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"Mit klopfendem Herzen näherte sie sich der Tür, die auf und zu schlug, dahinter war nichts als Dunkelheit. Die Axt lag schwer in ihrer Hand." Im beschaulichen Kirchdornberg macht kurz vor Weihnachten die schockierende Nachricht vom Mord an dem 18-jährigen Arztsohn Jakob Heitbreder die Runde. Seine grausam zugerichtete Leiche wurde in der Nähe des Fernsehturms gefunden. Ein Eifersuchtsdrama unter Teenagern? Oder hatte sich Jakob mit den falschen Leuten eingelassen? Bei den Ermittlungen gerät das Bielefelder KK11-Team um Kommissar Dominik Domeyer zu-nehmend unter Druck, den Täter zu finden, denn ein Schatten scheint über Jakobs Familie zu liegen. Einbrüche, bei denen Familienfotos zerstört werden, ein zerkratztes Auto, bedrohliche Botschaften an der Wand und mehr legen einen furchtbaren Verdacht nahe: Hat es jemand auf die gesamte Familie Heitbreder abgesehen? Und steht der Täter der Familie womöglich näher als gedacht?
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Seitenzahl: 415
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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:
Nacht aus Eis
Das fremde Grab
Zwischen Schatten und Licht
Zerrissene Wahrheit
Kalte Liebe
Heike Rommel, geb. 1962 in Olpe, hat Psychologie und Visuelle Kommunikation studiert und lebt seit über 40 Jahren in Bielefeld. Sie arbeitet seit über fünfundzwanzig Jahren in verschiedenen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Ihre ersten Schreiberfahrungen machte sie beim Verfassen eines Fantasy-Romans, bevor sie zum Krimi-Genre wechselte, das ihr als leidenschaftlicher Krimileserin und Tochter eines Kriminalbeamten und einer Polizeiangestellten naheliegt. Schattenleben ist bereits der sechste Kriminalroman um Kommissar Dominik Domeyer und sein Bielefelder Ermittlerteam. www.heike-rommel.de
Heike Rommel
Unser herzlicher Dankgeht an den Emons Verlag in Köln,der nichts gegen die Nutzung des bereitsvon seiner Autorin Christine Sylvesterverwendeten Titels »Schattenleben«einzuwenden hatte.
Originalausgabe
© 2022 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
unter Verwendung von © Lars - stock.adobe.com
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-95441-628-8
E-Book-ISBN 978-3-95441-634-9
Für WillyUnd für meinen Vater
Prolog
Sonntag, 15. Dezember 2013
Montag, 16. Dezember 2013
Dienstag, 17. Dezember 2013
Mittwoch, 18. Dezember 2013
Donnerstag, 19. Dezember 2013
Freitag, 20. Dezember 2013
Samstag, 21. Dezember 2013
Sonntag, 22. Dezember 2013
Montag, 23. Dezember 2013
Mittwoch, 25. Dezember 2013
Donnerstag, 26. Dezember 2013
Danksagung
Montagmorgen, Schneeregen. Schon beim Aufstehen hätte sie eine Bombe werfen mögen. Allein der Gedanke an den öden Tag, der vor ihr lag … Man durfte sich nur nichts anmerken lassen, musste Interesse heucheln, wenn man die Meisterschaft in Selbstverleugnung gewinnen wollte. Also lächelte die junge Praktikantin ihrer Praxisanleiterin zu, einer biederen, mittelalten Frau, die sich ihr heute Morgen als »Frau Becker« vorgestellt hatte, und folgte ihr zu einem 50er-Jahre-Mehrfamilienhaus, das nach Wohnungsbaugesellschaft aussah. Die hölzerne Haustür war nur angelehnt. Frau Becker klingelte an einer der beiden Türen im Erdgeschoss.
Als sich nichts tat, schloss sie die Wohnungstür auf. Ein undefinierbarer, leicht muffiger Geruch entströmte der Wohnung, außerdem Geigenmusik. Mozart? Die Praktikantin war sich nicht sicher. Egal, sie nahm alles, wie es kam, es ging schlicht darum, jeden einzelnen Tag zu überstehen. Sie durfte nur nicht an die Zukunft denken, an endlose Jahre mit dieser geistlosen Art von Arbeit. Es gab kein Entkommen, wenn man Geld brauchte, so einfach war das. Sie ging mit Frau Becker durch den Flur und betrat hinter ihr den Raum, den die Praxisanleiterin als Frau H.s Wohnzimmer bezeichnete.
In dem kleinen, mit Möbeln vollgestopften Zimmer klang das Violinkonzert aufdringlich laut. Eine dürre Gestalt mit strähnigen, langen Haaren saß in einem Sessel und starrte unverwandt aus dem einzigen Fenster im Raum. Der Blick hinaus zeigte eine einsame Amsel, die über eine sterile Rasenfläche hüpfte. Trübes Winterlicht fiel auf Bücherregale. Neben Romanklassikern, die in keinem bildungsbürgerlichen Haushalt fehlen durften, entdeckte die Praktikantin medizinische Fachbücher. Daneben war eine ganze Wand mit kryptischen Zeichen bekritzelt. Wie ein Familienmitglied thronte eine Geige auf dem Sofa, nur dass drei der vier Saiten gerissen waren und traurig herunterhingen. Auf dem Couchtisch lag ein zerlesener Wälzer über Allgemeine Anatomie, in dem zahlreiche Lesezeichen steckten.
Frau Becker folgte ihrem Blick. Sie senkte die Stimme. »Frau H. glaubt manchmal immer noch, sie würde Medizin studieren und müsste eine Prüfung absolvieren. Das belastet sie, die Arme.«
»Spielt sie Geige?«
»Sie hat früher Geige gespielt, ziemlich gut sogar, ich habe das noch mitbekommen. Sie wollte mal Konzertgeigerin werden.«
»Und dann ist ihr die Krankheit dazwischengekommen?«
»Na ja, sie hat mal erzählt, dass ihre Eltern darauf bestanden hätten, dass sie Medizin studiert. Nach zwei oder drei Semestern kam dann die erste Psychose. Vielleicht war der Druck einfach zu hoch.« Mit einer Kopfbewegung bedeutete ihr Frau Becker, sie zum Sessel vor dem Fenster zu begleiten.
»Guten Morgen!«, brüllte sie der Frau ins Ohr, die ihnen wie in Zeitlupe ihr hageres, fast faltenloses Gesicht zuwandte und durch sie hindurchstarrte. Auf den ersten Blick hatte die Frau älter gewirkt, doch sie musste wie Frau Becker in den Vierzigern sein.
»Ich habe heute eine junge Frau mitgebracht, sie absolviert ein Praktikum in der ambulanten Betreuung. Sie macht eine Ausbildung zur Pflegefachkraft … Ach, das hat doch keinen Zweck«, schimpfte Frau Becker, ging zur Hifi-Anlage und stellte das Violinkonzert ab. »Bei der Lautstärke kann man sich doch nicht unterhalten«, fügte sie etwas leiser hinzu. Frau H. schloss die Augen, als erwartete sie etwas, das sich nur so ertragen ließ.
Frau Becker holte ein Dosett aus ihrer Jackentasche. »So, jetzt wollen wir mal unsere Medizin nehmen, das kennen Sie ja schon.« Die Frau presste die Lider zusammen und wimmerte leise.
»Sie wollen doch nicht wieder in der Geschlossenen landen, oder?« Frau Becker flüsterte: »Frau H. trickst gerne herum, deswegen muss sie ihr Zyprexa unter Aufsicht einnehmen. Eigentlich wäre eine Depot-Spritze die beste Lösung, aber sie hat panische Angst vor Spritzen. Ich kann verstehen, dass sie das Zeug nicht nehmen will. Früher bekam sie Haldol, das hat aber noch mehr Nebenwirkungen. Wenn sie kein Neuroleptikum bekommt …«, sie deutete auf die Kritzeleien an der Wand, »dann geht allerdings die Post ab.«
Die Praktikantin verspürte wenig Lust, Frau Becker bei der Zwangsverabreichung der Tabletten zuzusehen. Sie ließ ihren Blick über die mysteriösen Zeichen und Symbole an der Wand wandern, bis er an einigen gerahmten Fotos hängen blieb, die auf einer Kommode standen. Eines davon nahm sie in die Hand. Tiefblauer Himmel, türkises Wasser, ein Hafen irgendwo im Mittelmeer, im Vordergrund ein Motorkatamaran mit einer Familie in Bikini und Badehose, ein Mädchen mit Strohhut sonnte sich neben einer Frau in den Dreißigern, offenbar ihre Mutter, am Steuer ein etwas älterer Mann, neben ihm ein Junge, der ihm auffallend ähnelte: schöne Menschen, lächelnd und braun gebrannt – einen krasseren Gegensatz zu der Stimmung in dem düsteren, kleinen Zimmer hätte sie sich kaum vorstellen können.
Sie hob den Blick und sah gerade noch, wie Frau H. sich rasch eine Tablette aus dem Mund holte, um sie unter dem Kissen, auf dem sie saß, verschwinden zu lassen. Wie viele Pillen mochten bereits darunter kleben? Frau Becker schien es nicht bemerkt zu haben, sie lächelte der Praktikantin zu.
Die erwiderte das Lächeln. Sie wollte das Bild gerade wieder zurückstellen, als sie stutzte. Dieser Mann da am Steuer – wie die anderen trug er eine Sonnenbrille – aber … seine Züge kamen ihr bekannt vor. Konnte das sein? Sie schaute genauer hin. Sie war ihm als Kind nur ein paar Mal begegnet und kannte ihn nur mit dunklen statt mit grauen Haaren – aber ja, kein Zweifel, das war er! Und er hatte … eine Familie, eine richtige Familie! Sie warf einen Blick auf die anderen Fotos, die alle dieselben vier glücklichen Menschen zeigten; in einem gepflegten Garten, vor einem großzügig geschnittenen, modernen Haus, auf einem Reiterhof, beim Skifahren, beim Tennis … Es war nicht zu fassen! Was hatte sie erwartet? Sie wusste es nicht, aber das hier …?! Ihr wurde schwindelig. Sie stützte sich an der Kommode ab.
»Das sind die Fotos von Angehörigen.« Frau Beckers Lächeln erlosch. »Sagen Sie … geht es Ihnen nicht gut?«
Die Bilder gerieten ins Wanken, einige fielen um. Die Beine drohten ihr wegzusacken, sie kämpfte um ihr Gleichgewicht.
»Um Gottes willen, was ist mit Ihnen?«
»Es geht schon wieder, alles gut.« Nichts war gut, im Gegenteil …
… denn er selbst, der Satan, verstellt sich als Engel des Lichts. Aber durch des Teufels Neid ist der Tod in die Welt gekommen. Erstaunlich, welches Stimmvolumen Sarahs ausgemergelter Körper entwickelte. Ihre Stimme hallte laut wie in einer Kirche, wehte das hellblaue Papierschirmchen seiner Piña Colada fort. Sie trat so dicht an ihn heran, dass ihre spitze Nase fast die seine berührte, und sah ihn aus ihren tiefliegenden Augen eindringlich an. Der Partylärm war verstummt, alle schauten jetzt zu Sarah. Eine tiefe Stimme, die nicht zu ihr zu gehören schien, dröhnte in seinen Ohren. Und er wird kommen und dich holen … Eine Schlange entschlüpfte ihrem Mund, und einer der Luftballons, die von der Decke hingen, platzte. Mit einem Schrei fuhr Jakob auf. Sein Herz hämmerte, sein Mund war trocken, und das Morgenlicht, das durch die halb heruntergefahrenen Rollläden schien, stach direkt in seinen Kopf. Mit dem Ärmel seines Schlafanzugs wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Was für eine Nacht!
Als er sich aufsetzte, wurde ihm übel. Vorsichtig, so als könnte bei einer unbedachten Bewegung sein Schädel platzen, tappte er ins Bad nebenan und wühlte im Spiegelschrank nach Aspirin. Er schluckte gleich zwei und trank das Wasser direkt aus dem Hahn. Nach einer heißen Dusche fühlte er sich etwas besser. Er zog sich an und verließ das Zimmer. Im Flur stolperte er über eine Bodenvase mit geschmücktem Tannengrün. Zwei goldene Weihnachtskugeln fielen auf den Teppich. Fluchend befestigte er die Kugeln wieder an den Zweigen. Die Vase hatte gestern noch nicht dort gestanden, wenn er sich recht erinnerte. Die Zahl der Deko-Objekte wuchs exponentiell, je näher Weihnachten rückte. Seine Mutter zelebrierte das regelrecht. Er versuchte, die Lichterkette wieder so zu drapieren, wie sie vorher um die Zweige geschlungen war, und gab dann gähnend auf. Erst mal einen Kaffee zum Wachwerden.
Unten rumorte Elisabeth Schröder, genannt Elsbeth, in der Küche. Klapperte das Geschirr heute besonders laut, oder lag es an seinen Kopfschmerzen? Als er die Küche betrat, rammte die Haushaltshilfe gerade die Spülmaschine mit Wucht zu. War Elsbeths Laune so schlecht, weil sie die Trümmer der Party, mit der er in seinen 18. Geburtstag reingefeiert hatte, beseitigen musste?
»Morgen, Elsbeth.«
Sie fuhr herum. »Mein Name ist Elisabeth! Na, auch schon auf?«
Das klang vorwurfvoll. Und er erinnerte sich dumpf, dass es eine Auseinandersetzung zwischen Elsbeth und seiner Mutter gegeben hatte. Da war irgendwas mit Elsbeths Mann, weshalb sie früher gehen wollte, was natürlich nicht ging wegen der Party. Er wusste, er sollte sie nach ihrem Mann fragen, aber er mochte nicht, weil Elsbeth dann nicht mehr aufhören würde, ihn mit Krankheitsgeschichten zuzutexten. Alte Leute waren nun mal so. Er war allerdings überrascht gewesen zu erfahren, dass Elsbeth im selben Alter wie sein Vater war. Sie wirkte so viel älter, und das nicht nur wegen der unmodischen Klamotten.
Jakob lief zum Kühlschrank, nahm eine Packung Orangensaft heraus und trank direkt aus der Tüte. Elsbeth klapperte mit Tellern, warf sie schon fast auf den Tisch. Sie kam nicht mal darauf, ihm zu seinem Geburtstag zu gratulieren. Oder dazu, dass er den Medizinstudienplatz in Heidelberg bekommen hatte. Seine Eltern waren sehr stolz gewesen, als die Nachricht pünktlich zum Tag seiner Party gekommen war. Schließlich hatten sie sich an der Uni Heidelberg kennengelernt, Familientradition sozusagen. Heidelberg … zum Sommersemester würde er dort hinziehen. Schon komisch, dass er Bielefeld, wo er sein gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte, in wenigen Monaten verlassen würde. Vermutlich für immer.
Manches ließ er gerne hinter sich, aber Antonia würde er vermissen. Sie hatte einen Studienplatz in Hannover bekommen. Am besten, sie würde nach ein oder zwei Semestern nach Heidelberg wechseln. Er hoffte sehr, dass das möglich sein würde. Antonia war Heimat, egal wo. Er lächelte bei dem Gedanken an seine Freundin und setzte sich an den Esstisch. »Aber immerhin bin ich der Erste, der auf ist, oder, Elsbeth?«
»Tja, ich glaube, deine Eltern schlafen noch. Der arme Lucky hätte fast auf den Teppich gepinkelt, wenn ich nicht mit ihm rausgegangen wäre.« Auch das klang schnippisch, so als ob sie nicht genau dafür bezahlt würde.
»Kaffee und Toast … bitte«, fügte er hinzu. »Wo ist Lucky überhaupt?«
Kurz darauf ertönte das Geräusch von Krallen auf Fliesen. Der Golden Retriever hatte offenbar seinen Namen gehört und tappte schwanzwedelnd in die Küche, um sich von Jakob kraulen zu lassen, bevor das Tier es sich unter dem Tisch bequem machte. Elsbeth beugte sich über die Kaffeemaschine, die Härchen in ihrem fleischigen Nacken klebten vor Nässe, ihre helmartige Bobfrisur war in Auflösung begriffen. Die Frau schwitzte, wo sie ging und stand. Sie war genauso fett wie ihr Mann, der irgendeine Herzgeschichte hatte. Selbst schuld, dachte Jakob. Sie wandte sich um und goss ihm schwungvoll Kaffee ein, der über den Rand des Bechers schwappte. Dann legte sie ihm zwei getoastete Scheiben Weißbrot auf den Teller. Er massierte sich die Schläfen, trank Kaffee und knabberte mit wenig Appetit am trockenen Toast.
»Hast wohl ’nen Kater, was?« Elsbeth lächelte, als freute sie dieser Umstand. »Und – wie seid ihr deine Tante Sarah gestern Abend wieder losgeworden? Das ganz große Aufgebot?«
»Ja, die Polizei war da, ein Krankenwagen und der gesetzliche Betreuer. Tantchen ist jetzt wieder in Gilead IV.«
»Da wird sie sicher ’ne Weile bleiben. Hat ihre Medikamente wieder nicht genommen, wie?«
Jakob zuckte mit den Achseln.
»Und sonst – war die Party nach deinem Geschmack?« Ihr Blick aus den unnatürlich verkleinerten Augen hinter der dicken Brille hatte etwas Stechendes.
»Klar, nachdem Sarah weg war … super Nacht.« Er hob den Daumen. Er würde ihr ganz sicher nicht auf die Nase binden, was noch alles passiert war. Zum Glück hatten seine Eltern, die früh zu Bett gegangen waren, nichts davon mitbekommen. Und noch wichtiger: Nachdem sie Lukas endlich rausgeworfen hatten, zog sich seine Schwester Maja mit ihren kichernden Girlie-Freundinnen in ihr Dachzimmer zurück und merkte nicht, was später unten vor sich gegangen war. So war sie wenigstens eine Weile abgelenkt von ihrem Kummer.
Elsbeth schob ihm die aufgeschlagene Zeitung hin und tippte mit ihrem dicken Finger auf das Tageshoroskop. »Das solltest du besser lesen.«
Jakob seufzte. »Okay, okay.« Elsbeth mit ihrem Astrologie-Tick, sie ging nicht aus dem Haus, ohne vorher ihr Horoskop konsultiert zu haben. Er wusste, sie würde nicht lockerlassen, also griff er zur Zeitung. Vormittag: Der Mond im Widder lässt Sie aktiv werden und stärkt ihre Willenskraft, ihren eigenen Weg zu gehen. Nachmittag: Der Mond kann aber auch zu Ungeduld und Selbstüberschätzung führen. Hüten Sie sich vor unüberlegten Handlungen. Und beachten Sie: nicht jedem Menschen in Ihrer Umgebung ist zu trauen.
»Elsbeth, ist schon Nachmittag?«
»Elisabeth! Den Vormittag hast du verschlafen. Es ist gleich halb zwei.«
»Oh nein! Ich habe noch eine Verabredung, und da muss ich erst mal hinkommen.« Diese unangenehme Geschichte hatte er schon halb verdrängt.
»Nimm doch den MINI, den du zum Geburtstag gekriegt hast.«
»Haha, wie witzig, meine Fahrprüfung ist in drei Wochen.« Er stand so schnell auf, dass ihm schwindelig wurde. Auch sein Magen rebellierte, dafür hatten die Kopfschmerzen nachgelassen.
Die Tür öffnete sich, seine Schwester kam herein und setzte sich schweigend an den Tisch. Die Augen in dem blassen Gesicht waren rot und geschwollen. Er lehnte sich hinüber zu ihr und drückte ihre Hand. »Maja, wir finden schon eine Lösung, versprochen.«
Elsbeth, die Maja gerade Orangensaft eingoss, sah auf. »Probleme?«
Das hättest du wohl gerne, dachte Jakob. »Alles bestens.« Er lächelte Maja zu und verließ die Küche. Auf dem Flur rief er ein Taxiunternehmen an, eilte danach die Treppe zum Arbeitszimmer seines Vaters hoch. Bevor er die Tür öffnete, hielt er inne. Die Schlafzimmertür seiner Eltern stand offen. Vorsichtshalber warf er einen Blick hinein. Die Decken waren zurückgeschlagen, seine Eltern mussten bereits aufgestanden sein. Als er wieder auf den Flur trat, hörte er ihre Stimmen von unten. Sie hielten sich offensichtlich im Erdgeschoss auf. Rasch schlüpfte er ins Arbeitszimmer, holte einige Bücher aus dem Eichenregal an der Wand und gab die Zahlenkombination des Tresors dahinter ein. Wie erwartet entdeckte er neben Schmuck und Uhren auch einen Umschlag mit Bargeld im Tresor. Er zählte die Hunderter, schob sie zurück in den Umschlag, nahm ihn an sich und schloss den Tresor. Das sollte reichen. Er würde seinem Vater das Geld später zurückgeben. Der konnte sich ohnehin kaum beklagen, sondern würde ganz genauso handeln.
Geld regierte die Welt. Er war fast sicher, dass es funktionieren würde. Jakob räumte die Bücher wieder vor den Tresor, verließ das Arbeitszimmer, polterte die Treppen hinunter, riss seine Wellensteyn-Jacke vom Garderobenhaken im Flur und warf sie sich im Laufen über. Er stürmte aus der Haustür, knallte sie hinter sich zu und blieb dann abrupt stehen. Die aufgeregten Stimmen seiner Eltern drangen von der Einfahrt zur Garage herüber. Sie beugten sich über den schicken rot-schwarzen MINI, den er zum Geburtstag bekommen hatte, und stritten sich.
Sie hatten ihn noch nicht bemerkt, also sprintete er den Weg durch den Vorgarten entlang, bis die Stimme seiner Mutter ihn stoppte. »Guten Morgen, Jakob. Wir … ich … es ist etwas passiert!«
»Morgen, okay, aber ich hab’s eilig, also …« Jakob klappte der Mund auf. Schon von Weitem erkannte er, dass sein funkelnagelneuer MINI über und über von Kratzern bedeckt war. »Was … was ist denn das?«
Sein Vater stand mit verschränkten Armen vor dem Wagen und schüttelte den Kopf. »Hast du eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?«
Jakob trat näher und fuhr mit der Hand über die Kratzer. Da hatte sich jemand regelrecht ausgetobt.
Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. »Der Wagen muss vollständig neu lackiert werden, würde ich sagen. Aber keine Angst, Jakob, das wird vermutlich die Versicherung zahlen.«
»Auch im Fall von Vandalismus? Erst der Einbruch vor sechs Wochen und jetzt das!« Seine Mutter zitterte und zog ihre Wolljacke enger um die schmalen Schultern. Der Wind zerrte an ihren langen, blonden Locken. »Jakob, gab es Streit gestern Nacht? Ist die Party irgendwie aus dem Ruder gelaufen?«
»Nein, Mama.« Er überlegte, was er ihr erzählen konnte. »Na ja, ein bisschen schon, Lukas ist gestern Nacht aufgeschlagen. Er hat Stress gemacht, wollte unbedingt mit Antonia reden. Aber irgendwann haben wir ihn dann beruhigt, und er ist abgedampft.«
Sein Vater kratzte sich den angegrauten Dreitagebart. »Da hörst du es, Kerstin, Lukas war da. Und Einbrüche gibt es öfter, als man denkt. In Kirchdornberg hat es schon zwei Einbrüche gegeben und …«
»Und damit ist alles gut, oder wie?« Seine Mutter verzog das Gesicht.
Sein Vater legte den Arm um ihre Schultern. »Schatz, wir erstatten Anzeige gegen unbekannt. Und die Polizei wird überprüfen, ob Lukas das mit dem MINI war.«
»Ob die ihm was nachweisen können?« Sie seufzte. »Vielleicht sollten wir eine Kamera aufstellen. Das kann doch nicht so weitergehen.«
»Bitte, Mama, das wird neu lackiert, und dann vergessen wir die Sache, ja? Oh, da ist mein Taxi. Ich muss los.«
Der Fahrer des langsam rollenden Taxis schaute sich suchend um, und Jakob winkte ihm, woraufhin er das Taxi vor der Einfahrt parkte.
Seine Mutter hob die Brauen. »Wozu ein Taxi? Wo willst du denn hin? Jakob, ich kann dich doch fahren.«
»Nein, Mama, schon gut … ihr habt ja noch nicht mal gefrühstückt!«
»Das macht doch nichts. Ich bringe dich gerne … Wo möchtest du denn hingefahren werden?«
»Ich kann den Taxifahrer nicht einfach wieder wegschicken, und ich muss jetzt wirklich los, also …« Er brach ab. Seine Eltern starrten ihn an. »Ich will zu einem Schulfreund.« Er hasste es, sie anzulügen. Aber die unappetitliche Wahrheit konnte er ihnen auch nicht stecken.
Sein Vater fuhr sich über den kurzen, mit Gel gestylten grau melierten Schopf »Du weißt aber, dass um vier Uhr Opa und Oma kommen.«
»Punkt vier werde ich wieder da sein, versprochen.« Genaugenommen wünschte er sich nichts sehnlicher, als die Sache schon hinter sich gebracht zu haben und gemütlich mit den Großeltern am Kaffeetisch zu sitzen. Hoffentlich ging alles gut.
Sonntagabend
Der Bewegungsmelder auf der Terrasse beleuchtete kurz den Schneeregen, der in schrägen Lagen fiel, bevor er wieder erlosch und draußen alles in Dunkelheit versank. Vermutlich hat irgendein Tier ihn ausgelöst, dachte Kommissar Dominik Domeyer. Das Spiegelbild in der Scheibe zeigte zwei Kerle im mittleren Alter und einen jungen Mann mit zurückgebundenen Dreadlocks, die in einem steifen Busch von seinem Hinterkopf abstanden. Alle drei saßen um einen mit Kerzen illuminierten Esstisch. So betrachtet, wirkte das Ganze recht heimelig. Widerwillig richtete Dominik seine Aufmerksamkeit wieder aufs Essen, genauer auf die Pampe, die sich zu einem Berg auf seinem Teller türmte. Er legte seine Gabel beiseite und griff nach dem Brot. Sein Sohn Robin stocherte im Essen herum. Dann hob er die Serviette mit den aufgedruckten Weihnachtssternen vom hübsch gedeckten Tisch und ließ sie wieder fallen, als wollte er sagen: Was soll ich damit? »Frank, was ist das eigentlich?«
»Eine Serviette«, gab Frank zurück. »Völlig unbekannt in deiner Generation? Es ist eine Frage des Stils. Man nimmt Serv…«
»Ich meine das Essen.«
Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, darauf zu bestehen, dass alle – auch sein neuer Mitbewohner und alter Kollege Kommissar Frank Tillman Herbst – reihum kochen sollten, damit mal etwas anderes als TK-Pizza auf dem Tisch landete.
Frank massierte sich das Kinn. »Ja … ähm … das ist eine Spezialität aus Lippe … ähm … der genaue Name … also … ähm … Datschi.«
»Matschi trifft es besser.«
Dominik hörte auf zu kauen. »Robin!«
Sein Sohn zwirbelte eine seiner schwarzen Dreadlocks und grinste. »Lippisch passt jedenfalls, zu geizig zum Einkaufen, dafür ein totgekochter Matsch aus Resten.« Robin erhob sich. Inzwischen überragte er Dominik um einige Zentimeter. »Ich muss sowieso los, eine Aktion vorbereiten.« Er winkte ihnen kurz zu. Die Tür fiel hinter dem langen Schlacks ins Schloss.
»Eine Aktion, soso.« Frank stützte das Kinn in die Hand. »Ich möchte lieber nicht wissen, was für eine. Dodo, dein Jüngster wird immer radikaler.«
»Datschi?«
»Na ja, so eine Art Datschi, nur ohne Pflaumen. Eine Eigenkreation.« Frank hob die Hände. »Ich hatte keine Zeit zum Einkaufen, weil ich kurz nach dieser Fortbildung einem hysterischen Ehepaar in die Arme gelaufen bin. Mir schwirrte noch der Kopf von den aktuellen, sicherheitsrelevanten, globalen und lokalen Entwicklungen und der Standortbestimmung der Kriminalistik als Wissenschaftsdisziplin und blablabla, als diese Leute mich krallten. Ich habe versucht, ihnen klarzumachen, dass ich nicht dafür zuständig bin, Vermisstenanzeigen aufzunehmen, aber die haben auf mich eingequasselt, als gäb’s kein Morgen.«
»Ach was. Sonntags haben doch sowieso die Geschäfte zu. Oder wolltest du einen Großeinkauf an der Tanke machen?«
»Ähm … gestern lief die Fortbildung ja auch schon den ganzen Tag. Egal, was ich sagen wollte, vor allem der Mann klebte an mir: Er wäre Arzt und so weiter … wichtig, wichtig.« Frank winkte ab. »Es war praktisch unmöglich, denen zu vermitteln, dass ihr erwachsener Sohn selbst bestimmen kann, wann und ob er nach Hause kommt. Okay, nach 24 Stunden sieht das eventuell, aber auch nur ganz eventuell anders aus, doch dieser Typ … oh, Jacqueline!« Sein Gesicht hellte sich auf. Er fuhr mit den Fingern durch seine fusseligen, blonden Haare, in dem vergeblichen Versuch, seine Boris-Johnson-Frisur zu bändigen.
Die neue Putzfrau Jacqueline Oehrlein, die Dominik an die Elfenfiguren aus einem alten Kinderbuch seiner Tochter Lissa erinnerte, lugte mit einem entschuldigenden Lächeln ihrer rosa geschminkten Lippen durch die halb offene Tür zum Esszimmer. Frank nannte sie treffend »unsere Putzfee«, nachdem er Dominik überzeugt hatte, sich von der früheren Putzfrau, dem »Putzteufel«, zu trennen.
»Ich wollte nicht stören.« In der linken Hand trug die zierliche Dame einen Wischeimer, in der rechten einen Packen Tarotkarten, mit denen sie Frank zuwedelte. »Ich dachte nur wegen … wir wollten doch …«
»Tarotkarten legen, aber sicher doch.« Frank winkte sie heran.
Jacqueline warf Dominik einen unsicheren Blick zu, strich sich einige Strähnen der rotblonden Haarmähne hinter die Ohren und tippelte in ihren maigrünen Lederschuhen ins Esszimmer. Der Saum ihres blau-grünen, kimonoartigen Oberteils aus gefilzter Wolle lief in Zacken aus. Wo bekam man nur solche Kleidung? Oder hatte sie alles selbst angefertigt?
»Frank, seit wann bist du esoterisch veranlagt?«
Frank grinste. »Achte nicht auf ihn, setz dich einfach, Jacqueline. Wir wollen doch wissen, wer Dodos Neue wird, jetzt, wo er frisch geschieden und wieder auf dem Markt ist! Möchtest du von dem … Datschi?«
»Äh … nein danke.« Jacqueline lächelte.
Frank schob die Teller beiseite. Jacquelines Blick huschte zwischen den beiden Männern hin und her, dann mischte sie die Karten und breitete sie aus. »Soll ich für Sie das Keltische Kreuz legen, Herr Domeyer? Vielleicht haben Sie ja eine Frage … oder Sie möchten klären, was gerade ansteht, dafür …«
»Eigentlich nicht.«
»Hey, das funktioniert! Jacqueline hat mir neulich das Keltische Kreuz gelegt, und stell dir vor, was dabei rauskam …«
»Ein Sechser im Lotto?«
»Nein, es gäbe in meiner Familie ein Familienmitglied, von dem ich nichts wüsste. Und tatsächlich, meine Eltern haben sich einen Hund angeschafft, ohne mir davon zu erzählen!«
»Wow.« Dominik stand auf und räumte die Teller aufs Tablett. Zum Glück war Frank abgelenkt und bestand nicht darauf, dass das Datschi aufgegessen wurde.
»Es muss ja nicht gleich das Keltische Kreuz sein. Versuchen wir es mit einer Karte.« Ihre Augen funkelten. »Lassen Sie Ihre Hand über die Karten kreisen und wählen Sie die, die Ihnen einen energetischen Impuls gibt.«
»Komm schon, Dodo, es tut nicht weh.«
Zögernd streckte Dominik die Hand aus, fuhr über den Kartenfächer und tippte auf eine der Karten.
Jacqueline nahm sie auf. »Schau an, der Eremit. Eigentlich eine positive Karte, aber hier liegt sie andersrum, also …«
Frank runzelte die Stirn. »Also negativ?«
Jacqueline nickte mit bekümmerter Miene. »So bedeutet sie Einsamkeit oder Angst vor der Einsamkeit. Können Sie da was mit anfangen?«
»Ähm …«
»Na ja, frisch geschieden, Kinder bis auf Robin aus dem Haus …«, antwortete Frank an seiner Stelle. »Und jetzt wollen wir aber wissen, wann eine neue Liebe in sein Leben tritt.«
Lächelnd deutete Jacqueline auf die Karten.
Dominiks Handy klingelte. »Sorry, aber da muss ich rangehen«, behauptete er und verließ rasch das Wohnzimmer. Er hatte vor, das Gespräch in der Küche zu führen, doch aus der Küche drang gerade ein lautes, fassungsloses »Was?« von Robin. Dominik drückte das Gespräch weg und klopfte leise an die Tür, die einen Spaltbreit offen stand. »Robin?«
Schwer atmend lehnte sein Sohn an der Wand. »Du hast ihr gesagt, dass du sie gesehen hast? Und was hat sie gesagt?«
Dominik schloss die Küchentür, um Robin nicht bei seinem Telefonat zu stören, doch auch im Flur war Robins Stimme nicht zu überhören. »Scheiße, das glaub ich einfach nicht!« Es klang verzweifelt.
Danach drang kein Laut mehr aus der Küche. Dominik warf einen Blick auf das Display seines Handys. Seine Tochter Lissa, die zurzeit ein High-School-Jahr in Neuseeland verbrachte, hatte versucht, ihn zu erreichen. Er wollte gerade zurückrufen, als Robin aus der Küche stürmte.
»Robin, was ist denn passiert?«
»WAS?« Robin riss seine Jacke vom Garderobenhaken.
»Ich wollte doch nur …«
»JETZT NICHT!« Robin lief zur Haustür, riss sie auf und knallte sie hinter sich zu.
Frank betrat den Flur. »War das Robin?« Er grinste schief. »Ich meine, sooo schlecht war das Essen doch auch wieder nicht. Weißt du, was er hat?«
Dominik schüttelte den Kopf. »So habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt, nicht seit …« Er brach ab.
»Seit dem Tod von dieser Anna? Hey, Dodo.« Frank klopfte ihm auf den Rücken. »Erst mal abwarten. Der kriegt sich schon wieder ein. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.«
Das wollte Dominik auch gerne glauben. Doch er kannte seinen Jüngsten.
Sonntagnachmittag
Der Taxifahrer hatte ihn irgendwo auf der Hünenburgstraße abgesetzt. Es sei nicht mehr weit bis zum Fernsehturm, hatte er gesagt. Jakob stieg einen Waldweg bergan. Obwohl nicht mehr viel Laub an den Bäumen hing, ließ der Teuto nur fahles Dämmerlicht durch. Ein Blick aufs Handy zeigte, dass er ein paar Minuten zu spät war, aber er müsste die Stelle bald erreicht haben – und alles wieder in Ordnung bringen, sodass das Ganze bald nur noch eine schlechte Erinnerung sein würde.
Geld zu haben, war praktisch. Die meisten Menschen seien käuflich, hatte sein Onkel Paul, ein Investmentbanker, ihm mal erklärt. Aber ob alle so dachten? Er schob die Zweifel beiseite und ging weiter. Außer dem Rascheln des trockenen Laubs unter seinen Schuhen und dem einsamen Kraah Kraah einer Krähe hoch über ihm war nichts zu hören. Als er auf eine überfrorene Pfütze trat, brach das Eis mit einem Knacken. Aufgeschreckt huschte ein Eichhörnchen den Stamm einer Buche hinauf.
Ein mit Graffitis besprühter, kleiner Betonbau kam in Sicht. Dahinter lag ein Platz, an dessen anderem Ende der Fernsehturm aufragte. Jakob warf einen Blick in den Bau, der zum Platz hin große Öffnungen und einen türlosen Eingang besaß. Bierdosen und Styroporpackungen quollen aus dem Mülleimer davor. Auch drinnen war alles mit Graffitis bedeckt, und es roch schwach nach Urin. Ein Gartenstuhl mit kaputtem, weißem Plastikgeflecht lag umgedreht in einer Ecke. Komischer Treffpunkt.
»Hallo?«, rief Jakob mit belegter Stimme und räusperte sich. »Hallo?« Er zog sein Handy aus seiner Jackentasche, aktivierte die Taschenlampenfunktion und ließ das Licht über das Innere des Baus wandern, wo es nur auf eine Ratte fiel, die eilig davontrippelte. »In der Nähe des Fernsehturms« – was für ein alberner Blödsinn, eine so unpräzise Ortsangabe zu machen! Er trat aus dem Bau auf den Platz und schaltete seine Taschenlampenfunktion wieder aus. »Hallo, wo bleibst du, verdammt? Ich habe das Geld dabei, hörst du?«
Trotz der frühen Stunde wurde es zunehmend düster, Wolken türmten sich am Himmel. Für den Nachmittag gab es eine Gewitterwarnung. Er zog den prallen Umschlag hervor, der kaum in seine Jackentasche passte, und näherte sich dem Fernsehturm, der von kahlen Bäumen umgeben war. In der Eile hatte er auch noch seine Handschuhe vergessen. Wenige Meter vom Turm entfernt blieb er stehen, steckte sich den Umschlag unter den Arm, hauchte in seine kalten Hände und rieb sie aneinander.
»Willst du das Geld jetzt oder nicht? Hey, das ist doch Mist!« Jakob drehte sich einmal um sich selbst, aber es war nirgendwo jemand zu entdecken. Gleich würde ein Mega-Schauer runterkommen, und er stand sich hier frierend die Beine in den Bauch!
Nach ein paar Minuten schaute er wieder auf sein Handy. Das akademische Viertelstündchen war längst herum. Wie lange wollte er sich hier noch zum Narren machen? Er war im Begriff, den Rückweg anzutreten, als ihm im schwindenden Licht am Fuße des Fernsehturms ein großer, schwarzer Stein ins Auge fiel. Als er näher trat, stellte er fest, dass es sich um ein Kleiderbündel handelte. Er schüttelte den Kopf. Sollte das für ihn sein? Eine Botschaft, oder wie?
Zögernd trat er näher, beugte sich hinunter, als plötzlich Leben in das Bündel kam. Im nächsten Moment spürte er einen heftigen Stoß und starrte in ein Totengesicht. Er begriff, dass das, was er für ein Bündel gehalten hatte, ein kauernder Mensch gewesen war, der sich unter einem schwarzen Umhang verbarg. Ein weiterer Schlag ließ ihn taumeln, doch da, wo der Tod ihn geschlagen hatte, färbte sich seine helle Wellensteyn-Jacke rot.
»W-wieso?«, brachte er heraus und sah ein Messer aufblitzen.
Der Umschlag mit dem Geld fiel zu Boden. Er hob die Arme, versuchte vergeblich, das Messer abzuwehren, schrie: »Ich habe das Geld doch dabei!«
Weitere heftige Schläge ließen ihn in die Knie gehen, er gurgelte mit seinem eigenen Blut, spürte warme Feuchte auf seinem Oberkörper, während das schwarze Kostüm mit dem weißen, aufgedruckten Skelett vor seinen Augen verschwamm und dann alles dunkel wurde.
Sonntagnacht
Als der Anruf des Mordkommissionsleiters Bent Andersen ihn erreichte, schreckte Dominik aus einem unruhigen Schlaf hoch. Der Wecker zeigte 23:17 Uhr. Er stieg rasch in seine Kleider, warf einen Blick in Robins Zimmer – sein Sohn war noch immer nicht nach Hause gekommen – und trat nur wenige Minuten später hinaus in die eisige Nacht, um sein Auto aus der Garage zu holen und zum Präsidium zu fahren.
Die Hände in den Taschen seiner Daunenjacke vergraben, wartete Bent bereits auf dem Parkplatz des Präsidiums auf ihn. Dort, wo das Licht der Parkplatzlampen hinreichte, wirbelten Schneeflocken in einem rastlosen Tanz durch die Nacht. Die Statur des blonden Nordlichts aus Flensburg erinnerte Dominik an einen Quarterback aus dem American Football. Doch Bent hatte mal was von Eishockey erwähnt zu einer der seltenen Gelegenheiten, bei denen der reservierte Mordkommissionsleiter etwas über sich preisgab. Ob die Narben in seinem Gesicht vom Eishockey stammten? Dominik hatte nicht danach fragen wollen.
»Nett, dass du auf mich wartest, Bent.«
»Ich brauche deinen ersten, frischen Eindruck vom Tatort.« Bent öffnete die Beifahrertür des Dienstwagens für ihn.
»Oh, danke für die Blumen.«
»Schön … du weißt, dass ich dich für einen guten Ermittler halte«, sagte Bent steif, bevor sie in den Wagen stiegen.
Als er den Motor startete, ertönte Last Christmas …
Bent schaltete das Radio aus. »Kaum zu glauben, nur noch zehn Tage bis Weihnachten.« Er fuhr vom Parkplatz.
»Und pünktlich zum Fest noch ein neuer Fall.«
»Genau das Richtige für Weihnachtshasser.«
Hatte Bent ihm zugezwinkert? Er ging ja geradezu aus sich heraus.
»Für die betroffene Familie dürften das allerdings schlimme Weihnachten werden«, fuhr Bent fort.
»Ich weiß bisher nur, dass die Leiche eines jungen Mannes gefunden wurde. Beim Geocaching, richtig?«
»Von einem jungen Pärchen, ja. Es gibt tatsächlich Leute, die bei diesem Schietwetter abends auf Schatzsuche durch die Landschaft streifen.«
»Die ganz besondere Challenge. Und – wo geht es hin?«
»Der Junge ist beim Fernsehturm aufgefunden worden. Er hat ein kleines, aber charakteristisches Tattoo am Unterarm. Seine Eltern hatten ihn erst heute Nachmittag als vermisst gemeldet und auf das Tattoo hingewiesen. Wir haben sie noch nicht benachrichtigt. Wir müssen erst sichergehen, dass es sich wirklich um den Vermissten handelt.«
»Um was für ein Tattoo geht es?«
»Ein Keltenkreuz. Er hatte wohl vor, das entfernen zu lassen, war aber noch nicht dazu gekommen.«
»Aha?« Das Keltische Kreuz schien Dominik zu verfolgen. »Vielleicht ist das Opfer Teil einer Eso-Szene …«
»Das Keltenkreuz wird auch in der rechtsextremen Szene benutzt.«
»Oha. Handelt es sich beim Fundort auch um den Tatort?«
»Bella Schnathorst und ihre Leute haben das bereits bestätigt. Der Junge hat zahlreiche Verletzungen am Rumpf, an den Armen und Kopfverletzungen. Er hat vor Ort einiges an Blut verloren. Laut Vermisstenanzeige ist er gerade achtzehn geworden.«
Wie Robin, schoss es Dominik durch den Kopf. Sein Jüngster war nun erwachsen – zumindest auf dem Papier. Große Schneeflocken zerplatzten und schmolzen auf der Windschutzscheibe, während sie durch die Nacht fuhren.
Bent schaltete die Scheibenwischer ein. »Ich werde Ernst fragen, ob ich Frank bekommen kann. Wir brauchen ihn hier dringender.«
Frank gehörte zur »Soko Altfälle« und bearbeitete einen Mordfall, der gerade neu aufgerollt wurde, aber wie Dominik den Kommissariatsleiter Ernst Meyer zu Bargholz kannte, würde er einen Wechsel befürworten. Die ersten 48 Stunden waren bei einem Mordfall für den Ermittlungserfolg entscheidend.
»Ottfried Weber wird den Aktenführer machen«, fügte Bent hinzu.
Bei Quelle fuhren sie vom Ostwestfalendamm auf die Osnabrücker Straße ab.
»Du kannst das Navi ausschalten, Bent. Ich kenne die Strecke. Eine Bergstraße hinter Zweischlingen.«
»Zweischlingen?« Bent warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Ich vergesse immer, dass du ja erst seit einem Jahr bei uns bist. In Zweischlingen kann man essen gehen, Kaffee trinken, tanzen gehen, Kulturveranstaltungen besuchen und so weiter.«
Bent nickte. »Kaum zu glauben, vor einem Jahr haben wir uns kennengelernt.«
Das klang so bedeutungsschwanger. Dominik dachte nicht so gern an das erste Kennenlernen zurück. Bent hatte ihn nach kurzer Zeit aus der Mordkommission geworfen, und sie waren ernsthaft aneinandergeraten.
»Siehst du, da kommt Zweischlingen.« In dem großen Gebäude brannte noch Licht. Ein paar Autos warteten an der Einmündung, um auf die Straße einzubiegen. »Und danach ist es die erste Straße, die rechts abgeht.«
Hinter Zweischlingen bog Bent in eine schmale Straße ab und fuhr die Anhöhe des Teutoburger Waldes hinauf. Der Schneefall ließ allmählich nach. Vorsichtig nahm er eine enge Kurve.
»Ist Nina dabei?«, fragte Dominik. Seine Kollegin Kommissarin Nina Tschöke war erst vor zwei Wochen braun gebrannt aus dem Urlaub zurückgekommen.
»Ich hätte ihr lieber noch eine längere Auszeit verordnet, aber sie besteht darauf, wieder voll einzusteigen. Ich bezweifele, dass sie schon verarbeitet hat, dass der letzte Einsatz sie fast das Leben gekostet hätte. Anscheinend ist sie nicht bereit für eine Therapie, abgesehen von den wenigen Gesprächen mit dem Polizeipsychologen.«
»Wenn man sich eingehend damit beschäftigt, was alles Schlimmes fast passiert wäre oder hätte passieren können, macht man keinen Schritt mehr vor die Tür. Vielleicht ist es besser, einfach weiterzumachen.«
Bent warf ihm einen zweifelnden Blick zu.
Auf einem ungepflasterten Platz in der Nähe des Fernsehturms parkten einige Einsatzfahrzeuge mit kreiselnden Blaulichtern. Bent parkte hinter ihnen, und sie stiegen aus. Es schneite nicht mehr, aber der Wind wehte ihnen eisig ins Gesicht. Sie stapften ein paar Schritte durch den Wald, bis sie den Turm erreichten. Das Licht von Dominiks Taschenlampe streifte Sträucher, Bäume und eine Krähe, die kurz erstarrte, bevor sie davonflatterte. Auf dem alten Herbstlaub lag eine dünne Schneeschicht. Dominik steckte seine Taschenlampe wieder ein, als sie ins Licht der Schweinwerfer der Spurensicherung traten. Die Kollegen in den weißen Overalls waren noch dabei, den Boden abzusuchen. In einem erleuchteten Zelt am Fuße des Turms beugte sich ein Schatten über etwas, das am Boden lag. Einer der Overalls ging ihnen entgegen. Darin steckte Sascha Sudhölter, ein Kollege vom Erkennungsdienst, der ihnen Schutzanzüge, Gummihandschuhe und Schuhüberzieher reichte.
»Und?«, fragte Bent, während sie die Overalls überstreiften.
»Wir haben einen sehr gut erhaltenen Sohlenabdruck im Schlamm gefunden und ausgegossen. Heute Nachmittag herrschten noch Plusgrade, danach ist die Temperatur gefallen und der Schlamm gefroren, besser geht’s nicht. Die Schuhe des Opfers weisen ein anderes Profil auf, also könnte der Abdruck vom Täter stammen. Keine Spur von der Mordwaffe, es sei denn … in der Nähe haben wir einen großen, blutigen Stein gefunden, der schon mit Bella auf dem Weg ins Labor ist.«
Bella Schnathorst, die Leiterin des Erkennungsdienstes, hatte den Tatort also bereits verlassen, was Dominik ganz recht war, da die Nachricht von seiner Scheidung Bella elektrisiert zu haben schien und ihm ihre Flirtversuche allmählich zu viel wurden.
Sie näherten sich dem Zelt, aus dem gerade ein Mann seinen Kopf steckte. Dessen Overall-Kapuze war so fest zugezogen, dass nicht viel mehr als ein grauer Bart und eine ziemlich große Nase herausschauten.
»Kripo?«
Sie nickten, und er verließ das Zelt, um ihnen Platz zu machen. Bei Sudhölters Hinweis auf einen großen Stein hätte Dominik aufmerksam werden sollen, doch der Anblick des zertrümmerten Gesichts des Jungen traf ihn unvorbereitet. Neben ihm zog Bent scharf die Luft ein. Dominik würgte, er hatte sofort einen sauren Geschmack auf der Zunge, zwang sich, ruhig zu atmen, bis er sich etwas besser fühlte. Die Züge des Toten waren nicht mehr zu erkennen, sein Gesicht eine einzige blutige Masse. Das Rot von großflächigen Blutflecken hatte das Weiß der hellen Jacke fast verschwinden lassen. Blut färbte stellenweise auch das Laub auf dem Boden, vor allem in der Nähe der Körpermitte der Leiche.
Bent legte Dominik kurz die Hand auf die Schulter. »Ich habe so was auch noch nie gesehen«, sagte er leise. »Er hat sich jedenfalls gewehrt. Gegen Stichverletzungen, nehme ich an.«
Dominik nickte nur, er kämpfte weiter mit seiner Übelkeit. Hinter ihnen räusperte sich der Mann mit dem grauen Bart und der Adlernase und stellte sich als Rechtsmediziner Dr. Dr. von Ascheberg vor. »Ich möchte gerne nach Hause. Also: Der Todeszeitpunkt liegt nicht länger als sieben bis zehn Stunden zurück, die Kopfverletzungen sind vermutlich postmortal zugefügt worden, denn sonst würde man einen höheren Blutverlust im Bereich des Kopfes erwarten. Der Löwenanteil des Blutes, das er verloren hat, stammt aus den Wunden in Brust und Bauch.«
Dominik atmete tief durch. Er stand jetzt mit dem Rücken zu der Leiche, definitiv eine Verbesserung. »Können Sie schon Näheres zur Tatwaffe sagen?«
Dr. Dr. von Aschebergs graue, buschige Brauen ruckten nach oben. »Kann ich zaubern?«
Bent seufzte. »Schön … wann obduzieren Sie?«
»Nicht mehr heute Nacht, falls Sie das denken. Morgen ist auch noch ein Tag. Ich melde mich.« Dr. Dr. von Ascheberg stapfte davon.
»Diese Jacke ist ja regelrecht zerfetzt, das Gesicht … das sieht aus …« Dominik stockte.
»Wie overkill«, ergänzte Bent.
»Genau. Der Täter hat offenbar noch auf ihn eingestochen und eingeschlagen, als er längst tot war. Aber nicht nur das. Es sieht aus, als hätte jemand mit dem Gesicht die Identität des Opfers auslöschen wollen. Das deutet auf eine persönliche Beziehung. Und der Täter muss das Opfer irgendwie hierhergelockt haben, um ungestört zu sein. Ich meine, im Sommer ist das ein nettes Ausflugsziel, aber im Winter ist hier nicht viel los.«
Bent nickte. »Täter und Opfer kannten sich also und haben sich verabredet.«
»Vielleicht gehörten sie ja zur selben Clique.« Ninas Stimme.
Dominik und Bent wandten sich um. Die sportlich schlanke Frau, die auf sie zukam, versank fast in ihrer dicken Daunenjacke.
Dominik lächelte. »Hallo, Urlauberin. Richtig braun gebrannt bist du, Nina. Man sieht das selbst im Licht der Spurensicherung.«
»Danke, Dodo.« Nina lächelte und nahm ihre modische Hornbrille ab, um sie zu putzen. Sie hatte nicht nur Farbe bekommen, sondern wirkte auch entspannt und gut gelaunt. Ein leichter Duft nach einem herb-frischen Parfüm streifte seine Nase, er tippte auf Zitrone und Zedernholz. Der Lippenstift, den sie in letzter Zeit öfter trug, stand ihr. Sie schien mehr Wert auf ihr Styling zu legen als früher – und er ahnte, wieso.
»Bist du schon länger vor Ort?«, fragte Dominik.
»Ja, ich habe mir die Leiche schon angesehen.« Sie setzte sich die Brille wieder auf, fegte sich Schnee aus ihren kurzen, dunkelblonden Haaren und wickelte sich den Schal fester um den Hals. »Wie wir wissen, bringen sich gerade junge Männer oft in Schwierigkeiten. Statistisch gesehen ist der Täter ein junger Mann aus dem Umfeld des Opfers. Und statistisch gesehen besteht für Jungen und junge Männer ab der Pubertät auch das größte Risiko, selbst zum Opfer zu werden.«
Dominiks Handy klingelte. Es war Frank. »Entschuldigung.« Er entfernte sich ein Stück von den beiden und nahm den Anruf an.
»Dodo, ich würde dich nicht stören, wenn es nicht wichtig wäre …«
»Sag schon!«
»Robin ist gerade nach Hause gekommen, und er sieht nicht gut aus …«
Nachdem Bent ihn wieder im Präsidium abgesetzt hatte, stieg Dominik in seinen Citroën und beeilte sich, nach Hause zu fahren. Frank öffnete ihm die Tür. Anstelle einer Begrüßung sagte er: »Er ist oben in seinem Zimmer.«
Ohne seinen Mantel auszuziehen, eilte Dominik die Treppe hoch und klopfte an Robins Tür. Er klopfte noch einmal, und als er keine Antwort erhielt, drückte er die Klinke hinunter. Die Tür war verschlossen. »Robin!«, rief er. »Ich bin’s, mach bitte auf!« Er hörte ein Geräusch hinter der Tür, dann einen Schlüssel im Schloss, bevor die Tür geöffnet wurde und sein Sohn mit einem zugeschwollenen, blauen Auge und einer Platzwunde an der Stirn zum Vorschein kam. Die Haut auf Robins Handknöcheln war ebenfalls aufgeplatzt und blutig.
»Himmel! Was ist denn mit dir passiert?«
»Papa, mach bitte keinen Stress, ich bin mit dem Rad gestürzt. Ist ja auch glatt draußen.«
»Ach wirklich? Statistisch gesehen hat dich ein anderer junger Mann vermöbelt.«
»Statistisch? Papa, was redest du denn da?«
»Jedenfalls muss die Wunde an deiner Stirn genäht werden.«
Robin stöhnte. »Es ist spät, ich wollte gerade ins Bett.«
Dominik ging an ihm vorbei in das nach kaltem Rauch riechende Zimmer. Auf dem Boden lagen Kleidungsstücke, auf Robins Schreibtisch stand zwischen Papier- und Bücherstapeln ein überquellender Aschenbecher, aber jetzt war nicht der Zeitpunkt, das Thema Rauchen zu behandeln. »Rob, du musst ins Krankenhaus! Ich kann dich fahren.«
»Nein, Papa, ich will schlafen! Echt jetzt. Ich klebe mir ’n Pflaster drauf.«
»Und Tetanus? Wie lange ist deine letzte Tetanus-Impfung her, wenn ich mal fragen darf?«
»Woher soll ich denn das wissen?«
»Das geht aus deinem Impfpass hervor.«
»Oh Mann.« Robin ließ sich in einen Korbsessel fallen. »Ich habe keine Ahnung, wo dieser blöde Impfpass ist! Es ist schon fast ein Uhr, und ich muss morgen früh raus, in die Schule.«
»Vergiss die Schule. So gehst du mir nicht dahin!«
Robin verdrehte sein nicht zugeschwollenes Auge. »Das glaub ich einfach nicht.«
»Glaub’s ruhig. Los jetzt, wir fahren!«
Gegen drei waren sie wieder zu Hause. Tatsächlich hatte die Wunde genäht werden müssen, und eine Tetanus-Spritze hatte Robin auch bekommen. Auf dem Weg versuchte Dominik, aus ihm herauszukitzeln, was wirklich geschehen war, aber sein Sohn mauerte. Nachdem Dominik die Haustür aufgeschlossen hatte, verabschiedete sich Robin sofort ins Bett.
Aus dem Wohnzimmer kam ein gähnender Frank und blinzelte mit kleinen Augen im Licht der Flurlampe »Ich bin vorm Fernseher eingeschlafen. Und – hat er ausgespuckt, was passiert ist?«
»Da kennst du Robin schlecht, obwohl ich gedacht hätte, er wäre mit seinen achtzehn Jahren vernünftiger geworden.« Dominik zog seine Winterstiefel aus. »Bent will dich übrigens für den neuen Fall haben.«
»Wegen meiner überragenden Kombinationsfähigkeiten wahrscheinlich … tja, zu dumm, ich bin leider schon mit dem Altfall ausgelastet.« Mit einem Mal wirkte Frank wacher. »Der will mich doch nicht wieder als Aktenführer?!«
»Nein, das macht Weber. Das Opfer ist genauso alt wie Robin.« Dominik fröstelte.
»Ist dir kalt? Komm, wir gehen kurz nach nebenan, da ist es wärmer«, schlug Frank vor, und Dominik folgte ihm zum Sofa ins angrenzende Wohn-Esszimmer. Auf dem Couchtisch standen zwei Bierflaschen einträchtig nebeneinander. Sie nahmen Platz.
»Ist der Tote schon identifiziert worden?«, fragte Frank.
»Das wird morgen anhand eines Zahnabgleichs passieren.«
»Warum denn das? Liegt der schon so lange da?«
»Nein, aber … egal, es handelt sich vermutlich um einen Jungen, der Sonntagnachmittag vermisst gemeldet wurde. Er hat ein charakteristisches Tattoo.«
Frank riss die Aufgen auf. »Der Arztsohn?«
»Sein Vater heißt Dr. Heitbreder. Weißt du was? Lass uns doch tauschen. Ich arbeite an deinem Altfall und du …«
»Ähm … stopp mal …«
»Frank, ich sollte mich um Robin kümmern. Damals, als das mit Anna passiert ist, habe ich alle Warnzeichen übersehen. Robin ist impulsiv und sehr emotional und … manchmal frage ich mich heute noch, ob ich diese Geschichte auf Sylt hätte verhindern können.«
»Du willst also eine ruhige Kugel schieben, einen Altfall bearbeiten ohne Zeitdruck, keine Überstunden, kein Chef, der dir Feuer unterm Arsch macht, keine Presse, die blöde Fragen stellt …«
»Genau, du hast es erfasst. Dann habe ich nämlich noch Kapazitäten, Robin im Auge zu behalten.«
»Dodo, ich versteh das ja, aber ganz ehrlich, für mich ist das kein so guter Tausch. Warum rufst du nicht … ruf doch Betty an, sie ist immerhin seine Mutter.«
»Die Sache ist die, erstens wohnt Robin bei mir, zweitens …«
Einer der Vorhänge bauschte sich im Wind. Im Garten duckten sich die Büsche in der Böe. Frank erhob sich, schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu. »Also: zweitens?«
Dominik stand auf. »Zweitens muss ich jetzt ins Bett.«
»Zweitens: Du hast keine Lust auf diesen Fall. Das geht mir andauernd so, also …«
»Gute Nacht, Frank Tillmann Herbst.«
Dominik schreckte auf. Verwirrt schaute er sich um. Die Umrisse der Dachfenster zeichneten sich durch fahle Lichtstreifen am Rand des Rollos von der Dunkelheit ab. Er hatte von einer blutigen Masse geträumt, die einmal ein Gesicht gewesen war. Die blaue Leuchtanzeige auf seinem Digitalwecker zeigte 05:36 Uhr. Er schaltete seine Nachttischlampe an, stand auf, tappte auf nackten Sohlen die Treppe hinunter und öffnete vorsichtig die Tür zu Robins Zimmer. Sein Sohn lag in seinem Bett auf dem Bauch, ein Speichelfaden lief aus seinem Mund, und Dominik hörte tiefe, regelmäßige Atemzüge. Was hatte er auch anderes erwartet? Behutsam schloss er die Tür, ging wieder hoch in sein Schlafzimmer und legte sich ins Bett, aber es dauerte eine Weile, bis er wieder in den Schlaf fand.
Als Dominik am nächsten Morgen in die Küche trat, empfing ihn Kaffeeduft. Ein etwas zerknitterter Frank stand an der Kaffeemaschine und goss sich Kaffee ein. Als er Dominik bemerkte, holte er einen weiteren Becher aus dem Schrank und füllte ihn. »Morgen, Dodo. Was ich dir noch sagen wollte: Du denkst wohl, bei einem Altfall ist alles easy oder so. Dabei haben wir schon in aller Herrgottsfrühe eine Besprechung.« Er machte ein leidendes Gesicht.
»Armer Kerl.«
»Nicht wahr?« Frank verschanzte sich am Küchentisch hinter der Neuen Westfälischen.
Dominik verließ die Küche mit seinem Becher, holte sein Handy heraus und rief seine Ex-Frau an.
Betty klang verschlafen. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Was ist denn überhaupt so wichtig, dass du …«
»Es ist fast acht, und es ist wichtig!« Dominik berichtete ihr von dem Vorfall mit Robin. »Irgendetwas stimmt da nicht, er hat irgendeinen Kummer, und natürlich erzählt er mir rein gar nichts darüber. Auch nicht, mit wem er sich geprügelt hat. Er macht alles mit sich ab, Betty, ich komme nicht an ihn ran.«
»Wie der Vater so der Sohn.«
»Es geht gerade um Robin, nicht um mich! Was genau ist daran nicht zu verstehen?«
»Sicher. Und sosehr du es hasst, da geht es auch um Beziehung. Um Gefühle. Nicht gerade dein Gebiet.«
»Ach ja? Nur weil ich keine Lust hatte, endlose, fruchtlose Beziehungsgespräche mit dir zu führen? Betty, zum Glück …« Er brach ab.
»Sind wir geschieden. Das wolltest du doch sagen?«
»Ich will mit dir über unseren Sohn reden. Ist das möglich? Er blockt einfach ab, wenn ich versuche herauszufinden, was Sache bei ihm ist.«
»Das kommt mir so was von bekannt vor …«
Dominik seufzte. »Dazu kommt, dass ich mitten in einer Mordermittlung stecke und …«
»Auch das ist wahrlich nichts Neues. Sei doch ausnahmsweise mal ehrlich, dein Beruf ist dir eben wichtiger.«
»Betty!« Dominik hatte nicht übel Lust, sein Handy in die Ecke zu pfeffern. »Ich bitte dich doch nur, mit ihm zu reden!«
»Jens-Thorben und ich fahren heute für zwei Tage nach Hamburg, er hat da eine Fortbildung, und ich schaue mir die Stadt an. Danach sehen wir weiter.«
»Jens-Thorben?«
»Mein neuer Lebensgefährte Jens-Thorben Obermeier, und er ist übrigens Psychotherapeut. Er wird mit Robin reden, wenn wir wieder da sind. Ich glaube, er wird das sehr gut machen. Er kann wirklich gut mit jungen Leuten.«
»Oh, na, da bin ich ja beruhigt. Jens-Thorben wird’s schon richten.«
»Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen!«