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Eine wissenschaftliche Expedition unter Leitung von drei Russen und drei Engländern bricht auf, um in Süd-Afrika das Land zu vermessen. Sehr schnell gibt es große Schwierigkeiten. Da sind die wilden Tiere und die aufständischen Eingeborenen, dazu kommen Naturkatastrophen, schwieriges Gelände, schließlich eine Übermacht von feindlichen Eingeborenen. Aber die beiden Gruppen, die sich zerstritten hatten, finden wieder zusammen und harren nun acht Tage auf einem Berg aus, eingeschlossen von ihren Feinden, um auf ein Lichtsignal von einem 100 Meilen entfernten Berg zu warten, um ihre Vermessungsarbeiten abzuschließen. Wasser und Proviant gehen zur Neige...
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Seitenzahl: 314
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Jules Verne
Abenteuer von drei Russen und drei
Engländern in Südafrika
Anmerkung zu dieser Ausgabe: Ich habe 1984 die Jules-Verne-Taschenbuchausgabe in 100 Bänden im Pawlak-Verlag betreut, nachdem meine Jules-Verne-Biografie bereits 1978 erschienen war. Eine Reihe von Texten Vernes gebe ich als durchgesehene Taschenbuchreihe neu heraus, gleichzeitig erscheinen die Bände als illustrierte Paperbacks im Format A 5 und als eBooks. Alle Titel sind im Handel zu beziehen – überall, wo es Bücher gibt.
Thomas Ostwald
Jules Verne
Abenteuer von drei
Russen und drei
Engländern in
Südafrika
Edition Corsar D. u. Th. Ostwald
Braunschweig
In dieser Ausgabe werden Ausdrücke verwendet, die heute so nicht mehr üblich sind. Wir haben sie jedoch beibehalten, um die Texte nicht zu verändern.
Texte: © 2025 Copyright by Thomas Ostwald nach der Ausgabe des Hartleben-Verlages 1875 und der von mir betreuten Taschenbuchausgabe im Pawlak-Verlag 1984 durchgesehen, korrigiert und mit Anmerkungen versehen.
Umschlaggestaltung: © 2025 Copyright by
Thomas Ostwald
Edition Corsar
Dagmar u. Thomas Ostwald
Am Uhlenbusch 17
38108 Braunschweig
Erstes Kapitel. An den Ufern des Orangeflusses
Am 27. Februar 1854 unterhielten sich zwei Männer, am Fuß einer mächtigen Trauerweide gelagert, und betrachteten dabei mit gespannter Aufmerksamkeit das Wasser des Orangeflusses. Dieser Fluss, der »Große Fluss« der Holländer, der Gariep der Hottentotten, kann sich mit den drei großen Pulsadern Afrikas, dem Nil, dem Niger und dem Zambese, messen. Wie diese schwillt er mit der Flut an, hat seine Stromschnellen und Katarakte. Einige Reisende, deren Namen am einen Teil seines Laufes gekannt sind, Thompson, Alexander, Burchell, haben sowohl die Klarheit seiner Gewässer als die Schönheit seiner Ufer gerühmt.
An diesem Ort, wo sich der Orange dem Yorkgebirge nähert, bietet er den Blicken ein erhabenes Schauspiel dar. Unübersteigliche Felsen, imposante Massen von Gestein und im Laufe der Zeit versteinerter Baumstämme, tiefe Höhlen, undurchdringliche Wälder, welche die Axt des Ansiedlers noch nicht gelichtet; all dies zusammen, im Hintergrund durch die Gariepinsberge eingerahmt, bildet eine Landschaft von unvergleichlicher Pracht. Dort stürzt sich das Wasser des Flusses, der eingeengt in ein zu schmales Bett, plötzlich den Boden unter sich verliert, aus einer Höhe von vierhundert Fuß herab. Oberhalb des Falles sieht man nur flüssige, dumpf brodelnde Wasserflächen, aus denen hier und da Felsspitzen, umkränzt von grünen Zweigen, hervorragen. Unterhalb bietet sich dem Blick nur ein düsterer Strudel wirbelnder Wassermassen, über welchem eine dichte Wolke feuchten Dampfes schwebt, die in allen sieben Farben des Prismas schimmert.
Aus dem Abgrund erhebt sich ein betäubendes Tosen, das hin und wieder noch durch den Widerhall aus dem Tal verstärkt wird. Von den beiden Männern, welche ohne Zweifel durch die Wechselfälle einer Forschungsreise in diesen Teil Süd-Afrikas geführt worden waren, lieh der Eine den Naturschönheiten vor seinen Blicken nur geringe Aufmerksamkeit. Dieser gleichgültige Reisende war ein Buschmannjäger, ein schöner Typus dieser kräftigen Rasse mit lebhaften Augen und raschen Bewegungen, deren Nomadenleben in den Wäldern verfließt. Der Name Buschmann wird den nomadischen Stämmen beigelegt, welche das Land im Nordosten der Kapkolonie durchstreifen. Nicht eine der Buschmannfamilien ist ansässig; sie bringen ihr Leben damit zu, dass sie in diesen Gegenden zwischen dem Orangefluss und den westlichen Gebirgen umherziehen, die Pachthöfe plündern und die Ernten der herrschsüchtigen Kolonisten zerstören, von welchen sie bis in die unfruchtbaren Landstrecken des Innern, wo es mehr Steine als Pflanzen gibt, zurückgedrängt worden sind. Dieser Buschmann, ungefähr vierzig Jahre alt, war ein hochgewachsener Mann, augenscheinlich von großer Muskelkraft. Selbst in Ruhe zeigte seine Körperhaltung noch Tätigkeit. Die Raschheit, Leichtigkeit und Freiheit seiner Bewegungen kündigten ein energisches Individuum an, eine Person aus derselben Form gegossen, wie der berühmte Lederstrumpf, der Held der kanadischen Prärien, aber vielleicht mit weniger Ruhe begabt als der Lieblingsjäger Coopers. Dies sah man an der wechselnden durch beschleunigte Herzenstätigkeit belebten Färbung seines Gesichts.
Der Buschmann war kein Wilder mehr, wie seine Vorfahren, die alten Saquas. Von einem englischen Vater und einer hottentottischen Mutter entsprossen, hatte dieser Mestize durch seinen Verkehr mit den Fremden mehr gewonnen als verloren, und sprach geläufig seines Vaters Sprache. Seine Kleidung, halb hottentottisch, halb europäisch, bestand aus einem roten Flanellhemd, Jacke und Beinkleid von Antilopenfell, und Gamaschen aus der Haut einer wilden Katze. Am Hals hing ihm ein Säckchen, wo ein Messer, eine Pfeife und Tabak sich befanden. Eine Art Mütze von Schafpelz war seine Kopfbedeckung, und ein starker Riemen von Wildleder umschloss seine Hüfte. Am nackten Vorderarm trug er Elfenbeinringe, die mit besonderer Geschicklichkeit geschnitzt waren, und von seinen Schultern flatterte ein »Kroß«, ein mit Tuch ausgeschlagenes Tigerfell als Mantel, der bis zum Knie reichte. Ein inländischer Rassehund schlief neben ihm. Dieser Buschmann rauchte mit hastigen Zügen aus einer beinernen Pfeife mit unverkennbaren Zeichen einer ungeduldigen Natur.
»Nun, Mokum, beruhigen Sie sich«, sagte sein Gefährte: »Sie sind wirklich der ungeduldigste Mensch, – wenn Sie nicht jagen. Aber begreifen Sie doch, mein guter Kamerad, dass wir an der Sache nichts ändern können. Die, auf welche wir warten, werden früher oder später, heute oder morgen ankommen!«
Der Begleiter des Buschmann war ein junger Mann von fünf- bis sechsundzwanzig Jahren, dessen Äußeres sehr von dem Jäger abstach. Seine ruhige Natur gab sich in allen seinen Handlungen kund. Über seine Nationalität würde niemand im Zweifel gewesen sein. Er war Engländer. Sein viel zu »bürgerlicher« Anzug gab zu erkennen, dass er an Wohnungswechsel nicht sehr gewöhnt war. Er sah aus wie ein Beamter, der sich in wilde Gegenden verirrt hatte, und man schaute unwillkürlich danach, ob er nicht eine Feder hinterm Ohr trage, wie die Kassierer, Commis, Rechnungsführer und andere Glieder des großen Geschlechtes der Bürokraten.
In der Tat war dieser junge Mann kein Reisender, sondern ein ausgezeichneter Gelehrter, William Emery, ein Astronom vom Observatorium des Cap, jenem so nützlichen Institut, welches der Wissenschaft seit langer Zeit wesentliche Dienste leistet.
Dieser Gelehrte, der sich in dieser öden Gegend Süd-Afrikas vielleicht ein wenig fremd fühlte, konnte nur schwer die natürliche Ungeduld seines Gefährten zurückhalten.
»Herr Emery«, antwortete ihm der Jäger in gutem Englisch, »seit acht Tagen sind wir nun an dem zur Zusammenkunft bestimmten Ort beim Orange nahe dem Morgheda-Katarakt. Aber acht Tage an derselben Stelle zu verweilen, ist seit langer Zeit in meiner Familie nicht vorgekommen! Sie vergessen, dass wir Nomaden sind und uns die Füße brennen, wenn wir so Rast halten müssen!«
»Lieber Freund Mokum«, erwiderte der Astronom, »die, auf welche wir warten, kommen aus England, und wir können ihnen gern acht Tage Verspätung nachsehen. Man muss der Länge der Überfahrt, den Verzögerungen, welche ihr Dampfschiff beim Stromauffahren im Orange erleiden kann, mit einem Wort all den Schwierigkeiten, von denen ein derartiges Unternehmen begleitet ist, Rechnung tragen. Man hat uns aufgegeben, alles zu einer Erforschungsreise in Süd-Afrika vorzubereiten, und dann an den Wasserfällen von Morgheda meinen Kollegen, den Oberst Everest vom Observatorium in Cambridge, zu erwarten. Hier sind die Morgheda-Fälle, wir befinden uns am angegebenen Ort, wo wir zu warten haben. Was wollen Sie noch mehr, mein wackerer Buschmann?«
Der Jäger wollte ohne Zweifel noch mehr, denn seine Hand drehte fieberhaft am Schloss seines Gewehres, einem vorzüglichen Manton, eine sehr sicher treffende Waffe für Spitzkugeln, womit man eine wilde Katze oder Antilope in einer Entfernung von acht bis neunhundert Yards erlegen kann. Man sieht, der Buschmann hatte auf den Köcher mit vergifteten Pfeilen seiner Landsleute zu Gunsten der europäischen Waffen verzichtet. »Haben Sie sich auch nicht getäuscht, Herr Emery?«, begann Mokum wieder. »Hat man auch wirklich an den Morgheda-Fällen und zu Ende des Monats Januar die Zusammenkunft bestimmt?«
»Ja, mein Freund«, erwiderte ruhig William Emery, »und hier ist der Brief des Herrn Airy, Direktor der Sternwarte in Greenwich, der Ihnen beweisen wird, dass ich mich nicht geirrt habe.«
Der Buschmann nahm den ihm dargereichten Brief, drehte und wendete ihn wie ein mit den Geheimnissen der Schreibkunst wenig vertrauter Mensch. Dann gab er ihn an William Emery zurück und sprach:
»Wiederholen Sie mir doch, was Ihnen dies Stück geschwärzten Papiers erzählt.«
Der junge Gelehrte, dessen Geduld alle Proben bestand, berichtete ihm aufs Neue, was er gewiss schon zwanzig Mal seinem Freund, dem Buschmann, erzählt hatte. In den letzten Tagen des verflossenen Jahres hatte William Emery einen Brief empfangen, welcher ihn von der bevorstehenden Ankunft des Oberst Everest und einer internationalen wissenschaftlichen Kommission zu Erforschung Süd-Afrikas benachrichtigte. Welches waren die Pläne dieser Kommission? Zu welchem Zweck begab sie sich bis ans äußerste Ende des afrikanischen Festlandes? Emery konnte es nicht sagen, da des Herrn Airy's Brief über diesen Punkt nichts enthielt. Den erhaltenen Instruktionen gemäß hatte er sich beeilt, in Lattaku, einer der südlichsten Stationen im Hottentottenland, Wagen, Lebensmittel, mit einem Wort alles, was zur Verproviantierung einer buschmännischen Karawane nötig war, anzuschaffen und vorzubereiten. Dann, da er den Ruf nach den eingeborenen Jäger Mokum kannte, welcher Anderson auf seinen Jagdzügen durch West-Afrika und den kühnen David Livingstone auf seiner ersten Forschungsreise an den Ngamisee und zu den Wasserfällen des Zambese begleitet hatte, bot er diesem die Führung dieser Karawane an.
Hierauf kam man überein, dass der Buschmann, welcher die Gegend genau kannte, William Emery an die Ufer des Orange, zu den Morgheda-Fällen führen solle, wo sich die wissenschaftliche Kommission anschließen wollte. Diese hatte auf der Fregatte Augusta von der englischen Marine in der Mündung des Orange an der Westküste Afrikas auf der Höhe des Cap Voltas sich einfinden und den Fluss hinauf bis zu den Katarakten fahren sollen. William Emery und Mokum waren zu Wagen dahin gekommen. Diesen Wagen hatten sie unten im Tal zurückgelassen; er sollte die Fremden und ihr Gepäck nach Lattaku bringen, wenn sie es nicht vorzogen, sich auf dem Orange und seinen Nebenflüssen dahin zu begeben, nachdem sie einige Meilen weit die Katarakte des Morgheda umgangen.
Als der Brief zu Ende gelesen war und sich diesmal dem Geist des Buschmann fest eingeprägt hatte, trat dieser bis zu dem Rand des Abgrundes heran, in welchen sich der schäumende Fluss tosend hinabstürzte. Der Astronom folgte ihm. Hier konnte man von einem vorspringenden Punkt aus den Lauf des Orange unterhalb des Kataraktes mehrere Meilen weit überschauen. Einige Minuten lang betrachteten Mokum und sein Gefährte aufmerksam die Oberfläche dieser Gewässer, welche ungefähr eine Viertelmeile weiter unten ihre ursprüngliche Ruhe wieder gewannen. Kein Gegenstand, Kahn oder Pirogue störte seinen Lauf. Es war jetzt drei Uhr. Der Monat Januar entspricht dem Monat Juli der nördlichen Gegenden, und die fast senkrecht stehende Sonne auf dem neunundzwanzigsten Breitegrad erzeugte eine Hitze bis zu einhundertundfünfzig Grad Fahrenheit1 im Schatten. Ohne einen leichten Westwind, der dieselbe ein wenig mäßigte, würde diese Temperatur für jeden anderen als einen Buschmann unerträglich gewesen sein. Doch litt auch der junge Gelehrte, dessen ganzes Temperament kühl, und dessen Körper nur Haut und Knochen war, nicht zu sehr darunter. Außerdem schützte ihn das dichte Laubwerk der den Abgrund überschattenden Bäume vor der unmittelbaren Wirkung der Sonnenstrahlen. Nicht ein Vogel belebte zu diesen heißen Tagesstunden die Einsamkeit. Nicht ein Tier verließ das kühlende Obdach der Gebüsche und wagte sich ins Freie hinaus. Man würde an diesem öden Ort selbst dann kein Geräusch gehört haben, wenn der Katarakt nicht die Luft mit seinem Tosen erfüllt hätte. Nachdem sie so zehn Minuten zugeschaut hatten, wandte sich Mokum ungeduldig den Boden stampfend zu William Emery. Seine Augen, mit ihrer so weit reichenden Sehkraft, hatten nichts entdeckt.
»Und wenn Ihre Leute nun nicht kommen?«, fragte er den jungen Mann.
»Sie werden kommen, mein wackerer Jäger«, erwiderte William Emery. »Das sind Leute von Wort, und sie werden pünktlich sein, wie Astronomen. Zudem, was haben Sie ihnen vorzuwerfen? Der Brief kündigt ihre Ankunft für Ende Januar an; wir sind am siebenundzwanzigsten dieses Monates, und diese Herren haben also das Recht, erst in drei oder vier Tagen bei den Morgheda-Fällen einzutreffen.«
»Und wenn sie nach Verlauf dieser vier Tage nicht kommen?«, fragte der Buschmann.
»Nun, Meister Jäger, so ist dies oder nie eine Gelegenheit, Geduld zu üben, und wir werden sie bis zu dem Augenblick erwarten, wo es mir wohl bewiesen ist, dass sie nicht mehr kommen werden!«
»Bei unserm Gott Kö!«, rief der Buschmann mit schallender Stimme aus, »Sie sind der Mann darnach zu warten, bis dass der Gariep sein tobendes Wasser nicht mehr in diesen Abgrund stürzt!« - »Nein, Jäger, nein«, antwortete William Emery mit ruhigem Ton, wie immer. »Die Vernunft muss in all' unsern Handlungen vorherrschen; nun, und was sagt uns die Vernunft? Dass, wenn der Oberst Everest und seine Begleiter, ermattet von einer mühseligen Reise, des Nötigsten vielleicht entbehrend, verloren in diesen öden Gegenden, uns nicht am Ort der Zusammenkunft fänden, wir in jeder Hinsicht tadelnswert wären. Wenn ein Unglück geschähe, so würde die Verantwortlichkeit dafür mit Recht auf uns zurückfallen. Wir müssen also so lange auf unserm Posten bleiben, als die Pflicht gebietet. Außerdem fehlt es uns ja an nichts. Unser Wagen erwartet uns drunten im Tal und gewährt uns Schutz für die Nacht. Lebensmittel sind im Überfluss vorhanden, die Natur ist an diesem Ort prachtvoll und bewundernswert. Für mich ist es ein ganz neues Glück, einige Tage in diesen herrlichen Wäldern, an dem Ufer dieses unvergleichlichen Flusses zu verbringen! Was Sie betrifft, Mokum, was können Sie mehr wünschen? Wild in der Luft und auf der Erde ist im Überfluss da, und Ihr Gewehr liefert uns unveränderlich unsern täglichen Wildbraten. Jagen Sie, tapferer Jäger, töten Sie die Zeit, indem Sie Damhirsche oder Büffel schießen. Gehen Sie, wackerer Buschmann, ich werde indessen nach den Säumigen ausschauen, und so werden wenigstens Ihre Füße nicht der Gefahr ausgesetzt sein, anzuwurzeln.« Der Jäger begriff, dass es gut sei, dem Rat des Astronomen zu folgen. Er entschloss sich daher, die Gebüsche und Waldschläge umher auf einige Stunden zu durchstreifen. Löwen, Hyänen oder Leoparden waren nicht dazu da, um einen Nimrod, wie er, der an afrikanische Wälder gewöhnt war, zu ängstigen. Er pfiff seinem Hund Top, eine Art » Cynhiène« aus der Wüste Kalaharien, Abkömmling jener Rasse, von welcher die Balabas ehemals die Windhunde zogen. Das kluge Tier, welches ebenso ungeduldig als sein Herr zu sein schien, sprang munter auf und bezeugte durch Freudengebell seine Zustimmung zu den Absichten des Buschmanns. Bald war der Jäger und der Hund im Dickicht eines Waldes verschwunden, dessen dichte Massen den Hintergrund des Kataraktes umschlossen.
William Emery, allein geblieben, lagerte sich am Fuß der Weide und begann in Erwartung des Schlafs, welchen die hohe Temperatur hervorrufen musste, über seine gegenwärtige Lage nachzudenken. Hier war er, fern von bewohnten Gegenden, am noch wenig bekannten Orangefluss. Er erwartete Europäer, Landsleute, welche ihr Vaterland verließen, nur sich den Schicksalsfällen einer entfernten Expedition auszusetzen. Aber welchen Zweck hatte diese Expedition? Welches wissenschaftliche Rätsel wollte sie in den Wüsten Süd-Afrikas lösen? Welche Beobachtung wollte sie am dreißigsten Grad südlicher Breite anstellen? Darüber gerade sprach sich der Brief des ehrenwerten Herrn Airy, Direktors der Sternwarte zu Greenwich, nicht aus. Von ihm, Emery, verlangte man Beistand, als von einem Gelehrten, der mit dem Klima der südlichen Breitegrade vertraut war, und da es sich augenscheinlich um wissenschaftliche Arbeiten handelte, so war seine Hilfe den Kollegen aus den Vereinigten Königreichen sicher.
Während der junge Astronom all' diese Dinge überlegte und sich tausend Fragen vorlegte, die er nicht beantworten konnte, wurden ihm die Augenlider schwer, und er fiel in tiefen Schlaf. Als er aufwachte, hatte sich die Sonne schon hinter den westlichen Hügeln versteckt, welche ihre malerischen Umrisse am flammenden Himmel abzeichneten. Die Kundgebungen seines Magens zeigten William Emery an, dass die Stunde der Abendmahlzeit nahe. Es war in der Tat sechs Uhr abends, und der Augenblick gekommen, den Wagen unten im Tal wieder aufzusuchen.
Gerade im selben Augenblick vernahm man einen Schuss in einem Schlag baumartigen zwölf bis fünfzehn Fuß hohen Heidekrautes, der sich rechts am Abhang der Hügel hinzog. Fast unmittelbar darauf erschienen der Buschmann und Top am Saume des Waldes. Mokum schleppte als Beute ein soeben erlegtes Tier mit nach sich.
»Kommen Sie, kommen Sie, Meister Lieferant!«, rief ihm William Emery zu; »was bringen Sie uns zum Abendbrot?«
»Einen Springbock, Herr William«, antwortete der Jäger, und warf ein Tier mit lyraartig gewundenen Hörnern auf den Boden. Es war eine Art Antilope, mehr unter dem Namen Springbock gekannt, welche häufig in allen Regionen Süd-Afrikas vorkommt. Dieser Bock war ein wunderschönes Tier, mit zimtfarbigem Rücken, dessen Kreuz ganz mit dichten, glänzend weißen Seidenhaaren bedeckt war, und mit kastanienbraun geflecktem Bauch. Sein äußerst schmackhaftes Fleisch wurde zur Abendmahlzeit bestimmt.
Der Jäger und der Astronom schleppten das Tier vermittelst eines quer über ihre Schultern gelegten Stockes fort, verließen die Höhen am Katarakt, und erreichten eine halbe Stunde später ihr Lager in einer schmalen Talenge, wo sie der von zwei Führern aus der Buschmänner-Rasse bewachte Wagen erwartete.
Zweites Kapitel. Offizielle Vorstellung
Während den Tagen des 28., 29. und 30. Januar verließen Mokum und William Emery nicht den zur Zusammenkunft bestimmten Ort. Indes der Buschmann, von seiner Jagdneigung hingerissen, in der ganzen bewaldeten Gegend um den Katarakt herum das Hoch- und Rotwild verfolgte, überwachte der junge Astronom den Lauf des Flusses. Der Anblick dieser erhabenen und wilden Natur entzückte ihn und erfüllte seine Seele mit neuen Empfindungen. Der Zahlenmensch, der Gelehrte, welcher beständig in seine Bücher vertieft, Tag und Nacht an sein Fernrohr gefesselt, den Lauf der Sterne im Meridian verfolgte, oder die Verdeckungen der Gestirne berechnete, erquickte sich an diesem neuen Dasein in freier Luft, in den fast undurchdringlichen Wäldern, welche den Abhang der Hügel bedeckten, auf den einsamen Bergspitzen, welche der Sprühregen des Morgheda mit feuchtem Staub besprengte. Es war für ihn ein Genuss, die Poesie dieser weiten dem Menschen fast noch unbekannten Einöde zu erfassen und damit seinen von mathematischen Berechnungen ermüdeten Geist zu erfrischen. So vertrieb er sich die Langeweile des Wartens und stärkte Körper und Geist. Das Neue seiner Lage erklärte also seine unerschöpfliche Geduld, welche der Buschmann nicht teilen konnte. So gab es von Seiten des Jägers immer dieselben Klagen; von Seiten des Gelehrten dieselben ruhigen Antworten, die den reizbaren Mokum keineswegs beruhigten.
Der 31. Januar kam heran, der letzte in dem Brief des ehrenwerten Herrn Airy bestimmte Tag. Wenn die angekündigten Gelehrten an diesem Tage nicht erschienen, so war William Emery gezwungen, irgendeinen Entschluss zu fassen, was ihn sehr in Verlegenheit setzte. Die Verzögerung konnte sich unendlich in die Länge ziehen, und wie konnte er so ins Unbestimmte warten?
»Herr William«, sagte der Jäger zu ihm, »warum sollten wir nicht den Fremden entgegengehen? Wir können uns nicht auf dem Wege verfehlen, denn es gibt nur einen Weg, den Flussweg, und wenn sie ihn heraufkommen, wie Ihr Stückchen Papier sagt, müssen wir ihnen unvermeidlich begegnen.«
»Sie haben da eine vortreffliche Idee, Mokum«, erwiderte der Astronom. »Wir wollen unterhalb des Falles ein Erkennungszeichen aufstecken, und es steht uns dann frei, über den südlichen Bergabhang nach dem Lager zurückzukehren. Doch sagen Sie mir, Buschmann, Sie kennen zum größten Teil den Lauf des Orangeflusses?«
»Ja, mein Herr«, antwortete der Jäger, »ich bin ihn zweimal vom Cap Voltas bis zu seinem Zusammenfluss mit dem Hart an den Grenzen der Republik Transvaal hinaufgefahren.«
»Und er ist überall, mit Ausnahme an den Morgheda-Fällen, schiffbar?«
»Wie Sie sagen, mein Herr«, versetzte der Buschmann. »Ich muss jedoch hinzufügen, dass zu Ende der trockenen Jahreszeit der Orange bis zu fünf oder sechs Meilen von seiner Mündung fast ganz ohne Wasser ist. Dort bilden sich dann Sandbänke, an welchen sich die hohle See von Westen her mit Heftigkeit bricht.«
»Das schadet nichts«, antwortete der Astronom, »da in dem Augenblick, wo unsere Europäer ihn erreicht haben müssen, die Mündung zugänglich gewesen. Es gibt also keinen Grund, der ihre Verzögerung veranlassen konnte, und demzufolge werden sie kommen.«
Der Buschmann erwiderte nichts. Er warf seinen Karabiner über die Schulter, pfiff Top und ging seinem Gefährten auf dem schmalen Fußpfad voran, welcher vierhundert Fuß tiefer unterhalb des Kataraktes wieder zu dem Fluss führte.
Es war jetzt neun Uhr früh. Die beiden Kundschafter, – man konnte ihnen wirklich diesen Namen geben, – gingen dem linken Ufer des Flusses entlang hinab. Der Weg war nicht so leicht zu passieren, wie ein Damm oder eine zum Schiffeziehen bestimmte Straße. Das abschüssige mit Gesträuch bewachsene Ufer des Flusses, war ganz mit einem Laubdach wohlriechender Pflanzen überdeckt. Girlanden von »Cynauchum filiforme«, wuchsen von einem Baum zum anderen und bildeten ein grünes Netz vor den Füßen der Reisenden. Daher blieb das Messer des Buschmanns nicht untätig. Mitleidslos schnitt er diese unbequemen Girlanden ab. William Emery schlürfte mit vollen Zügen die durchdringenden Gerüche des Waldes ein, der besonders von balsamischen Kampferdüften zahlloser Diosmeen durchdrungen war. Glücklicherweise ward es durch einige lichte Stellen und von Waldung entblößte Uferwände möglich, schneller westwärts zu gelangen.
Um elf Uhr morgens hatten sie ungefähr vier Meilen zurückgelegt. Der Wind wehte von Westen her, also nach dem Katarakt zu, dessen Tosen man in dieser Entfernung nicht mehr hören konnte, im entgegengesetzten Fall hätte man das abwärts dringende Geräusch deutlich vernehmen können. William Emery und der Jäger hielten an dieser Stelle an, und überschauten von da den Lauf des Flusses, der sich zwei bis drei Meilen weit in gerader Linie hielt. Das Flussbett war hier zu beiden Seiten von zweihundert Fuß hohen Kreide-Ufern eng umschlossen und überragt.
»Wir wollen an diesem Platz warten«, sagte der Astronom, »und uns ausruhen. Ich habe nicht Ihre Jägerbeine, Meister Mokum, und ich gehe gewöhnlich mehr am gestirnten Himmel spazieren als auf den Straßen der Erde. Wir wollen uns deshalb ausruhen. Von diesem Punkt hier können wir den Fluss auf zwei bis drei Meilen übersehen, und sobald das Dampfboot bei der letzten Biegung zum Vorschein kommt, können wir es unfehlbar bemerken.«
Der junge Astronom setzte sich am Fuß einer mächtigen Euphorbie nieder, deren Gipfel sich bis zur Höhe von vierzig Fuß erhob. Von hier schweifte sein Blick weit über den Fluss. Der Jäger, wenig an Sitzen gewöhnt, ging fortwährend am Uferdamm hin und her, während Top Scharen wilder Vögel aufscheuchte, welche sein Herr gar nicht beachtete. Der Buschmann und sein Gefährte waren erst eine halbe Stunde an diesem Ort, als William Emery sah, wie Mokum, der etwa hundert Schritt unterhalb stand, eine besondere Aufmerksamkeit zu erkennen gab. Hatte wohl der Buschmann das so ungeduldig erwartete Boot bemerkt?
Der Astronom wandte sich, stand auf von seinem Moossitz und ging nach dem Uferrand, wo sich der Jäger befand. In einigen Augenblicken hatte er ihn erreicht.
»Sehen Sie etwas, Mokum?«, fragte er den Buschmann.
»Nichts, ich sehe Nichts, Herr William«, antwortete der Jäger, »aber da mein Ohr mit dem Geräusch in der Natur stets vertraut ist, scheint es mir, als lasse sich ein ungewöhnliches Summen am untern Lauf des Flusses vernehmen.«
Hierauf empfahl er seinem Gefährten Stille an, legte sich mit dem Ohr auf die Erde und lauschte mit gespannter Aufmerksamkeit. Nach einigen Minuten erhob er sich wieder und sprach kopfschüttelnd:
»Ich werde mich getäuscht haben. Das Geräusch, welches ich zu hören glaubte, ist nichts weiter als das Pfeifen des Seewinds durch das Laub, oder das Murmeln des Wassers über die Steine im Fluss. Und dennoch ...«
Der Jäger lauschte abermals aufmerksam, aber hörte nichts.
»Mokum«, sagte darauf William Emery, »wenn das Geräusch, welches Sie zu hören glaubten, von der Maschine eines Dampfbootes herrührt, werden Sie es besser hören, wenn Sie sich auf den Fluss niederbeugen. Das Wasser pflanzt den Ton deutlicher fort als die Luft.«
»Sie haben Recht, Herr William«, erwiderte der Jäger, »und mehr als einmal habe ich so den Übergang eines Flusspferdes über das Wasser erlauscht.«
Der Buschmann stieg das sehr steile Ufer hinunter, indem er sich an den Schlingpflanzen und Grasbüscheln festhielt. Unten angekommen ging er bis ans Knie in den Fluss hinein, beugte sich nieder und legte sein Ohr auf das Wasser.
»Ja!«, rief er nach einigen Augenblicken aus, »ja, ich hatte mich nicht getäuscht. Dort unten, einige Meilen abwärts, ist ein Geräusch, wie wenn das Wasser heftig gepeitscht wird. Es ist ein einförmiges und ununterbrochenes Geklapper, das im Wasser hervorgebracht wird.«
»Ein Geräusch von Schaufelrädern?«, fragte der Astronom.
»Wahrscheinlich, Herr Emery. Dann sind die, welche wir erwarten, nicht mehr fern.«
William Emery, der die Feinheit der Sinne, womit der Jäger begabt war, kannte, bezweifelte die Äußerung seines Gefährten nicht. Dieser stieg das Ufer wieder hinauf, und beide entschlossen sich, an dieser Stelle zu warten, von wo aus sie leicht den Lauf des Orange übersehen konnten. Eine halbe Stunde verging, welche William Emery trotz seiner ruhigen Natur unendlich lang wurde. Oft glaubte er die unbestimmten Umrisse eines Schiffes auf dem Wasser dahingleiten zu sehen! Doch sein Gesicht täuschte ihn immer. Endlich machte ihm ein Ausruf des Buschmanns das Herz schlagen.
»Eine Rauchsäule!«, rief Mokum aus.
William Emery, in die vom Jäger angegebene Richtung schauend, bemerkte nicht ohne Mühe einen leichten Rauchwirbel an der Biegung des Flusses. Man konnte nicht mehr zweifeln. Das Boot kam schnell vorwärts. Bald konnte William Emery den Rauchfang unterscheiden, aus dem ein Strudel schwarzen Dampfes, vermischt mit weißen Rauchwirbeln, emporstieg. Das Schiff befand sich noch ungefähr sieben Meilen von den Morgheda-Fällen. Es war jetzt Mittag. Da der Platz für eine Landung nicht geeignet war, entschloss sich der Astronom, nach dem Katarakt zurückzugehen. Er teilte seine Absicht dem Jäger mit, dessen Antwort darin bestand, dass er den von ihm schon eingeschlagenen Rückweg an dem linken Ufer des Stromes fortsetzte. William Emery folgte ihm, und als er sich zum letzten Mal an einer Biegung des Flusses umwendete, bemerkte er die britische Flagge am Hinterteil des Schiffes. Die Rückkehr an die Wasserfälle geschah rasch, und in einer Stunde hielten der Buschmann und der Jäger eine Viertel-Meile unterhalb des Kataraktes an. Dort bildete der Fluss einen kleinen halbrunden Einschnitt, in welchem das Dampfboot leicht anlegen konnte, da das Wasser an dem fast senkrechten Ufer tief war.
Das Schiff konnte nicht mehr fern sein, und hatte sicher einen Vorsprung vor den beiden Fußgängern gewonnen, so schleunig sie auch gegangen waren. Man konnte es noch nicht wahrnehmen, denn die Beschaffenheit der von hohen überhängenden Bäumen beschatteten Ufer gestattete nicht eine weite Aussicht. Doch hörte man, wenn auch nicht das Pusten des Dampfes, so doch das schrille Pfeifen der Maschine, welches laut das fortdauernde Tosen des Kataraktes übertönte. Dies Pfeifen hörte nicht auf. Die Mannschaft suchte so ihre Anwesenheit der Umgebung des Morgheda bemerklich zu machen. Der Jäger antwortete darauf mit Abschießen seines Karabiners, dessen Knall im Echo des Ufers laut widerhallte.
Endlich kam das Boot zum Vorschein. William Emery und sein Gefährte wurden von den Passagieren ebenfalls gesehen. Auf ein Zeichen des Astronomen machte die Barke eine Wendung und legte sanft am Ufer an. Ein Schiffsseil wurde ausgeworfen, welches der Buschmann ergriff und um einen abgebrochenen Baumstamm schlang. Gleich darauf sprang ein hochgewachsener Mann leicht ans Ufer und ging auf den Astronomen zu, während seine Gefährten ebenfalls ans Land stiegen. Auch William Emery ging diesem Mann entgegen und sagte:
»Oberst Everest?«
»Herr William Emery?«, erwiderte der Oberst.
Der Astronom und sein Kollege vom Observatorium zu Cambridge begrüßten sich und reichten einander die Hand.
»Meine Herren«, sprach darauf Oberst Everest, »erlauben Sie mir, Ihnen den ehrenwerten Herrn William Emery vom Observatorium in Cap Town vorzustellen, der die Güte gehabt hat, uns bis an den Morgheda-Fall entgegenzukommen.«
Vier Passagiere des Schiffes, welche neben dem Obersten standen, grüßten der Reihe nach den jungen Astronomen, der ihre Begrüßung erwiderte. Darauf stellte sie der Oberst offiziell vor, indem er mit echt englischem Phlegma sagte: »Herr Emery, Sir John Murray aus Devonshire, Ihr Landsmann; Herr Mathieu Strux, von der Sternwarte in Pulkowa; Herr Nikolaus Palander, von der Sternwarte in Helsingfors, und Herr Michael Zorn von der Sternwarte in Kiew, drei russische Gelehrte, welche die Regierung des Zaren bei unserer internationalen Kommission vertreten.«
Drittes Kapitel. Der Transport des Schiffes
Nachdem die Vorstellung vorüber, stellte sich William Emery den Ankommenden zur Verfügung. In seiner Eigenschaft als einfacher Astronom am Observatorium des Cap, war er dem Range nach dem Obersten Everest untergeordnet, der als Abgeordneter der englischen Regierung mit Mathieu Strux die Präsidentschaft über die wissenschaftliche Expedition teilte. Er kannte ihn außerdem als einen ausgezeichneten Gelehrten, welcher durch Reduktionen von Nebelsternen, sowie Berechnungen über Gestirnfinsternisse berühmt geworden war. Dieser Astronom, fünfzig Jahre alt, ein kalter, methodischer Mann, führte ein mathematisch nach Stunden berechnetes Dasein. Für ihn gab es nichts Unvorhergesehenes. Seine Genauigkeit in allen Dingen war nicht geringer als die der Sterne beim Eintritt in den Meridian. Man konnte sagen, alle Handlungen seines Lebens waren nach der Uhr geregelt. Dies wusste William Emery, und hatte daher auch nie daran gezweifelt, dass die wissenschaftliche Kommission am bestimmten Tage eintreffen werde.
Indessen wartete der junge Mann darauf, dass der Oberst sich in Betreff des Auftrags, welchen er in Süd-Afrika zu erfüllen komme, sich ausspräche. Da jedoch der Oberst darüber schwieg, glaubte Emery ihn nicht weiter ausfragen zu dürfen. Es war wahrscheinlich, dass im Geist des Obersten die Stunde, in welcher er sprechen sollte, noch nicht geschlagen hatte.
William Emery kannte ebenfalls dem Rufe nach Sir John Murray, einen reichen Gelehrten, Nacheiferer von James Roß und Lord Elgie, welcher ohne amtliche Stellung England mit seinen astronomischen Arbeiten beehrte. Die Wissenschaft musste ihm für sehr beträchtliche Geldopfer dankbar sein. Er hatte zwanzigtausend Pfund auf die Errichtung eines Riesen-Reflektors verwendet, eines Rivalen des Teleskopen von Parson Town, durch welchen die Elemente einer gewissen Anzahl Doppelsterne bestimmt worden waren. Es war ein Mann von höchstens vierzig Jahren mit vornehmer Haltung und leidenschaftslosen Mienen, welche seinen Charakter nicht erkennen ließen.
Die drei Russen, die Herren Strux, Palander und Zorn waren William Emery dem Namen nach nicht fremd, doch kannte er sie nicht persönlich. Nikolaus Palander und Michael Zorn bezeugten gegen Mathieu Strux eine gewisse Ehrerbietung, welche schon seiner Stellung nach, auch ohne jedes andere Verdienst, ihm gebührte.
William Emery machte nur die einzige Bemerkung, dass sich die englischen und russischen Gelehrten in gleicher Anzahl befanden, drei Engländer und drei Russen. Die Mannschaft des Schiffes, »Königin und Zar« genannt, bestand aus zehn Mann, von denen fünf Engländer und fünf Russen waren.
»Herr Emery«, sagte der Oberst Everest, sobald die Vorstellung vorüber war, »wir kennen uns jetzt, als hätten wir zusammen die Überfahrt von London bis zum Cap Voltas gemacht. Ich hege außerdem eine besondere Achtung gegen Sie, die Ihnen für die Arbeiten gebührt, welche Sie mit Recht berühmt gemacht haben. Auf mein Verlangen hat die englische Regierung Sie ausersehen, um an den Operationen, welche wir in Süd-Afrika ausführen wollen, teilzunehmen.«
William Emery verneigte sich dankend und dachte, er werde jetzt endlich die Beweggründe erfahren, welche diese wissenschaftliche Kommission in die südliche Hemisphäre führte. Doch der Oberst Everest sprach sich darüber nicht aus.
»Herr Emery«, fuhr der Oberst fort, »ich möchte fragen, ob Ihre Vorbereitungen beendigt sind.«
»Ganz und gar, Herr Oberst«, erwiderte der Astronom. » Dem Auftrag zufolge, welchen mir der Brief des ehrenwerten Herrn Airy gab, habe ich die Capstadt seit einem Monat verlassen und mich auf die Station Lattaku begeben. Dort habe ich alle nötigen Erfordernisse zu einer Forschungsreise im Innern Afrikas zusammengebracht, Lebensmittel, Wagen, Pferde und Buschmänner. In Lattaku erwartet Sie ein Gefolge von hundert bewaffneten Männern, geführt von einem geschickten und berühmten Jäger, dem Buschmann Mokum, den ich Ihnen vorzustellen mir erlaube.«
»Der Buschmann Mokum«, rief der Oberst Everest mit kaltem Ton, »der Buschmann Mokum! Ja, sein Name ist mir vollkommen bekannt.«
»Es ist der Name eines geschickten und kühnen Afrikaners«, fügte Sir John Murray hinzu, indem er sich zu dem Jäger wandte, welchen diese Europäer mit ihrem vornehmen Benehmen nicht aus der Fassung brachten.
»Der Jäger Mokum«, sagte William Emery, indem er seinen Gefährten vorstellte.
I»hr Name ist in dem Vereinigten Königreich wohl bekannt, Buschmann«, antwortete der Oberst Everest. »Sie sind ein Freund Andersons und Führer des berühmten David Livingstone gewesen, der mich mit seiner Freundschaft beehrt. England dankt Ihnen durch meinen Mund, und ich gebe Herrn Emery meine Zufriedenheit zu erkennen, dass er Sie zum Anführer unserer Karawane erwählt hat. Ein Jäger wie Sie muss Liebhaber von schönen Waffen sein. Wir haben ein ziemlich vollständiges Arsenal und ich bitte Sie, sich daraus ein Gewehr auszuwählen, welches Ihnen gefällt. Wir wissen, dass es in guten Händen sein wird.«
Ein Lächeln der Befriedigung spielte auf den Lippen des Buschmanns. Die Anerkennung seiner Dienste in England machte allerdings Eindruck auf ihn, doch sicherlich weniger als die angebotene Gabe des Oberst Everest. Er bedankte sich daher in gewählten Ausdrücken, und hielt sich abseits, während die Unterhaltung zwischen William Emery und den Europäern fortgesetzt wurde. Der junge Mann vervollständigte seinen Bericht über die von ihm organisierte Expedition, und der Oberst schien dadurch sehr befriedigt. Es handelte sich nur darum, so schnell als möglich die Stadt Lattaku zu erreichen, denn die Abreise der Karawane sollte in den ersten Tagen des März, nach Beendigung der Regenzeit, stattfinden.
»Wollen Sie gefälligst bestimmen, Herr Oberst, auf welche Weise Sie die Stadt erreichen wollen.«
»Auf dem Orangefluß und einem seiner Nebenflüsse, dem Kuruman, der bei Lattaku vorüberfließt.«
»Gut«, erwiderte der Astronom, »aber so vortrefflich und so schnellfahrend Ihr Schiff auch sein mag, so könnte es doch den Morgheda-Fall nicht hinauffahren!«
»Wir wollen den Katarakt umgehen, Herr Emery, und dadurch, dass wir das Schiff einige Meilen weit transportieren, wird es uns möglich, unsere Fahrt oberhalb des Flusses wieder aufzunehmen. Wenn ich mich nicht täusche, so sind die Strömungen von dort bis Lattaku für ein Boot, das nicht beträchtlich tief geht, schiffbar.«
»Ohne Zweifel, Herr Oberst«, erwiderte der Astronom, »aber dies Dampfboot hat solch' Gewicht, dass ...«
»Herr Emery«, antwortete der Oberst Everest, »dies Fahrzeug ist ein Meisterstück aus den Werkstätten von Leard & Comp. in Liverpool. Es lässt sich Stück für Stück auseinandernehmen und äußerst leicht wieder zusammensetzen, eine Arbeit, wozu es nur eines Schraubenziehers und einiger Zapfen bedarf. Sie haben einen Wagen an den Morgheda-Fall mitgebracht?«
»Jawohl, Herr Oberst«, versetzte William Emery. »Unsere Lagerstätte ist kaum eine Meile von hier.«
»Nun wohl, so werde ich den Buschmann bitten, den Wagen bis an den Ort, wo wir aussteigen, fahren zu lassen. Man wird die Schiffsteile und die Maschine, die sich ebenfalls auseinander nehmen lässt, darauf laden, und wir werden aufwärts an den Ort fahren, wo der Orange wieder schiffbar wird.«
Die Befehle des Oberst Everest wurden ausgeführt. Der Buschmann verschwand bald in dem Gehölz, nachdem er versprochen, in einer Stunde zurück zu sein. Während seiner Abwesenheit wurde das Dampfboot schnell ausgeladen. Zudem war die Ladung nicht bedeutend: Kästen mit physikalischen Instrumenten, eine ansehnliche Sammlung von Flinten aus der Fabrik von Purdey Moore in Edinburgh, einige Tonnen Branntwein, Tonnen getrockneten Fleisches, Pulverkasten, Felleisen vom kleinsten Umfang, Zeltleinwand mit allem Zubehör, das aus einem Reisebazar hervorgegangen zu sein schien, ein sorgfältig zusammengelegter Kahn von Gutta-Percha2, der nicht mehr Platz einnahm als eine gut zusammengerollte Decke, einige Lagergerätschaften u.s.w.; endlich eine Art Mitrailleuse in Fächerform, ein noch wenig vervollkommnetes Geschütz, welches aber Feinde, wer sie auch sein mochten, von der Annäherung an das Fahrzeug zurückscheuchen musste.
Alle diese Gegenstände wurden auf dem Uferrand niedergelegt. Die Maschine von acht Pferdekraft zu zweihundertundzehn Kilogramm bestand aus drei Teilen, dem Dampfkessel und seinen Röhren, der mechanischen Einrichtung, welche man vermittelst des Schraubenziehers vom Kessel losmachte, und der Schraube. Indem diese Teile der Reihe nach herausgenommen wurden, ward das Innere des Fahrzeuges frei. Die Schaluppe bestand, außer dem Raum für die Maschine und den Vorratskammern, aus einem für die Mannschaft bestimmten Vorderraum und aus einer Kajüte im Hinterteil für den Oberst Everest und seine Begleiter.
In einem Augenblick waren die Scheidewände verschwunden, die Koffer und Lagerstätten entfernt, und das Fahrzeug war nur noch ein Rumpf. Dieser fünfunddreißig Fuß lange Rumpf bestand aus drei Teilen, gleich dem Dampfboot Mâ-Robert, dessen sich Doktor Livingstone bei seiner ersten Reise nach Zambese bediente. Er war aus galvanisiertem Stahl gefertigt, der zugleich leicht und dauerhaft ist. Die Stahlplatten waren durch Zapfen auf Rahmen von gleichem Metall befestigt, wodurch das feste Zusammenhalten und die Wasserdichtigkeit des Bootes gesichert wurde. William Emery war wahrhaft erstaunt über die Einfachheit der Arbeit, und die Schnelligkeit, womit sie vor sich ging. Der Wagen war vor kaum einer Stunde in Begleitung des Jägers und seiner zwei Buschmänner angekommen, als das Schiff schon zum Verladen fertig war. Dieser Wagen, ein sehr einfaches Gefährt, ruhte auf vier großen Rädern, welche, je zwei zusammen, zwanzig Fuß voneinander entfernt waren. Diese schwere Maschine mit knarrenden Achsen wurde von sechs Büffelochsen gezogen, die, je zwei zusammengespannt, mit einem langen Treibstachel gespornt wurden. Es bedurfte auch solcher Mittel, die schwere Last von der Stelle zu bringen, die sonst mehr als ein Mal im Sumpf stecken geblieben wäre.
Die Mannschaft der Schaluppe befleißigte sich, den Wagen in der Weise zu beladen, dass er überall das Gleichgewicht behielt. Bei der sprichwörtlichen Gewandtheit der Seeleute war dies für diese nur ein Spiel. Für die Reisenden selbst war ein Weg von vier Meilen zu Fuß nur ein Spaziergang.
Um drei Uhr nachmittags war die Verladung ganz beendet, und der Oberst Everest gab das Zeichen zum Aufbruch. Er ging mit seinen Begleitern, von William Emery geführt, voraus. Der Buschmann, die Schiffsmannschaft und die Wagenführer folgten langsameren Schrittes. Der Marsch war keineswegs ermüdend. Der Weg über die Abhänge, welche zum oberen Lauf des Orange führten, war zwar ein Umweg, aber leichter zu passieren, ein Umstand, der dem schwer beladenen Wagen sehr zustatten kam.
Die Mitglieder der Kommission stiegen leicht den Rücken des Hügels hinan. Ihre Unterhaltung hielt sich im Allgemeinen; vom Zweck ihrer Reise war durchaus nicht die Rede. Die Europäer bewunderten die großartigen Ansichten, die vor ihren Augen abwechselten. Diese großartige Natur, in ihrer Wildheit so schön, entzückte sie, wie sie den jungen Astronom entzückt hatte. Ihre Reise hatte sie noch nicht gegen die Naturschönheiten der afrikanischen Zone unempfindlich gemacht. Sie bewunderten jedoch mit jener Zurückhaltung, welche den Engländern eigentümlich ist. Dem Katarakt schenkten sie einige Beifallsbezeigungen guten Stils. Übrigens glaubte William Emery seinen Gästen den Cicerone Süd-Afrikas machen zu müssen. Er war hier zu Hause, und wie mancher allzu enthusiastische Bürger verschonte er sie mit keinem Detail seines afrikanischen Parkes. Ungefähr um vierundeinhalb Uhr hatte man die Morgheda-Fälle umgangen. Auf dem Plateau angekommen, sahen die Europäer den oberen Lauf des Flusses sich vor ihren Blicken bis ins Entfernteste hinziehen.