Abgrund - Lucy Goacher - E-Book
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Abgrund E-Book

Lucy Goacher

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Beschreibung

Du weißt, jemand hat sie getötet. Was du nicht weißt: Er ist dir nah … Clementines Welt liegt in Trümmern. Ihre kleine Schwester ist tot. In einer sternklaren Nacht hat Poppy sich von einer Klippe gestürzt, die Untersuchungsergebnisse sind eindeutig. Doch Clementine zweifelt. Poppy, die Sonnenuntergänge liebte, die so gern zeichnete. Noch in der Nacht ihres Todes versuchte sie, Clementine anzurufen. Aber der Anruf lief ins Leere. Was wollte Poppy ihr sagen?Während ihre Eltern wie gelähmt sind vor Schmerz, findet Clementine keine Ruhe. Sie vertieft sich in Poppys Leben, versucht herauszufinden, was in ihren letzten Monaten passiert ist. Bald ist sie sicher: Poppy hat sich nicht umgebracht. Poppy wurde ermordet.Sie weiß, sie ist die einzige, die Poppys Mörder finden kann. Doch sie hat nicht viel Zeit. Denn während sie nach ihm sucht, kommt er ihr immer näher … Ein außergewöhnlicher Thriller auf höchstem Niveau. Eindringlich und hochspannend.

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Lucy Goacher

Abgrund

Du weißt, sie ist nicht gesprungen.

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Katharina Naumann

 

Über dieses Buch

Ich habe noch nie so viele Sterne gesehen. Der Himmel ist von ihnen übersät, sie glitzern auf den Wellen. Es ist, als stünde ich am Ende der Welt, unter mir das Universum. 

«Ich möchte wetten, die Sonnenuntergänge sehen von hier großartig aus», sage ich. «Vielleicht könnten wir Clementine mitnehmen, wenn sie wiederkommt. Ich glaube, ihr würdet einander mögen.»

«Oh, ganz bestimmt.» Ich spüre sein Lächeln. Seine Hände streicheln meine Arme, bis zu meinen Schultern. 

«Deine Schwester wird mich lieben. Das verspreche ich dir.»

Und er stößt mich über die Klippe in den Abgrund.

Ein vermeintlicher Selbstmord. Eine Schwester, die nach der Wahrheit sucht. Und ein Mörder, der ihr bereits näher ist, als sie ahnt …

Ein außergewöhnlicher Thriller auf höchstem Niveau. Eindringlich und spannend bis zur letzten Zeile.

Vita

Lucy Goacher ist in Worthing geboren und aufgewachsen. Sie studierte Englische Literaturwissenschaft und Kreatives Schreiben an der Universität von Essex und war Finalistin des Debütroman-Schreibwettbewerbs der Daily Mail. Sie liebt lange Spaziergänge in der Natur und hat ein Herz für Katzen und Füchse, wie ihre Figur Poppy. «Abgrund» ist ihr Debütroman.

Katharina Naumann ist Autorin, freie Lektorin und Übersetzerin und lebt in Hamburg. Sie hat unter anderem Werke von Jojo Moyes, Anna McPartlin und Jeanine Cummins übersetzt.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel «The Edge» bei Thomas & Mercer, Seattle.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«The Edge» Copyright © 2022 by Lucy Goacher

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Ruben Mario Ramos/Arcangel; Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01408-4

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dies ist eine erfundene Geschichte. Namen, Personen, Organisationen, Orte und Geschehnisse entstammen entweder der Fantasie der Autorin oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit Personen, lebend oder tot, oder aktuellen Geschehnissen ist rein zufällig.

Für meine Familie

Prolog

Poppy

Ich habe noch nie so viele Sterne gesehen. Der Himmel ist von ihnen übersät, sie glitzern auf den Wellen. Es ist dunkel hier, wirklich dunkel, so weit sind wir von der Zivilisation entfernt. So weit, dass wir das Sternenlicht sehen können. Und dieses Licht ist vor mir, über mir und unter mir, so weit mein Auge reicht.

Es ist, als stünde ich am Ende der Welt, unter mir das Universum.

«Ich wusste, dass du es hier wunderbar finden würdest», sagt er und vergräbt seine Nase in meinem Haar. Er hält mich von hinten im Arm, zieht mich jetzt noch näher an sich, und wir schauen beide hinaus aufs Meer. «Es sieht aus wie ein Gemälde, oder? Sternenhimmel über der Rhône. Nein, wir müssen unser eigenes Bild malen. Sternenhimmel über dem Ärmelkanal um drei Uhr früh.»

Ich lächle. «Klingt aber nicht ganz so glamourös.»

«Kommt drauf an, wen du fragst.»

Unsere Worte werden in der eiskalten Luft zu Kristallen und glitzern im Sternenlicht. Normalerweise ist es an der Küste stürmisch, der Wind zerzaust mein Haar und treibt mir die Tränen in die Augen, aber heute Nacht weht kein Lüftchen. Es ist, als befänden wir uns in einem Augenblick der perfekten Stille. Nur das Geräusch der Wellen, die unter uns an den Strand schlagen, erinnert uns daran, dass die Zeit vergeht.

Ich schaudere.

Er zieht mich noch näher an sich heran und neigt den Kopf, um mir einen Kuss auf die Schulter zu geben.

«Fühlst du dich wohl? Wir können gehen, wenn dir zu kalt ist.»

«Wehe, du rührst dich», sage ich und packe seinen Arm mit meinen Händen, die in Handschuhen stecken. Er lacht leise in mein Ohr.

Diese Nacht ist zu schön, um sie früh zu beenden. Ich habe mein ganzes Leben lang von Nächten wie diesen geträumt, aber das waren eben nur Träume. Das hier ist wahr. Die Berührung eines anderen Menschen, die Schönheit der Natur, die Verbindung, die wir zueinander spüren …

Ich lehne mich an ihn, spüre den Widerstand seines Körpers. Trotz unserer dicken Mäntel und der Winterluft, die uns in die Nase beißt, fühle ich seine Wärme. Ich fühle meine.

Dieser Moment ist wunderschön, aber ein Teil von mir hungert schon nach dem nächsten.

Wir werden mit den Fahrrädern an der Küste entlangfahren, in mein Zimmer gehen und uns in der Dunkelheit küssen. Einander in der Dunkelheit ausziehen. Wir werden uns festhalten, bis unsere kalte, nackte Haut warm wird und die Welt um uns herum ins Nichts versinkt und es nur noch uns gibt, ineinander verschlungen wie Zwillingsschmetterlinge in einem Kokon.

Die Sterne um uns herum leuchten, und meine Wangen glühen.

Ich hätte nie gedacht, dass mein Leben so sein könnte, dass die Leere, die ich immer gespürt habe, so perfekt von jemand anderem ausgefüllt werden könnte. Von jemandem, den ich zufällig getroffen habe. Wir liegen Nacht für Nacht beieinander, Haut an Haut, öffnen einander unsere Herzen, als wären sie Schatzkästchen mit unseren Geheimnissen. Er weiß, dass mich der Duft nach Gebäck an zu Hause erinnert und Sonnenuntergänge an meine Schwester. Meine Schüchternheit macht ihm nichts aus, er nimmt meine Hand und geht voran. Wenn ich mit ihm zusammen bin, habe ich nicht den Drang, mich hinter der Staffelei in meinem Zimmer vor der Welt zu verstecken. Er stellt mich mitten vor seine Kameralinse und schiebt alle anderen aus dem Fokus heraus, als zählte niemand außer uns und nichts als der Augenblick, den wir gerade erleben. Und jedes Mal, wenn er auf den Auslöser drückt, schenkt er mir mehr Selbstvertrauen.

Nach kaum zwei Monaten hat er mich so weit aus meinem Schneckenhaus herausgezogen, dass ich es nicht einmal mehr wiederfinden könnte.

«Schau mal, dort!», sagt er und zeigt an mir vorbei in den Himmel. Ein Lichtstreifen schießt hinunter zum Horizont. «Wünsch dir was.»

«Ich wünsche mir …»

«Pst, nicht laut sagen! Es wird nicht wahr, wenn du es mir verrätst.»

Die Sternschnuppe verschwindet, und ich wünsche es mir im Stillen.

Lass diesen Moment ewig andauern.

Ich weiß ganz genau, wie ich das alles hier morgen malen werde. Ich werde die gesamte Leinwand schwarz grundieren und die Details in Weiß darauf malen: die Scheitel der Wellen; winzige Sterne, so klein wie Nadelstiche; die Sternschnuppe und uns, wie wir ineinander verschlungen sind, zwei Verliebte.

Wir haben es noch nicht laut ausgesprochen, aber ich fühle es. Es liegt im angenehmen Schweigen, wenn wir draußen spazieren gehen, und in den Worten, die er in mein Haar atmet, wenn wir zusammen im Bett liegen.

«Ich empfinde etwas für dich, Poppy. So habe ich noch nie ge-fühlt.»

Ich hatte noch nie eine Beziehung, aber ich weiß, wie das läuft. Es ist Liebe, wenn der Junge sagt, dass es Liebe ist. Er muss es zuerst sagen.

Aber ich fühle es – und ich bin mutig. Er hat mich verändert. Früher war ich in der Öffentlichkeit wie erstarrt. Ich hatte das Gefühl, als schauten mich alle an, bewerteten mich, und manchmal schaffte ich es kaum aus meinem Zimmer. Aber jetzt versuche ich, in der Klasse zu sprechen. Ich schaue fremden Leuten direkt in die Augen. Ich gehe allein Fahrrad fahren, in die Natur, fahre ohne Ziel. Das sind alles nur kleine Dinge, winzige Schrittchen, die alle anderen schon ihr ganzes Leben tun – aber für mich sind es riesige Sprünge.

Und jetzt gerade, unter dem diamantenübersäten Himmel, möchte ich wieder springen.

Ich wende mich zu ihm um. Er ist ein wunderschöner Schatten, Sterne funkeln in seinen dunklen Augen. Als wäre er aus Himmel gemacht. «Ich liebe es hier, und … ich liebe dich.»

Einen Augenblick lang ist alles still – dann leuchten seine Augen nur noch mehr.

«Ich wollte dir das schon lange sagen, aber ich dachte, du hieltest mich dann für … Ich liebe dich auch, Poppy.»

Er zieht mich wieder an sich, und ich lege wie immer meine Arme um ihn. Aber diesmal fühlt es sich anders an. Fester. Wir zittern beide, lachen, spüren einen Trost in dieser Umarmung, den ich nicht erklären kann. Ich fühle mich vollkommen sicher in seinen Armen. Vollkommen. Gesehen.

«Oh, ich habe etwas für dich.» Er lässt mich los und zieht etwas aus seiner Hosentasche. Es ist eine Halskette. Ich sehe das Glitzern des zarten Kettchens und den Anhänger daran.

«Du musst mir doch nichts schenken.»

«Ich weiß, aber ich will es. Vielleicht findest du sie ja scheußlich, also bedanke dich nicht zu früh.»

Ich lache, und er schließt den Verschluss vorsichtig in meinem Nacken. Ich taste in der Dunkelheit nach dem Anhänger, fühle zwei Bögen und eine Spitze. Ein Herz.

«Danke. Ich liebe sie.»

«Wirklich?»

«Wirklich. Ich liebe sie, und ich liebe dich.»

«Ich liebe dich auch.» Obwohl ich ihn in der Dunkelheit nicht sehen kann, höre ich, was er tut: Er kreuzt Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand vor der Brust seines Mantels. «Hand aufs Herz.»

Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, und er zieht mich an sich, um mich zu küssen – tief, aber zärtlich. Ohne jede Eile. Das Meer brodelt in mir, umspült jeden einzelnen Nerv, und ich ertrinke in Glück. Ich ertrinke in ihm.

Ich will diese Küsse jeden Tag spüren, bis zum Ende meines Lebens.

Wir schauen wieder in den Himmel, sehen die glitzernden Sterne und ihre Spiegelbilder im Meer unter der Klippe. Der Himmel, wir, unsere Liebe – all das ist magisch.

Ich lehne mich wieder an ihn, in seinen Armen geborgen wie ein Neugeborenes.

«Ich möchte wetten, die Sonnenuntergänge sehen von hier großartig aus», sage ich. «Vielleicht könnten wir Clemmie mitnehmen, wenn sie wiederkommt. Ich kann es kaum erwarten, dass du sie kennenlernst. Ich glaube, ihr würdet einander mögen.»

«Oh, ganz bestimmt.» Ich spüre sein Lächeln. Seine Hände streicheln meine Arme, bis zu meinen Schultern.

«Deine Schwester wird mich lieben. Das verspreche ich dir.»

Und er stößt mich über die Klippe in den Abgrund.

Kapitel 1

6 Monate später

Ich habe mich nie besonders für Sonnenuntergänge interessiert, aber Poppy schon.

Vor Jahren, als sie noch klein war und ich an Sonntagnachmittagen auf sie aufpassen musste, bettelte sie mich an, dass ich mit ihr in London herumfahren und die beste Stelle suchen sollte, von der aus wir uns den Sonnenuntergang ansehen konnten. Was zunächst einfache Ausflüge waren, wurde schnell zu wöchentlichen Expeditionen: Ich lief mit ihr von Aussichtspunkt zu Aussichtspunkt, von U-Bahn zu U-Bahn, die Sonnenuntergangstabelle im Kopf und mit der Uhr am Handgelenk; sie hatte eine Touristenkarte und einen Filzschreiber dabei, mit dem sie die Orte abhakte. Ich ging mit ihr in jeden Park, zu jeder Brücke, zu jeder Plattform, für die man nicht bezahlen musste. Einen Nachmittag verbrachten wir aneinandergekuschelt unter einem Regenschirm auf Primrose Hill, weil sie darauf bestanden hatte, dass wir «nur noch ein bisschen» bleiben sollten, «für den Fall, dass das Wetter aufklart», während der Regen auf uns herunterprasselte und der Wind heulte, meine Augen unter der Brille blind vor Tropfen waren und ihre Karte durchnässt war. In einem ihrer Briefe Jahre später verriet sie mir, dass Primrose Hill ihr Lieblingsort sei, ihre schönste Sonnenuntergangserinnerung, aber an jenem Tag sahen wir nur Grau. Sie musste wohl noch einmal ohne mich dorthin gegangen sein.

So erinnere ich mich an sie: rosige Wangen im Regen; vom Wind zerzauste, rotblonde Haare. Bloße Füße, die unter dem Vorhang ihres Himmelbetts hervorschauten. Wie sie aufgeregt über Schneeflocken oder Mondlicht oder das Leuchten des Sonnenaufgangs redete und mich bat, es mit ihr anzuschauen.

Ich kann jetzt beinahe ihre Stimme hören, spüren, wie sie wie früher meine Hand nimmt.

«Das ist so hübsch, Clemmie! Dreh dich um und sieh es dir an. Schau mal!»

Aber ich drehe mich nicht um. Ich schaue nicht hin. Ich folgte dem trüben, grauen Bürgersteig Richtung Osten, bis er in einer U-Bahn-Station verschwindet und das künstliche Licht das natürliche verdrängt. Ich gehe unter die Erde.

Meine Schwester war es, die Sonnenuntergänge liebte, nicht ich.

Am Bahnsteig ist viel los. Ich gehe ihn entlang, schlängele mich zwischen Paaren, die nach dem Abendessen wieder nach Hause fahren, und Studenten hindurch, deren Nacht gerade erst beginnt. Irgendwo im Tunnel kreischt ein Zug und schiebt die schmutzige Luft durch die Röhre vor sich her. Er ist nur noch zwanzig Sekunden entfernt, vielleicht weniger. Das Poster der Telefon-Helpline UK-Listeners hängt an der Wand am anderen Ende des Bahnsteigs: Egal, wie einsam Sie sich fühlen, wir sind immer da. Mit uns können Sie reden.

Mit anderen Worten: Springen Sie nicht.

Ich schaue mich in der Menge um und sehe die Gesichter. Früher dachte ich – nicht dass ich damals besonders viel darüber nachgedacht hätte, aber ich ging irgendwie davon aus –, dass man es sähe, wenn jemand Selbstmordgedanken in sich trägt. Denn diese Leute sähen doch ganz sicher traurig aus und weinten und benähmen sich merkwürdig. Sie würden ganz offen zeigen, dass sie das Leben hassten. Sie hätten ein großes, gut sichtbares, neonfarbenes Zeichen um den Hals: Bin depressiv und werde meinem Leben ein Ende setzen!

Die Realität ist anders.

Selbstmordgefährdete Menschen lächeln. Sie gehen zur Arbeit, kaufen ein, winken den Nachbarn zu. Sie verstecken ihre Gefühle vor den Leuten, die ihnen wichtig sind.

Statistisch gesehen sind die Mehrheit der jährlich 6500 Menschen, die sich in Großbritannien das Leben nehmen, Männer, Mitte bis Ende vierzig, oder Teenager und junge Erwachsene. Aber auf diesem Bahnsteig, heute Abend, könnte jeder jemand sein, der an Selbstmord denkt.

Dieser Mann im Anzug könnte Probleme bei der Arbeit haben, eine Scheidung durchleben, die Kinder in einem Sorgerechtsstreit verlieren und mit niemandem darüber reden. Und die alte Frau, die dort alleine sitzt und strickt, hat vielleicht gerade ihren Mann verloren, nach fünfzig Jahren Ehe. Die heitere Frau in der Supermarktuniform könnte Antidepressiva nehmen. Das Mädchen, das lacht und mit ihren Freundinnen scherzt, könnte sich innerlich leer fühlen, weil sie jahrelang gemobbt wurde.

In einem Moment kann ein Mensch Weihnachtslieder singen, in der Küche tanzen und Wärme, Licht, Liebe und eine Million Hoffnungen für die Zukunft in sich haben – und im nächsten kann er sich das Leben nehmen.

So wie Poppy.

Der Zug donnert vorbei, Lärm und Luft klatschen mir ins Gesicht und reißen Strähnen aus meinem Pferdeschwanz. Die Wagen verschwimmen vor meinen Augen, ich schließe sie. Und dann bin ich wieder dort: kalkige Erde ist unter meinen Füßen, salzige Luft weht um mich herum, Wellen brüllen und brechen unten am Fuß der Klippe.

Nicht alle selbstmordgefährdeten Menschen rufen bei einer Helpline an. Manche sprechen mit ihren Freunden oder Geliebten. Manchmal brauchen Menschen, die verzweifelt sind, nur jemanden, mit dem sie reden können, jemanden, der sie kennt, jemanden, der ihre Hand nimmt und sie vom Abgrund wegführt.

Genau das brauchte Poppy in jener Nacht. Sie musste hören, dass alles wieder gut werden würde. Sie musste wissen, dass sie geliebt wird. Und deshalb rief sie mich an, als sie in der Dunkelheit am Rand der Klippe stand.

Aber ich ging nicht ran.

Und sie sprang.

Ich verlasse die Aldgate Station und nehme den üblichen Weg durch Whitechapel. Immer wieder stehen Touristen im Weg, Reisegruppen versammeln sich um die Reiseleiter, die die grausigen Einzelheiten von Jack the Rippers Morden beschreiben und auf viktorianische Tatorte zeigen, die längst abgerissen und in Wohnungen umgewandelt worden sind.

Die fünf umgebrachten Frauen haben ein morbides Vermächtnis hinterlassen, und ihre Leben sind zu albtraumhaften Fotos und Haltepunkten auf einer Besichtigungstour zusammengeschrumpft worden. Bevor sie zu Opfern wurden, waren sie Menschen. Die Leute vergessen das immer.

Es ist dunkel, als ich bei der Helpline ankomme. Ich gehe hinein, laufe einige Treppenstufen hinauf und trage meinen Namen in die Liste an der Rezeption ein. Clementine Harris, 21.52 Uhr.

Unsere Zweigstelle ist ein schlichter Büroraum mit einer Aufenthaltsecke, einer Küche, ein paar abgeschlossenen Räumen und einem Telefonbereich. Auf jeder Fensterbank stehen Grünpflanzen, auf vielen Tischen liegen Päckchen mit Taschentüchern. An den weißen Wänden hängen Pinnwände und Poster mit wohlmeinenden Sprüchen in freundlichen Schriftarten.

Wie allein Sie sich auch fühlen, wir sind immer für Sie da und reden mit Ihnen.

Ich war nicht für Poppy da, als sie mich am meisten brauchte, und daran kann ich nichts mehr ändern, aber ich kann für andere da sein.

Und es gibt so viele andere.

«Clementine?» Brenda, eine der Leiterinnen dieser Zweigstelle, winkt mich in die Küche gegenüber dem Telefonraum. Sie bereitet gerade Tee zu. «Ich habe dich nicht schon wieder hier erwartet. Hattest du nicht gerade vor ein paar Tagen eine Nachtschicht?»

«Ja, von Freitag auf Samstag. Ich versuche, zwei oder drei pro Woche zu machen.»

Brenda schürzt die Lippen und gibt Milch in die Teetassen. «Clementine, du darfst es nicht übertreiben. Wir freuen uns sehr, dich zu haben, aber wir wollen, dass unsere Ehrenamtlichen nur ein, zwei Nachtschichten pro Monat übernehmen. Bitte fühle dich nicht gezwungen, mehr als drei oder vier Stunden wöchentlich zu machen, ob nun tagsüber oder nachts.»

«Ach, das ist gar kein Problem», sage ich und reiche ihr den Deckel der Milchflasche, nach dem sie sich suchend umsieht. «Ich habe ja Zeit.»

«Das ist keine Frage der Zeit. Zuhören ist ein sehr anstrengender Prozess, und du bist noch neu hier. Du merkst vielleicht nicht, wenn es dir zu viel wird. Ich möchte nicht, dass du dich überforderst.»

«Ich überfordere mich nicht.» Ich gebe Brenda einen Löffel für den Zucker und nehme die Milchflasche, um sie zurück in den Kühlschrank zu stellen – alles, um die Unterhaltung zu beschleunigen. «Ich helfe gern.»

«Ja, das habe ich bemerkt.» Sie lächelt. «Na ja, solange du dich wohlfühlst, wird keiner deine Stunden kürzen. Aber komm zu mir, wenn du mich brauchst, okay?»

Brenda und ich nehmen die Becher und tragen sie in den Telefonraum. Einige Ehrenamtliche telefonieren bereits. Sie tragen Headsets und beugen sich über ihre Schreibtische. Andere lesen oder unterhalten sich flüsternd, um sich die Zeit zu vertreiben. Ich kenne erst ein paar Namen, ein paar Gesichter, aber selbst die, die mir noch fremd sind, begrüßen mich mit einem warmen Lächeln und winken mir zu. Das ist hier immer so.

«… Buckingham Palace bekommt Frieda neben der Tür, ich nehme London Eye, und unser Picasso da drüben kann die Tate Modern haben.»

Ich stelle den letzten Touristenbecher vor einen Mann mit dunklem, lockigem Haar. Er hat sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und die Stiefel auf den Tisch gelegt. Er trägt ein Headset und zeichnet in einem Skizzenbuch.

«Danke», formt er mit den Lippen und lächelt. Dann widmet er sich wieder seinem Anruf. «Möchten Sie darüber sprechen?»

Hinter uns klingelt das Telefon, und eine der Seelsorgerinnen geht ran, wendet sich dann aber schnell wieder ihrem Buch zu.

«Da hat wohl wieder einer angerufen und sofort aufgelegt», murmelt Brenda. «In letzter Zeit gibt es viele von diesen Anrufen. Alan hat neulich sechsundzwanzig in einer Schicht gezählt! Ist wohl wieder die Jahreszeit.»

«Warum gibt es eine Jahreszeit dafür, dass Leute anrufen und wieder aufhängen?»

«Das sind meistens junge Leute. In den Sommerferien haben die Kinder mehr Zeit für Streiche, da wird manchmal aus Spaß hier angerufen und gleich aufgelegt. Und wenn dann der Schulanfang näher rückt, drohen die ganzen Testergebnisse im August. Das ist eine stressige Zeit für sie, die Armen. Es ist eine Sache, den Mut aufzubringen, hier anzurufen, aber eine ganz andere Sache, dann auch wirklich zu sprechen.» Brenda berührt meinen Arm. «Oh, wolltest du auch einen Tee? Ich habe ganz vergessen, dich zu fragen.»

«Nein, schon in Ordnung. Danke.» Ich lasse meinen Rucksack von den Schultern rutschen und wende mich einem freien Tisch in der Ecke zu, weit weg von den anderen. «Ich möchte am liebsten einfach anfangen.»

«Gut, aber vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Nicht übertreiben.»

Ich lächele sie an. «Mach ich nicht.»

Ich packe meine Sachen aus und richte mir meine Station ein wie immer: die schwere Mappe links; Notizbuch rechts; Kuli angeklickt und bereit.

Auf den ersten Blick könnte dies auch mein Tisch in der Bibliothek von Harvard sein. Irgendwo in einer kleinen Ecke des Fachbereichs für Molekularbiologie, das nach Themen bunt gestaltete Notizbuch, das geöffnet vor mir liegt, Jenna, die neben mir sitzt, in einem Lehrbuch liest und vor sich hin murmelt. Es könnte ein Abend mit viel Lernen und viel Koffein sein, mit Wissen und Weiterkommen.

Aber das ist es nicht.

Ich setze mich und öffne meine Mappe. Es ist ein Leitfaden fürs Zuhören, zusammengestellt aus den Materialien der Helpline und des Trainings, das ich durchlaufen habe, mit Abschnitten für alle möglichen Vorfälle während der Anrufe. Es gibt Adressen und Telefonnummern, an die ich die Leute verweisen, solide Fakten, mit denen ich ihnen helfen kann, aber auch vorgefertigte Reaktionsmuster. Ich höre sie ständig von den anderen Seelsorgern in ihren Telefonaten:

«Wie geht es Ihnen damit?»

«Das tut mir leid, das ist sicher sehr schwer.»

«Möchten Sie darüber sprechen?»

Ihre Worte sind voll mühelosem Mitgefühl, als wäre es für sie vollkommen selbstverständlich, andere zu trösten.

Für mich ist es das nicht.

Ich brauche das Handbuch.

Hin und wieder klingeln die Telefone im Raum, und ich warte darauf, dass ein Anrufer bei mir ankommt. Ich blättere durch meine Mappe, lese die Worte, die ich längst auswendig gelernt habe, und scrolle durch die üblichen Reddit-Foren auf meinem Handy: r/VerlustDurchSelbstmord, r/Selbstmordgefahr. Ich antworte auf ein paar Posts, reagiere auf Überschriften wie Wenn ich doch nur tot wäre und Ich bin einfach nicht gut genug und Jemand soll mir sagen, dass ich es nicht tun soll.

Auch dafür brauche ich mein Handbuch.

Als mein Telefon nach Mitternacht klingelt, bin ich bereit. Ich atme tief durch, konzentriere mich und blende die anderen im Raum aus. Ich drückte auf die Antworten-Taste.

«Hallo, UK-Listeners?»

In meinem Headset höre ich ein Rauschen oder Atmen. Ich weiß, dass jemand am anderen Ende ist. Aber derjenige sagt kein Wort. Ich schaue auf die Checkliste in meiner Mappe. Lassen Sie den Anrufer wissen, dass Sie da sind und zuhören wollen. Seien Sie verfügbar. Seien Sie freundlich. Geben Sie ihm einen Grund, Ihnen zu vertrauen.

«Gibt es etwas, über das Sie reden möchten?», frage ich und gebe mir Mühe, meine Stimme weich und einladend klingen zu lassen, aber gleichzeitig fest genug, dass es so wirkt, als hätte ich alles im Griff. «Ich bin hier und höre Ihnen zu, wenn Sie bereit sind zu sprechen.»

Immer noch nichts. Da ist ein weiteres Geräusch, als würde das Telefon am anderen Ende irgendetwas streifen. Es könnte einer der Anrufe sein, die Brenda erwähnt hatte: Menschen, die nichts sagen und beinahe sofort wieder auflegen. Vielleicht ist es auch ein Perverser oder jemand, der einfach aus Langeweile anruft.

Oder es ist ein ehrlicher Anruf. Vielleicht sogar der wichtigste Anruf im Leben eines Menschen.

Egal, wie allein sich dieser Mensch fühlt, solange ich in der Leitung bleibe, ist er es nicht wirklich.

«Ich weiß, dass Sie da sind», sage ich. Ich mache zwischen den Sätzen extra Pausen, um der Person am anderen Ende Raum zu geben. «Ich weiß, dass es schwierig sein kann, mit einem fremden Menschen zu sprechen, aber dafür bin ich da. Alles, was Sie sagen, bleibt zwischen uns beiden, und ich werde nicht urteilen. Ich bin für Sie da. Wenn Sie bereit sind zu reden, lassen Sie es mich wissen.»

Ein kleines Schniefen, dann eine Stimme. «Okay.»

Ich setze mich aufrecht hin, den Kuli in der Hand. Gut.

«Hallo. Wie geht es Ihnen heute Abend?»

Ich warte, aber es kommt keine Antwort. Da ist ein Geräusch, aber ich erkenne es nicht.

Nicht alle Anrufer sind still. Manche warten es kaum ab, dass ich sie begrüße, und breiten dann sofort ihre Lebensgeschichte vor mir aus, schütten mir ihr Herz praktisch in einem Atemzug aus. Diese Anrufe sind viel einfacher.

Ich schaue wieder in meine Mappe. Seien Sie freundlich. Seien Sie mitfühlend. SEIEN SIE GEDULDIG.

Ich schlucke die direkte Nachfrage herunter, die ich stellen wollte. Diese Anrufe folgen keinem Lehrbuch, dessen Kapitel ich überspringen kann, bis ich zu dem Abschnitt komme, den ich brauche. Wir passen uns dem Tempo der Anrufer an, und wir müssen ihnen die Worte herauslocken, dürfen sie nicht erzwingen.

Was würde Poppy sagen?

«Es tut mir leid, dass Sie das Gefühl haben, heute Abend hier anrufen zu müssen. Ich weiß, dass das, was Sie gerade fühlen, sehr schwer sein muss, aber ich verspreche Ihnen, dass ich bereit bin zuzuhören. Was immer Sie zu sagen haben, Sie können einfach sprechen.»

Die Worte sind richtig, aber sie fühlen sich falsch an. Ich will beruhigend, sanft klingen, aber ich klinge leer und unaufrichtig. Es ist, als sagte ich den Text einer Rolle auf, die ich nie spielen sollte.

Offenbar wirke ich trotzdem überzeugend, denn der Anrufer reagiert.

«Ich … ich will mich nicht mehr so fühlen.» Die Stimme klingt männlich. Leise und niedergeschlagen.

Ich werfe einen Blick auf meinen Leitfaden.

Versuchen Sie immer, den Zweck des Anrufs herauszufinden. Oft gibt es ein Kernproblem, das der Anlass des Anrufes ist. Wenn Sie dieses mit dem Anrufer herausarbeiten, kann das den Gesprächsverlauf positiv beeinflussen.

«Was genau fühlen Sie heute Abend?», frage ich.

«Nichts.»

«Sie fühlen sich leer?»

«Nein, ich habe das Gefühl, dass es für mich nichts mehr gibt. Als … als wäre alles fort, was gut war. Ich … ich vermisse sie so sehr.» Er unterdrückt einen Schluchzer.

Ich fahre mit dem Finger die bunten Reiter meiner Mappe entlang und schlage einen Abschnitt auf: Ende von Liebesbeziehungen.

Das hatte ich schon ein paarmal. Ich bin vorbereitet.

«Jemanden zu vermissen, ist ein schreckliches Gefühl.» Ich lese die Worte von der Seite ab und tue so, als hätte ich nichts mit ihnen zu tun. Daneben steht ein Vorschlag für eine offene Frage, die ihn zum Sprechen bringen soll. «Was ist geschehen?»

«Sie ist fort, aber … so ein Mensch war sie nicht. Es ist völlig unbegreiflich. Es war immer unbegreiflich.» Er schnieft laut. «Sie würde so etwas niemals tun. Nicht meine Schwester.»

«Ihre Schwester?» Ich bin offenbar im falschen Kapitel gelandet. «Was ist mit Ihrer Schwester passiert?»

«Sie ist gestorben. Sie …» Er ringt nach Atem. «Sie sagen, sie habe sich umgebracht.»

Mein Atem stockt, und ich versuche, den Schmerz zu ignorieren, der in meine Brust fährt. Vor meinem inneren Auge sehe ich Poppy, wie sie mich anlächelt. Sie hat sich zwei Pinsel in den Dutt gesteckt, um ihr lockiges, rotblondes Haar festzuhalten. Alles an ihr ist warm, sie sieht aus, als stünde sie im Licht eines Sonnenaufgangs.

Ich wende mich von ihr ab.

«Es tut mir sehr leid, das zu hören», sage ich und blättere zurück zu den Trauer- und Verlustseiten in meinem Leitfaden. «Mein Beileid.»

«Es ist einfach nicht zu begreifen. Es ging ihr gut. Sie war glücklich.» Seine Stimme wird lauter. «Glückliche Menschen bringen sich nicht um!»

Ich weiß, wie ich darauf reagieren muss, obwohl es nirgends in meinen Aufzeichnungen steht. «Es sind weit mehr Menschen von Depressionen betroffen, als wir glauben. Viele verbergen ihre wahren Gefühle. Selbst die heitersten Menschen können –»

«Das kann ich nicht glauben», fällt er mir ins Wort. «Das gilt vielleicht für andere Leute, aber nicht für sie. Es kam so plötzlich. Es … ist so vollkommen sinnlos. Ich verstehe es nicht. Ich kann es nicht verstehen. Alle sagen, sie habe es getan, aber niemand kann sagen, warum. Es gab keinen Grund. Das kam alles aus dem Nichts …»

Der Kuli in meiner Hand zittert so, wie mein Handy vor sechs Monaten. Ich höre wieder Dads Stimme.

«Clem, es geht um … um Poppy. Die Polizei ist heute Morgen gekommen. Sie haben gesagt, dass sie … dass sie sie im Meer gefunden hätten und … sie ist tot, Schatz. Sie hat es nicht geschafft. Sie … oh Gott, sie glauben, dass sie es absichtlich getan hat.»

Ich versuche, meine Hand ruhig zu halten.

«Es fällt uns oft schwer, die Gründe anderer Menschen zu verstehen, aber häufig –»

«Ich spreche nicht von anderen Menschen, ich spreche von Rachel! Meiner Schwester …» Er schnieft, und ich höre ihn schlucken. Ich höre, dass da am anderen Ende eine Flasche ist, eine Flüssigkeit, die in einem Glasgefäß schwappt. Seine Worte, das merke ich jetzt, klingen undeutlich und verwaschen.

«Wir haben ständig miteinander gesprochen», murmelt er. «Haben uns alles erzählt. Wir waren uns nah. Ich war für sie da, immer. Habe mir immer Zeit für sie genommen. Wenn sie sich etwas antun wollte, warum hat sie mir das nicht gesagt?» Er nimmt noch einen geräuschvollen Schluck aus seiner Flasche. «Warum hat sie sich nicht wenigstens verabschiedet?»

In meinem Handbuch steht nichts, was mir hierbei helfen könnte. Es gibt keinen Abschnitt Wie man mit dem plötzlichen Selbstmord der eigenen Schwester zurechtkommt.

Ich wünschte, es gäbe ihn.

«Ich weiß, dass es Ihnen unmöglich vorkommt, mit etwas zurechtzukommen, das Sie nicht verstehen, aber mit der Zeit wird der Schmerz nachlassen. Die Zeit heilt.»

«Die Zeit heilt», äfft er mich nach. «Ich hatte schon genug Zeit. Zwei Jahre. Aber nichts heilt. Es wird nicht besser.»

«Zwei Jahre?»

«Ja. Und es schmerzt noch immer, als wäre es gestern gewesen.» Er trinkt noch einen Schluck und lacht hohl. «Aber nach heute Abend wird es nicht mehr wehtun.»

Vier von fünf Anrufern unserer Helpline suchen einfach jemanden, mit dem sie reden können. Der fünfte Anruf kommt von jemandem, der selbstmordgefährdet ist – aber nur ganz selten versucht dieser Anrufer tatsächlich, sich das Leben zu nehmen.

Versuchen Sie zu ermessen, wie ernst es der Anrufer meint, steht in dem Kapitel «Selbstmordversuch» in meinem Leitfaden. Fragen Sie nach der Methode. Bringen Sie den Anrufer dazu, das Zimmer zu wechseln, während Sie miteinander reden.

«Was meinen Sie damit, es wird nicht mehr wehtun?», frage ich.

Er reagiert nicht. Ich höre, dass er sich bewegt – vielleicht steht er auf. Die Alkoholflasche – leer – klirrt zu Boden.

«Was ist los?», frage ich. «Fühlen Sie sich erschöpft vom Leben?»

Diese Frage ist zu direkt. Er lacht mich aus, aber ohne jede Freude. Er atmet jetzt schwer und unregelmäßig. Ich höre ein leises, gequältes Wimmern.

«Haben Sie heute Abend Schritte unternommen, um Ihr Leben zu beenden?»

«Ja, sogar massenweise.»

«Was meinen Sie damit?»

«Zehn Stockwerke.»

Ich grabe die Spitze meines Kulis in das Notizbuch und kritzele die Rechnung hin, obwohl ich längst weiß, was das bedeutet. Zehn Stockwerke sind ein Hochhaus. Mindestens dreißig Meter.

«Wo sind Sie jetzt?»

«Warum? Damit die Polizei kommt, um mich daran zu hindern? Um mich einzuweisen?»

«Nein, so etwas tun wir nicht. Ihr Anruf ist anonym. Das Einzige, was ich über Sie weiß, ist das, was Sie mir sagen, und ich kann diese Informationen nur mit Ihrer Erlaubnis an die Notdienste weitergeben. Wenn Sie mir Namen und Adresse geben würden, könnte ich –»

«Nein! Keine Adresse, keine Erlaubnis.»

«Na gut. Aber ich möchte wissen, ob Sie in unmittelbarer Gefahr sind. Wo sind Sie?»

«Auf einem Dach.»

Ein merkwürdiges Geräusch im Hintergrund wird lauter: Wind. Er ist so weit oben, dass ich den Wind um ihn herum heulen hören kann.

Er wird springen. Genau wie Poppy.

Das kann ich nicht zulassen.

«Stehen Sie an der Kante?», frage ich ruhig, als wollte ich wissen, wann er Geburtstag hat. Das steht auf der ersten Seite in meinem Handbuch: Die Anrufer haben oft das Gefühl, ihr Leben sei chaotisch und in Unordnung. Sprechen Sie besonders ruhig und zuversichtlich, damit sie sich daran festhalten können.

«Ja.»

«Könnten Sie vielleicht zurücktreten und wieder ins Treppenhaus gehen? Nur solange wir sprechen?»

«Wir haben genug gesprochen.»

«Aber wir haben uns noch mehr zu sagen.»

«Nein! Wir sind durch.» Er klingt wütend, und er lallt. Er ist offener geworden. Mutiger. «Ich will nicht mehr reden. Ich habe es satt zu reden, obwohl niemand zuhört. Ich will nur … ich will nur, dass es endlich vorbei ist.»

Da ist ein Geräusch, es klingt fast wie ein Ächzen. Ein Geräusch, als strengte er sich an.

Er klettert. Er bereitet sich darauf vor zu springen.

«Erzählen Sie mir von Rachel», sage ich in dem verzweifelten Versuch, ihn abzulenken.

«Sie ist von einem Zug erfasst worden.»

Ich zucke zusammen. «Nein. Erzählen Sie mir, wie sie war. Als Mensch. Als Schwester.»

«Sie war glücklich. Sie hatte Pläne. Sie …» Jetzt sind da wieder Tränen. Vielleicht waren sie die ganze Zeit da. «Sie hätte so etwas niemals getan.» Seine Stimme bebt. «Ich sage das ständig, aber sie hören nicht zu. Es ist ihnen egal. Es gab nicht einmal einen Abschiedsbrief, aber das ist ihnen auch egal. Sie hat das nicht getan!»

«Es gibt Leute, mit denen Sie sprechen können», sage ich und schaue dabei in mein Handbuch. «Therapeuten, Trauer- oder Selbsthilfegruppen … Sie können Ihnen dabei helfen, Ihren Verlust zu verarbeiten und –»

«Nein», schreit er. «Das will ich nicht! Ich habe das alles ausprobiert! Ich habe Tabletten genommen, war bei Ärzten und habe Monate in der psychiatrischen Abteilung verbracht. Akzeptiere es, sagen die Leute immer, du musst es akzeptieren, aber ich kann das nicht! Es ist einfach so sinnlos. Sie sagen, ich kann nicht abschließen, aber ich weiß, dass Rachel so etwas einfach nicht getan hätte. Niemals hätte sie das getan. Aber ich kann es tun. Und ich werde es tun.»

Der Wind wird stärker. Ich stelle ihn mir vor, diesen gestaltlosen Anrufer, wie er vor dem Abgrund eines Hochhausdachs steht, einen Fuß schon im Nichts. Wie er weint. Sich hasst. Sich nach einem Leben sehnt, das er nicht mehr haben kann. Wie er kurz davor ist, das Leben zu beenden, das er hat.

Und Poppy steht neben ihm, bereit, dasselbe zu tun.

In meinem Handbuch steht, ich solle zuhören, die Entscheidungen unserer Anrufer respektieren – selbst wenn sie sich entscheiden zu sterben. Aber das kann ich nicht.

Ich greife seine Hand und ziehe ihn vom Abgrund weg.

«Warten Sie! Bitte tun Sie das nicht.»

Ich höre das statische Rauschen des Windes. Und seinen Atem.

«So etwas dürfen Sie eigentlich nicht sagen», sagt er leise.

«Ich weiß. Ich respektiere Ihre Entscheidung, aber …»

In meinem Handbuch gibt es dafür kein Kapitel. Darin steht nur, ich solle zuhören, nicht sprechen – aber Zuhören hilft diesem Menschen nicht. Ich schiebe die Mappe weg und setze die Brille ab, lege die Hände vor die Augen. Ich muss die Worte von woanders herholen.

«Meine Schwester hat sich vor einem halben Jahr das Leben genommen, und sie hat auch keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Ich weiß, wie verwirrend es ist, wenn man keinen Grund dafür finden kann, warum jemand, den man liebt, gestorben ist. Und ich weiß auch, dass es sich so falsch anfühlt, als hätte jemand einen Fehler gemacht, denn es kann doch einfach nicht sein, dass die eigene Schwester einfach so …» Ich massiere mir die Stirn und hole tief Luft. «Ich konnte auch nicht verstehen, was mit meiner Schwester geschehen ist, aber Selbstmord ist etwas, das nur in den seltensten Fällen zu verstehen ist. Für jemanden, der zutiefst unglücklich ist, ist das der Grund. Und so sehr es sich auch anfühlt, als passte der Selbstmord nicht zu meiner Schwester, passt er eben doch, denn sie hat sich für ihn entschieden. Sie hat diese Entscheidung getroffen. Und wenn ich zurückschaue …» Ich schlucke schwer. «Es gibt Anzeichen. Irgendetwas war nicht richtig, das weiß ich jetzt. Vielleicht gab es auch bei Ihrer Schwester Anzeichen. Wenn Sie sie erkennen, hilft es Ihnen vielleicht dabei, die Entscheidung zu akzeptieren, die Ihre Schwester getroffen hat, selbst wenn Sie nicht verstehen, warum.»

Der Anrufer reagiert nicht.

«Sind Sie noch da? Hallo?»

«Sie waren nicht für sie da», sagt er leise.

«Was?»

«Wenn die Anzeichen da waren, haben Sie sie nicht gesehen. Sie haben sie nicht gehört. Sie haben sie allein gelassen.»

Zum ersten Mal spricht er, ohne dass ich ihn dazu bringe.

«Die Leute denken, dass ich wie Sie bin, dass ich zu egoistisch war und deshalb nicht gemerkt habe, dass es ihr schlecht ging, dass ich sie habe sterben lassen, aber das stimmt nicht. Ich war immer für Rachel da. Wenn es ihr nicht gut gegangen wäre, hätte ich es gewusst, aber da war nichts. Nichts! Ich habe bestimmt hunderttausendmal darüber nachgedacht. Keine Nachricht, keine Anzeichen, keine Gründe. Selbst bei den Untersuchungen danach wurde nichts gefunden.»

Das Rauschen des Windes dröhnt in der Leitung.

Ich finde meine Stimme wieder. «Ich weiß, dass es schwierig ist zu akzeptieren, aber Ihre Schwester hatte ihre Gründe. Für die Hinterbliebenen kann keiner dieser Gründe je –»

«Aber sie hatte keinen Grund!», schreit er. «Warum hören Sie mir nicht zu? Sie sind genau wie die anderen!»

«Wer?»

«Die anderen. Alle. Meine Mutter, die Polizei, der bescheuerte Untersuchungsrichter. Sie sagen alle, dass die Untersuchungen abgeschlossen sind. Selbstmord. Fall geschlossen. Aber der Fall war überhaupt nie offen!» Seine Worte sind voller Verzweiflung. «Sie haben gesehen, dass jemand von einem Zug erfasst wird, und nahmen an, dass es Selbstmord war. Dann haben sie ihr Leben auseinandergepflückt und versucht, es zu beweisen, statt herauszufinden, was wirklich passiert ist. Es war ihnen völlig egal, wer sie wirklich war oder ob das alles zu ihr passte. Sie sagten, sie habe sich vor den Zug geworfen, aber das stimmt nicht. Ich weiß, dass das nicht stimmt. Aber sie hören mir ja nicht zu. Niemand hört je zu. Sie stecken mich in die Psychiatrie, geben mir Medikamente, aber sie hören nie zu. Glauben mir nie.»

Ich setze die Brille wieder auf und ziehe meine Mappe heran, blättere darin, suche nach etwas, irgendetwas. Ich hätte nicht von der Leitlinie abweichen sollen. Das war ein Fehler. Ich darf nur zuhören, nicht reden.

«Hören Sie, ich gebe Ihnen die Kontaktdaten einer Selbsthilfegruppe. Es gibt überall im Land ganz ausgezeichnete. Aber bitte treten Sie von der Kante weg. Wo sind Sie? In welchem Bezirk?»

«Nein! Keine Selbsthilfegruppen mehr. Ich bin damit fertig. Ich habe es satt, der Einzige zu sein, der weiß, wovon er spricht, während mich alle für verrückt halten. Ich habe es satt, dass man mir nicht glaubt. Ich habe es … ich habe es satt!»

Mit zitternden Fingern blättere ich weiter. Es muss einen Weg geben, ihm zu helfen. Es gibt immer eine Antwort.

«Es wird besser», lese ich einen Satz vor. «Alles wird irgendwann besser.»

«Das hier nicht. Nicht, solange er noch da draußen ist.»

«Was meinen Sie damit? Wer ist da draußen?»

«Er. Er. Der, der Rachel vor den Zug gestoßen hat.»

Ich drücke den Kuli in das Papier meines Notizblocks. Die Tinte blutet aus der Spitze heraus.

«Sie glauben mir auch nicht, oder?»

«Ich …»

«Wusste ich’s doch. Keiner glaubt mir. Alle sagen, ich könnte es einfach nicht akzeptieren, aber sie sind diejenigen, die die Wahrheit nicht ertragen können. Sie hat das nicht getan. Ich kann es nicht beweisen, ich kann nichts davon beweisen, aber ich weiß, was passiert ist. Ich weiß es. Und ich kann mit diesem Wissen nicht mehr leben.»

Er würgt ein Schluchzen hervor.

«Bitte», sage ich und wünsche mir, seinen Namen zu kennen, «treten Sie einen Schritt zurück und lassen Sie uns reden. Ich weiß, dass es Ihnen jetzt schwierig vorkommt, aber lassen Sie mich Ihnen helfen. Es wird Ihnen wieder besser gehen. Es gibt einen Weg.»

Er seufzt und atmet dann tief ein. «Den gibt es.»

Der Wind um ihn herum hat jetzt ein wenig nachgelassen. Es ist ruhig. Er ist ruhig. Vielleicht dringe ich jetzt zu ihm durch und kann ihn davon überzeugen, dass –

«Niemand hat mir geglaubt, aber Sie können es tun. Sie kennen nun die Wahrheit.»

«Nein, bitte warten Sie –»

«Egal, was die Leute sagen, meine Schwester hat sich nicht umgebracht. Sie wurde ermordet.»

Und bevor ich noch etwas sagen kann, höre ich ein Keuchen, einen erstickten Schrei, ein Klackern, ein verzerrtes Rauschen und schließlich einen dumpfen Aufschlag.

Die Verbindung reißt ab.

Kapitel 2

In meinem Headset herrscht Stille. Kein Rauschen, kein Wind, keine Worte. Nur die Schwere des Nichts.

Irgendwo in Großbritannien hat sich gerade ein Mann in den Tod gestürzt – und ich bin die Einzige, die davon weiß.

«Alles okay?»

Da ist jemand neben mir. Ein Bürostuhl wird herbeigezogen, ein Mann beugt sich vor. Er hat die Hand auf die Lehne meines Stuhls gelegt. Ich starre geradeaus.

«Er ist gesprungen», höre ich mich sagen. «Er ist von einem Dach gesprungen.»

Mein Gehirn spielt die Geräusche ab: das Keuchen, den Wind, den dumpfen Aufprall. Andere Geräusche kommen hinzu.

Wellen, die gegen Felsen krachen.

Der Schrei einer Frau.

Der Schrei von Poppy.

«Es tut mir so leid, dass du das hören musstest», sagt der Mann.

Ich nehme das Headset ab und lege es auf den Schreibtisch. Meine Mappe liegt noch immer vor mir, aufgeschlagen auf den Seiten mit den Telefonnummern und Websites, die der Anrufer nicht haben wollte.

Er wollte nicht, dass ich ihn aufhalte. Er wollte sterben.

Aber warum der Schrei?

Ich höre es wieder und wieder. Er schrie, als er fiel. Es erschreckte ihn. Machte ihm Angst.

Vielleicht bereute er es.

Fühlte Poppy dasselbe? Bereute sie es, als sie fiel? Griff sie ins Nichts und schrie nach Hilfe, als sie von dieser Klippe stürzte? Schrie sie, bis sie unten aufkam? Schrie sie, obwohl dort niemand war, der sie hätte hören können?

Ich hätte antworten müssen. Ich hätte dort sein müssen, um sie aufzuhalten. Ich hätte –

«Hey», sagt der Mann sanft und berührt mit den Fingerspitzen meine Schulter. «Es ist in Ordnung.»

Ich schaue von meinem Schreibtisch auf, von den überflüssigen Listen und Notizen, und versuche, ihn anzusehen. Er hat freundliche Augen. Sie sind braun, ebenso wie sein Bart und das lockige Haar, das er zu einem unordentlichen Dutt auf dem Kopf hochgebunden hat, und er sieht mich an. Er ist groß und breit, aber seine Stimme ist sanft, leise genug, dass die anderen Ehrenamtlichen im Raum uns nicht hören können. Ich hatte vergessen, dass hier noch andere Menschen sind. Sie machen mit ihrer Schicht weiter, flüstern leise, schlagen Seiten in ihren Unterlagen um. Nicht ahnend, dass gerade ein Mann gestorben ist.

«Möchtest du darüber sprechen?», fragt er behutsam.

Meine Hände liegen auf dem Tisch und zittern.

«Ich habe versucht, ihn aufzuhalten, aber er hat es trotzdem getan. Ich konnte ihn nicht retten …»

Der Mann schüttelt den Kopf, legt seine andere Hand auf mein Handgelenk und drückt es.

«Er wusste, was er tun wollte, und er hat es getan. Du hättest nichts daran ändern können, okay?» Er streichelt mir leicht die Schulter. «Ich habe dich gehört. Du hast gefragt, wo er ist, damit du ihm Hilfe schicken konntest, aber er wollte es dir nicht sagen. Du hast alles für ihn getan, was du konntest. Er wollte nicht, dass es anders endet.»

Der Mann schenkt mir ein halbes Lächeln, beruhigt mich, drückt wieder mein Handgelenk.

«Es ist nicht deine Schuld, Clementine.»

Ich habe diesem Mann vorhin eine Tasse Tee hingestellt. Er lächelte, sprach mit einem Anrufer und kritzelte dabei vor sich hin. «Möchten Sie darüber reden?», fragte er, auf dieselbe freundliche, sanfte Weise, wie er jetzt mit mir spricht.

Als wäre ich eine von ihnen.

Ich räuspere mich, lege die Hände in meinen Schoß und richte mich auf. Er bleibt in seiner vorgebeugten Haltung, zieht seine Hände jetzt aber zurück, legt sie auf die Knie.

«Ich weiß, dass es nicht meine Schuld ist», sage ich. Ich streiche mir ein paar lose Strähnen hinter die Ohren – die, die der Zug vorhin auf dem U-Bahn-Bahnsteig aus meinem Zopf gerissen hat. «Es ist nur, dass mir das hier zum ersten Mal passiert ist.»

Der Mann nickt. «Es ist hart. Meistens rufen uns die Leute nur an, damit wir mit ihnen reden oder damit wir sie beruhigen, aber wenn man wirklich einen ernsthaften Fall in der Leitung hat … Manchmal wollen sie nur, dass jemand dabei ist, wenn es so weit ist. Das ist mir auch schon mal passiert, da musste ich zuhören, wie jemand starb. Schrecklich, aber irgendwie auch friedlich.»

Mein Anruf war nicht friedlich. Das war nichts, was mit ein paar beruhigenden Worten wieder vergessen werden kann. Es war ein abruptes, gewaltsames Ende.

Darin lagen Angst, Reue und, für den Bruchteil einer Sekunde, unbeschreibliche Qual.

Die Hoffnung, dass der Mensch, mit dem er am Telefon sprach, ihn irgendwie retten könnte.

Dachte Poppy dasselbe, während sie fiel?

«Sollen wir mit Brenda reden?», fragt der Mann. «Es hilft bestimmt, das zu besprechen und ein bisschen Klarheit zu finden.» Er berührt erneut meine Schulter. «Es ist wirklich normal, sich nach so einem Anruf niedergeschlagen zu fühlen.»

«Mir geht es gut.» Ich dränge meine Gedanken zurück und lächele ihn an. «Es war nur der Schock, das ist alles. Mir geht es gut.»

Er zieht die Augenbrauen hoch. «Sicher?»

«Natürlich. Wirklich.»

Ich mache mich daran, den Schreibtisch für den nächsten Anruf aufzuräumen. Ich blättere die Mappe zurück zur Checkliste auf der ersten Seite, lege den Kuli zurecht, schlage eine neue Seite in meinem Notizbuch auf. Einige der Worte, die ich aufgeschrieben habe, sind auf die neue Seite durchgedrückt: zehn Stockwerke. Rachel. Glaubt, dass der Selbstmord ein Mord war.

«Ich gehe vielleicht vorher mal auf die Toilette. Verzeihung.»

Ich lächele erneut und verlasse den Telefonraum, bevor er noch etwas sagen kann. Brenda winkt mir aus ihrem Büro zu, und ich gehe den Flur entlang und winke immer noch lächelnd zurück. Ich gehe nicht auf die Toilette. Ich verlasse das Büro der Helpline und laufe in Richtung Treppenhaus, aber statt hinunterzugehen, gehe ich hinauf. Aufs Dach.

Es hat geregnet. Es hat den ganzen Tag geregnet und immer wieder aufgehört, dicke Wolken haben zwischen sonnigen Momenten Schauer auf uns niedergehen lassen und die Luft sauber gespült.

Ich habe Poppy mal erzählt, dass schwere Regenschauer vor dem Sonnenuntergang diesen besonders beeindruckend aussehen lassen können, und das hat sie nie vergessen. Sie ging bei jedem Wetter raus, zu jeder Jahreszeit, nur für den Fall, dass die Sonne sich doch noch durchkämpfte. Sie schrieb niemals einen Tag wegen schlechten Wetters ab.

Ich atme die saubere, kalte Luft ein.

Als Dad mich anrief, um mir von Poppys Selbstmord zu erzählen, glaubte ich ihm zunächst nicht. Warum hätte ich das auch tun sollen? Noch vor zwei Monaten war sie ganz sie selbst gewesen: Sie hüpfte im Haus unserer Eltern herum, sang Weihnachtslieder, malte, tanzte, lachte, redete ohne Unterlass über ihr Kunststudium, wie hübsch Brighton sei, welche Kunstwerke sie für ihr zweites Semester plante.

Das war die Poppy, die ich mein ganzes Leben lang gekannt hatte. Sie war sechs Jahre jünger, unterbrach mich ständig beim Lernen, um über Füchse zu plaudern oder mich aus der Haustür zu zerren. Die Schwester, die mir jeden Tag kleine Bildchen am Badezimmerspiegel hinterließ und Briefe schrieb, wenn ich fort war, um sie mir zu geben, wenn ich an den Feiertagen von der Uni nach Hause kam.

Sie war kreativ, lebhaft, so voller Freude, dass sie zu platzen drohte.

Aber sie war auch schüchtern. Die Kinderpsychologin, zu der Mum mit ihr ging, sagte, es sei eine Art Sozialphobie: eine extreme Nervosität in Gegenwart anderer. Es fiel ihr schwer, in der Schule Freunde zu finden. Sie ging nicht gern allein aus dem Haus, schon gar nicht an belebte Orte. Sie sprach nicht mit Fremden. Wenn wir abends essen gingen, versteckte sie sich hinter der Speisekarte, und Mum bestellte für sie. Sie wollte auf keinen Fall in den Kunstkurs gehen, für den Dad sie über den Sommer angemeldet hatte; sie weinte auf dem Weg dorthin und ließ meine Hand nicht los, als wir versuchten, sie dort abzusetzen.

Wenn ich in den letzten drei Jahren von der Uni nach Hause kam, fand ich jedes Mal ein Bündel Briefe auf meinem Bett, weil sie es einfach nicht schaffte, zur Post zu gehen und sie zu verschicken.

Das waren die Anzeichen.

Nach Weihnachten, als sie tagelang ihre Lieder in mein Ohr gesungen und so viel von ihrem ersten Semester geschwärmt hatte, dass ich es schon nicht mehr hören konnte, flog ich zurück nach Boston, um mich wieder um meine Recherche für die Doktorarbeit zu kümmern. Wir hatten immer wieder Kontakt miteinander: Ich likte einen Artikel, den sie teilte, sie schickte mir ein Foto vom Sonnenuntergang in Brighton. Ich rief nicht an, weil ich nicht merkte, dass ich es hätte tun müssen. Ich erinnerte mich an ihr Lächeln an Weihnachten, nicht an die Ängste ihrer Kindheit. Ich lebte schon so lange nicht mehr zu Hause, dass ich annahm, sie sei aus diesen Dingen herausgewachsen.

Mir kam es nicht in den Sinn, dass sie sich isoliert und einsam fühlen könnte, dass sie sich vor den alten Ängsten versteckte. Ich dachte nie daran, sie zu fragen, ob es ihr wirklich gut geht. Wenn ich das getan hätte, hätte ich vielleicht erfahren, dass das nicht so war. Und wenn ich das gewusst hätte, hätte ich etwas tun können. Ich hätte sie aufhalten können.

Ich hätte sie aufhalten müssen.

Aber ich reagierte nicht. Ich ging nicht ans Telefon, als sie anrief. Ich hörte die Voicemail erst am nächsten Morgen ab, als ich bereits wusste, dass sie tot war.

Die Geräusche darauf verfolgen mich noch heute: der Wind im Hintergrund; das Rauschen der Wellen. Stille.

Was auch immer sie mir sagen wollte – sie konnte es nicht. Ihre letzten Worte starben mit ihr.

Ich muss an den Anrufer denken, die Wut in seinen Sätzen.

«Sie sagten, sie habe sich vor den Zug geworfen, aber das stimmt nicht. Ich weiß, dass das nicht stimmt …»

Ich schlucke.

«Sie wurde ermordet.»

Er glaubte das. Selbst nach der polizeilichen und gerichtsmedizinischen Untersuchung und den Therapien und den zwei Jahren Abstand glaubte er ernsthaft, dass sich seine Schwester niemals das Leben genommen hätte. Er war sich sicher, dass jemand anders die Schuld trug.

Ich denke wieder an Dads Anruf.

«Sie haben gesagt, dass sie … dass sie sie im Meer gefunden hätten und … oh Gott, sie glauben, dass sie es absichtlich getan hat.»

Zuerst konnte ich diese Worte auch nicht glauben. Es kam mir so falsch vor, so untypisch, es klang, als spräche er von der Schwester einer anderen. Nicht von meiner. Nicht von der schüchternen Poppy mit ihrem Lächeln, ihrem Hüpfen, ihren strahlenden Augen, ihren Händen, mit denen sie an mir zupfte. Die Polizei musste falschliegen. Denn so etwas würde sie nicht tun. Niemals. Irgendjemand musste einen Fehler gemacht haben. Es musste mehr dahinterstecken. Sie würde das nicht tun. Sie konnte das nicht tun. Sie hatte keinen Grund …

Ich verschränke die Arme vor der Brust und grabe die Nägel in meine Handflächen.

Die psychologischen Studien zum Thema Verlust durch Selbstmord sind sehr klar: Um es zu verarbeiten, muss man es akzeptieren. Um weitermachen zu können, muss man die unbeantworteten Fragen loslassen.

Der Anrufer konnte das nicht. Er steckte noch in der Phase des Leugnens fest. Er wollte lieber dem vagen Schatten eines Mörders die Schuld geben und sterben, als einer Zukunft ins Auge zu sehen, die nur die Wahrheit brachte: dass seine Schwester tot ist, weil sie es sein wollte.

Die Luft ist kühl, und jetzt nieselt es leicht. Das Betondach ist glitschig, in den Pfützen spiegeln sich die höheren Gebäude um mich herum. Ich trete an den Abgrund.

Vor sechs Monaten, in den frühen Morgenstunden des 23. Februar, fuhr meine achtzehnjährige Schwester mit dem Fahrrad zu einer Klippe außerhalb von Brighton und stürzte sich hinunter. Es war ihre Wahl. Ihre Entscheidung.

Sie hinterließ keine Nachricht. Sie verabschiedete sich nicht. Sie starb still und allein.

Und genau das wollte sie, sosehr ich mir auch wünsche, dass das nicht so wäre. Ich kann keine Entschuldigungen für sie finden oder ihre Taten wegerklären, so wie es der Anrufer bei seiner Schwester versuchte. Ich kann mich nicht an eine Hoffnung klammern, die es nicht gibt.

Ja, ich hätte in jener Nacht ans Telefon gehen sollen, als Poppy anrief, ich hätte ihr dabei helfen sollen zu erkennen, dass sie geliebt wird und wertvoll ist und eine Zukunft hat, die es wert ist, gelebt zu werden, egal, wie schlimm die Gegenwart aussieht – aber letztlich stand sie an jener Klippe, weil sie dort stehen wollte. Niemand hat sie dorthin gezwungen. Niemand hat sie dazu überredet. Niemand stieß sie hinunter.

Sie traf die Entscheidung zu sterben ganz für sich allein, und so zu tun, als wäre das anders, ist nur eine selbstsüchtige Illusion.

An der Kante des Daches ist eine kleine Mauer, damit man nicht versehentlich hinunterfällt, aber es ist nicht unmöglich hinüberzuklettern. Das könnte jeder schaffen. Auch jemand, der betrunken ist und weint.

Poppy stand allein am Abgrund der Klippe – aber ich war heute Abend für den Anrufer auf dem Dach da. Ich habe versucht, ihn zu retten, und ich bin bis zum Ende bei ihm geblieben.

Immerhin konnte ich ihm etwas geben, das Poppy nicht hatte.

Ich gehe zurück in den Telefonraum. Der Mann, mit dem ich gesprochen habe, spricht in sein Headset, wieder mit dieser leisen und sanften Stimme. Er sitzt zurückgelehnt in seinem Stuhl, einen Fuß auf dem Schreibtisch und den anderen darübergelegt, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, das Skizzenbuch auf den Knien, und er kritzelt vor sich hin. Beiläufig und lässig. Ruhig, ganz egal, was er am anderen Ende der Verbindung hört.

Poppy wäre nie in der Lage gewesen, hier ehrenamtlich zu arbeiten und mit Fremden zu telefonieren, allein schon wegen ihrer Sozialphobie. Aber wenn sie es doch getan hätte, wäre sie so wie er gewesen. Instinktiv freundlich, Mitgefühl und Empathie verströmend, so entspannt, dass sie gleichzeitig hätte zeichnen und Leben retten können.

Ich bin dafür nicht gemacht, mit meinem Handbuch voller vorgefertigter Phrasen und emotionaler Stichworte.

Sie sollte hier sein, nicht ich.

Ich setze mich an meinen Schreibtisch. Zwei Tassen stehen darauf – eine mit einem Bild vom Trafalgar Square, die andere mit dem Science Museum –, außerdem ein Stapel Zuckerwürfel, ein kleines Kännchen Milch und drei gefüllte Kekse. Auf einer quadratischen Serviette hat jemand etwas gezeichnet – eine kleine Comic-Version des Mitarbeiters, mit dem ich gesprochen habe: geschnürte Stiefel, Jeanshemd, dunkler Bart und lockiges Haar. Die Figur winkt.

War mir nicht sicher, ob du Kaffee- oder Teetrinkerin bist, daher habe ich dir beides mitgebracht. Und ein paar Kekse!

PS: – Ich heiße übrigens Jude.

PS 2: – Du machst das toll. :-)

Ich werfe ihm einen Blick zu – Jude –, aber er schaut weg, seine Aufmerksamkeit ist auf den Anruf gerichtet. Ich nehme den Science-Museum-Becher und gebe einen kleinen Schuss Milch in den Kaffee. Der Geruch von Seminaren am Morgen und durcharbeiteten Nächten in der Bibliothek erdet mich.

Ich schalte das Telefon wieder ein, bereit für eine neue Chance, das Richtige zu tun.

Irgendwie beneide ich den Anrufer von heute Abend. Er konnte nicht akzeptieren, dass seine Schwester sich das Leben genommen hat, dass sie unglücklich war, und weil er jemand anderem dafür die Schuld gab, konnte er sie für sich bewahren. Wenn ich an Poppy denke, ist alles in Traurigkeit getaucht: Ihr Lächeln wirkt angespannt und gezwungen; ihr Lachen klingt leer. Aber die Schwester des Anrufers ist für immer voller Freude. Ihr Lächeln ist wie ein Schmetterling unter Glas.

Der einzige Mensch, dem ich für den Tod meiner Schwester die Schuld geben kann, bin ich selbst.

Kapitel 3

Ich starre zur Decke hinauf. Sonnenlicht dringt durch die Lücke zwischen den Vorhängen, und der Berufsverkehr dröhnt draußen auf der Straße.

Ich habe schon wieder von ihr geträumt.

Es muss ein Picknick gewesen sein, vielleicht auch ein Urlaub. Wir sitzen am Strand. Ihre Hand zieht meine von dem Buch weg, das ich lese. Sie will mit mir schwimmen gehen. Sie lacht und kreischt, als wir im Wasser sind, sie hüpft in den Wellen, aber dann kann ich sie nicht mehr finden. Ihre Hand liegt nicht mehr in meiner. Sie lacht nicht mehr. Sie liegt mit dem Gesicht nach unten im Wasser, in den rotblonden Locken hat sich Seetang verfangen, ihre Glieder sind gebrochen. Ein Stück Papier schwimmt vorbei, wird von der Strömung fortgerissen: ihr Abschiedsbrief. Die Gründe für ihre Entscheidung. Verloren im Meer, für immer.

Ich habe Poppys Leiche nie gesehen. Ein Spaziergänger mit Hund fand ihr Fahrrad und ihre Tasche am Morgen nach ihrem Sprung auf dem Küstenpfad in der Nähe von Seaford, die Polizei konnte ihre Leiche ein paar Stunden später bergen. Obwohl in ihrer Tasche ihr Personalausweis steckte und ihr Handy am Rand der Klippe gefunden wurde, mussten meine Eltern nach Brighton fahren, um sie zu identifizieren. Dad übernahm das. Er wollte nicht, dass Mum sie so sah. Aber er sagte uns danach, sie habe ausgesehen, als schliefe sie.

In meinen Träumen schläft sie nie. Ihr Körper ist ganz verdreht, voller Wunden, aufgedunsen. Obwohl sie nur ein paar Stunden im Wasser lag, zeigt mir mein Unterbewusstes das schlimmste Szenario, egal wie unwahrscheinlich es ist, wissenschaftlich gesehen. In einem Traum hing ihre aufgequollene Haut wie die Lumpen einer Vogelscheuche von ihren Knochen. In einem anderen war ihr Fleisch von den Fischen abgenagt worden.

Ich bin dankbar für die Nächte, in denen sie mit dem Gesicht nach unten im Wasser liegt.

Hat der Anrufer von letzter Nacht auch von seiner Schwester geträumt? Musste er auch Nacht für Nacht ihren Spuren folgen, zusehen, wie sie wieder und wieder auf die Gleise vor den Zug fiel, der sie tötete? Ist es das, was er sah? Ihren Selbstmord?

Oder ihren Mord?

Ich setze mich auf und reibe mir die müden, schmerzenden Augen. Ich weiß, was mich geweckt hat. Liam ist in der Küche. Er hat seine Lieblings-Playlist aufgedreht und singt doppelt so laut mit. Die anderen Geräusche sind ebenso vertraut: das Knallen der Kühlschranktür, als er die Butter herausholt, um sich Sekunden später daran zu erinnern, dass er ja auch noch Marmelade braucht; das beinahe gewalttätige Scheppern eines gebrauchten Messers im Spülbecken. Sein Frühstück ist immer chaotisch und hektisch, bevor er zur Arbeit hetzt.

Ich nehme meine Brille – die runde Schildpattbrille, die Poppy für mich ausgesucht hat. Ich kann morgens nicht wieder einschlafen, wenn ich einmal wach bin. Manchmal gehe ich zu Liam, trinke starken Kaffee und unterhalte mich höflich mit ihm, wie das zwei Fremde in einer winzigen Wohnung tun. Aber heute lasse ich meine Tür geschlossen und greife nach meinem Handy.

Ich tippe einige Worte in die Google-Suchmaske ein: News Selbstmord Tod Hochhausdach gefallen gesprungen Leiche Mann männlich entdeckt Großbritannien. Ich scrolle durch die Ergebnisse, aber ich finde nur alte Artikel, andere Leute. Nichts Aktuelles, was auf den Anrufer hindeutet, mit dem ich gestern Abend gesprochen habe. Kein Name, kein Bild, das zu der Stimme passt.

Vermutlich ist es noch zu früh für eine Nachricht. Es ist weniger als zwölf Stunden her, und die offiziellen Stellen müssen erst die Angehörigen benachrichtigen, bevor sie Informationen an die Presse weitergeben. Es müssen Formulare ausgefüllt, Abläufe eingehalten werden.

Es sei denn, natürlich, es hat ihn noch niemand gefunden.

Was, wenn es keinen Spaziergänger mit Hund gab, keine Passanten? Er könnte noch immer dort liegen, irgendwo am Fuß eines abgelegenen oder baufälligen Gebäudes. Fliegen, die um ihn schwirren. Vögel, die an seinen Augen herumpicken.

Wie Poppy stelle ich mir auch ihn lieber mit dem Gesicht nach unten vor.

Das Handy in meiner Hand vibriert. Eine neue Nachricht. Sie kommt von Jenna. Die Nachrichten sind immer von Jenna.

Hey, Clem! Ich habe gerade das Labor verlassen (um drei Uhr morgens! Dein schlechter Einfluss macht sich langsam bemerkbar) und dachte, ich schreibe dir mal, denn in London ist es ja eine weniger unchristliche Tageszeit. Wie geht es dir? Hier ist alles fein. Keine Studentenklausuren zu korrigieren, wir können uns gerade voll auf die Experimente konzentrieren. Aber ich vermisse natürlich meine Lieblings-Laborpartnerin. Könnte ein paar Mitternachts-Pyjama-Brainstorming-Sitzungen vertragen, wie wir sie immer hatten. Ziemlich bald werden die Professoren kapieren, dass du eigentlich das Hirn dieser Operation bist, und mir meine Finanzierung entziehen.

Ich hoffe wirklich, dass es dir gut geht, Clem. Du kannst immer mit mir reden, das weißt du. Im Ernst, IMMER. Ich bin für dich da. X

Jenna Kim. Ihr Profilbild strahlt mich an, die roten Lippen lächeln breit, den Kopf hat sie leicht zur Seite geneigt. Hinter ihr ist verschwommen die Bar zu erkennen, in der das Foto gemacht wurde. Es ist neu. Vorher trug sie auf ihrem Bild einen Laborkittel und tat so, als untersuche sie angestrengt ein leeres Reagenzglas – die Parodie eines Fotos von mir, das es sogar in das Harvard-Vorlesungsverzeichnis vom letzten Jahr geschafft hat. Ihre Frisur ist auch anders. Ihr Haar fiel sonst immer gerade auf ihre Schultern – wie ein schwarzer, glänzender Helm –, jetzt ist es länger, die Spitzen sind ein wenig aufgehellt.