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Das Rot des Weins auf den schwarz-weißen Fliesen sah mit einem Mal aus wie Blut. »Ich bin sehr müde«, brachte er heraus und spürte, dass er sich kaum noch aufrecht halten konnte … Der erfolgreiche Makler Mark Sieger steht mit Familie und Geliebter mitten im Leben und ist froh, als sich endlich eine Kaufinteressentin für die »Problemimmobilie«, einen heruntergekommenen alten Hof, findet. Doch den erfolgversprechenden abendlichen Maklertermin überlebt er nicht. Zu Lebzeiten hat sich Sieger wenig Freunde gemacht, und so kann sich das Team des Bielefelder KK11 um Kommissar Domeyer kaum über einen Mangel an Verdächtigen beklagen: die frustrierte Ehefrau, die Mieter, die die geplante Luxussanierung fürchteten, der Cousin, der sich womöglich für die Schließung seines Tattoostudios rächen wollte ... Kurz darauf ereignet sich in Siegers Umfeld ein tödlicher Unfall, doch die Polizei vermutet, dass es sich auch hier um Mord handelt. Könnte das Motiv für beide Taten in der Vergangenheit liegen? Zu spät erkennen die Ermittler das Naheliegende und die tödliche Bedrohung durch ein Opfer, das kein Opfer mehr sein will …
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Seitenzahl: 378
Heike Rommel
Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:
Nacht aus Eis
Das fremde Grab
Zwischen Schatten und Licht
Zerrissene Wahrheit
Kalte Liebe
Schattenleben
Heike Rommel, geb. 1962 in Olpe, hat in Bielefeld u. a. ihr Diplom in Psychologie gemacht und lebt seit über vierzig Jahren in der Stadt. Rund dreißig Jahre lang war sie in verschiedenen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen tätig.
Ihre ersten Schreiberfahrungen machte sie beim Verfassen eines Fantasy-Romans, bevor sie zum Krimi-Genre wechselte, das ihr als leidenschaftlicher Krimileserin und Tochter eines Kriminalbeamten und einer Polizeiangestellten naheliegt. Abgrund aus Schweigen ist bereits der siebte Kriminalroman um Kommissar Dominik Domeyer und sein Bielefelder Ermittlerteam.
www.heike-rommel.de
Heike Rommel
Originalausgabe
© 2024 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von © New Africa - stock.adobe.com
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-95441-702-5
E-Book-ISBN 98-3-95441-713-1
Für Willy
Und für meinen Vater
Freitag, 17. Januar 2014
Samstag, 18. Januar
Sonntag, 19. Januar
Montag, 20. Januar
Dienstag, 21. Januar
Mittwoch, 22. Januar
Donnerstag, 23. Januar
Freitag, 24. Januar
Samstag, 25. Januar
Sonntag, 26. Januar
Montag, 27. Januar
Danksagung
Das jungfräuliche Weiß des Schnees im Kunsthallenpark, der sich an diesem Morgen wie eine gnädige Decke über das grau-braun-schwarze Winterelend gelegt hatte, war bereits befleckt von Hundekot, matschigen Spuren, Brötchentüten und anderem Müll. Mark entdeckte sogar ein gebrauchtes Kondom. Seine teuren Lederschuhe wiesen – jetzt, am Ende seiner Mittagspause – Salzränder auf. Er fluchte, vergrub die Hände in den Taschen seines Wollmantels und stemmte sich gegen den eisigen Wind. Normalerweise zog er sich Outdoor-Boots an, wenn er bei diesem Wetter vom Parkplatz hinter der Kunsthalle zum Mittagessen ins Kachelhaus marschierte. Vergessen.
Split knirschte unter seinen Sohlen, und ihn drückte ein Steinchen, das sich im Schuh verirrt hatte. So wie das verdammte Video, das es längst nicht mehr geben sollte, sich am Vormittag zurück in sein Leben verirrt hatte!
Mark stapfte am Eingang der Kunsthalle vorbei, und eine Frau kam ihm entgegen – mit grün gefärbten Haaren und ausladenden Hüften, über denen sich ihre Leggings unter der kurzen Daunenjacke spannte. Ihre Schenkel rieben beim Gehen aneinander. Unfassbar, wie der Pöbel rumlief. Besser gleich löschen, was, Mark? So lautete die Nachricht, die mit dem Scheiß-Film auf seinem Handy angekommen war. Egal, wie lange er darüber grübelte, er konnte sich das nicht erklären. Es sei denn, dieser verdammte Versager war derjenige, der die Kamera mit dem Video gestohlen hatte …
Auf dem Parkplatz hinter der Kunsthalle wartete der Angestellte der Waschanlage mit dem BMW auf ihn. Wortlos schnappte er sich den Schlüssel. Er stieg ein und fand auf dem Beifahrersitz ein langes, blondes Haar. Er pflückte das Corpus Delicti vom Polster, fuhr das Fenster herunter und warf es hinaus. Gründlich sauber machen, hatte er gesagt, oder etwa nicht?! Mark wurde heiß, er hämmerte aufs Armaturenbrett und stieß einen Schrei aus. Aussteigen und den Typen zur Sau machen? Der verschwand gerade um die Ecke der Kunsthalle. Arbeitete heutzutage eigentlich noch jemand für sein Geld? Er stöhnte. Natürlich hatte er das Video sofort gelöscht. Was vermutlich sinnlos war. Wetten, da kam noch etwas?
Er begegnete seinem Blick im Rückspiegel, fuhr durch seine mit Gel gestylte Kurzhaarfrisur, pulte ein Stückchen Salat aus den Zähnen und schob das Kinn vor. Für seine 38 Jahre sah er passabel aus. Breiter Kiefer, das erste dezente Grau in den aschblonden Haaren, die ersten Lachfältchen um die Augen. Du schaffst das! Bald wird es nur noch eine unangenehme Erinnerung sein. Er lächelte seinem Spiegelbild zu und sah, dass sein Lächeln mehr einer Grimasse glich. Es gab nichts zu beschönigen – und ja, es fiel ihm schwer, an etwas anderes zu denken als dieses Video! Alles, was ihm blieb, war abzuwarten. Er hasste das.
Mark startete den Wagen. Vom Maklerbüro aus würde er Nikki anrufen. Das würde ihn ablenken.
Während die Stadtbahn vor ihm in Brackwede auf der Hauptstraße zuckelte und an den Haltestellen dick vermummte Fahrgäste ausspuckte, ließ er ein paarmal den Motor aufheulen. Leider konnte er nicht überholen. Nach einer gefühlten Ewigkeit bog er in eine der Seitenstraßen ab, wo er auf dem reservierten Parkplatz direkt neben der Stadtvilla parkte, in der sein Büro lag. Er stieg aus, schloss die Haustür auf und öffnete die Tür zum Empfangsraum im Erdgeschoss. Stickige Wärme, Kaffeeduft und die Stimme seiner Sekretärin kamen ihm entgegen.
»Ja, ich glaube, er kommt gerade«, flötete sie, lächelte ihn an und stand von ihrem Bürostuhl auf, um hinter den Empfangstresen zu treten.
Fragend schaute er sie an. Ihre Gattin formten ihre Lippen lautlos. Er blies die Backen auf und starrte auf ihre Brüste, die der eng anliegende Angorapullover mehr als nur erahnen ließ. Janka sah mit ihrer Knollennase nicht hübsch aus, aber ihre Oberweite war spektakulär. Sie hielt ihm das Telefon hin, und er winkte ab. Sie schüttelte mit leicht verzweifelter Miene den Kopf. Er verzog den Mund und nahm den Apparat entgegen.
»Was gibt’s, Sabrina?« Er drehte Janka den Rücken zu und setzte sich in einen der Besuchersessel der Sitzgruppe.
»Ich habe den ganzen Morgen lang versucht, dich zu erreichen!« Ihre Stimme klang heute besonders schrill.
»Ich arbeite, schon vergessen? Irgendwer muss das Geld ja ranschaffen, das du zum Fenster rauswirfst.«
»Heute Morgen wollte ich in einer Boutique in der Altstadt mit meiner EC-Karte bezahlen, aber das ging gar nicht! Weißt du, wie peinlich das ist?«
»Falsche PIN?«
»Natürlich nicht! Du hast die Karte sperren lassen, gib’s zu, Mark!« Ihre Stimme überschlug sich. Er hielt das Telefon weiter weg, wandte sich um, begegnete Jankas Blick, die wieder hinter ihrem Schreibtisch saß, und rollte mit den Augen.
»Dann ist die Karte defekt. Kein Wunder, so oft, wie du sie benutzt.«
»Sag mal, Mark, willst du mich verscheißern?«
»Kein Grund, vulgär zu werden. Hör zu, ich bin im Stress, wir reden später darüber.«
Er drückte das Gespräch weg, stand auf und legte das Telefon auf den Tresen, wo es sofort wieder zu klingeln begann. Sabrina gab niemals Ruhe! »Bitte keine Anrufe von meiner Frau durchstellen, ich will nicht gestört werden, ist das klar?«
Janka nickte und stellte das Gerät auf die Ladestation. Er trottete durch den Flur zu seinem Büro und schloss die Tür hinter sich. Dann ließ er sich in seinen breiten Schreibtischstuhl fallen und den Blick über sein in dezenten Weiß- und Grautönen eingerichtetes Büro schweifen, bis er an dem Foto auf dem Schreibtisch hängen blieb. Ein Urlaubsfoto: Sabrina und er am Strand in der Nähe von Palma, wenn er sich recht erinnerte, im Buggy Klein-Elias mit Mützchen. In diesem Mallorca-Urlaub waren sie noch ein leidlich glückliches Paar gewesen, obwohl er schon damals lieber mit seinen Kumpeln auf die Insel geflogen wäre zum Chillen und Abfeiern – so wie früher. Schließlich war er ein hart arbeitender Mann. Der das Geld nicht so schnell verdienen konnte, wie seine anspruchsvolle Ehefrau es ausgab. Das würde bald ein Ende haben!
Er holte sein Handy aus der Hosentasche und rief Nikki an. »Hallo«, hörte er ihre helle Stimme. »Hier ist die Mobilbox von Nikole Jäger, bitte sprechen Sie nach dem Piepton.« Piep.
»Nikki – Schatz, geh ran!« Er seufzte. »Na gut, okay, ich wollte nur … ich wollte fragen, ob dein Ex dir immer noch Stress macht. Ach ja, und ich habe einen Notartermin gemacht. Beim Anwalt war ich auch schon. Super, oder? Nicht mehr lange, Schatz, ich gehe jetzt in die Offensive. Ähm … wann sehen wir uns? Morgen? Heute Abend kann ich leider nicht, schade, oder? Äh … ja, ich wollte …« Piep.
Der Nachmittag zog sich, die frühe Dunkelheit machte es nicht besser. Janka verabschiedete sich pünktlich um 16 Uhr. Er arbeitete eher unkonzentriert an Objektpräsentationen und dachte zwischendurch immer wieder an den Film. Und daran, dass er ausgerechnet heute Abend, an einem Freitag, um 19 Uhr noch einen späten Makler-Termin haben musste! Aber so wurde er diese zugige Bruchbude hoffentlich endlich los. Der Eigentümer hatte völlig unrealistische Vorstellungen, für welchen Betrag er den heruntergekommenen, umgebauten, alten Hof, dessen Energieausweis die allerschlechteste Energieeffizienzklasse auswies, verkaufen konnte, und er rückte nicht ein Jota davon ab. Beratungsresistent. Für ihn lag der Grund dafür, dass er das Haus noch nicht für einen guten Preis an den Mann gebracht hatte, an Marks angeblich mangelhaftem Engagement.
Die »naturnahe Immobilie für Liebhaber, mit Charme und Charakter«, wie er sie seit fast einem Jahr anpries, erinnerte ihn an ein verwinkeltes Spukhaus, das zu der Schnalle passte, die sich ihrer Aussage zufolge seeeehr dafür interessierte. Seltsame Type. Stark geschminkt, blass, mit langen Haaren, die in einem satten, künstlich wirkenden Rotton glänzten. Sie hätte mit ihren ebenmäßigen Gesichtszügen attraktiv sein können, aber er bevorzugte Frauen mit Kurven an den richtigen Stellen. Davon abgesehen strahlte sie etwas Unangenehmes aus, ohne dass er den Finger drauf hätte legen können, was es war. Und irgendetwas an ihr kam ihm bekannt vor. Nur erinnerte er sich nicht daran, ihr jemals begegnet zu sein.
Für dieses Weibsstück musste er seinen Freitagabend opfern. Und das, obwohl Sabrina am Nachmittag mit einer Freundin zu einem Wellnesswochenende gefahren war und Elias das Wochenende bei den Großeltern verbrachte. Dieser Abend hätte ihm und Nikki gehören sollen!
Es war schon lange dunkel und nasskalt, als er in seinen BMW stieg. Die Adresse lag am Stadtrand in Ubbedissen. Sein Navi führte ihn über die Bodelschwinghstraße den Kamm des Teutoburger Waldes hinauf. Ein heftiger Schauer überraschte ihn am höchsten Punkt. Die Scheibenwischer wedelten hektisch, er hatte Mühe, den Straßenverlauf zu erkennen, und orientierte sich an den Rückleuchten des Wagens vor ihm. Nachdem er in die Detmolder Straße stadtauswärts eingebogen war, ließ der Regen nach. Dafür wurde es zunehmend nebeliger. Er überholte die Straßenbahn, musste aber nach einiger Zeit das Tempo drosseln, weil die Sicht sich verschlechterte.
Am liebsten hätte er den Termin abgesagt, doch das war die letzte Chance, den renovierungsbedürftigen Kasten zu verticken. Er hielt sich rechts und fuhr die alte Detmolder Straße entlang durch Ubbedissen. Er passierte einen Kreisel, in dessen Mitte eine Skulptur zu sehen war, die aus einem rostigen Schaufelrad bestand, und den Wegweiser zur Sternwarte, die er vor zwei Jahren mit seinem astronomiebegeisterten Neffen besucht hatte. Das Haus war abgelegen, und nach einer Weile tönte es aus dem Navi, dass er in 100 Metern rechts abbiegen solle. Nun ging es hoch Richtung Teutoburger Wald. Seine Scheinwerfer beleuchteten mittlerweile eine dicke Nebelwand, und er fuhr Schritttempo, zumal die Straße kurvig wurde. Bitte fahren Sie zur markierten Route. War er am Haus vorbeigefahren?
Er wendete den Wagen, streifte dabei Büsche, die ein unangenehmes, kratzendes Geräusch erzeugten, doch hoffentlich keine Schäden im Lack! Angestrengt starrte er ins Dunkel, bis er im Nebel einen Lichtschein auftauchen sah, und parkte am Straßenrand hinter einem anderen Auto. Wieso Licht? Sie hatten doch vereinbart, sich vor dem Gebäude zu treffen. Aber die Adresse stimmte, oder nicht?
Er holte die Taschenlampe aus dem Handschuhfach, stieg aus und leuchtete den Weg zum Haus entlang, bis der Strahl auf eine Fassade traf, die dringend einen neuen Anstrich benötigte, und auf die Hausnummer. Keine Frage, er war richtig, doch hinter dem Küchenfenster verbreitete eine Lampe Helligkeit. Hatte diese seltsame Dame Janka den Schlüssel aus den Rippen geleiert? Es begann wieder zu regnen, und er eilte zur Haustür, die abgeschlossen war. Auch das fand er merkwürdig angesichts des Lichtscheins, der aus dem Fenster drang. Der Wind frischte auf und peitschte ihm Regen in den Rücken. Mark schloss auf, trat rasch ein und schlug die Tür hinter sich zu, sperrte das Rauschen des Schauers aus. Es war still, nur die Dielenbretter knarrten, während er auf den Streifen Licht zuging, der unter der Küchentür hervorschien. Ein herbes Parfüm streifte seine Nase. Ihr Duft, er erinnerte sich.
Er ließ die Schultern fallen, und ihm wurde die Anspannung bewusst, die sich gerade löste. Was hatte er erwartet? Vermutlich hatte es mit dem Video zu tun, dass seine Nerven blank lagen. Die Dame – er musste einen Moment lang nachdenken, bevor er auf ihren Namen kam – diese Asta Leonhardt plante wohl schon ihre Einbauküche in ihrem neuen Domizil. Er setzte ein verbindliches Lächeln auf, klopfte an die Küchentür und trat ein. Sie wandte sich um, erwiderte das Lächeln mit ihren sehr rot geschminkten Lippen und hob ihm ein Glas Rotwein entgegen. Sie trug ein enges, schwarzes Kleid und Pumps. Mark hob die Brauen und nahm das Glas zögernd an. Wollte die Leonhardt hier eine Party veranstalten?
»Lassen Sie uns feiern, ich nehme dieses Haus.« Sie stieß mit ihrem Glas gegen seines. »Cheers.«
»Dann haben Sie sich schon umgeschaut? Das … das ist ja toll! Und der Preis? Haben Sie sich da schon Gedanken …«
»Der geht in Ordnung, wissen Sie, ich habe mich … einfach in dieses Haus verliebt.« Ihr Lächeln wurde eine Spur breiter. »Legen Sie doch ab.«
Es war kühl in der Küche, trotzdem zog er seinen Wollmantel aus und hängte ihn an einen Haken neben der Tür. »Na, dann Prost … auf Ihr neues Zuhause.«
Mark nippte am Wein und verzog die Lippen, ein quietschsüßes Gesöff!
»Trinken Sie!« Sie nahm einen langen Schluck. »Oder wollen Sie nicht mit mir feiern? Sie streichen doch eine fette Provision ein, oder etwa nicht?«
Er wollte protestieren und ihr vorrechnen, was er alles angestellt hatte, um den alten Hof zu verkaufen, aber er bremste sich. Sie sollte nicht erfahren, wie schwer es ihm gefallen war, den renovierungsbedürftigen und ungedämmten Kasten an einen Käufer zu bringen, sonst überlegte sie es sich womöglich noch anders. Und wenn er die zuckrige Plörre runterkriegen musste, um die Angelegenheit abzuschließen, dann sei’s drum.
»Sie haben recht, trinken wir auf das gute Geschäft, das Sie und ich gemacht haben.« Er grinste, überwand sich und trank das halbe Glas mit einem Zug leer. »Sagen Sie mal …« Er drehte es in den Händen, der Wein leuchtete im Schein der Deckenlampe auf. »Wie sind Sie eigentlich hier reingekommen? Hat meine Sekretärin Ihnen schon einen Schlüssel überlassen?«
Sie sah ihm tief in die Augen, stieß wieder mit ihm an und kicherte. »Ich bin durch die Hintertür eingestiegen.«
War die Frau betrunken?
»Kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.« Sie strahlte ihn an, ihre roten Lippen funkelten mit ihren im selben Rotton lackierten Fingernägeln um die Wette.
Er folgte ihr durch den Flur und durch zwei kleine Vorratsräume zur Gartentür. »Stand die Hintertür denn auf? Die sollte doch zugezogen sein! Hier kommt einmal die Woche ein Hausmeister …« Der Anblick der zertrümmerten Glasscheibe der Hintertür ließ ihn verstummen. Was hatte dieses überdrehte Weibsstück getan?
»Ich werde hier sowieso alles neu machen lassen, keine Sorge.« Sie machte eine ausladende Handbewegung und drehte sich einmal um sich selbst. »Ich war so neugierig, verstehen Sie? Übrigens auch auf Sie.«
»Sie haben mich doch schon im Maklerbüro kennengelernt.« Was sollte das? Wollte die ihn anmachen?
»Aber jetzt trinken wir Wein.« Sie lächelte ihn an und winkte ihm neckisch mit dem Zeigefinger, ihr zu folgen. Sie wanderten zusammen durchs Haus, und sie erklärte ihm, was sie alles verändern wolle.
Wenn der Kaufvertrag unterschrieben war, würde er drei Kreuze machen! Zumal – es war ein langer Tag gewesen und das Ende einer anstrengenden Arbeitswoche. Er unterdrückte ein Gähnen. Er fühlte sich nicht nur müde, sondern regelrecht benommen.
Als sie wieder in der Küche waren, hob sie eine Flasche von der Anrichte. »Sie müssen Ihr Glas schon leer trinken, wenn Sie mehr Wein wollen.« Fragend blickte sie ihn an.
»Mir ist etwas schwindelig. Haben Sie vielleicht einen Stuhl für mich?« Er schaute sich suchend um, es gab etliche Schränke, aber eine Sitzgelegenheit konnte er nicht entdecken.
»Ich fürchte, nein. Wollen Sie noch Wein?«
»Nein, danke, ich muss ja noch fahren«, sagte er steif. »Ich trinke dieses Glas noch aus und …« Er nahm einen langen Schluck, stellte es mit dem Rest Wein auf der Spüle ab, nur um es im nächsten Augenblick mit einer fahrigen Bewegung umzustoßen. Es zerschellte auf dem Boden. Das Rot des Weins auf den schwarz-weißen Fliesen sah mit einem Mal aus wie Blut. »Ich bin sehr müde«, brachte er heraus und spürte, dass er sich kaum noch aufrecht halten konnte …
Kommissar Dominik Domeyer verlor die Geduld und eilte die Treppe seines Hauses zum Bad im Dachgeschoss hinauf. »Hey, Frank, ich glaube, das wird heute nichts mehr mit deiner Frisur.« Er stürmte das Bad, das sein Mitbewohner, Kollege und Freund, Kommissar Frank Tillman Herbst seit einer gefühlten Ewigkeit okkupierte, und verwuschelte dessen blonde Fusselhaare. »Igitt, wie viel Pfund Kleber hast du dir denn in die Haare geschmiert? Oder ist das Pomade?« Dominik spreizte die Finger.
»Haarwachs. Dodo, sag mal, spinnst du? Du hast alles zerstört!«
»Da gibt’s nichts zu zerstören. Seit wann bist du denn so eitel?« Im nächsten Moment gab er sich selbst die Antwort: seitdem sie Jacqueline Oehrlein zu ihrer neuen Putzfrau auserkoren hatten oder zur »Putzfee« – wie Frank die zierliche, kleine Frau mit den dicken, roten Haaren treffend nannte.
»Schau dir das an! Scheiße! Jetzt kann ich wieder von vorn anfangen!« Frank zupfte an seiner Frisur herum.
»Ich schau mir das Elend jeden Tag an, es hat einfach keinen Sinn. Wasch dir das Zeug aus den Haaren und komm endlich, sonst ist Ninas Party vorbei, bevor wir hier loskommen!«
Frank drängte ihn unsanft aus dem Bad und schlug die Tür hinter sich zu. Dominik stieg die Treppe hinunter und ging in die Küche, wo Jacqueline letzte Hand an den Nudelsalat legte. »Bringt einfach etwas zu essen mit«, hatte sich Kommissarin Nina Tschöke zur Einweihungsparty ihres neuen Domizils gewünscht, in das sie gerade erst mit ihrem Freund Stefan eingezogen war.
»Was ist das?« Dominik deutete auf die beiden liebevoll in rosafarbenes Seidenpapier eingewickelten Gegenstände auf dem Tisch.
»Frank meinte, ihr bräuchtet noch ein Geschenk. Ich habe ein Feng-Shui-Buch und einen Traumfänger für eure Kollegin und ihren Freund gekauft, du kannst dich gerne noch beteiligen.« Jacqueline lächelte ihn an.
»Klar.« Dominik bezweifelte, dass die beiden viel damit anfangen konnten, zumal Stefan als Designer vermutlich schon alles perfekt eingerichtet hatte.
Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie loskamen. Zum Glück hielt sich der Verkehr auf dem Ostwestfalendamm in Grenzen, sodass sie die Strecke von Schildesche nach Quelle in kaum zwanzig Minuten schafften. Nina öffnete die Haustür mit einem Sektglas in der Hand, und Musik und Stimmengewirr drangen nach draußen. Die Party war offenbar schon in vollem Gange.
»Ah, wie schön, kommt rein.« Ninas Wangen waren gerötet, ihre modische Hornbrille leicht beschlagen. Sie trug ein eng anliegendes blaues Kleid, das ihre schlanke Figur betonte, an ihren Ohrläppchen funkelten lange, in Blautönen changierende Ohrhänger.
»Wow, Nina, du hast dich ja richtig schick gemacht!«, rief Frank.
»Als ob ich nicht immer schick wäre.« Nina kicherte. Sie schien einen Schwips zu haben.
Dominik konnte sich nicht erinnern, jemals ein Kleid an der sonst eher burschikos auftretenden Kollegin gesehen zu haben. Hinter ihr tauchte ein strahlender Stefan auf und begrüßte die Neuankömmlinge. Auch Ninas Freund sah verändert aus. Er trug das dichte, braune Haar mittlerweile so lang, dass es sich im Nacken kräuselte, und er hatte sich den Bart abrasiert. Außerdem war sein ehemals rundliches Gesicht deutlich schmaler geworden, der Bauch verschwunden. Es hatte Missverständnisse und eine Trennung gegeben, bevor die beiden wieder zusammengefunden hatten, aber jetzt schienen sie glücklich zu sein.
Stefan nahm den Nudelsalat und die Geschenke entgegen. Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, klingelte es erneut, und Nina öffnete.
»Hanna!«
Dominik, der es geschafft hatte, seine Jacke auf einen der letzten freien Kleiderbügel in der übervollen Garderobe zu zwängen, wandte sich um.
Nina umarmte eine schmale, hellblonde Frau in dickem Daunenmantel und löste sich dann von ihr. »Gott, wie lange ist das jetzt her, Hanna? Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe, wir hatten alle Hände voll zu tun mit der neuen Wohnung und … du weißt ja, wie das ist. Komm, ich nehme dir den Mantel ab. Also du siehst … gut siehst du aus … du hast abgenommen, oder?«
»Ja, Nina, ich habe ein bisschen abgenommen, jetzt passe ich wieder in meine alten Jeans.« Diese Hanna, die unter dem Daunenmantel zum Vorschein kam, wirkte nicht schlank, sondern dürr, was auch der weite, rote Pullover nicht verbergen konnte, und außerdem sehr blass.
»Das mit Niklas – dass ihr euch getrennt habt – das habe ich erst zufällig erfahren, als ich ihm neulich beim Einkauf auf dem Köckerhof …«
»Schon gut, Nina, mir geht es gut, wirklich, manchmal …« Den Rest bekam Dominik nicht mehr mit, weil er Frank und Stefan zum Buffet in der Küche folgte, wo sie sich in die Schlange einreihten.
»›Gut siehst du aus‹? Ich glaub, Nina hat schon einen im Kahn.« Frank sah ihn stirnrunzelnd an.
»Man nennt es auch Höflichkeit.«
»Also ich finde nicht, dass diese Freundin von ihr gut aussieht. Ein richtiger Hungerhaken. Ich hätte nie den Ehrgeiz, in meine alten Jeans reinzupassen.«
»Glaube ich dir sofort.« Dominik betrachtete Franks Bauch, der sich über dem Gürtel wölbte.
»Brauchst gar nicht so zu gucken. Jacqueline findet meinen Bauch gemütlich.«
»Aha?« Er holte sich einen Teller und Besteck. Dass sich zwischen der »Putzfee« Jacqueline und Frank freundschaftliche Bande gebildet hatten, war nicht mehr zu übersehen, aber ihr Verhältnis schien inzwischen darüber hinauszugehen.
»Wenn man modisch auf der Höhe bleiben will, tritt man seine alten Jeans in die Tonne.« Frank schaufelte sich Nudelsalat auf seinen Teller. »Stell dir vor: Ottfried kommt nicht zur Party, habe ich gehört. Zu sehr im Stress. Zuerst hat er ewig lang Rücken und dann, zack: Pension. Da hat man natürlich keine Zeit für die früheren Kollegen.«
»Vielleicht ist Weber mit seinem Shanty-Chor auf Tournee. Oder er macht Johnny Cash Konkurrenz.«
»Mann, Dodo, was bin ich froh, noch berufstätig zu sein und Zeit ohne Ende zu haben!«
»Nur kein Neid.« Dominik grinste. Frank war nicht für übermäßigen Arbeitseifer bekannt.
Nach dem Essen gab Nina ihnen eine kurze Führung durch die geschmackvoll eingerichtete Wohnung. Stefans Einfluss war unverkennbar, er schien einen Stilmix zu bevorzugen. Neben modernen Elementen mit klaren Formen und kühlen Farben gab es altes Holz zu sehen und verspielte Muster auf Kissen und Vorhängen. Die meisten der Gäste, darunter viele Paare Mitte dreißig, in Ninas Alter, die sich mit ihren Sektgläsern in der Küche, im Wohnzimmer und dem Wintergarten aufhielten, kannte Dominik nicht – vermutlich waren es überwiegend Freunde von Stefan.
Zum Schluss zeigte Nina Frank und ihm das Schlafzimmer und erklärte die Herkunft des großen, runden, kunstvoll gedrechselten Wandornamentes aus weiß gestrichenem Holz, das vor der türkisfarbenen Wand über dem Bett gut zur Geltung kam. Während sie von Stefans Marokko-Reise erzählte und was er da alles gekauft habe, schweiften Dominiks Gedanken ab. Zwischen all den jungen Gästen kam er sich plötzlich alt vor. Er erinnerte sich noch gut an die Krise, die Frank vor nicht einmal einem Jahr um dessen vierzigsten Geburtstag herum ereilt hatte. Und er selbst wurde im August fünfzig! Seitdem zwei Kollegen in Pension gegangen waren, gab es nur noch einen aus ihrem Team, der ein paar Jahre älter war als er: Bent Anderson, der Mordkommissionsleiter.
Nachdem die Herkunft diverser Stilelemente hinlänglich geklärt war, verließen Frank und Nina den Raum. Dominik wandte sich auch zum Gehen – und stutzte: Halb verdeckt von einem Pouf – ebenfalls der Marocko-Reise geschuldet –, entdeckte er einen weißlichen Schmierfleck auf dem langflorigen, dunkelblauen Teppich. Eine Fleckspur zog sich bis zu den Vorhängen vor den bodenlangen Fenstern, unter denen zwei Paar Füße in Pantoffeln hervorragten.
Dominik lächelte. Es konnte sich nur um Ninas Bruder Kai und seine Freundin Bine handeln, die beide das Down-Syndrom hatten. »Kai?« Der Vorhang bewegte sich, doch niemand kam hervor. Er zog den Stoff zur Seite. Kai und Bine starrten ihn aus großen Augen an. Sie hielten Teller mit Kartoffelsalat und Würstchen in den Händen, vermutlich die Quelle des Desasters. Ein verschmierter Lappen, mit dem sie offenbar versucht hatten, das Malheur zu beseitigen, und stattdessen die Mayonnaise tiefer in den Teppich einmassiert hatten, hing aus Kais Hosentasche.
Sein Kinn zitterte. »Dodo, bitte nicht Nina sagen!«
»Das klappte nicht mit dem Wegwischen, was?« Dominik schob vorsichtig den Pouf beiseite und begutachtete den weißen Riesenfleck.
Bine schüttelte den Kopf, eine Träne rollte über ihre Wange. »Der Teppich ist doch noch neu!«
»Ich hol uns einen Eimer Seifenwasser und einen sauberen Lappen, und danach föhnen wir das Ganze, und Nina und Stefan kriegen das gar nicht mit.«
Die beiden nickten eifrig.
Es erwies sich zunächst als schwierig, zumal sowohl die Gästetoilette als auch die Toilette im Bad besetzt waren. Schließlich gelang es ihm, die Utensilien unauffällig hinauszuschmuggeln, und sie machten sich an die Arbeit. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie es geschafft hatten und den Teppich und die Unterseite des Poufs trocken geföhnt waren. Zum Schluss umhalste ihn Kai unvermittelt und gab ihm einen Kuss auf die Wange, rutschte ab und traf sein Hemd. Nachdem Dominik die Mayo auch von dem schwarzen Stoff entfernt hatte, stürzten sie sich wieder ins Getümmel, in dem geräumigen Wohnzimmer wurde bereits getanzt. Kai klatschte in die Hände und zog Bine mit sich auf die Tanzfläche.
Frank stand mit einem Bier am Rand, starrte auf sein Handy und gähnte. Dann schaute er auf. »Sag mal, wo hast du dich denn die ganze Zeit versteckt? Ich kenne hier kein Schwein. Ich hatte gehofft, Jacqueline käme mit, aber die hat ja ihren Mädels-Abend.«
»Wo ist denn Bent?«
»Der steht draußen im Garten und redet mit Hungerhaken-Hanna. Ich habe eben draußen eine geraucht und neben denen gestanden. Die ist wohl Therapeutin. Auf dieses Psycho-Gequatsche habe ich keine Lust, das kann ich dir sagen!«
Dominik reckte den Kopf. Hanna schien von den Tanzenden verdeckt zu sein, doch er erspähte die riesenhafte, athletische Gestalt des Mordkommissionsleiters hinter der Glastür zur Terrasse.
Frank war seinem Blick gefolgt. »Ich versteh das alles nicht mehr, Dodo. Und der soll schwul sein?«
Mit seiner Statur, dem strengen, aschblonden Kurzhaarschnitt und den Narben im Gesicht wirkte Bent eher wie ein Söldnerführer, als dass er dem Klischee eines Homosexuellen entsprach – oder dem, was Frank sich darunter vorstellen mochte. Aber das Gerücht war seit ein paar Wochen in der Welt.
»Ich weiß auch nicht.« Unvermittelt ertönte What shall we do with the drunken sailor aus dem Handy in Dominiks Hosentasche. Kurz vor Ottfried »Shanty« Webers Pensionierung hatte er sich diesen Klingelton von ihm aufschwatzen lassen. Er holte es heraus. Ernst? Wenn der Kommissariatsleiter Ernst Meyer zu Bargholz anrief, konnte das nur eins bedeuten: ein neuer Fall!
* * *
Nachdem die Therapeutin ihre dritte Zigarette geraucht hatte, begaben Bent und sie sich wieder ins Warme, in die mittlerweile verwaiste Küche. Am Buffet gab es noch diverse Salate und Platten mit Blätterteigtaschen und anderen Snacks.
»Haben Sie überhaupt schon was gegessen, Hanna? Ich kann die vegetarischen Frikadellen empfehlen, und da entdecke ich …«
»Mein Magen macht mir zu schaffen, ich möchte nur was trinken.« Die schmale Frau goss sich ein Glas Wasser ein und wandte sich um. »Nach dem, was Sie mir erzählt haben … haben Sie schon einmal an eine Therapie gedacht?«
Bent setzte sich auf einen der an den Rand geschobenen Stühle und trank einen Schluck eiskaltes Bier aus seiner Flasche. Er hatte ihr eine Menge erzählt, vielleicht, weil sie eine Fremde war, die er nach dieser Party nie wiedersehen würde. Und sie konnte gut zuhören, schien wie er keine Lust auf den üblichen Small Talk zu haben. Seine Freunde hingegen würden ihn für verrückt erklären, wenn sie wüssten, was in ihm vorging. »Schön … ja, kann man so was wirklich wegtherapieren lassen?« Er fuhr mit dem Daumen über das beschlagene Etikett auf der Bierflasche. Plötzlich klingelte sein Handy. Er drückte den Anruf weg.
Hanna lächelte, was ihre fast ausgemergelten Züge weicher erscheinen ließ. Sie griff nach ihrem Glas Wasser und setzte sich neben ihn. »So einfach ist das natürlich nicht. Aber interessant für Sie wäre, sich bewusst zu werden, was hinter diesem Muster steht, sich immer wieder in die falsche Person zu verlieben. Geht es womöglich um eine tiefsitzende Angst vor einer realen Beziehung? Und wenn ja, woher kommt diese Angst, und wie können Sie diese Angst bewältigen? Das könnte man zum Beispiel in einer Therapie klären.«
»Sie behandeln Traumapatienten?«
»Nicht nur.«
»Und die Wartezeit beträgt … wie viele Jahre?«
»Das kommt darauf an. Falls Sie auch mal an einem Vormittag Zeit hätten, könnte ich Ihnen schon am Montag das erste von fünf Probegesprächen anbieten. Ich habe seit einer Weile keine neuen Klienten mehr angenommen, und mehrere Therapien sind in letzter Zeit ausgelaufen. Und Sie sind ein Freund von Nina, also …«
»Und danach könnte ich mich immer noch dagegen entscheiden?«
»Sicher. Dafür sind die probatorischen Sitzungen ja da: zum Ausprobieren. Aber vielleicht möchten Sie auch erst noch einmal darüber nachdenken, ein paar Nächte darüber schlafen und …« Die Tür schwang auf, und Hanna brach ab.
Dominik trat in die Küche, er hielt sein Handy hoch, und seine Baritonstimme drang an Bents Ohr. Er verstand kein Wort, ertappte sich wieder dabei, den schönsten Kerl, den er je gesehen hatte, einfach nur anzustarren. Das ging ihm manchmal noch immer so, obwohl er regelmäßig mit dem Kollegen zusammenarbeitete. Der schaute ihn aus seinen großen, braunen Augen fragend an, er wartete offenbar auf eine Antwort. Auf seinem fein geschnittenen Gesicht zeichnete sich zunehmend Verwirrung ab. Er strich sich eine dunkelbraune Locke aus der Stirn. »Bent?«
»Schön … ja … ich habe das akustisch gerade nicht …«
»Hast du dein Handy ausgeschaltet? Ernst …«
»Hat versucht, mich zu erreichen?«
Dominik nickte. »Das war’s dann wohl mit der Party. Eine männliche Leiche ist in einem leer stehenden Haus gefunden worden. Das Gebäude sollte wohl verkauft werden, und die Nachbarin hat sich gewundert, dass im Garten Scherben lagen, und hat dann eine eingeschlagene Scheibe entdeckt. Es klang für die Kollegen nach einem Einbruch, aber nachdem sie vor Ort waren, haben sie ihre Meinung geändert: sieht nach einer Angelegenheit für uns aus.«
»Also kein Penner, der in ein leer stehendes Haus eindringt, um seinen Rausch auszuschlafen, und dann verstirbt?«
Dominik schaute kurz zu Hanna, deren bleiches Gesicht noch eine Spur blasser geworden war. »Ich fürchte, es ist komplizierter.«
»Hanna, keine Angst, wir ersparen Ihnen die Einzelheiten«, sagte Bent.
»Das wäre jedenfalls kein Beruf für mich. Ich stelle mir das sehr belastend vor. Hut ab vor dem, was Sie leisten!« Sie griff nach ihrem silbernen Kettenanhänger, der die Form einer Insel hatte, und umschloss ihn so fest mit der Hand, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Dominik steckte sein Handy wieder in die Hosentasche. »Bent, wir sollten …«
»Ernst will mich?«
»Uns. Dich als Leiter der Mordkommission, Nina, Frank und mich. Das bewährte Team.« Er lächelte. »Nina darf ihre Party noch zu Ende feiern, wir nicht.«
Bent gab das Lächeln zurück, obwohl ihm nicht danach zumute war. Der Kommissariatsleiter hielt große Stücke auf diese Konstellation, aus seiner Sicht die »erfolgreichste Truppe« des KK-11. Welchen Grund sollte es also geben, die Zusammenstellung zu ändern?
»Wir könnten sofort zum Fundort fahren«, machte Dominik weiter, »wenn du …«
»Ich rufe Ernst erst mal zurück.«
Dominik hob die Brauen, sein Blick wanderte zwischen Hanna und Bent hin und her. »Gut, ich … ich bin dann im Wohnzimmer. Ich habe keinen Alkohol getrunken, ich könnte mit meinem Privatwagen fahren. Sag einfach Bescheid, wann du loswillst.«
Bent nickte, und der Kollege verließ die Küche. Er holte tief Luft. »Sehen Sie? Das ist das Problem.«
»Schwierig, Abstand zu bekommen, wenn man Teil eines bewährten Teams ist? Das sind Sie doch, oder?«
»Ja, sind wir. Der Kommissariatsleiter würde nicht verstehen, warum ich nicht mehr mit Dominik zusammenarbeiten möchte. Am besten, ich wechsele die Stadt, oder noch besser, das Land!«
»Oder den Kontinent?«
»Den Planeten.« Bent stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Oder das Sonnensystem.« Hanna lachte leise. »Sie haben mir erzählt, dass Sie schon einmal geflüchtet sind – von Flensburg nach Bielefeld, um Abstand zu gewinnen zu ihrem Ex-Freund. Und? Was hat Ihnen das gebracht?«
Er rieb sich das Gesicht. »Ich ahne, worauf Sie hinauswollen.«
»Was meinen Sie? Vielleicht finden Sie eine andere Lösung, als wieder zu flüchten, eine andere Haltung zu den Dingen. Die Ostsee gegen den Obersee, war das ein guter Tausch?«
Bent musste wider Willen grinsen. Er nahm die Hände herunter und richtete sich auf. »Helfen Sie mir dabei? Ich glaube, es muss bald sein, ich bin ein schwerer Fall.«
Sie kramte in ihrer Umhängetasche und zog eine Visitenkarte hervor. »Rufen Sie mich Montag um acht Uhr in meiner Praxis an. Ich denke, wir kriegen einen schnellen Termin hin.«
»Danke, Hanna! Es hat wirklich gutgetan, mit Ihnen zu sprechen.« Er betrachtete das Kärtchen. Hanna Cordes, psychologische Psychotherapeutin. Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologisch fundierte Therapie, Traumatherapie.
»Na, dann an die Arbeit, Herr Kommissar. Tun Sie das, was Sie am besten können.« Sie lächelte.
* * *
Auf dem letzten Stück des Weges begann Dominik, sein Angebot zu bereuen, mit seinem neuen Citroën zum Fundort zu fahren. Er war durch ein tiefes Schlagloch geholpert, das er im Nebel nicht hatte kommen sehen.
»Wie gut, dass wir nicht mit meinem Auto gefahren sind«, ließ sich Frank zu allem Überfluss von hinten vernehmen.
»Wir haben es gleich geschafft.« Bent deutete nach vorn, wo im trüben Dunst Blaulichter zu erkennen waren.
Dominik parkte ein Stück entfernt. »Meine Güte, ist das eine Suppe!«
Aus der Suppe schälten sich allmählich die Konturen von vier Dienstwagen und einer Gruppe von Menschen heraus, die sich vor einem langgestreckten Gebäude versammelt hatte. Es sah aus wie ein alter, mehrfach umgebauter Hof. Der Nebel konnte die abblätternde Fassadenfarbe und die Risse im Putz nicht verbergen. Beim Näherkommen hörte Dominik leises Stimmengewirr und Hundegebell. Zwei Polizisten standen vor der offenen Eingangstür.
Susanne Meybrink von der Schupo tauchte aus den Schwaden auf. »Sieh an, die Kripo. Ihr werdet schon sehnsüchtig erwartet.«
»Hallo, Susanne. Wie ist die Lage?«
»Die Luft ist rein, Dodo, Bella ist schon abgedampft.« Sie grinste von einem Ohr zum anderen.
Offenbar hatte es sich schon bis zur Schupo herumgesprochen, dass Bella Schnathorst, die Leiterin des Erkennungsdienstes, eine unerwiderte Schwäche für Dominik besaß.
»Aber die Spusi ist noch drin, oder?«, fragte Frank.
»Noch eine ganze Weile, nehme ich an.«
»Wer hat den Notruf abgesetzt?« Bent schaute zu dem Grüppchen der Schaulustigen.
»Die Frau mit dem Hund. Sie …«
Bent ließ die Kollegin stehen und stapfte auf die Dame in dem für die Witterung zu dünnen, gelben Regenmantel zu, die einen winzigen, schwarz-weiß gefleckten Kläffer an der Leine hielt. Susanne starrte ihm hinterher.
Dominik hob die Hände und lächelte entschuldigend. »Erst trödelt er herum, dann ist er nicht mehr zu bremsen. Ist die Rechtsmedizin schon vor Ort?«
»Dr. Dr. von Ascheberg ist im Anmarsch. Dann wünsche ich viel Erfolg!«
»Danke, Susanne.« Er und Frank gesellten sich zu Bent, der sich gerade von dem gelben Regenmantel abwandte.
»Sie war heute Abend mit ihrem Hund unterwegs und ist einen Weg gegangen, der hinter dem Hof entlangführt. Dabei ist ihr die eingeschlagene Scheibe der Tür zum Garten aufgefallen«, berichtete Bent. »Nach ihrer Runde mit dem Tier hat sie direkt die Polizei verständigt. Sie wollte nicht selbst nach dem Rechten sehen, denn sie hatte Angst, dass der Einbrecher noch im Haus sein könnte. Frank, hier sind die meisten Nachbarn versammelt, am besten, du beginnst gleich mit der Befragung.«
Ohne ein weiteres Wort bahnte sich Bent seinen Weg durch die Gruppe und steuerte auf den Hauseingang zu. Dominik folgte ihm. Vor dem Eingang ließen sie sich Overalls und Schuhüberzieher geben. Im Flur empfing sie grelles Scheinwerferlicht, am Ende des Flurs gab eine offene Tür den Blick auf eine Gestalt frei, die auf schwarz-weißen Bodenfliesen lag. Der Kopf des Mannes war von einer Plastiktüte bedeckt, die am Hals fest mit einer Kordel verschnürt war. Auf dem Boden waren Spuren einer roten Flüssigkeit zu erkennen, vermutlich Rotwein.
»Wie du siehst: ganz und gar kein Penner.« Dominik kniete sich neben die Leiche, der weiße Schutzanzug raschelte.
»Es sei denn, die Penner von heute sind wohlgenährt und tragen Maßanzug und Rolex«, gab Bent zurück. »Der Täter hat es jedenfalls nicht auf Diebesgut abgesehen.«
Ein Overall verdeckte kurz einen der Scheinwerfer, die vom Flur aus die Küche beleuchteten.
»Sascha?«, rief Dominik.
»Jaha?« Sascha Sudhölter vom Erkennungsdienst betrat den Raum.
»Habt ihr die Plastiktüte schon untersucht?«
»Nein, aber nehmt sie ruhig ab.«
»Wird es länger dauern mit den Ergebnissen für die Tüte?«, fragte Dominik.
»Wir beeilen uns. Aber stimmt schon, bei Kunststoff ist das aufwendig. Die Tüte kommt in die Hochvakuumkammer, wird mit Goldlage bedampft, und mit viel Dusel haben wir dann Fingerabdrücke.« Sascha kniete sich neben ihn. »Den Knoten haben wir schon fotografiert, es handelt sich um eine Schlinge.«
Dominik zog sich Gummihandschuhe über und löste die Schlinge vorsichtig. »Ziemlich fest zugezogen. Da wollte jemand ganz sichergehen.«
Sascha nahm die Kordel in Empfang, danach die Plastiktüte, die Dominik dem Toten entfernt hatte. Das aufgedunsene, breite Gesicht eines hellhäutigen Mannes kam zum Vorschein, die blauen Augen waren weit aufgerissen, die graue Gesichtsfarbe war dem Erstickungstod geschuldet. Der Hals wies rotunterlaufene Abdrücke des Stricks auf.
»Der ist nicht älter als Mitte vierzig, eher jünger«, bemerkte Dominik.
»Da liegst du richtig. Wir haben in seinem Mantel die Brieftasche mit EC-Karte und Kreditkarte, den Personalausweis und eine Visitenkarte gefunden, aber kein Handy. Der Tote war Makler«, sagte Sascha Sudhölter. »Liegt alles eingetütet da drüben auf dem Tisch.«
Bent streifte Gummihandschuhe über. »Schön … ja, habt ihr sonst noch etwas für uns?«
»Ein langes, rotes Haar lag unter dem Küchentisch, außerdem kleine Glassplitter auf den Fliesen. Vermutlich ist hier ein Glas zerbrochen, das würde die rote Flüssigkeit auf dem Boden erklären, aber offensichtlich sind die übrigen Scherben mitgenommen worden, denn wir haben sie nirgendwo entdecken können.«
»Ein Täter, der gut hinter sich aufräumt. Ihr müsst diese rote Flüssigkeit …«
»Sicher, Dodo, eine Probe ist auf dem Weg ins Labor. Ach ja, noch etwas, am Innenknauf und Außenknauf der Hintertür haben wir keine Fingerabdrücke sichern können. Der Täter könnte sich über das eingeschlagene Fenster Zutritt verschafft haben, denn von innen kann man den Knauf drehen und die Tür damit öffnen. Nichts, nada, es wirkt wie sorgfältig abgewischt. Mal was anderes: Läufst du den Hermann dieses Jahr mit? Die Laufgruppen starten Ende Januar.«
»Hm.« Dominik hatte das Joggen in der dunklen Jahreszeit vernachlässigt. »Ich fürchte, da müsste ich mich im unteren Leistungsbereich einreihen.«
»So ein Blödsinn.« Sascha boxte ihn gegen den Arm. »Lass uns am Wochenende mal wieder trainieren gehen.«
»Okay … ja gerne, wir telefonieren.«
Bent inspizierte den Inhalt der Tüte auf dem Tisch. »Wir haben es mit einem gewissen Mark Sieger zu tun, wohnhaft in Bielefeld.« Dominik schaute auf, direkt in Bents graue Augen. »Kommst du mit?«, fragte der Mordkommissionsleiter.
»Sicher.« Dominik stand auf. Den Angehörigen die Nachricht vom Tod eines Opfers zu bringen, gehörte nicht zu seinen Lieblingsaufgaben, aber er wollte Bent damit nicht allein lassen.
* * *
Zusammen mit Bent fuhr Dominik die Heeper Straße entlang und passierte die Radrennbahn auf der linken Seite, eine Schrebergartenkolonie und ein Altenheim rechter Hand und bog dann rechts ab. Die Gegend war geprägt von großzügig geschnittenen Einfamilienhäusern und gepflegten Gärten. Unter Mark Siegers Adresse entdeckte Dominik ein modernes Gebäude mit einer breiten Glasfront, die durch hochgewachsenes Bambusgras von der Straße abgeschirmt wurde. Hier war auch eine Sabrina Sieger gemeldet, vermutlich die Gattin.
Er parkte den Wagen am Straßenrand. »Wir sind da. Ganz in der Nähe vom alten Meierhof.«
»Muss man den kennen?«
»Empfehlenswert. Ein historisches Anwesen mit Wassermühle, sehr hübsch mit Teich. Man kann von der Innenstadt aus nur durch Parks dahin spazieren gehen und …«
»Dann lass uns das mal tun.«
Scherzte der Mordkommissionsleiter? Dominik sah ihn irritiert an, doch er verzog keine Miene. »Ähm …«, machte Dominik.
»Komm, bringen wir es hinter uns.« Bent stieg aus.
Im Haus war alles dunkel, abgesehen von den beleuchteten Sternen, die hinter dem bodentiefen Fenster zum Vorgarten hingen – Reste einer Weihnachtsdeko. Der melodische Klingelton verhallte. Dominik drückte einige Male auf die Klingel, mit dem Erfolg, dass im Nachbarhaus Licht anging. Eine Minute später öffnete sich die Haustür, und eine Dame mit kurzen, grauen Haaren und im wattierten Morgenmantel lugte um die Ecke.
Bent sprach sie an. »Entschuldigung, wir müssen dringend mit Frau Sieger sprechen. Wissen Sie, wo wir die finden können oder wann sie zurückkommt?«
»Was wollen Sie denn von ihr?«
»Kripo Bielefeld.« Bent trat näher, und ein Bewegungsmelder tauchte ihn in grelles Licht. Er zeigte seinen Dienstausweis.
Die Dame zog eine Lesebrille aus der Tasche ihres Morgenmantels, setzte sie auf und studierte den Ausweis sorgfältig, bevor sie die Brille abnahm. »Meine Schwiegertochter ist zu so einem superteuren Wellnesswochenende in der Nähe von Bad Lippspringe gefahren. Vor Sonntagabend rechne ich nicht mit ihr. Hat sie wieder was bestellt und nicht bezahlt?«
Bent räusperte sich. »Ihre Schwiegertochter … dann … könnten wir kurz mit reinkommen? Wir müssen Ihnen etwas Wichtiges mitteilen. Frau Sieger, richtig?«
»Korrekt, Ellen Sieger. Etwas Wichtiges … bitte kommen Sie doch rein.« Sie geleitete die beiden in ein großflächiges Wohnzimmer, das von schweren Möbeln aus dunklem Holz dominiert wurde. Sie sanken tief in die Polster eines wuchtigen Sofas ein. Sie nahm ihnen gegenüber auf einem Sessel Platz. »Und was hat Sabrina wieder verbockt? Sie müssen wissen …«
»Es geht um Ihren Sohn Mark«, unterbrach Bent.
Sie schaute von einem zum anderen und runzelte die Stirn. »Unseren Sohn? Ich verstehe nicht … ist etwas …?« Sie biss sich auf die Lippen. »Mark ist noch aus, vielleicht ist er essen gegangen mit einem Freund, wir spielen nämlich gerade Babysitter. Das tun wir gerne, unser Enkel Elias macht uns wirklich Freude, denn …«
»Frau Sieger, wir sind nicht auf der Suche nach ihm, wir müssen Ihnen etwas mitteilen.«
»Ich hole meinen Mann.« Sie lächelte gepresst, sprang auf und eilte aus dem Wohnzimmer.
Dominik tauschte einen Blick mit seinem Kollegen. »Sie hat Angst, es zu erfahren. Weil sie ahnt, was es sein könnte.«
Bent nickte. »Ich bin froh, dass du dabei bist. Es ist jedes Mal … schwer zu ertragen.«
Kurz darauf tauchte das Ehepaar Sieger wieder auf. Herr Siegers grauer Haarkranz stand in alle Richtungen ab, auch er hatte sich einen Morgenmantel übergeworfen. Beide setzten sich, saßen sehr gerade auf der Sesselkante, als könnten sie schlimme Nachrichten auf diese Weise besser verkraften. Frau Sieger griff nach der Rechten ihres Ehemanns. Bent teilte ihnen mit wenigen, sachlichen Worten mit, was geschehen war, ohne Einzelheiten zu nennen. Sie schluchzte auf und klammerte sich an ihren Mann, der blass geworden war. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich halbwegs gefasst hatten.
Herr Sieger reichte seiner Frau ein Taschentuch, und sie putzte sich die Nase. »Aber wieso? Wieso nur? Unser Sohn war zu allen höflich und aufmerksam! Er hat viel gearbeitet und sich um seine Familie gekümmert. Er hat ein anständiges Leben geführt, er ist nicht so ein Hallodri wie sein Cousin Patrick, er …«
»Ellen«, sagte ihr Mann leise. »Das hat doch damit nichts zu tun.«
»Wenn es Patrick erwischt hätte …«, ihre Stimme wurde schrill, »würde mich das gar nicht wundern, aber Mark?«
»Liebes, die Welt ist nicht gerecht.«
Sie barg den Kopf an seiner Schulter, ihr Kinn bebte. Ihr Mann umklammerte sie wie ein Ertrinkender.
»Wer kann das nur gewesen sein?«, bemerkte Herr Sieger mit tonloser Stimme.
Eine Zeit lang herrschte Schweigen. Sie wischte sich die Tränen ab, löste sich von ihm und starrte auf das zusammengeknüllte Taschentuch in ihrer Hand, als fragte sie sich, wie es dorthin gekommen war. »Ich brauche ein Glas Wasser.« Sie stand auf, taumelte kurz und verließ das Wohnzimmer mit unsicheren Schritten.
Bent räusperte sich. »Herr Sieger, hat sich Ihr Sohn in letzter Zeit vielleicht anders verhalten als sonst?«
»Nein«, gab er zurück. »Nicht, dass ich wüsste, jedenfalls. Er ist immer sehr beschäftigt … gewesen. Im Maklerbüro. Wir haben ihn nicht so oft gesehen. Ich habe auch … ich habe wirklich keine Idee … Ich weiß nicht, wie das beruflich bei ihm war, ob er da vielleicht jemandem auf die Füße getreten ist.«
Bent nickte. »Die berufliche Seite schauen wir uns natürlich auch an.«
Wieder herrschte Schweigen. Herr Sieger furchte die Stirn und schüttelte den Kopf, so als ginge er in Gedanken das Leben seines Sohnes durch auf der Suche nach einem möglichen Motiv.
Kurz darauf kehrte seine Frau zurück und setzte sich neben ihn.
»Geht es wieder?«, erkundigte sich ihr Mann.
Sie straffte sich und lächelte dünn. »Machen wir weiter.«
»Frau Sieger, gab es einen Konflikt in Marks Leben? Jemand, mit dem er wegen irgendetwas über Kreuz lag?«, fragte Dominik.
»Mir fällt … das Einzige, was mir einfällt …«, begann sie. »Jetzt gerade muss ich daran denken, dass Mark dem Gesundheitsamt einen Tipp gegeben hat und sein Cousin Patrick sein verkommenes Tattoostudio hat schließen müssen.« Sie wandte sich an ihren Mann. »Stell dir mal vor, Manfred, was, wenn Patrick sich gerächt hat? Dem traue ich alles zu!«
»Das ist mindestens ein halbes Jahr her. Und Mark war früher auch kein Kind von Traurigkeit.«
»Das kannst du doch gar nicht vergleichen! Mark hat sich vor bestimmt schon fünfzehn Jahren von diesen Leuten distanziert, auch von Patrick.«
»Frau Sieger, Sie glauben, Marks Cousin könnte etwas mit seinem Tod zu tun haben?«, fragte Dominik.
»Ja, Patrick Kristen, der Sohn meiner Schwester. Er hat früher gedealt und ist Tätowierer«, sagte sie in einem verächtlichen Ton. »Er hat wohl auch mal ein Studium angefangen, irgend so ein Laberfach, aber natürlich nach ein paar Semestern geschmissen. Vor etwa fünfzehn, zwanzig Jahren waren die beiden eng, aber Mark hat dann Gott sei Dank einen anderen Weg eingeschlagen.«
»Hatten die beiden in letzter Zeit Kontakt?«, fragte Bent.