch aussehende Gesichter. Die Menschen haben hier eines gemeinsam: Sie haben es in die Hauptstadt geschafft und sind schon deshalb privilegiert. Das ist ja in vielen Ländern so, daß die Hauptstädter von Dingen profitieren, die es im restlichen Land nicht gibt.

Die Metrostationen sind tatsächlich beeindruckend. Es bröckelt hier und da der Stuck, aber im großen und ganzen hält die Fassade aus Stalins Zeiten. Teilweise über hundert Meter in den morastigen Untergrund führen die Rolltreppen. Ich möchte nicht wissen, unter welchen Bedingungen diese Pracht errichtet wurde. Meine Station heißt 'Smolenskaja' (Смоленская). Und ich komme an einem prägnanten Moskauer Gebäude an die Oberfläche zurück: dem Außenministerium.

Es ist eine der 'sieben Schwestern', repräsentativen Gebäuden im Stalins 'Zuckerbäckerstil', die innerhalb kürzester Zeit auf Befehl des Chefs gebaut werden mußten. Bei dem Gedanken an Stalins Herrschaft, die sich hier manifestiert, läuft es mir kalt den Rücken runter. Es war wohl so, daß zunächst keine Spitze oben drauf war. Und bevor Köpfe rollen konnten, wurde innerhalb von Tagen nachgebessert mit einer Spitze aus Metall. So war der Despot dann doch erstmal zufrieden und alle konnten weitermachen.

Mein Hostel liegt hier und ich bin froh, ein kleines einzelnes Zimmer zu haben zu einem erschwinglichen Preis bei Gastgebern, die einfach nur coole junge Leute sind. So werfe ich mein Gepäck ab und spaziere auf den Arbat.

Dafür, daß Moskau so riesig ist, wirkt das eigentliche innere Zentrum sehr klein. Jedenfalls ist der Arbat eine der wenigen sehr schönen alten Straßen mit heraus geputzten Gebäuden, Kultur, Kneipen und Lokalen. Der Kommunismus war halt nicht gemacht für kuschelige Subkultur, sondern für heroische Standbilder und Arbeiter-Deko. Ich kann es immer noch nicht glauben, hier in Moskau zu sein und laufe zu Fuß Richtung Kreml. Denn dann würde ich es ja begreifen und ähnlich ergriffen sein, wie ich es beim Anblick des Eiffelturms, der Wiener Hofburg oder der Brooklyn Bridge gewesen war.

Da ist er! Der Kreml ist in der Silhouette der Stadt nicht sichtbar, er liegt zwar auf einem Mini-Hügel, aber am Ufer der Moskwa und der höchste Turm ist gerade mal 80 Meter hoch. Er wirkt irgendwie knuffig, nicht so monströs, wie man es aus dem Fernsehen vermuten könnte. Das war mir so gar nicht klar. Das liegt auch daran, daß er ja schon vor 600 Jahren gebaut wurde, da baute man noch nicht so hoch. Die zwanzig Türme, verbunden mit einer Mauer sind schnell umrundet. Auch die angrenzenden Gebäude und der Rote Platz sind schnell abgelaufen. Leider konnte ich nicht auf den Roten Platz mit der Basiliuskathedrale, da wurde irgend etwas vorbereitet und ich machte nur ein Foto durch das Gitter inklusive des grell beleuchteten Kaufhauses GUM.

Touristen aus Sibirien traf ich dort und für sie war es eine herbe Enttäuschung, daß sie beim erstmaligen Besuch ihrer stolzen Hauptstadt, für die sie soviel schufteten, nicht mal auf den Roten Platz durften. So konnte ich das offizielle Touriprogramm noch am Abend beenden und fiel in ein fremdes Bett. Ich war in Moskau und würde morgen mal die Stadt abseits des Kremls erkunden. Da hatte ich auch schon eine Idee, wie ich das anstellte.

Städte im Laufschritt erkunden, das hat was. Man kommt gut vorwärts und fügt alles besser zusammen, als wenn man mit der Metro von hier nach dort fährt und einzelne Häppchen sieht. Natürlich braucht man irgendwie einen groben Plan, um sich nicht alle hundert Meter mit seinem Handy beschäftigen zu müssen. In den USA gibt es ja oft die rasterförmigen Straßen, da braucht man nur zu zählen und viermal linksrum oder viermal rechts rum zu laufen, um wieder vor der Hoteltür zu landen. Sonst nehme ich oft Ringstraßen, einen grünen Gürtel, eine Reihe von Plätzen, ein Ufer oder einen Fluß zur Orientierung. Der Fluß, die Moskwa, ist hier genau richtig. Die Sonne scheint und vom Grau der sumpfigen Landschaft ist hier im heraus geputzten reichen Zentrum Moskaus nichts zu spüren. Meine Stimmung ist bestens und so trabe ich los. Ich bin so gut drauf, daß ich mal gleich eine große Runde in Angriff nehme. Schließlich saß ich lang genug herum.

Unterhalb der Sperlingsberge mit der Lomonossow-Universität, deren Hauptgebäude auch eine der sieben Schwestern ist, laufe ich am südlichen Ufer der Moskwa. Gegenüber liegt das Stadtzentrum und ich sehe so auch schon den Rückweg auf der anderen Seite. Offenbar hat die Stadtregierung auch den Freizeitwert des Ufers erkannt und teils sogar eine Tartan-Laufspur angelegt. Typisch Hauptstadt - nur vom Feinsten.

Unzählige Brücken überspannen den Fluß, eine ist sogar eine Metrostation. Gegenüber das Lushniki-Stadion, der beeindruckende Block des Verteidigungsministerium, dann alles, was man aus dem Fernsehen kennt. Auf meiner Seite die Tretjakow-Galerie und der Gorki-Park mit ersten zarten Blüten und Blättern. Der Frühling kommt.

Im Osten meiner Route erscheinen Wohnblöcke wie überall im Osten. Im Westen heißen sie Sozialwohnungen, hier aber wohnen wahrscheinlich nur privilegierte Menschen mit hohem Einkommen, denn immerhin dürften Sie auch einen Ausblick aufs einige Kilometer entfernte Zentrum der Stadt haben. Ich komme vorbei an der ehemals stolzen LKW-Schmiede ZIL. Das Gebiet weicht, wie viele alte Industrie- und Energieanlagen am ehemaligen Stadtrand der Prosperität, dem Neubau ganzer Viertel oder Shoppingcenter. Denn shoppen, das scheint die große Leidenschaft reicher Leute zu sein. Und Moskau hat da einiges zu bieten. Ich erkenne auf einem frisch planierten Gelände ein funkelndes EinkaufsZentrum namens Riviera. Die Luxusmarken dieser Welt legen jegliche Scheu vor einer nicht ganz lupenreinen Demokratie ab und ziehen hier große Flagship-Stores auf, um ihre Umsätze zu sichern. Dort laufe ich hinein und habe einen Kilometer Marmorboden in der klimatisierten Mall vor mir. Ich mache einen Handyfilm davon, obwohl ich Verbotsschilder sehe : No Foto No Film! Wie bekloppt muß man sein, sich so der Gefahr einer Festnahme durch den Sicherheitsdienst auszusetzen? Sie sind schon hinter mir her und quaken in ihre Funkgeräte. Ich laufe den schnellsten Kilometer meines persönlichen Moskau-Marathons! Gott sei Dank geht neben der Drehtür eine kleinere Tür auf für eine Rollstuhlfahrerin. Ich springe hinaus und renne davon. Puhh, das war knapp und ich hab frisches Adrenalin im Blut. Jetzt ist es eine super Geschichte, aber die Wachmänner wären sicher nicht so zartfühlend wie unsere gewesen.

Am Nordufer Richtung Zentrum sehe ich alles von nahem, was ich von gegenüber schon sah. Kirchen, Kulturstätten und auch das Marinedenkmal für den Zaren Peter I. dem großen. Es ist eine fast hundert Meter hohe Statue aus Bronze und Edelstahl. Wow.

In der Nähe des Kreml gibt es eine Aussichtsplattform die sie extra für mich gemacht haben. Ich kann nicht widerstehen und lasse mich vor der Kulisse ablichten. So, das haben wir erledigt.

Ich sehe nun doch noch den Roten Platz - vom Fluß her - und laufe an der Keml-Mauer lang. Auf der Moskwa richten sich die Touristenschiffe ein - mit russischer Schlagermusik. Es wird immer wärmer und ich brauche irgendwie dringend etwas zu trinken. Am Lushniki-Sportpark gibt es eine Adidas-Runbase. Ich bin kein Fan ihrer Laufschuhe und Klamotten aber sie sind total nett und haben einen Wasserspender. Es fügt sich alles und so schaffe ich es nach knapp 42 km zurück nach 'Smolenskaja' in mein Hostel.

Ich habe mir heute Abend eine große Portion Pelmeni verdient im Вареничная № 1 auf dem Arbat. Es ist zwar eine große Restaurantkette, aber sie vermitteln mir den Eindruck einer typisch russischen muggeligen Küche. Pelmeni in allen Varianten + Sibirskaja Korona. Man fühlt sich beinahe geborgen - erst recht wenn ich bedenke, was mich auf dieser Reise aus heutiger Sicht - in der Rückschau - sonst noch so erwarten würde.

Eine andere Idee, die ich schon oft umgesetzt habe in anderen Städten: Einfach mal in den Bus setzen und angucken, was vorbei kommt, während ich ja derjenige bin, der vorbei kommt. Übersetzt für Moskau heißt das: Sich in die Metro setzen oder am besten gleich in die äußere überirdisch verlaufende S-Ringbahn МЦК. Московское центральное кольцо, der Zentrale Moskauer Ring wurde mit seinen 31 Stationen auf 69 km erst vor kurzem fertig gestellt und verbindet viele Enden der diagonalen Metro- und Straßenbahnlinien (Elektritschka). Ich gucke aus dem Fenster und sehe überall frisch hochgezogene Wohnblöcke. An der Station 'Botanischer Garten' liegt wohl ein orthodoxen Friedhof, ich springe raus und laufe hin. Der ist gar nicht so einfach zu finden, aber es lohnt sich. Er beeindruckt mich mit seinen verschiedensten Grabmählern auf engstem Raum, jeweils in abgezäunten Parzellen. Ein Stück Kultur und Geschichte des alten Rußland.

Von hier aus müßte man doch nun zum botanischen Garten kommen, aber ich finde nur immer weitere verschiedenen Parks und Grünanlagen. Hinten ist eine riesige Kuppel, fast wie die von einer Moschee, was mag das sein? Vorher kehre ich noch in eine Art Bauarbeiterkantine ein, die irgendwie das Thema Holland hat. Alle essen Brot mit Senf als Vorspeise, warum also nicht? Mir fliegt das Dach weg, als ich in das Brot beiße, als wenn es die obere Knochenschale wegsprengt! Wie kann ich weiterleben mit diesem scharfen Zeug, das durch alle Gewebeschichten hindurch in die Augen und weiter hoch in den Kopf schießt? Alle anderen können: Bauarbeiter, Handwerker und auch eine zierliche Frau im Businesskostüm, alle essen einfach weiter, als wäre es ein Leberwurstbrot. Es ist so kraß.

Die Kuppel gehört zu einer Ausstellungshalle Kosmos - Raumfahrt. Es ist der Endpunkt des riesigen Ausstellungsgeländes WDNCh - ВДНХ, das ich quasi 'von hinten' erreicht habe. Es ist das ehemalige Gelände der 'Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft der UdSSR'. Pavillon reiht sich an Pavillon, heutzutage jeder mit einem anderen populärwissenschaftlich aufgearbeiteten Thema (Landwirtschaft, Chemie, Metallindustrie). Die Pavillons werden zum teil gerade renoviert und waren früher oft jeweils von einer der 15 Sowjetrepubliken errichtet und betrieben worden. Aber so ganz viele Staaten der ehemaligen Union machen nicht mehr mit. Wer hier noch einen Pavillon hat, ist ein Vasallenstaat Moskaus - mit dabei Belarus und einige asiatische Republiken. Der erste, größte und prunkvollste Palast gehört Rußland, das ist klar. Er ist wie die anderen reich verziert - möglichst ohne Bezug zu einer Religion oder Kunstepoche zu nehmen, man erkennt eine eigene sowjetische Ausdrucksform. Natürlich dürfen all die heroischen Arbeiter- und Kriegsbilder nicht fehlen.

Im KOSMOS-Pavillon gibt es alles vom Sputnik bis zur Raumstation MIR. Die neue ISS ist immerhin mit einer Video-Wand vertreten, auf der ständig Live-Bilder und -daten zu sehen sind. Ansonsten nichts aus der moderneren Raumfahrt, das wäre womöglich auch geheim. Ich klettere in eines der Sojus-Modelle, aber die sind von außen eigentlich beeindruckender. Am Ausgang gibt es einen Automaten mit Weltraumnahrung. Gut, daß ich mich nicht zwischen dem Senfbrot und dieser Paste entscheiden muß. Ich stelle mich unter eine Rakete und gucke in die Triebwerkstrichter - Tuningfreunde wären entzückt.

Ich laß mich immer weiter treiben und steige am Haupttor in eine Einschienenbahn - die mich bis zum Fernsehturm bringt. Wieder so ein Ding aus dem Schulunterricht, zumindest der Botschaft nach: Wer hat den längsten - die UdSSR - jedenfalls galt das damals als ich zur Schule ging.

Er ist ja wirklich hoch - 537 Meter. Und er ist geöffnet, kostet 20 € Eintritt. Auf über 300 m liegt die Besucheretage und bevor ich am Abend die Stadt mit dem Nachtzug ab 'Kasanskaja' verlasse, sehe ich sie mir von oben an. Zwölf Millionen Einwohner brauchen Platz.

Rußland Nach Süden - Rostov am Don - Ростов-на-Дону

Die Kontrolleure halten mich am Eingang der Bahnhofshalle auf. Ich muß mein Gepäck vom Wagen abmachen und alles getrennt durch den Röntgenapparat schieben. Jedes mal - auch an der Metro gibt es diese Dinger - muß ich an meine Gaskartusche für den Kocher denken. Denn die ist ja eigentlich explosiv. Es geht aber alles gut. Ich fahre, wie von Berlin nach Moskau, Luxus-Klasse. Allerdings ist dieser Zug nicht so neu, am ehesten mit unseren IC-Zügen vergleichbar. Es gibt Lux. 1. 2. und 3. Klasse. Und für die Lux-Klasse gibt es sogar Frühstück.

Ich habe die Chance, einen Abteilkollegen zu bekommen, denn Einzelzimmer gibt es nicht - immerhin aber 'gendersensitiv'. Aber was ist jetzt? Eine junge Frau steigt zu und läßt sich mir gegenüber nieder. Sie spricht englisch und arbeitet als Vertriebsleiterin für eine bulgarische Lebensmittelfirma. Sie will zu einem Meeting nach Woronesch und muß morgen gegen 7 Uhr raus. Wir plaudern eine Weile und ich kann sie fragen, wie sie es in mein Männerabteil geschafft hat: Es gab keinen Platz mehr in der Lux-Klasse und so mußte sie wohl die Verkäuferin am Schalter intensiv überreden, sie doch zu mir dazu zu buchen. Das macht sie öfter. Dann dreht Natscha sich zur Wand und schläft direkt ein.

Ich schalte das Licht komplett aus, ziehe den Vorhang zur Seite und lasse die Lichter dieses riesigen Stadt- und Ballungsraums langsam hinter mir. Am Bahnhofskiosk habe ich mir zwei Flaschen Bier besorgt. Für mindestens eine der beiden ist jetzt ein guter Zeitpunkt. Ich habe in den letzten drei, eigentlich nur zwei Tagen soviel erlebt, ich muß das erst mal sacken lassen. Irgendwie habe ich mir Moskau viel rückständiger vorgestellt. So richtig beurteilen kann ich die Stadt aber gar nicht, denn mit den Einwohnern kam ich kaum ins Gespräch und den S-Bahn-Ring hatte ich auswärts auch nicht überschritten. Beim rausfahren sehe ich wie beim reinfahren einen stark zerfransten Stadtrand mit unendlich vielen armseliger werdenden Siedlungen je weiter weg vom Zentrum. Dann ist es dunkel, der Zug rattert und wird immer mal derb von einer Weiche in eine neue Richtung geschubst. Tatam-tatam tatam-tatamm. Immer wieder sehe ich qualmende Feuer an der Böschung, die sich gegen die ansonsten sumpfige Landschaft durchsetzen. Sie brennen das Gras ab oder verbrennen Müll, nehme ich an. Es ist schon etwas gespenstisch aber ich bin hier sicher hinter dreifachem Fensterglas. Diese Waggons sind für die Ewigkeit gebaut und fahren, wenn‘s sein muß, durch ganz Sibirien! Es wäre übertrieben, wenn ich jetzt behaupten würde, davon geträumt zu haben, in der Transsibirischen Eisenbahn zu sitzen. Aber irgend so etwas träumte ich tatsächlich.

Unsere Lok ist aus Eisen, die hielte auch bei plus 50 bis minus 70 grad, da war ich mir sicher. Und doch machte ich nach dem Frühstück einen Ausflug bis zur Anhängekupplung um sie mir während der Fahrt anzusehen. Denn es knallte und krachte teils so gewaltig, daß ich meinte, da wäre bestimmt was kaputt. Offenbar ist da eine Art Rutschbremse drin, die extra nicht geschmiert wird und die nur ganz ungern nachgibt, eben nur wenn die Gleise einfach zu ungleichmäßig sind und die Waggons auf Kurs gebracht werden.

---ENDE DER LESEPROBE---