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Kaum dass Kalin Thompson zur Sicherheitschefin des Stone Mountain Resorts befördert wird, bekommt sie es auch schon mit ihrem ersten Mordfall zu tun: ein vielversprechender Nachwuchs-Abfahrtsläufer mit Olympia-Ambitionen wird tot aufgefunden. Eigentlich ein Fall für die Polizei, doch Kalins Chef will, dass sie ihre eigenen Untersuchungen anstellt. Trotz der Abgeschiedenheit des Stone Mountain Resorts scheint es mehr Verdächtige mit einem Motiv zu geben als Tore beim Riesenslalom, und ihre Nachforschungen stoßen nicht überall auf Begeisterung. Offenbar scheint jemand ein ganz besonderes Interesse daran zu haben, dass die Identität des Mörders nicht gelüftet wird … ★★★★★ "Sehr spannend, bis zum Ende nicht zu durchschauen." [Lesermeinung] ★★★★★ "In dem Buch findet man alles. Romantik, Mord und Mystery, Das alles verquickt durch einen wunderbaren, bildhaften Schreibstil. Ein super Thriller, der bestens geeignet ist, im Garten auf der Hollywoodschaukel gelesen zu werden. Schließlich eignen sich eisige Morde bestens bei den ansteigenden Temperaturen." [Lesermeinung] ★★★★★ "Eine lebendige, nervenaufreibende Geschichte voller Geheimnisse, Eifersucht und Verrat …" [Barbara Fradkin - preisgekrönte Autorin der Inspector Green Mysteries]
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Seitenzahl: 509
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übersetzt von Andreas Schiffmann
Für Matthew. Du bist alles in meinem Leben.
Copyright © 2015 by Krinstina Stanley All rights reserved. No part of this book may be used, reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic or mechanical, including photocopying, recording, or by any information storage or retrieval system, without the written permission of the publisher, except where permitted by law, or in the case of brief quotations embodied in critical articles and reviews.
überarbeitete Ausgabe Originaltitel: DESCENT Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Andreas Schiffmann Lektorat: Astrid Pfister
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-235-3
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Erster Tag – 28. November
Der Tod fegte über den gefrorenen Schnee hinweg den Berg hinauf – ohne Vorwarnung oder bedrohliches Getöse, sondern nur mit ausgestreckten Fangarmen auf der Suche nach einem Opfer, während im Ferienressort Stone Mountain, wo gerade hektischer Betrieb herrschte, niemand etwas von der drohenden Gefahr ahnte.
Kalin Thompson startete den Motor ihres Schneemobils, lenkte seine Kufen über einen Hügel und raste dann auf den Gipfel der Strecke Alpine Tracks zu. Das Skiteam Holden kam direkt aus der Gegend und bestimmte deshalb den Wettkampf in den nächsten zwanzig Minuten, und Kalin plante hinterher, die Tore abzufahren, nur einmal und einfach nur für den kurzen Adrenalinschub zwischendurch.
Als sie eine vereiste Stelle erwischte, rutschte sie auf den Turm der Sesselbahn zu. Sie packte die Griffstange daraufhin fester und verlagerte ihr Gewicht nach links, um ihm auszuweichen, wobei ihre Skihose die Metallseite streifte. Falls sie ihre Ausrüstung nach nur fünf Tagen als Leiterin des Sicherheitsdienstes des Ressorts beschädigen sollte, würde sich ihr Vorgesetzter garantiert seinen Teil denken. Aber sie gewann die Kontrolle wieder und fuhr nun weiter auf die Kuppe zu. Schließlich kam sie schlitternd neben Ben Timlin zum Halten und johlte laut vor freudiger Erregung nach diesem Ritt.
Er fragte sie mit einem Zwinkern, das selbst kälteste Herzen zum Schmelzen gebracht hätte: »Du genießt das hier so richtig, oder?«
Kalin schaute sich um, denn sie wollte nicht, dass jemand zufällig in ihre Richtung schaute und das Folgende sah. Dann beugte sie sich über die Lenkstange und küsste Ben, wobei ihre Schutzhelme gegeneinanderstießen. »Jetzt ja.«
Am Startpunkt schob ein Super-G-Fahrer gerade seine Ski vor und zurück, indem er sich fest auf seine Stöcke stützte, eine aggressive Haltung kurz vor dem Abstoßen. Kalter Dampf trat aus seinem Mund, während er heftig Luft holte und darauf wartete, dass der Fahrer vor ihm endlich die Bahn freimachte.
Kalin löste den Haltegurt ihres Helms und schob sich den Schlauchschal unter das Kinn. »Wie läuft das Training?«
»Nicht so berauschend. Dass Coach Jenkinson es nicht abgeblasen hat, wundert mich wirklich.«
»Wieso?«
»Mehr als die Hälfte der Fahrer kam entweder von der Bahn ab oder ist gestürzt. Einer verstauchte sich sogar den Knöchel.«
»Wasserinjektion?«
»Genau, das ist 'ne regelrechte Eislaufbahn.«
Die Seilbahn von Stone Mountain, die hundertsechsundfünfzig Personen auf einmal befördern konnte, legte auf dem Weg vom Fuß der Strecke Alpine Tracks bis zum Gipfel fünf Meter pro Sekunde zurück. Am Landeplatz wendeten die Gondeln dann, nachdem die Fahrer und ihre Ausrüstung an einer Stelle wenige Meter von Ben und Kalin entfernt ausgestiegen waren. Sie zählte die letzten Mitglieder ihres Teams, die jetzt oben ankamen. Bevor sie selbst an die Reihe kam, mussten noch sechs Fahrer Läufe absolvieren.
Nur hauchdünne Skianzüge schützten die Sportler vor Wind und Wetter. Wenn Kalin blinzelte, verklebten ihre Wimpern sofort vor Kälte. Sie rieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger, damit das Eis schmolz. Ob Ben wohl auch fror? Sie musste schmunzeln, weil sie sich Sorgen um ihren Freund machte. Seine Hightech-Jacke von der Skipatrouille, die mit einem Erste-Hilfe-Set und Sicherheitswerkzeug ausgestattet war, schützte ihn bestimmt wesentlich besser vor den Minustemperaturen.
Ben stieß nun gegen die Ski, die Kalin am Heck ihres Schneemobils festgezurrt hatte. »Du kannst heute nicht fahren.«
»Willst du mir vielleicht Angst machen?«
»Die anderen tun sich wirklich schwer. Es ist einfach zu gefährlich.«
Kalin ließ sich nicht unbedingt gern sagen, dass sie aufpassen sollte, aber sie erkannte an Bens Gesichtsausdruck, dass sie in diesem Fall wohl besser nachgeben sollte. Dennoch wollte sie versuchen, ihn umzustimmen, wenn nicht noch mehr Fahrer stürzten.
Als das Signal laut dröhnte, zog der Mann am Start seine Beine zurück, sein Kopf mit den Schultern schnellte nach vorn und er drückte sich über die Linie. Während er sich die gebogenen Stöcke dicht an die Seiten hielt, ging er leicht in die Knie und passierte das erste Tor. Gegen das zweite stieß er mit einem Ellbogen, wahrte aber trotzdem sein Gleichgewicht. Er beschleunigte jetzt und fuhr am dritten vorbei, wobei die Zeitanzeige belegte, dass er bereits neunzig Stundenkilometer erreicht hatte. Die Kanten seiner Ski gingen durch das Eis wie Butter und hielten.
Im Super-G, einer Kreuzung aus Riesenslalom und Abfahrt, waren mindestens fünfunddreißig Tore üblich, und die Teilnehmer durften anders als bei Abfahrtsrennen zuvor keinen Testlauf machen. Jeder bekam also nur eine Chance und ging dabei direkt bis an seine Grenzen.
Beim Umrunden des vierten Tores kantete der Fahrer stark ab, doch anstatt dass sich die Kraft auf den Schnee übertrug, löste sich einer seiner Schuhe von der Bindung. Der Mann flog bei vollem Tempo in die Luft. Er verschränkte zwar geistesgegenwärtig seine Arme vor dem Körper, allerdings nicht schnell genug, um die Wucht des Aufpralls verringern zu können, und schlug jetzt mit dem Kopf auf die festgefahrene, vereiste Streckenoberfläche.
Ohne seine Augen von dem Skifahrer abzuwenden, drehte Ben den Zündschlüssel seines Schneemobils und sprach zugleich in sein Funkgerät.
Der Fahrer rollte nun kraftlos mit schlackernden Gliedern wie eine Stoffpuppe den Berg hinunter. Als er durch das fünfte Tor krachte, blieb dessen Stange umgeknickt liegen. Das orange Sicherheitsnetz an den Rändern der Piste bewahrte ihn davor, in den Wald hineinzurutschen.
Ben fuhr sofort zu ihm, und Kalin folgte kurz darauf mit ihrem Mobil.
Nun brach ein regelrechter Aufruhr los. Aus allen Richtungen kamen Zeugen herbeigelaufen.
»Bleiben Sie zurück.« Ben drängte sich durch die Menge und ging in die Hocke. Der Gestürzte lag mit verrenktem Körper und nach oben gerichtetem Gesicht im Netz, sodass man seinen unnatürlich schräg liegenden Kopf sehen konnte.
Obwohl er seinen Gesichtsschutz noch trug, hätte Kalin seinen Atem in der Frostkälte sehen müssen.
Ben suchte ihren Blick. »Geh besser Reed rufen.«
Vier Tage zuvor – 24. November
Kalin entdeckte Tom Bennett, den Sicherheitsleiter des Ressorts Stone Mountain, gemeinsam mit seiner Ehefrau Ginny an einem Tisch im Mountain Chalet Restaurant in der Nähe des Kamins. Sie hatte noch ein paar Minuten Zeit, bis Ben eintreffen würde, also ging sie hinüber und sagte kurz Hallo.
»Gab es heute zufällig Sicherheitsprobleme beim Training?«
Ginny antwortete anstelle ihres Mannes: »Heute ist unser Jahrestag. Unsere Hochzeit ist fünfunddreißig Jahre her, also hat sich Tom den Abend freigenommen.«
»Glückwunsch.« Kalin schüttelte seine Hand. Sie war schweißnass und deshalb glitschig. »Dann lasse ich Sie beide mal lieber allein.«
Tom hielt ihre Hand jedoch weiterhin fest und zog sie zurück.
»Ginny …« Als er sie losließ, sackte er zur Seite. Kalin lehnte sich hastig über den Tisch. Sie berührte den Stoff seines Sweaters noch mit den Fingerspitzen, bekam den Ärmel aber nicht mehr zu fassen. Sein Kopf knallte kurz darauf auf den Schieferfliesenboden.
Kalin lief um den Tisch herum und stieß neben Tom mit Ginny zusammen. Sie kniete sofort nieder, um am Hals seinen Puls zu fühlen, spürte aber leider nichts.
»Holen Sie sofort den Defibrillator«, rief Kalin dem Barkeeper zu, der sie nur begriffsstutzig anstarrte.
Während ihr Herz zu rasen anfing, zeigte sie auf eine doppelte Schwingtür, wobei sie hoffte, der Kerl bemerke ihre zitternde Hand nicht. »Den Defibrillator! Er hängt an einer Wand in der Küche.« Sie behielt ihn im Auge, bis er sich umdrehte und loslief.
Nicht weit von ihnen Dreien entfernt verharrte ein Kellner. Kalin räusperte sich, um ruhig weiterzusprechen. »Rufen Sie sofort einen Notarzt und dann den Sicherheitsdienst. Moment, nein – keinen Sicherheitsdienst, lieber die Skipatrouille.«
»Deren Nummer kenne ich leider nicht.«
Kalin warf ihm daraufhin ihr Handy zu. »Zuerst den Notarzt. Bens Nummer ist die Letzte, die ich heute gewählt habe. Rufen Sie ihn danach an. Er ist sowieso schon hierher unterwegs.«
Ginny beugte sich nun so tief über Tom, dass ihre Lesebrille von der Brust baumelte und rüttelte an seinen Schultern. »Tom, Tom. Sag doch etwas.«
Kalin hielt die Hände der Frau fest. »Er braucht eine Herzmassage. Würden Sie bitte Platz machen, ja?« Kostbare Sekunden vergingen, in denen Ginny sich zu fassen versuchte. Kalin blies dem Sicherheitsleiter zwei Mal Luft in den Mund, wobei sie den strengen Geruch von gerade verzehrtem Knoblauch verdrängte, und begann danach, auf sein Brustbein zu pressen, was man für gewöhnlich dreißig Mal hintereinander tat.
Während dieses Wiederbelebungsversuchs legte einer der Kellner behutsam ein Geschirrtuch auf Toms blutende Stirn. Nachdem sie den Vorgang noch zwei Mal wiederholt hatte, war ihr Kreuz feucht vor Schweiß. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Ginny ebenfalls neben ihr kauerte und sich hin und her wiegte, während sie »Nein, nein, nein«, vor sich hinsagte. Achte nicht auf sie, drück einfach weiter.
Sie seufzte, als Ben eine flache Hand zwischen ihre Schulterblätter legte. Nach einem weiteren dreißigsten Mal hörte sie auf zu drücken und beugte sich zur Seite, damit ihr Freund den Mann erreichen konnte. Sie stützte die Hände auf ihre Oberschenkel, ließ den Kopf hängen und brauchte einen Moment, um sich wieder zu beruhigen. Dann ballte sie die Fäuste und stand auf. Weil Staub von den Schieferfliesen an den Knien ihrer Jeans hängen geblieben war, klopfte sie ihn geistesabwesend ab und hinterließ dabei Schweißabdrücke auf dem Stoff.
Ben ließ seine Wintermütze und die Skihandschuhe achtlos auf den Boden fallen und kniete sich neben den Bewusstlosen hin. Er zerschnitt Toms Sweater, der im Zopfmuster gewoben war, und das weiße T-Shirt darunter, um an seinen Oberkörper gelangen zu können, wo er das Brusthaar an zwei Stellen wegrasierte. Dann machte er je eine Elektrode daran fest und wartete, bis der Defibrillator den Herzrhythmus analysiert hatte. »Es empfiehlt einen Stromstoß.«
Kalin zog Ginny daraufhin von ihrem Mann weg und ließ einen Arm auf ihren Schultern liegen. »Ben weiß, was er tut.«
»Ich bin bereit, also los«, sagte er. Da sich nach einem Stoß leider immer noch kein normaler Rhythmus einstellte, gab das Gerät noch zwei weitere ab.
Ben wandte sich nun von Tom ab und Kalin zu.
»Mach weiter. Ich räume in der Zeit das Restaurant.« Sie widerstand dem Drang, in Tränen auszubrechen, und wandte sich dem Barkeeper zu. »Kümmern Sie sich bitte um Ginny.«
Der Betreiber des Lokals kam nun ebenfalls aus seinem Hinterzimmerbüro.
Nachdem sie sich der Lage im Saal vergewissert hatte, ging Kalin auf ihn zu. »Helfen Sie mir bitte. Ich möchte, dass alle Gäste sofort verschwinden.«
»Aber sie essen doch teilweise noch.«
Die Unterhaltungen waren allerdings verstummt, denn alle starrten auf Ben und Tom. Ein Mann hatte sich gerade eine volle Gabel in den Mund stecken wollen und mitten in der Bewegung innegehalten. Eine Frau presste sich eine Serviette vor den Mund.
»Niemand isst hier mehr. Bieten Sie ihnen von mir aus Gutscheine oder eine vollständige Rückerstattung an. Nur schaffen Sie diese Leute hier raus, koste es, was es wolle. Sie werden bestimmt Verständnis dafür haben. Lassen Sie sich von Ihren Angestellten dabei helfen. Das wird sie ebenfalls ablenken.«
Danach kehrte Kalin zu Ginny zurück. »War Tom krank?«
Ginny wickelte sich ihren Seidenschal um Schultern und Brust, als wenn sie verhindern wollte, dass sie die Fassung verlor. »Er hatte eine Erkältung, die sich fast zu einer Lungenentzündung ausgewachsen hatte, aber es ging ihm schon wieder besser.«
»Hat er noch irgendwelche Medikamente genommen?«
Als Ginny den Kopf schüttelte, wackelten ihre Ohrringe, die Tautropfen darstellen sollten. »Ihm geht es doch bald wieder gut, oder?«
Ben versetzte Tom weiterhin Stromstöße, die der Defibrillator mit einem Ticken zeitlich abpasste, doch der Mann zeigte immer noch keinerlei Lebenszeichen.
Niemand ging deshalb auf Ginny ein.
Sie drückte eine von Kalins Händen. »Kalin?«
»Ich weiß es leider nicht.«
***
Die Sanitäter trafen ein. Einer zog eine Rollbahre hinter sich her, der andere brachte einen weiteren Defibrillator mit.
»Wieso ging das so schnell?«, fragte Kalin verwundert. Das Ressort befand sich zwischen zwei Gipfeln der Purcell Mountains in British Columbia eintausendzweihundert Fuß über dem Meeresspiegel, und zur nächsten Stadt Holden, die achtzehn Kilometer entfernt lag, gelangte man nur über einen Highway, der extrem schlecht instand gehalten wurde.
»Jemand hat uns schon früher wegen etwas anderem gerufen.« Der eine Sanitäter warf einen Blick auf die Angestellten des Restaurants, die gerade entweder Gäste hinausgeleiteten oder Rechnungen abtippten. »Wir laden ihn ein, brechen sofort auf und behandeln ihn bereits während der Fahrt.«
Die beiden hoben Tom nun auf die Bahre und rollten ihn vorsichtig zum Ausgang. Ginny hielt sich dabei an einem seiner Unterschenkel fest, um mit ihm gemeinsam bis zum Krankenwagen zu gehen.
Kalin ließ erneut den Blick durch den Saal schweifen, bis sie den Kellner erkannte, der ihr Mobiltelefon hatte. Zuerst rief sie ihren Vorgesetzten an, der auch jener von Tom war und außerdem noch den Geschäftsführer des Ressorts Stone Mountain. »Tom Bennett ist im Restaurant zusammengebrochen. Ich vermute, er hatte einen Herzinfarkt.« Sie machte eine kurze Pause, während Reed sprach, und fuhr dann fort: »Er wird gerade ins Krankenhaus gebracht. Ginny ist bei ihm.« Nachdem sie die Verbindung getrennt hatte, schaute sie sich erneut unter den übrigen Anwesenden im Lokal um.
Als die letzten Gäste verschwunden waren, stellten sich die Kellner, der Barkeeper und der Besitzer vor den Kamin. Darin züngelten die Flammen um das Holz, das einen typischen Feuergeruch verströmte. Zwei Frauen weinten, der Rest der Gruppe war still.
Ben kam nun zu Kalin, strich ihr die Haare hinter ein Ohr und legte ihr eine Hand in den Nacken. »Alles in Ordnung mit dir?«
Sie ließ sich dazu hinreißen, ihn innig zu umarmen. Dabei schob sie ihre Arme unter seine Skijacke, drückte ihre Nase in seine braunen Locken und atmete tief den Duft seines Shampoos ein. Statt zu antworten, nickte sie nur, wobei seine Bartstoppeln an ihrer Wange kratzten.
Danach zog sie ihre knielange Weste aus und legte sie ordentlich gefaltet über den nächstbesten Stuhl. Mit einem Daumen blätterte sie jetzt im Adressbuch ihres Handys und rief die Nummer der derzeitigen Bereitschaftsärztin des Ressorts an. Nach dem Gespräch mit ihr ging sie zu den Angestellten.
»Sie brauchen Zeit, um das alles zu verwinden. Unsere Ärztin ist bereits unterwegs. Sie wird eine Nachbesprechung mit Ihnen abhalten. Sollte irgendjemandem von Ihnen nach Reden zumute sein, sei es in einer Gruppe oder unter vier Augen mit ihr, gedulden Sie sich bitte noch eine halbe Stunde.«
»Ist er tot?«, fragte der Barkeeper.
Kalin presste ihre Lippen fest aufeinander, sodass sie gleichzeitig lächelte und die Stirn runzelte. Sie wusste, dass diese Miene den Eindruck von Mitgefühl erweckte. »Ich weiß es leider nicht. Gavin Reed fährt gerade zu Tom und Ginny ins Krankenhaus. Er wird mich anrufen, sobald er etwas in Erfahrung gebracht hat.«
»Mr. Bennett sah nicht gut aus«, meinte einer der Kellner.
»Nein, da haben Sie recht.« Kalin wandte sich dem Lokalbesitzer zu. »Nehmen Sie doch bitte alle mit in einen der Konferenzräume und warten Sie dort auf die Ärztin.« Das Mountain Chalet Restaurant stand am Fuß des Skihügels fünf Minuten Fußweg vom Verwaltungsgebäude entfernt, wo Kalins Personalbüro, die Buchhaltung und mehrere Konferenzräume untergebracht waren. Abstand vom Ort des Geschehens zu nehmen, würde den Angestellten bestimmt guttun. Auch sie selbst hätte das gern getan. Aber das ging noch nicht.
»Wer räumt denn jetzt die Tische ab?«, wollte der Betreiber wissen.
»Das können Ben und ich später machen. Kümmern Sie sich nicht weiter darum, was hier geschieht. Für Ihre Mitarbeiter ist Seelsorge jetzt weitaus wichtiger.«
Als Nächstes rief Kalin den Hoteldirektor an und schilderte ihm die Situation. »Wen lassen wir Blut und Körperflüssigkeiten beseitigen?«
Statt ihr eine Antwort zu geben, legte er ihr nahe, ein darauf spezialisiertes Unternehmen zur Reinigung heranzuziehen. Nun da so weit alles erledigt war, konnte sie einen ganz bestimmten Anruf nicht mehr aufschieben. Sie wählte Fred Morgans Nummer und unterbreitete ihm die Neuigkeit. Als sie hörte, wie ihm der Atem stockte, schwieg sie kurz. Fred war der Sicherheitschef und arbeitete bereits seit zwölf Jahren unter Bennett.
»Wie viele Sicherheitsleute haben momentan Dienst?«, fragte sie.
»Zwei.«
»Sie müssen darüber in Kenntnis gesetzt werden. Möchten Sie, dass ich es ihnen mitteile, oder kommen Sie persönlich her?«
»Ich komme. Danke dafür, dass Sie die Skipatrouille und nicht uns verständigt haben. Unser Team steht Tom sehr nahe. Erste Hilfe zu leisten wäre ihnen garantiert schwergefallen.«
Kalin und Ben saßen allein im Lokal, während sie darauf warteten, dass sich ihr Vorgesetzter meldete, um sie auf den neuesten Stand zu bringen. Das Einzige, was von dem tragischen Vorfall übrig geblieben war, war Bennetts zerschnittene Kleidung, die Latexhandschuhe und Blut auf den Bodenfliesen.
25. November
Kalin sollte um Viertel nach acht im Büro ihres Chefs vorstellig werden, um über Tom Bennetts Tod zu sprechen, vermutlich auch deshalb, weil sie gegen ihre Arbeitsregeln verstoßen hatte. Sie war erschöpft nach der Erfahrung eines Reanimationsversuchs an einem Kollegen, also hatte sie das Restaurant rasch abgeschlossen, sich in ihr Quartier begeben und ins Bett fallen lassen. Ihr fehlte die Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, was der Tod eines leitenden Mitarbeiters für sie bedeuten könnte, und sie konnte nicht absehen, ob man Kritik an ihr üben würde.
Auf dem Weg zur Arbeit trug sie Schneeschuhe und einen Fleece-Überzieher unter ihrer Skijacke, dazu noch Wärmeunterwäsche und eine Skihose. Als sie das Verwaltungsgebäude betrat, wechselte sie von ihren Winterstiefeln zu ihren Wanderschuhen. In ihrem Büro nahm sie die Stirnlampe ab und stellte das Bärenspray auf den Schreibtisch.
Nachdem sie die Jacke an einen Haken hinter der Tür gehängt hatte, ging sie zu Gavin Reeds Eckbüro. Da die Sonne gerade über den Purcell Mountains aufging, musste sie einfach hinausschauen statt auf die Fotos von Reeds Sohn bei einem Skiwettbewerb. Denn Ian Reed in Aktion nahm einen Großteil der Wände des Zimmers ein.
Schließlich zog sie das Gummiband fest, mit dem sie ihre schulterlangen Haare zusammengebunden hatte, und strich ihren Pony mit ihren Fingerspitzen zur Seite, eine nervöse Marotte von ihr. Mittlerweile wusste sie, dass sie sich vor dem Aufbrechen zur Arbeit nicht zu kämmen brauchte. Um fit zu bleiben, nahm sie dieses leicht zerzauste Aussehen aber gern in Kauf.
Nach der frühmorgendlichen Anstrengung lastete der gestrige Abend nicht mehr so schwer auf ihr, doch zu Fuß zu gehen bedeutete leider, dass sie den ganzen Tag Skiklamotten tragen musste. Sie schnupperte einmal kurz am Fleece unter ihrer Achselhöhle. Kein Geruch. Wer wollte schon im Angesicht seines Brötchengebers nach Schweiß stinken?
Reed erhob sich nun und begrüßte sie. Er trug ordentliche Kleidung, ein Button-down-Hemd auf einer sichtlich gestärkten Jeans. Er war über 1,90m groß, also musste er den Kopf nach vorn beugen, um sie anzusehen. Kalin wiederum drückte ihren Rücken durch, um größer zu wirken. Nach ihrem fünfzehnten Geburtstag hatte sie noch einen Wachstumsschub bekommen und die Jungen in ihrer Schulklasse mit 1,75m überragt, weshalb sie alles andere als beliebt gewesen war. Im Zuge all der Hänseleien hatte sie allerdings festgestellt, dass sie kleinere Männer attraktiv fand. Glück für Ben.
»Tut mir leid wegen Tom«, begann sie nun.
»Danke für alles, was Sie gestern Abend getan haben. Ich hörte, sie hätten sich außergewöhnlich souverän verhalten. Ginny sagte mir, Sie hätten alle Anweisungen gegeben, und richtet Ihnen deshalb ihren Dank aus.
Großzügig von ihr, wo Tom doch gestorben ist. Kalin hatte sich gefürchtet und wie auf Autopilot gehandelt. Das Krankenhaus und die Notaufnahmestation befanden sich in Holden. Bei einem Schneesturm konnte die Fahrt dorthin länger als eine Stunde dauern, und aus diesem Grund waren Erste-Hilfe-Kurse für alle Führungskräfte vor Ort unerlässlich. Diese Ausbildung hatte sich in der vorangegangenen Nacht für Kalin wahrlich ausgezahlt. »Wie geht es ihr?«
Sie nahm in einem Sessel gegenüber Platz, wobei das Lederpolster leise knarrte. »War es ein Infarkt?«
»Plötzlicher Herzstillstand. Die Ärztin hat die Daten des Defibrillators ausgewertet und wird ihre Informationen heute an Ben weiterleiten. Wenn Ginny bereit ist, frage ich sie, welche Art von Hilfe sie braucht.« Reed räusperte sich. »Tom bekleidete, wie Sie wissen, eine Schlüsselposition, und das hört sich jetzt bestimmt herzlos an, aber wir müssen umgehend einen Nachfolger für ihn bestimmen.«
Als Personalmanagerin war Kalin für das Einstellungswesen verantwortlich. Für sie zeugte es in der Tat nicht gerade von Feingefühl, Toms Posten jetzt sofort neu zu besetzen. Danke für Ihren langjährigen Dienst, zu dumm, dass Sie gestorben sind, aber wir brauchen halt einen neuen Sicherheitsleiter. Für diese Gedanken trat sie sich sofort selbst imaginär in den Hintern. Solche Vorwürfe waren ungerecht. Reed musste schließlich dafür sorgen, dass das Tagesgeschäft weiterging. Das Training für die Skiwettkämpfe hatte bereits begonnen, weshalb er sich gewiss um andere Dinge kümmern musste als um die Sicherheit des Ressorts. »Wie wäre es mit Fred Morgan?«
Reed kratzte sich im Nacken. »Ich weiß nicht, ob er dazu imstande ist. Ich finde, er lässt die erforderlichen Führungsqualitäten missen.« Anscheinend bemerkte er Kalins Verwunderung, denn er ruderte prompt zurück. »Natürlich leistet er sehr gute Arbeit, ist aber kein Weiterdenker. Obwohl er sich vortrefflich im Sicherheitsbereich auskennt und sein Team bestens im Griff hat, glaube ich einfach nicht, dass er strategisch auf dem Niveau vorgehen kann, das ich verlange.«
Kalin konnte diese Einschätzung, wenn sie ehrlich war, nicht anfechten. Fred ließ sich zwar nichts zuschulden kommen, neigte aber wirklich dazu, nur bei unmittelbaren Schwierigkeiten einzuschreiten. »Also gut, ich werde die Tätigkeitsbeschreibung aktualisieren. Wahrscheinlich hat sie sich niemand angesehen, solange Mr. Bennett den Posten innegehalten hat. Nachdem Sie sie abgesegnet haben, stelle ich sie dann auf die relevanten Webseiten.«
»Das dauert leider zu lange. Das Ressort öffnet in drei Wochen, also muss das schnellstmöglich entschieden werden.«
»Ich könnte es mit einem Job-Scout versuchen.«
»Ich dachte eher daran, die Stelle intern zu besetzen.«
Kalin ging alle leitenden Angestellten von Stone Mountain im Kopf durch, doch ehe sie eine Empfehlung aussprechen konnte, sagte Reed: »Sie sind bisher eine hervorragende Personalmanagerin gewesen. Seit ich hierhergekommen bin, habe ich merkliche Verbesserungen in der Abteilung gesehen. Darum möchte ich das Personal- mit dem Sicherheitsbüro zusammenlegen und Sie damit zur Leiterin ernennen.«
Die Sicherheitseinheiten patrouillierten auf dem Gelände, wurden bei Alarmen aktiv und ermittelten nach Diebstählen. Sie waren die erste Anlaufstelle in allen Belangen, die Ordnungshüter oder medizinische Unterstützung bedingten. Kalin sah das Team als eine Art Minipolizei an, womit sie selbst Minipolizeichefin wäre. »Das schmeichelt mir, doch ich bin mir nicht sicher, ob ich genug Erfahrung dafür habe.«
»Darüber brauchen Sie sich, glaube ich, keine Gedanken zu machen. Gestern Abend hätten Sie nicht angemessener reagieren können. Ich habe bereits mit anderen Abteilungsleitern gesprochen, und die halten Sie ebenfalls für eine gute Wahl. Fred kennt die täglichen Arbeitsabläufe genau und wird Ihnen in der ersten Zeit beratend zur Seite stehen.«
Vorausgesetzt, er hasst mich nicht. »Davon, dass ich die Richtige für diesen Job sein soll, bin ich eigentlich nicht so recht überzeugt.« Kalin fragte sich, ob sie tatsächlich befördert werden wollte. Sie war erst elf Monate zuvor ins Innere der Provinz British Columbia gezogen und leistete bei ihrer gegenwärtigen Arbeit Herausragendes, weil sie eine Ausbildung im Personalwesen gemacht hatte. Ihr Büro öffnete fünf Tage die Woche, und sie hatte abends und an den Wochenenden frei. Auf ihr Team konnte sie sich verlassen. Sie fand diese Situation sehr angenehm. Im Gegensatz dazu befand sich die Sicherheitsabteilung rund um die Uhr im Einsatz, was natürlich eine erhebliche Alltagsumstellung verursachen würde. Vielleicht galt es nun, eine Wahl zu treffen, um entweder ihre Karriere voranzutreiben oder ihr Privatleben zu bewahren.
Reed riss Kalin nun abrupt aus ihren Gedanken. »Sie haben die Skipatrouille statt des Sicherheitsdienstes gerufen und sich somit nicht an den Ablaufplan gehalten.«
»Ich weiß.«
»Die Entscheidung war in diesem Fall goldrichtig. Eine so schnelle Auffassungsgabe wünsche ich mir in Führungspositionen. Sowohl im Personal- als auch im Sicherheitswesen muss man mit Menschen umgehen können. Ihre Fähigkeiten als Leiterin sind deshalb wichtiger als Fachkenntnisse über Sicherheitsvorkehrungen.«
Mag sein. Als Personalmanagerin musste sie sich mit Angestelltenfragen auseinandersetzen, wohingegen sich der Sicherheitsdienst mit Gästeproblemen herumschlug. Beides konnte schwierig werden, doch Letztere gelangten mit größerer Wahrscheinlichkeit in die Medien oder machten eine Zusammenarbeit mit der berittenen nationalen Polizei, der Royal Canadian Mounted Police erforderlich. Die Macht und spannende Arbeit in dieser Position reizten Kalin, aber ohne maßgebliche Erfahrung könnte sie schnell scheitern.
Reed bedrängte sie weiter, indem er ihr neue Ausgleichsleistungen anbot.
»Wie viel Zeit geben Sie mir, um mich festzulegen?«
»Ich möchte, dass Sie es sofort tun.«
Ihr kam der flüchtige Gedanke, mit Ben darüber zu reden, aber andererseits waren sie weder verheiratet noch verlobt. Hier ging es um ihre Karriere, also musste sie allein entscheiden, und falls sie viel Geld verdienen würde, musste ihr Freund diese Kröte schlucken und mitziehen. »Wenn ich das Angebot annehmen sollte, habe ich aber eine Bitte. Ich würde Monica dann gern zu meiner Nachfolgerin ernennen.«
»Sie ist noch zu jung für diesen Job.«
»Sie ist zweiundzwanzig, aber sie hat diese Stelle schon mit neunzehn angenommen. Sie kennt die Abteilung und hat ein Händchen für andere Menschen. Immerhin liegt der Altersdurchschnitt unseres Personals bei Anfang zwanzig, also finden die Angestellten schnell einen Bezug zu jemandem, der ihrer Generation angehört, und meines Erachtens hat Monica außerdem das Zeug dazu.«
»Solange Sie beide noch hier sind, haben Sie ja Zeit, die Stelle auszuschreiben und Bewerber einzuladen.«
»Da bin ich mir nicht so sicher. Denn uns fehlt noch Personal für den Winter. Die neuen Wohnunterkünfte für die Belegschaft müssen erst noch eingeweiht werden, und ich hätte dann die Verantwortung für die Sicherheit. Darum will ich ja, dass Monica das Personalmanagement übernimmt. Ihre jetzige Stelle lässt sich nämlich viel leichter neu besetzen.«
»Na gut.« Reed nickte einmal kurz. »Sie dürfen Sie befördern, werden aber auch für den Fall geradestehen müssen, wenn sie sich nicht bewährt.«
26. November
»Bist du nervös?«, fragte Ben.
Kalin zog sich die Steppdecke um ihre nackten Schultern und öffnete die Augen. »Ja.«
Seit Tom Bennetts Tod waren zwei Tage vergangen. Reed hatte gesagt, er werde sich zuerst mit Fred Morgan unterhalten und ihre Beförderung dann im Laufe des Tages ankündigen.
Nach vielleicht zehn Sekunden Beschlusszeit hatte sie die Stelle akzeptiert. Mit einunddreißig war sie die jüngste aller Führungskräfte, was sie zu cool fand, um es sich entgehen zu lassen. Dass sie sich befördern ließ, ohne vorher mit ihm darüber zu sprechen, hatte Ben nicht zu Freudensprüngen veranlasst, doch er konnte sich mit der Vorstellung anfreunden, nachdem ihm von ihr versichert worden war, in ihren Leben würde sich nicht viel ändern. Was sie unter viel verstand, hatte sie ihm allerdings wohlweislich verschwiegen.
Ben stand nun tropfend mit einem um die Hüften gewickelten Handtuch neben dem Bett in ihrem Schlafzimmer, dem einzigen ihrer Suite. Seine fülligen Locken klebten glatt an seiner Kopfhaut. »Du wirst das ganz toll hinkriegen.«
Falls sein halb nackter Körper sie nicht beruhigte, würde es auch nichts anderes tun, aber sie ließ sich gern ablenken. »Hast du Zeit für 'ne längere Dusche?«
Ben kniff die Augen leicht zusammen und setzte sein bestes »Ich bin der Schärfste«-Grinsen auf. »Das müssen wir leider auf ein anderes Mal verschieben. Es ist nämlich schon zwanzig vor acht. Würdest du mit Chica rausgehen?«
Als die Labradorhündin ihren Namen hörte, wedelte sie aufgeregt mit dem Schwanz und drückte ihren Kopf tiefer in Bens Kissen.
Vor dort aus, wo Kalin lag, sah sie die dünne Narbe an Bens Unterkiefer. Sie arbeitete Gleitzeit, er jedoch nicht, und sein Chef rechnete damit, dass er bis acht Uhr in der Bergeinsatzzentrale antanzte. »Ich nehme sie einfach mit zur Arbeit.«
»Du wirst ein Star als Leiterin sein, also keine Angst.« Ben kniete sich an die Kante der Matratze und saugte an Kalins Unterlippe.
Sie schlang ihre Arme um seinen Rücken und zog ihn näher an sich heran.
»Ich muss los, aber behalte bitte diese Laune«, witzelte er heiser.
Sie schmiegte ihre Nase an seinen muskulösen Hals und atmete tief ein. Er drückte seinen Mund auf ihren und schenkte ihr einen zweiten Kuss. »Ich hab echt keine Zeit mehr.« Nachdem er das feuchte Handtuch fallen gelassen hatte, schlenderte er durch das Schlafzimmer.
Sie ergötzte sich am Anblick seines Hinterns, der straff war von häufigem Skilanglauf und Schneeschuhwandern, während er zu seiner Kommode ging und Wärmeunterwäsche heraussuchte.
Bevor er das Zimmer verließ, zwinkerte er Kalin zu, woraufhin sie die Steppdecke ruckartig aufschlug und ihm einen ausgestreckten Mittelfinger präsentierte. Sein Lachen verklang am Ende des Flurs.
Ben war fünfunddreißig, womit er zu den Älteren bei der Skipatrouille gehörte, und Bezirksleiter der Freiwilligen Feuerwehr Stone Mountain. Er hatte den Ruf eines Weiberhelden. Mit seinem Charme hatte er sich bisher in jeder Saison zu einer bis drei neuen Freundinnen verholfen. Als Kalin und er zusammengezogen waren, hatten die Frauen im Ressort kollektiv vor Enttäuschung geseufzt.
Sie kannte natürlich das Gerücht, dem zufolge er nur einmal länger als ein paar Monate mit jemandem zusammengeblieben sei, weshalb es ihn auch nicht bei ihr halten würde. Tja, eine wie sie hatte er bisher eben noch nie bekommen, und was andere erzählten, interessierte sie sowieso nicht. Sie wollte sich ihn nicht abspenstig machen lassen. Als sie nun die Zunge herausstreckte und Luft in Chicas Richtung blies, wackelte die Hündin sofort wieder mit dem Schwanz.
Nach einer kurzen Dusche zog Kalin eine Jeans und ein hellrotes Sweatshirt mit V-Ausschnitt an, darüber eine kurz geschnittene, cremefarbene Jacke. Ein Ledergürtel mit klobiger Schnalle blieb ihr einziges Accessoire. Eine Skikluft an ihrem ersten Tag in einer Führungsrolle zu tragen kam ihr irgendwie unpassend vor.
Sie füllte sich eine Thermoskanne mit Kaffee, steckte einen Becher Erdbeerjoghurt in eine Tasche der Jacke und schlüpfte dann in ihre Winterstiefel. Kaum dass sie die Tür öffnete, sprang sie erschrocken zurück. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass eine ansehnliche Blondine vor dem Appartement stand. »Oh …«
»Wohnt Ben Timlin hier?«
Scheiße. Auf diese Weise wollte sie ihren Tag nicht beginnen. »Ja, aber er ist gerade nicht da.«
»Du bist bestimmt seine neue Mitbewohnerin.«
In der Auffahrt lag zehn Zentimeter hoher Neuschnee, in dem Chicas Pfoten sofort Spuren hinterließen, während sie durch die Verwehungen sprang. Kalin behielt sie im Auge, ohne sie an die Leine zu nehmen. »Nicht ganz.«
Das blonde Gift musterte Kalin einmal gründlich und schob dann die Unterlippe vor. »Wer dann?«
Statt sich wie gewohnt, bevor sie morgens zur Arbeit aufbrach, an den schneebedeckten Hügeln zu weiden, die man von ihrer Erdgeschosssuite aus sehen konnte, taxierte sie die Fremde im Gegenzug – die gebräunte Haut, ihre dick getuschten Wimpern und den gekonnt aufgetragenen Lippenstift. »Kalin, und du?« Sie hätte sich glatt übergeben können.
»Vicky Hamilton.«
Als sich die beiden Frauen so nah gegenüberstanden, roch Kalin das Parfum der anderen und wartete darauf, wie diese reagieren würde. Sie kannte sie. Es war die einzige Freundin, mit der es Ben länger als ein paar Monate ausgehalten hatte. Ihr Magen drehte sich fast um.
»Hast du vielleicht seine Handynummer?«
Kalin lächelte geziert und schüttelte den Kopf. »Er will nicht, dass ich sie einfach so herausgebe. Soll ich ihm etwas ausrichten?«
»Er will ganz bestimmt von mir hören.«
»Kann sein. Gib mir doch deine Nummer, ich sage ihm Bescheid, dass du hier gewesen bist.« Sie hätte diese Frau nie in das Appartement gelassen, das sie sich mit Ben teilte, und ihr auch keinesfalls seine Nummer gegeben. Ben war ihr Gebirgsheld von der Skipatrouille und Feuerwehr.
***
Neben dem Seilbahngebäude von Alpine Tracks bereitete Ben gerade einen Rettungsschlitten vor, mit dem er hinauffahren wollte. Der eiskalte Wind roch nach Tannennadeln, was ihn an Skifahren im Frühling erinnerte, obwohl die Wintersaison noch nicht einmal begonnen hatte.
Auf einmal hörte er Amber Cristelli rufen und drehte sich nach der Einstiegsstation um. Ben hielt sich geflissentlich aus dem hektischen Treiben im Ressort heraus. Das war nicht sein Ding, doch manchmal verstrickte er sich leider trotzdem darin.
Amber stand vor einer der abnehmbaren Gondeln, die jeweils vier Personen Platz boten und Skier zum Startpunkt der Piste Alpine Tracks fuhren, wo das Wettkampftraining stattfand. Sie hatte die Aufgabe, die Ausweise der Teilnehmer zu überprüfen. »Ich sagte, rühr mich nicht an!«
Steve McKenzie, ein zweiundzwanzigjähriges Mitglied von Team Holden, stieß gegen eine von Ambers Schultern, um sie zurückzudrängen. Er war größer als sie und beugte sich nach vorn, wobei seine Oberschenkelmuskeln den rot-gelben Stoff seines Rennanzugs dehnten.
Ben ließ vom Rettungsschlitten ab, zog den Reißverschluss seiner Skipatrouillenjacke zu und vergewisserte sich, dass man auch sein Namensschild lesen konnte, ehe er in seinen schweren Stiefeln zu Amber stapfte. Beim Gehen raschelte seine Thermohose. »Hey, was ist denn hier los?«
McKenzie und Amber drehten sich beide zu ihm um. Sie entsprach dem Typ Frau, der jeder Mann gern aus der Klemme helfen würde. Sie hatte schulterlange Locken, die vor und hinter ihrem pinkfarbenen Gehörschutz wogten, und runde Wangen, die gesund und rot wie Äpfel waren. Ben sah sich oft dazu verleitet, sie zu behandeln wie einen verlassenen Hundewelpen. Kalin bezeichnete dies stets als seine ritterliche Seite.
In den Wochen vor der Öffnung von Stone Mountain für die Allgemeinheit mieteten Skiteams aus den USA, Kanada und Europa die Strecke für ihre Abfahrten. Sie trainierten für die Weltmeisterschaft oder für Wettkämpfe in Nordamerika. Die Sportler brachten ihre Trainer und Fitnessberater, Skituner und Equipment sowie Riesenegos mit … und Letztere stellten die Skipatrouille stets vor die größten Herausforderungen.
Ben griff zu seinem Funkgerät, entschied sich jedoch schließlich gegen Verstärkung. Denn sein Vorgesetzter liebäugelte gerade damit, nach Calgary zu gehen, und er selbst würde gern seinen Posten übernehmen. Außerdem konnte er es auch gut allein mit McKenzie aufnehmen.
Dieser drehte seinen Kopf wieder rasch zu Amber, fasste sie aber nicht wieder an.
»Wo ist Ihr Ausweis?«, fragte Ben.
»In meiner Jacke im Tuning-Raum.«
Ben achtete nicht auf McKenzies überhebliches Grinsen. Auch der Größenunterschied kümmerte ihn nicht, als er sich vor ihm aufbaute. »Du wirst ihn holen gehen müssen.«
»Das ist doch ein Witz. Dann verpasse ich meinen Trainingslauf.« Steve zeigte auf seinen Anzug. »Sie sehen doch, dass ich zu den Fahrern gehöre, und sie weiß auch, wer ich bin. Sie führt sich bloß gern wie 'ne Zicke auf.«
Ben blieb weiterhin gelassen. »Sprechen Sie nicht so über sie.«
»Ich kann mir schon vorstellen, warum du das machst«, sagte McKenzie zu Amber.
Sie streckte ihm ihre Zunge heraus, die gepierct war, und schielte dabei übertrieben, sodass sich Ben ein Lachen verkneifen musste.
Von hinten war nun Jeff Morley nähergekommen, der einen Rennanzug in den gleichen Farben wie Steve trug. »Lassen Sie ihn hochfahren oder gehen Sie aus dem Weg. Ich muss auch los.«
»Haben Sie einen Pass?«
Jeff ließ ihn vor Bens Nase baumeln.
»Du kannst Jeff scannen und aufsteigen lassen«, sagte Ben zu Amber.
Der Scanner piepte, ein Geräusch ähnlich der Lichtschwerter in KriegderSterne, als sie ihn über Jeffs Ausweis hielt. Er zwinkerte ihr zu, sie trat zur Seite und ließ ihn vorbeigehen.
McKenzie rutschte auf seinen Skiern um sie herum und setzte sich dann neben seinen Teamkollegen in die Gondel.
Ohne Zögern drückte Ben auf den Bremsknopf, der für Notfälle vorgesehen war. »Runter vom Sitz.«
»Sie können mich mal.«
Ben verzog sein Gesicht, blieb aber trotzdem noch gefasst. »Ich lasse den Lift nicht fahren, ehe Sie wieder abgestiegen sind.«
Der Bahnwärter kam jetzt mit einem Funkgerät in der Hand aus dem Gebäude. »Ich habe den Sicherheitsdienst gerufen.«
»Wenn ich deinetwegen meinen Lauf verpasse … Jetzt steig schon ab.« Jeff stieß McKenzie in Seite, um ihn zum Aufstehen zu zwingen. »Reiß dich mal zusammen.«
Howard Jenkinson kam auf seinen Skiern zu Ben gefahren, wobei seine offene Holden-Teamjacke im Wind flatterte, und blieb kurz vor ihm abrupt stehen. »Was zur Hölle geht hier vor?«
Jenkinson war seit acht Jahren Trainer der Mannschaft. Er hatte es sogar geschafft, ein Mitglied in die kanadische Olympiaaufstellung zu bringen, und betreute nun McKenzie, damit diesem die gleiche Ehre zuteilwurde.
Als sich Steve ein paar Meter vom Lift entfernt hatte, startete Ben ihn erneut.
»Dieser Fahrer …« Ben drehte sich zu ihm um. »Wie heißen Sie?«
Amber kicherte, da er dem Sportler nicht die Genugtuung gab, zu gestehen, dass er seinen Namen natürlich durchaus kannte. McKenzie sah sein Ego gekränkt, und der Sicherheitsmann tat einen Teufel, es zu streicheln.
Als Steve nicht antwortete, hob Ben wieder an: »Dieser Fahrer hat Amber angegriffen und mich beschimpft.«
»Stimmt das?«, fragte Jenkinson.
McKenzie schob seine Rennbrille über die Stirnkante des Helms und ließ seinem bärtigen Gesicht eine Unschuldsmiene angedeihen. Dabei schüttelte er den Kopf.
»Weil sie ihn nicht aufsteigen ließ, hat er sie so kräftig gestoßen, dass sie fast umgefallen wäre«, fuhr Ben fort.
»Warum ließ sie ihn denn nicht aufsteigen?«, wollte Jenkinson daraufhin wissen.
»Er hat keinen Ausweis bei sich«, erwiderte sie nun selbst.
»Lassen Sie ihn jetzt hoch. Er muss trainieren.«
Zwei Sicherheitsmänner, die gerade gekommen waren, stellten sich links und rechts neben Jenkinson.
»Was soll das hier werden?«, empörte er sich nun. »Sie lassen uns doch nicht von der Security von der Piste werfen, oder?«
Ben richtete sich auf. »Er braucht nun mal einen Ausweis.«
Jenkinson zog die Skimaske aus, woraufhin seine Glatze in der Sonne glänzte. An seiner Schläfe pulsierte eine Ader wie unter Hochdruck, weil sie ihn ganz offensichtlich zur Weißglut trieben. »Wir zahlen Miete für die Strecke. Sie steht uns deshalb jederzeit zum Trainieren zur Verfügung.«
»Sie mögen dafür gezahlt haben, doch das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, unser Personal anzugreifen. Ambers Aufgabe besteht nun einmal darin, die Sportler zu schützen, indem sie jeden vom Hügel fernhält, der nichts dort verloren hat.«
»McKenzie gehört aber zum Team Holden. Hören Sie auf, so zu tun, als ob Sie das nicht genau wüssten.«
»Das ist umso schlimmer. Er sollte mit gutem Beispiel vorangehen. Woher sollen wir denn wissen, ob Sie ihn nicht vielleicht vom Training ausgeschlossen haben? Solange er sich nicht ausweisen kann, lässt sich doch unmöglich bestimmen, ob er dazu befugt ist, zumal er sowieso nicht fahren wird, bevor er sich bei Amber entschuldigt hat.«
»Die Wetter- und Bodenverhältnisse sind heute perfekt. Ihn am Training zu hindern steht Ihnen nicht zu.«
Die Betreiber der Beschneiungsanlage hatten die Piste seit Mitte Oktober mit Schneekanonen beschossen, und das Zischen der weißen Massen, während sie über die Hänge geblasen wurden, sorgte erstmals für zünftige Winterstimmung. McKenzie würde sich somit die besten Rennbedingungen entgehen lassen, was natürlich Konsequenzen nach sich ziehen würde.
Die beiden Sicherheitsmänner traten vor, und Ben versperrte dem Fahrer weiterhin den Einstieg in die Gondel.
Jenkinson schaute ihn einen Moment lang bedrohlich an, als wenn er sich sein Gesicht einprägen wollte. »Sie werden nicht mehr lange hier arbeiten!« Schließlich drückte er sich mit seinen Stöcken ab, ging auf seinen Skiern zum Netz am Rand der Strecke und verschwand.
***
Gavin Reed knallte den Telefonhörer auf die Gabel. Team Holden hatte seinen Sohn Ian nicht aufgenommen. Seine Frau würde sich ärgern, und er wusste genau, wieso der Junge es bis heute Morgen für sich behalten hatte. Reed kam auf die Idee, Coach Jenkinson um einen Gefallen zu bitten. Ians Zeiten waren gut genug für die Olympiamannschaft, also konnte man davon ausgehen, dass das Team ihn nur ablehnte, weil er aus der Gegend stammte.
Die Reeds waren im vorangegangenen Frühjahr aus Fernie nach Stone Mountain gezogen, einem konkurrierenden Skiressort zweihundert Kilometer südlich von Holden, und die Alteingesessenen behandelten Gavin nach wie vor wie einen Auswärtigen, obwohl er dem wichtigsten Arbeitgeber in der Region vorstand. Als Geschäftsführer hatte er Macht gewonnen, die er für diese Sache auch spielen lassen würde. Darum rief er seine Assistentin und verlangte die Nummer des Trainers.
Als Gertrude in die Tür trat, füllte sie den Rahmen mit ihrem untersetzten Körper fast vollständig aus. »Er wartet bereits im Vorzimmer. Soll ich ihn hereinbitten?«
Gavin nickte nachdrücklich. Er nahm seinen Gymnastikball vom Gästesessel, um Platz für Jenkinson zu schaffen. Nachdem er seinen hohen Lehnstuhl zum Tisch gerollt hatte, legte er eine Hand auf den kühlen Lederbezug.
Der Trainer betrat das Büro sichtlich selbstbewusst und blieb nur wenige Zoll vor ihm stehen. »Ich schätze mal, Sie wissen, was passiert ist.«
Reed machte einen Schritt rückwärts, weil Jenkinsons Skijacke so übel nach Schweiß roch, als habe er sie seit der Herbstsaison nicht mehr gewaschen. »Das hängt ganz davon ab, worauf Sie sich beziehen.«
»Ich dachte, weil Ihre Sekretärin meine Nummer verlangt hat, Sie wollten über den Vorfall an der Seilbahn mit mir sprechen. Ben Timlin hat sich noch nicht bei Ihnen gemeldet?«
Gertrude murmelte: »Nicht Sekretärin, sondern Chefassistentin.« Nun wusste Reed, dass er Jenkinson in Zukunft nicht mehr entgegenkommen würde.
»Weshalb?«, fragte er.
»Die junge Frau, die an der Seilbahn die Ausweise überprüft, wollte Steve McKenzie nicht hinauffahren lassen.«
Obgleich er davon überzeugt war, Ambers Grund dafür sei berechtigt gewesen, musste er Jenkinson zu Ende reden lassen. Ohnehin ließ sich kein Trainer den Mund verbieten. »Warum nicht?«
»Weil er seinen Ausweis nicht bei sich hatte. Was sollte denn diese dumme Aktion? Jeder hier weiß schließlich, wer er ist. Ich verlange, dass sie sich bei ihm entschuldigt, und eine Erlaubnis für ihn, hier zu trainieren, ob er das Ding mitnimmt oder nicht.«
McKenzie war ein Lokalheld, aber auch Ian Reeds Rivale. »Ich muss mich zuerst mit der Kontrolleurin unterhalten und ihre Seite der Gesch… «
»Es geht hier nicht um sie, sondern darum, dass unser bester Fahrer vom Training abgehalten worden ist. Mir ist egal, was die Kontrolleurin sagt. Sie sind noch nicht lange genug hier, um zu begreifen, wie wichtig das Ganze ist.«
Statt auf die Beleidigung einzugehen, schlug Reed einen strengeren Tonfall an. »Wie viele Plätze in Ihrem Team sind im Moment noch frei?«
»Was?«
Ihm gefiel es, dass er Jenkinson mit dem Themenwechsel überrumpelt hatte. »Wie viele Plätze in Ihrem Team sind noch frei?«
»Gar keine. Was tut das zur Sache?«
»Mein Sohn hat mich vorhin angerufen. Er hat mir erzählt, dass er nicht aufgenommen wurde.«
»Und?«
»Und … ich würde ihn sehr gern im Team sehen.«
»Das ist ausgeschlossen. Dafür müsste ich jemand anderen hinauswerfen.«
»Er fährt genauso schnell wie McKenzie.«
»Ihr Sohn hat meinen Schwager gegen sich aufgebracht.«
Was hat sich Ian da schon wieder für einen Ärger eingehandelt? »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Mein Schwager ist der Trainer von Team Fernie.«
»Ach so, ich verstehe schon.« Reed blickte ihn kalt an. »Ich werde zusehen, dass ich mich morgen oder übermorgen mit der Kontrolleurin unterhalte. Sobald ich das getan habe, rufe ich Sie an.«
»Das können Sie doch nicht ernst meinen.«
Die beiden schauten einander fest in die Augen. Mit 1,95m überragte Reed den stämmigen Trainer deutlich. Der Unternehmer, der nie mit Sonnencreme sparte, hatte nur eine einzige Falte unter dem linken Auge, die gezackt wie ein Blitz aussah. Ansonsten war seine Haut ebenmäßig und glatt. Durch Jenkinsons Gesicht zogen sich indes tiefe Furchen, die kein Licht mehr erreichte, wenn er die Augen zusammenkniff, weshalb sein brauner Teint weiß schraffiert war – die Kriegsbemalung eines Bergmenschen. Reed hatte ein einnehmendes Lächeln und wusste es auch zu gebrauchen. Jenkinsons argwöhnische Miene nahm alles vorweg, was er zu sagen gedachte. Allerdings war der eine wie der andere daran gewöhnt, Macht zu besitzen und stets seinen Willen durchzusetzen.
Der Trainer knickte letzten Endes zuerst ein. »Ich könnte Ian höchstens als Ersatzfahrer aufnehmen. Dann könnte er mit den anderen trainieren und reisen. Sollte sich einer verletzen oder aussteigen, bekommt er den freien Platz … falls er schnell genug ist.«
»Ich lasse die Kontrolleurin wissen, dass McKenzie den Lift auch ohne Pass benutzen darf.«
»Ich will, dass Sie den Leiter des Sicherheitsdienstes, egal wer es ist, darüber informieren, dass sich seine Leute von McKenzie und mir fernzuhalten haben.«
»Was hat der Sicherheitsdienst damit zu tun?«
»Zwei Männer von ihnen kamen zum Lift und zwangen uns, zu verschwinden. Das Recht dazu hatten sie nicht.«
»Ich werde mit dem Leiter reden.«
»Das rate ich Ihnen auch. Ians Platz im Team ist nicht sicher, und ich möchte auch, dass Ben Timlin gefeuert wird.«
Red stellte unumwunden klar: »Ihn zu feuern kommt überhaupt nicht infrage.«
»Und ob, sonst nehmen wir Ian nicht auf.«
»Ben gehört zu den Besten der Skipatrouille. Ich brauche ihn. Er ist über alle Zweifel erhaben.«
Jenkinson drückte die Lippen fest aufeinander, sodass sein Mund nur noch ein schmaler Strich war. »Na gut. Unsere Abmachung gilt.« Er verließ das Zimmer genauso hochmütig, wie er es betreten hatte.
Reed öffnete ein Fenster, damit die kalte Luft den Gestank verwehte, und sagte zu Gertrude: »Bitte rufen Sie Kalin Thompson her.«
26. November
»Es gibt da ein Problem«, begann Reed, kaum dass Kalin eingetreten war. »Kommen Sie bitte und nehmen Sie Platz.«
Sie ging zum Schreibtisch, ohne etwas zu erwidern, und setzte sich. Reed wirkte aufgeregt, deshalb wartete sie darauf, dass er ihr sagte, was er auf dem Herzen hatte. Sie zupfte am Saum ihrer kurzen Jacke und rutschte auf der Sitzfläche herum.
»Coach Jenkinson hat sich über den Sicherheitsdienst beschwert.«
Kalin wollte seinem starren Blick mit den stahlblauen Augen am Liebsten ausweichen, und auf die Familienfotos schauen, die an einer Ecke seines Schreibtischs standen, oder durch das Fenster auf die Purcell Mountains blicken, denn die Aussicht war spektakulär, hielt ihm aber gezwungenermaßen stand. »Und wer ist das?«
»Der Trainer des Skiteams Holden. Sie müssen die Menschen schon kennen, die hier wichtige Rollen einnehmen. In Ihrer neuen Position können Sie sich nicht erlauben, ihn nicht zu kennen.«
Autsch. Ihr erster Tag als Sicherheitsleiterin, und schon wurde ihr etwas so Belangloses wie Unwissen bezüglich der einschlägigen Gesichter vor Ort vorgeworfen.
»Zwei Ihrer Männer sollten heute wohl einen Streit zwischen Steve McKenzie und einer Kontrolleurin an der Seilbahn schlichten.«
Kalins Magen verkrampfte sich. Dass sie ihre Arbeit als Personalmanagerin klaglos ausgeführt hatte, wollte sie auch in dieser Position beibehalten. Warum hatte sie bloß gedacht, sich auch im Sicherheitsbereich ohne Probleme behaupten zu können? Minipolizeichefin hörte sich klasse an, doch offengestanden: Was verstand sie denn schon von der Leitung der Sicherheitsleute in einem Skiressort oder von den Winkelzügen, die man dabei zwangsläufig machen musste?
»Haben die beiden denn etwas falsch gemacht?«
»Sie wollten Jenkinson und McKenzie offenbar einschüchtern.«
Letzterer ging mit Kalins Freundin Nora Cummings aus. Dass in Kleinstädten jeder mit jedem zu tun hatte, trieb sie schier in den Wahnsinn. Nahm sie die Sicherheitsmänner statt McKenzie in Schutz, stellte sie sich somit auch gegen Nora. »Dafür gab es bestimmt einen Grund.«
»Das ist aber nicht von Belang. Ich will, dass Jenkinson und McKenzie in Ruhe gelassen werden.«
»Egal was sie tun?«
Reed biss die Zähne zusammen. »Sie sind für den Betrieb hier einfach zu wichtig.«
Kalin würde seiner Aufforderung nachkommen, obwohl sie ihr nicht richtig vorkam. Aber solange sie ihre Arbeit nicht gut genug kannte, würde Sie Reeds Anweisungen schweren Herzens beherzigen. So viel also zu dem Vorsatz, Fred Morgan für sich zu gewinnen, damit er ihre Beförderung billigte. Sie hatte ihn bisher noch nicht einmal darauf angesprochen. »Ich gebe Fred sofort Bescheid.«
***
Sie wollte sich mit ihm über ihre Beförderung unterhalten, musste nun aber stattdessen Reeds Befehle für das Sicherheitsteam an ihn weiterleiten, was die Umstände enorm verkomplizierte, weshalb sie das Treffen am Liebsten ganz vermieden hätte.
Auf dem Weg über den Flur des Verwaltungsgebäudes rief sie Ben an. »Hast du gerade einen Moment Zeit?«
»Klar, ich bin in der Einsatzhütte.«
Sie betrat kurz ihr Büro, um Chica abzuholen, und ging dann zum Dorf hinunter, während sie aber einen Bogen um das Maschinenhaus machte. »Ich war eben bei Reed. Du glaubst nicht, was passiert ist.«
»Will er McKenzie verbieten, zum Hügel hochzufahren?«
»Woher weißt du von der ganzen Sache?«
»Ich war heute Morgen ebenfalls an der Seilbahn. Ich war derjenige, der die Gondel angehalten und ihn gezwungen hat, wieder abzusteigen.« Ben erklärte ihr nun auch alles Weitere.
»Reed hat gar nicht erwähnt, dass du dort gewesen bist.«
»Mist. Ob das wohl Ärger bedeutet? Jenkinson hat gedroht, er wolle dafür sorgen, dass man mich entlässt.«
»Das wird Reed bestimmt nicht tun, du hast schließlich nur deine Arbeit gemacht.«
»Mann, das hoffe ich. Mir leuchtet einfach nicht ein, was Nora an McKenzie findet.«
Chica zerrte an ihrer Leine, also zog Kalin sie zurück, damit sie bei Fuß ging. »Mir auch nicht. Reed erlaubt ihm jetzt sogar, ohne Ausweis zu fahren.«
»Echt? Und was ist mit Amber?«
Kalins Schritte polterten laut, während sie die Metalltreppe hinunterging, die den oberen Teil des Dorfes mit dem unteren verband, und Schnee rieselte bei jedem Schritt durch die Gitterstufen. Als sie den Pfad erreichte, war der Beinaufschlag ihrer Jeans links und rechts vereist. »Sie wird es wohl hinnehmen müssen. Es wird sogar noch besser: Er wies mich außerdem an, dem Sicherheitsteam zu befehlen, McKenzie und seinen Trainer ab sofort in Frieden zu lassen. Das wird Fred gar nicht in den Kram passen. Er weiß bisher noch gar nicht, dass ich jetzt seine Vorgesetzte bin, und ausgerechnet das soll jetzt meine erste Amtshandlung sein.«
»Es wird ihm nichts ausmachen. Immerhin kennt er Reed gut genug.«
»Ich habe gar nicht erst versucht, ihm zu widersprechen, wäre aber vielleicht klüger gewesen.« Wem auch immer eine Sonderbehandlung zuteilwerden zu lassen, war den Sicherheitsangestellten gegenüber garantiert das falsche Signal. Vielleicht war es möglich, dass sie Reed zur Besinnung bringen konnte, wenn er eine Zeit lang über den Sachverhalt nachgedacht hatte.
»An deiner Stelle würde ich nichts gegen den ersten Befehl einwenden, den er dir als Leiterin gegeben hat. Erklär Fred doch einfach, was geschehen ist.«
Morgans Büro befand sich zwischen einem Gemischtwarenladen und dem Creek Side Restaurant. Vom Balkon aus konnten die Sicherheitsleute ungehindert die Straße einsehen. »Ich bin jetzt vor seinem Büro. Bis später.«
Kalin lächelte und trennte die Verbindung. Sie freute sie sich lieber auf einen Abend mit Ben, als an die Blondine zu denken, die sich gerade wieder im Ressort herumtrieb.
In der Sicherheitszentrale, die so offen angelegt war wie ein Großraumbüro, gab es einen abgetrennten Bereich für Fred und eine Versammlungsnische für die Angestellten. Kalin setzte sich an den Konferenztisch. Sie fror an den Füßen, weshalb sie schnellstmöglich ihre Stiefel und die nassen Socken ausziehen wollte. Chica war an ihrer Seite geblieben und legte sich nun neben ihre Füße.
Kalin dachte, dass es einen solchen Treffpunkt auf jeder Polizeistelle gab. Trotz ihres Anliegens und des unglücklichen Austauschs mit Reed freute sie sich auf ihre Arbeit als Minipolizeichefin. An einer Wand hing eine Tafel mit Namen zweifelhafter Personen hier im Ressort, die der Sicherheitsdienst überwachen sollte. Diebe, Drogenhändler und Stalker. Auch dafür war sie jetzt verantwortlich.
»Danke, dass du dir Zeit für mich nimmst«, begann sie.
Fred holte einen Hundekuchen aus einer Schreibtischschublade und ging damit zu Kalin. Er setzte sich mit steifem Kreuz ihr gegenüber hin und legte genau vor sich einen Schreibblock nieder, den er immer dabei hatte, um sich Einzelheiten notieren zu können. Sie sah, wie verstohlen er tat, als er Chica das Leckerli gab, und sie mochte diesen Zug an ihm, weil er sein ansonsten sehr ernstes Wesen ein wenig auflockerte. Seine soldatisch kurz geschnittenen Haare umrahmten ein kantiges Gesicht, das meist absolut ausdruckslos blieb und es deshalb schwierig machte, aus ihm schlau zu werden.
»Schlimm, das mit Tom«, sagte Kalin nun. »Wie geht das Team mit seinem Tod um?«
»Relativ gut. Es ist eine eingeschworene Clique.«
»Reed hat den Männern für seine Beerdigung freigegeben.«
»Auch den Ersthelfern?«
»Die Skipatrouille kann alles übernehmen, was hier im Dorf anfällt. Sollte es erhebliche Schwierigkeiten geben, soll eben die RCMP helfen.«
»Das wird dem Team bestimmt gefallen«, erwiderte Fred. »Danke.
»Reed meinte, er hätte mit dir gesprochen.«
Er lächelte andeutungsweise. »Das stimmt. Glückwunsch übrigens zu deiner Beförderung.«
»Danke. Ich konnte nicht abschätzen, wie du darauf reagieren würdest, dass ich jetzt dein Boss bin. Tom hatte schließlich eine Menge Erfahrung.«
»Das ist kein Problem für mich.«
Kalin brauchte Freds Unterstützung. Er war entsprechend ausgebildet, und jedes Mitglied des Sicherheitsdienstes respektierte ihn. Obwohl er nicht gefragt hatte, verspürte sie den Wunsch, sich zu rechtfertigen. »Da die Saison bald anfängt, wollte Reed den Posten schnell wieder besetzen. An deinen Pflichten ändert das natürlich nichts. Der einzige Unterschied besteht darin, dass du deine Berichte fortan nicht mehr Tom, sondern mir vorlegst.«
Fred zuckte kurz mit dem Kinn, als wolle er nicken, könne sich aber nicht dazu durchringen, ihre Erklärung vorbehaltlos zur Kenntnis zu nehmen. »Okay.«
»Hast du irgendetwas dagegen?«
»Wer leitet denn jetzt das Personalbüro?«
Kalin ignorierte es, dass er ihre Frage einfach übergangen hatte. Sie vermutete, er brauche Zeit, um sich selbst darüber klar zu werden, ob er Anstoß an ihrer Beförderung nahm oder nicht, und ihm jetzt mitteilen zu müssen, wie Reed bezüglich der Auseinandersetzung an der Seilbahn entschieden hatte, würde dem Ganzen garantiert nicht zuträglich sein. »Ich habe Monica Bellman die Leitung überlassen.«
In diesem Moment entwich irgendwo pfeifend Luft, und Kalin hoffte, es handle sich nicht um einen Darmwind ihres Hundes.
»Gute Wahl. Sie hat den Job verdient.« Daraufhin wedelte Fred mit einer Hand vor seinem Gesicht herum und hielt sich die Nase zu. »Mensch, warst du das? Das stinkt ja ekelhaft.«
Kalin kam nicht umhin, loszulachen. Die Heiterkeit war ansteckend, und sogleich lachte Fred mit ihr.
Chica starrte ihr Frauchen mit ihren braunen Augen treuherzig an, als wolle sie sagen: »So, jetzt versuch mal, was dagegen zu unternehmen.«
Kalin öffnete das nächste Fenster. »Sie scheint genau zu wissen, was sie ausgefressen hat.«
Fred kicherte weiter. »Mich interessiert vielmehr, was sie gefressen hat.«
»Muss wohl etwas gewesen sein, das Ben ihr gegeben hat. Ich würde ihr so was nicht antun.«
Als der Gestank endlich verflogen war und sie zu lachen aufgehört hatten, sprach Kalin eine halbe Stunde lang über logistische Abläufe. Während der ersten Monate in ihrem neuen Arbeitsumfeld wollte sie gern in den wöchentlichen Sicherheitsmeetings einbezogen werden. Fred sollte hinterher persönlich für sie zusammenfassen, worum es gegangen war, ohne dass der Rest des Teams zuhörte. Sie bat ihn auch um die aktuellen Leistungsprofile der Mitglieder. Außerdem wollte sie jeden Mann selbst kennenlernen. Reed durfte sie auf keinen Fall noch einmal auf dem falschen Fuß erwischen.
Um ihre Füße herum bildete sich langsam eine Lache, als das Eis von ihrer Jeans schmolz, und ein Teil des Wassers floss in ihre Stiefel. »Eine Sache noch.«
Fred wartete.
»Ich habe heute Morgen mit Reed geredet.« Kalin schilderte die Unterhaltung und gab ihm ihr Fazit dazu.
Fred grunzte. »Hattest du schon das Vergnügen mit Coach Jenkinson?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er zählt nicht gerade zu der Sorte, die sich Angst einjagen lässt. Wer war denn der Fahrer?«
»Steve McKenzie.«
»Da ist garantiert noch etwas anderes im Busch. Wenn die Zwei zusammen sind, schüchtert niemand sie ein, auch nicht unser Team.«
»Reed verlangt jetzt, dass wir sie gesondert behandeln. Egal was sie tun, sie brauchen nicht mehr auf unseren Sicherheitsdienst zu hören.«
»Und das hast du bewilligt?«
»Ja.«
Fred schaute ihr mit seinen mattgrauen Augen intensiv ins Gesicht. »Dein erster Akt als Sicherheitsleiterin sieht also so aus, dass du eine Regel abänderst, die ich vor Jahren festgelegt habe. Hier wird niemand gesondert behandelt!« Er bewahrte sich zwar einen höflichen Tonfall, doch sein Mienenspiel verhieß unterdrückte Wut.
»Ich habe ihm nicht zugestimmt, aber mir blieb keine andere Wahl.«
»Hat das irgendetwas mit Nora zu tun?«
»Was meinst du damit?«
»Du und sie, ihr seid doch befreundet, und Nora hat schließlich was mit McKenzie.«
»Ich habe jetzt mal nicht gehört, dass du das wirklich gesagt hast.« Wieder diese Kleinstadtbeziehungen … Wer zu Kalins Freundeskreis gehörte, war kein Geheimnis, doch ihr zu unterstellen, dass sie Vetternwirtschaft betrieb, war schlichtweg haltlos und ungerecht.
***
Nachdem Kalin Ben den Berg hinuntergefahren und ihn am Supermarkt hatte aussteigen lassen, wollte sie kurz in den Drugstore gehen, als ihr auf einmal Nora Cummings auffiel. Die Zweiundzwanzigjährige stand vor einem Regal und betrachtete die Schwangerschaftstests.
Kalin schlug sofort die Gegenrichtung ein, indem sie den Gang verließ, bevor Nora sie sehen konnte. Dann holte sie ihre Antibabypillen am Apothekenschalter ab und ging schnell zur Kasse.
Nun kreuzte Nora trotzdem ihren Weg. »Oh …«
Kalin schaute wohlweislich nicht auf die Hände ihrer Kollegin. Nora war hundert Pfund schwer, keine 1,60 groß und hatte kurze, schwarze Haare, die kreuz und quer von ihrem Kopf abstanden. Sie trug wie immer eine Cargohose und Unfallschuhe. Den Parka hatte sie, wie Kalin vermutete, in einem Army Shop gekauft. Sie selbst sah mit der bauschigen Skijacke, den engen Jeans und den Lederstiefeln vergleichsweise elegant aus, das wusste sie, dennoch kam sie sich der Kleineren gegenüber vor wie eine Giraffe.
Kalin hatte sich von Anfang an zu Noras quirliger Persönlichkeit hingezogen gefühlt. Trotz des Altersunterschiedes waren die beiden befreundet. Das Problem war allerdings, dass Nora sich von Steve McKenzie den Hof machen ließ, der sonst mit niemandem verkehrte außer seinen Mitfahrern und Trainern.
»Ben und ich gehen heute Abend ins Kino. Willst du vielleicht mitkommen?«
»Danke, nein.« Nora versteckte den Schwangerschaftstest hastig hinter ihrem Rücken. »Ich hab zu viel zu tun. Erstens tune ich für das Team Holden, zweitens mache ich gerade den Skiverleih für die Saison fertig. Mein Chef hat mir deshalb erlaubt, ihn abends herzurichten.«
»Das klingt doch gut. Du tunst also wieder für Steve?«
»Ja.« Nora strahlte. »Wir sind beide ganz aufgeregt. Sag mal, war heute nicht dein erster Tag als Sicherheitsleiterin? Wie ist es denn gelaufen?«
»Leider nicht so leicht, wie ich es mir vorgestellt habe.«
Nora verzog ihr Gesicht. »Wegen Steve an der Seilbahn?«
Kalin fragte sich, welche Version der Geschichte wohl im Ressort die Runde machte. »Demnach weißt du also Bescheid?«
»Steve ist manchmal …« Nora zuckte mit den Achseln, als sei damit alles erklärt.
»Mach dir keinen Kopf deshalb. Das wird sich schon wieder von selbst klären.« Kalin zahlte, steckte ihre Antibabypillen in eine Stofftasche, winkte Nora kurz zu und beobachtete, wie diese verschwand.
Während sie mit ihrem Pick-up im Leerlauf auf dem Parkplatz des Drugstores stand, sah sie die Reflexion des Auspuffs im Schaufenster. Sie drehte den Heizlüfter bis zum Anschlag auf und hielt ihre Hände vor die Schlitze, während sie auf Ben wartete. Auf Vicky Hamilton war sie bisher noch nicht zu sprechen gekommen. Hoffentlich löste sich das Ganze in Wohlgefallen auf. Kalin lenkte sich von diesem störenden Gedanken ab, indem sie die Passanten beobachtete.
Noras Cousin Donnie fuhr gerade im Rollstuhl über den verschneiten Parkplatz und stieg anschließend allein in seinen Van. Wie er sich ganz ohne Hilfe bei diesem Winterwetter durchschlug, beeindruckte Kalin immer wieder. Die Tür des Drugstores ging erneut auf und Ian, der Sohn ihres Vorgesetzten kam nun heraus. Er lief über den Platz. Sie hoffte, dass er Nora nicht mit dem Test gesehen hatte, denn so eine pikante Sache würde sich wie ein Lauffeuer im Ressort verbreiten.
Endlich kehrte Ben zurück und stieg auf der Beifahrerseite ein. Er schaute kurz auf die Uhr am Armaturenbrett. »Ist noch nicht zu spät. Auf geht's.«
27. November