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»Ich hab dich. Ich lass dich nicht fallen.« »Hunter.« Vielleicht wollte sie protestieren. Aber sie wisperte nur meinen Namen. Nur meinen Namen. Und es ging mir durch Mark und Bein. In Bar Harbor will Andy neu anfangen. Vor allem will sie vergessen. Den Schmerz. Die Angst. Alles, was sie zurücklässt. Einen alten Wohnwagen, einen Stapel Notizbücher und einen Platz an der Acadia University - mehr besitzt sie nicht. Aus Furcht davor, dass ihre Vergangenheit sie einholen könnte, versucht sie unauffällig und allein zu bleiben. Bis sie auf Hunter trifft. Hunter, der verzweifelt nach seiner Schwester sucht. Der von Gerüchten verfolgt und von allen verachtet wird. Der sie wirklich sieht, sie zum Lachen bringt und ihr Mut macht. Dem sie die dunkle Geschichte hinter ihren Narben anvertrauen kann. Er könnte sie all den Schmerz vergessen lassen – wenn da nicht sein eigener wäre …
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Franziska Kamberger
Roman
Das Buch
»Ich hab dich.
Ich lass dich nicht fallen.«
»Hunter.«
Vielleicht wollte sie protestieren.
Aber sie wisperte nur meinen Namen.
Nur meinen Namen.
Und es ging mir durch Mark und Bein.
In Bar Harbor will Andy neu anfangen.
Vor allem will sie vergessen.
Den Schmerz. Die Angst. Alles, was sie zurücklässt.
Einen alten Wohnwagen, einen Stapel Notizbücher und
einen Platz an der Acadia University - mehr besitzt sie nicht.
Aus Furcht davor, dass ihre Vergangenheit sie einholen könnte,
versucht sie unauffällig und allein zu bleiben.
Bis sie auf Hunter trifft.
Hunter, der verzweifelt nach seiner Schwester sucht.
Der von Gerüchten verfolgt und von allen verachtet wird.
Der sie wirklich sieht, sie zum Lachen bringt und
ihr Mut macht. Dem sie die dunkle Geschichte hinter
ihren Narben anvertrauen kann.
Er könnte sie all den Schmerz vergessen lassen
– wenn da nicht sein eigener wäre …
Band 1 der Acadia-Reihe
- der emotionsgeladene
Beginn von Andys & Hunters Geschichte.
Die Autorin
- Franziska Kamberger -
Franziska Kamberger entdeckte schon in früher Kindheit ihre Liebe zu Büchern, die sie seit 2013 als DieBücherseelen auf Youtube und Instagram mit der Welt teilt.
Wenn sie nicht gerade als Pflegefachkraft unterwegs ist, denkt sie sich fantastische, romantische und lustige Geschichten aus, mit denen sie unzählige Notizbücher füllt.
Sie lebt und schreibt mit einer verwöhnten Katze, verrückten Tassen und über tausend Büchern in Hildesheim.
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich freue mich wirklich sehr, dass du zu meinem Buch gegriffen hast!
Die Geschichte von Andy & Hunter behandelt Themen, die triggern können. Am Ende des Buches findest du deshalb eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Ich wünsche dir ganz viel Freude mit dem Buch und ein schönes Leseerlebnis.
Eure Franziska Kamberger und euer THEILVERLAG
Für „Oma aus Offenburg“
Ich weiß, du warst stolz auf mich.
Ich weiß, du siehst mich.
Diese Geschichte ist für dich.
Playlist Acadia Love
Avril Lavigne – Head Above Water
Raphael Lake - Prisoner
JC Stewart – Break My Heart
Velt – At The Harbour
Sam Ryder – Tiny Riot
Zoe Wees – Control
James Arthur – Medicine
The Weeknd – Call Out My Name
Chord Overstreet – Hold On
James Arthur – Train Wreck
Rachel Platten – Fight Song
Nicholas Bonnin – Shut Up And Listen
Tommee Profitt – Hurts Like Hell
Inhalt
Das Buch
Die Autorin
Widmung
Playlist
Prolog
1 Andy
2 Andy
3 Andy
4 Hunter
5 Andy
6 Hunter
7 Andy
8 Hunter
9 Andy
10 Hunter
11 Andy
12 Hunter
13 Andy
14 Hunter
15 Andy
16 Hunter
17 Hunter
18 Andy
19 Hunter
20 Andy
21 Hunter
22 Andy
23 Hunter
24 Andy
25 Andy
26 Hunter
27 Andy
28 Hunter
29 Andy
30 Hunter
31 Andy
32 Hunter
33 Andy
34 Hunter
35 Andy
36 Hunter
37 Andy
38 Hunter
39 Andy
40 Hunter
41 Andy
42 Hunter
43 Andy
44 Hunter
45 Andy
46 Hunter
47 Andy
48 Hunter
49 Andy
Danksagung
Triggerwarnung
Impressum
Prolog
Gewitter sollten mich immer an den schwersten Tag in meinem Leben erinnern.
Blitze zuckten über den sonst schwarzen Nachthimmel, als ich mir mit zitternden Fingern an dem kleinen Schloss zu schaffen machte, das an meinem Zimmerfenster angebracht war.
Meine Tür knarzte bedrohlich, als sie sich öffnete. Ich war so erschöpft gewesen, dass ich nicht daran gedacht hatte, den Stuhl unter die Klinke zu klemmen.
Ein leises Klicken ertönte, als das Schloss aufsprang. Erleichtert schluchzte ich auf und öffnete das Fenster. Der Wind trieb mir den Regen entgegen, doch das war egal. Alles war egal.
Ich wagte nicht, mich umzudrehen. Wagte nicht, zu atmen. Ein Blitz loderte auf, und ich sah seinen Schatten an der Wand neben meinem Bett.
Ich schnappte mir meine Reisetasche und den Rucksack und warf beides aus dem Fenster. Ein Donnerschlag übertönte den Aufprall. Mein Blick huschte hektisch durch das dunkle Zimmer und blieb an all den Dingen hängen, die ich zurücklassen musste. Fotos von besseren Zeiten. Ein altes Hundehalsband. Meine Bücher, mit denen ich mich in den dunkelsten Stunden abgelenkt hatte. Die Reiseführer, mit deren Hilfe ich Roadtrips plante, die ich nie antreten würde. Aber das Träumen tat gut. Träumen half. Davon zeugten auch meine Notizbücher. All die Notizbücher, die ich mit Welten, Wesen und Geschichten gefüllt hatte und die jetzt vom hereinwehenden Regen durchnässt wurden. Nur eins nahm ich mit. Eines Tages, vielleicht, würde ich all die anderen holen. Wenn sie dann noch da waren. Wenn es sicher war.
»Ich weiß, dass du wach bist.«
Mein Herz schien zu bersten vor Angst und Schuld. Meine Kehle war eng vor ungeweinten Tränen. Ich sah mich aus dem Zimmer gehen und Brian wecken. Sah mich eine Nachricht für meine Mutter bereitlegen. Doch ich konnte nicht. Ich musste sofort gehen. Ohne Abschied. Langsam stieg ich auf das Fensterbrett. Vorher steckte ich mir noch das Foto in die Hosentasche, das immer über meinem Schreibtisch hing. Es zeigte meine Mom, mich und meinen Bruder Brian zu besseren Zeiten. Bevor meine Mom Link in unser Leben brachte.
»Glaubst du wirklich, du bist stärker als ich?«
Meine Beine baumelten gut drei Meter über dem Boden. Mit beiden Händen klammerte ich mich an die Kante des Fensters und rutschte langsam nach vorne.
»Ich hab dich in den letzten Monaten beobachtet, weißt du?« Schritte näherten sich meinem Bett. Mein Herzschlag ging so schnell und laut, dass er beinahe seine nächsten Worte übertönte. Ich wünschte, er hätte es wirklich getan.
»Du bist zur Frau geworden. Das eröffnet mir ganz neue Möglichkeiten.«
Mein gesamtes Gewicht hing nur noch an meinen Fingerspitzen. Wenn dieser Sprung schiefging, war ich verloren.
Meine Matratze sank unter seinem Gewicht ein. Ich spürte, wie er sich vorbeugte, bis ganz dicht an mein Ohr. Ich roch den Alkohol in seinem Atmen.
»Deine Mutter ist mir schon lange langweilig geworden«, flüsterte er rau.
Ich ließ los und fiel. Der Aufprall jagte Schmerzen durch meinen Körper. Meine Knöchel brannten.
Eine Hand legte sich an meine Hüfte. Ich biss mir die Lippe blutig, um ein Wimmern zu unterdrücken.
»Doch mit dir werde ich Spaß haben. Meinst du nicht?«
Die Schmerzen ignorierend rappelte ich mich auf. Meine Kleidung war schlammig und durchnässt. Über mir grollte der Donner wie ein wütendes Tier. Ich setzte mir meinen Rucksack auf und griff nach meiner Reisetasche. Die Dinge darin waren alles, was mir jetzt noch blieb. Das und die Aussicht auf ein besseres Leben. Ohne Schmerz. In Sicherheit. Mein Blick wanderte über das kleine Haus am Waldrand, in dem ich die schönsten Momente meines Lebens verbracht hatte.
Ich hörte sein heiseres Lachen dicht an meinem Ohr. Spürte, wie sein feuchter Atem über meine Haut glitt. Dann ging er. Doch ich wusste, dass er wiederkommen würde.
Die schönsten Momente. Und die schlimmsten. Erinnerungen, die mich nie wieder verlassen würden.
Als sich meine Tür schloss, entfuhr mir ein verzweifeltes Schluchzen.
Langsam ging ich rückwärts auf den Wald zu, während mein Blick über die bröckelnde Fassade, das mittlerweile undichte Dach und die Fenster von Brians Zimmer glitt.
Ich hatte keine Wahl. Meine Tränen mischten sich mit dem niederprasselnden Regen. Sie würden mich hassen, aber ich musste gehen. Link zog mich sonst hinab in einen dunklen Abgrund, aus dem es kein Entkommen gab. Einen Abgrund, den ich nicht überleben konnte.
Ich hörte, wie meine Mutter im Zimmer unter mir unterdrückt aufschrie.
Mit einem Mal sprangen die Lampen im Erdgeschoss an. Licht flutete die durchnässte Wiese und floss über meine Füße.
Ich fuhr herum und rannte um mein Leben.
1
Andy
Das Piercing war noch ungewohnt. Ich ertappte mich erneut dabei, wie ich mit meiner Zunge über den dünnen Metallring an meiner Unterlippe glitt. Jedes Mal wieder ärgerte ich mich darüber. Denn sicher war mir anzusehen, dass dieser Schmuck überhaupt nicht zu mir passte. Dass das Mädchen mit dem Piercing, der bunten Kurzhaarfrisur und der dunklen Kleidung eigentlich nicht ich war.
Möglicherweise war ich auch nicht mehr ich selbst. Zumindest fühlte ich mich zeitweise wie ein anderer Mensch.
Trotzdem hatte ich die Befürchtung, dass mir jeder meine Vergangenheit ansehen konnte. Wie eine Narbe oder eine Wunde mitten im Gesicht.
An meinem Milchkaffee nippend, blickte ich von meinem Laptop auf und schaute mich im Café Mary um. Der kreisförmige Innenraum wirkte, als wäre ein Einrichtungshaus explodiert. Runde Tische wie eckige, gepolsterte und kahle Stühle, Sessel, Barhocker, Fotos und Lichterketten, die sich an den Wänden entlanghangelten – irgendjemand hatte all diese Dinge auf skurrile und dennoch harmonische Weise miteinander kombiniert. Das Café erschien mir bei meinem ersten Besuch wie ein verrücktes Gemälde. Ich war sofort verliebt.
Plötzlich wurde ich unruhig. Mein Blick tastete sich durch den Raum und versuchte, die Ursache dafür zu finden. Niemand beobachtete mich, niemand sah in meine Richtung. Trotzdem schlug mein Herz ein wenig schneller, während ich die anderen Gäste unauffällig musterte. Auf einigen T-Shirts entdeckte ich ein Logo mit einem Berggipfel und den verschlungenen Buchstaben A und U. Der Campus der Acadia University lag nur ein paar Straßen entfernt, und so verschlug es viele Studierende hierher.
Alles wirkte friedlich und ungefährlich, dennoch blieb die innere Anspannung, die momentan mein ständiger Begleiter war.
Unbewusst strich ich über die Narbe an meinem Oberarm. Als es mir auffiel, holte ich tief Luft und versuchte, die Beklemmung abzuschütteln.
Ich stellte die bunt geblümte Kaffeetasse ab, loggte mich im freien WLAN des Cafés ein und öffnete meine liebste Suchmaschine. Mein Laptop gab ein lautes Brummen von sich, während er die Seite lud, und ich tätschelte ihn vorsichtig. Ich hatte ihn kurz vor meinem Highschool-Abschluss gebraucht gekauft. Er hatte schon einige Jahre auf dem Buckel, war ziemlich klobig und die Buchstaben auf der Tastatur waren teilweise nicht mehr zu erkennen. Aber er war der Einzige gewesen, den ich mir damals hatte leisten können, und er funktionierte zuverlässig. Mittlerweile konnte ich zwar auf mein Ausbildungskonto zugreifen, wollte das Geld davon aber nicht leichtfertig ausgeben, und irgendwie hing ich an meinem alten, klapprigen Laptop.
Während ich einen Moment überlegte und mich wieder dabei ertappte, wie ich das Piercing mit der Zunge abtastete, brachte mir die leise vor sich hin summende Bedienung den Blaubeer-Cupcake, den ich bestellt hatte.
»Danke«, murmelte ich, als sie sich bereits zum Gehen wandte.
Meine Finger verharrten über der Tastatur, und schließlich, mit dem Gefühl etwas Verbotenes zu tun, tippte ich ein paar Worte in die Suchleiste.
Gefälschten Ausweis erstellen.
Mein Puls beschleunigte sich, als ich mir die Ergebnisse ansah. Ich hatte sicher keine weiße Weste. In den letzten Jahren hatten mich Angst, Schmerz und Verzweiflung einige Dinge tun lassen, auf die ich nicht stolz war. Aber so wie jetzt waren sie immer notwendig gewesen, um zu überleben. Mir war nicht wohl dabei, jedoch führte an einem gefälschten Ausweis kein Weg vorbei. Nicht, wenn ich mich sicher fühlen und trotzdem normal leben wollte. Dennoch hatte ich diese Aufgabe bisher vor mir hergeschoben. Ich wollte keine weitere Straftat auf meiner Liste. Vor allem keine, die es leichter machte, mich zu finden, sollte ich auffliegen.
Eine halbe Stunde lang scrollte ich mich durch dubiose Websites, die gefälschte Ausweise und Führerscheine zu hohen Preisen anboten. Auf anderen Seiten gab es Tutorials, mit deren Hilfe es angeblich jeder schaffte, die benötigten Papiere selbst zu fälschen.
Als meine Tasse leer war und ich die letzten Krümel des Cupcakes vom Teller sammelte, fühlte ich mich noch genauso ratlos wie vorher. Ich wusste einfach nicht, wie ich die Sache angehen sollte. Woher sollte ich wissen, wer mir wirklich eine gute Fälschung anfertigte und wer mich nur abzockte – oder schlimmer noch, an die Polizei verriet? Sicher hatte diese auch ein paar Undercover-Ermittler, die selbst solche Websites erstellten, um potentielle Kriminelle anzulocken. Vielleicht hatte ich auch nur zu viele Filme gesehen.
»So was würde ich nicht in der Öffentlichkeit machen.«
Erschrocken zuckte ich zusammen und stieß beinahe meine Tasse vom Tisch. Ich konnte sie gerade noch festhalten, während ich mit der anderen Hand hastig meinen Laptop zuklappte.
Neben meinem Tisch stand ein Typ, etwa in meinem Alter, mit unordentlichem Haar, eckiger Brille und einem dunklen T-Shirt, das die Aufschrift Not Today trug.
Was sagen wir dem Gott des Todes?, raunte eine leise Stimme in meinem Kopf, als ich mich an die entsprechende Folge aus Game of Thrones erinnerte. Ein Satz, der mir im Kopf hängen geblieben war.
»Ich recherchiere nur«, erklärte ich eilig und versuchte, nicht so ertappt zu wirken, wie ich mich fühlte.
Ein Grinsen zupfte an den Mundwinkeln meines Gegenübers. »Sicher.« Er blickte nach links und rechts, die Hände in die Taschen seiner Jeans gesteckt. »Ich an deiner Stelle würde mir für diese Recherchen einen weniger öffentlichen Ort suchen.«
Unsicher blickte ich mich um. Ich saß an einem kleinen Tisch in einer Nische, ganz in der Nähe der Toiletten, weit entfernt vom Eingang und dem Tresen. »Eigentlich fand ich den Platz ganz gut.«
Der Typ gluckste. »Ich meinte einen Ort, an dem du allein bist.«
Ich schluckte und wandte den Blick ab. Allein. Ich wusste nicht, ob ich je wieder allein sein konnte, ohne dass die Düsternis in meinem Inneren mich zu überwältigen drohte. Selbst jetzt, umgeben vom Lärm des Cafés, fühlte ich, wie ein Sturm aus Erinnerungen und Gefühlen in mir brodelte. Ich hatte erwartet, dass die Distanz mir das Vergessen erleichtern würde. Bisher war jedoch das Gegenteil der Fall. Meine Erinnerungen wurden zum Verräter, indem sie mich immer wieder aus dem Nichts überfielen und peinigten.
Während ich überlegte, wie ich den Typen schnell wieder loswurde, glitt er auf den Platz mir gegenüber.
»Ich bin Dustin.« Lächelnd lehnte er sich zurück. Der rote Lederbezug des Stuhls knarzte leise.
»Okay …«, erwiderte ich gedehnt. »Hallo, Dustin.« Irritiert rutschte ich auf meinem Stuhl herum und betrachtete ihn. Sein schiefes Lächeln war mir sympathisch, und er schien es nicht im Geringsten seltsam zu finden, sich einfach zu einer Fremden an den Tisch zu setzen. Dennoch musste ich ihn loswerden, und das schnell. Er durfte sich hinterher nicht mehr an mein Gesicht erinnern. Wenn man ihn nach mir fragte, musste ich in der Flut täglicher Begegnungen untergehen.
Dustin trommelte mit den Fingern auf die hölzerne Tischplatte und deutete dann auf meinen mit Stickern beklebten Laptop. »Wozu brauchst du gefälschte Papiere?«
Unruhig schnellte mein Blick durch das Café. Dustin machte sich nicht die Mühe, seine Stimme zu senken. Doch niemand schien seine Worte gehört zu haben. Alle waren vertieft in ihre eigenen Gespräche, Laptops, Zeitungen und Bücher. Tassen klapperten, leise Popmusik kam aus den Lautsprechern an der Decke und vom Tresen drang das vertraute Zischen einer Espressomaschine zu uns herüber.
Dustin beobachtete mich unablässig und wartete eindeutig auf eine Antwort.
»Wieso interessiert dich das?« Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme.
»Wenn du eine Kriminelle bist oder etwas Kriminelles geplant hast, gehe ich zurück an meinen Tisch und esse den Rest von meinem Stück Schokotorte.« Er deutete auf einen Tisch ganz in meiner Nähe, auf dem ein angegessenes Stück Torte neben einem aufgeschlagenen Buch stand. »Wenn du aber gute Absichten hast oder Schwierigkeiten, könnte ich dir vielleicht behilflich sein. Was mir ganz lieb wäre, denn ehrlich gesagt, ist das heute schon das dritte Kuchenstück auf meinem Teller.«
Unwillkürlich ließ ich meine Arme sinken. »Inwiefern behilflich?«
Dustin lächelte schulterzuckend. »Zufälligerweise bin ich mit der Gabe gesegnet, gewisse Dokumente anzufertigen.«
»Wirklich?« Aufregung erfasste mich.
»Klar. Aber nicht hier.« Er glitt von seinem Stuhl.
Hin- und hergerissen beobachtete ich, wie er sein Buch zuklappte, einen Schein auf den Tisch legte und aus dem Café ging.
Ich verharrte noch für einen Moment unschlüssig auf meinem Stuhl, bis mir klar wurde, dass Dustin vielleicht meine einzige, reelle Chance war, um schnellstmöglich an den gefälschten Ausweis zu kommen. Auch wenn das bedeutete, dass er sich auf jeden Fall an mich erinnern würde.
Bevor mich der Mut verlassen konnte, stopfte ich meinen Laptop in die zerschlissene Umhängetasche, die ich seit Jahren mit mir herumtrug, und legte etwas Geld für Kaffee und Cupcake auf den Tisch. Dann hastete ich Dustin hinterher.
Hitze und Verkehrslärm schlugen mir entgegen, als ich das Café verließ. Bevor ich nach Bar Harbor gekommen war, hatte ich mich nicht im Geringsten mit dem Ort beschäftigt, der auf einer Halbinsel vor Maines Küste angesiedelt war. Ehrlich gesagt, hatte ich nicht einmal von ihm gehört. Erst, als ich den Entschluss fasste, mich an der AU zu bewerben, sah ich auf der Website des Colleges Bilder der Stadt. Doch sie spiegelten die wahre Schönheit des Ortes nicht annähernd wider. Ich hatte den ersten Fuß hineingesetzt und war mir vorgekommen, als wäre ich von meiner grauen Heimat in ein buntes Wimmelbild gefallen. Die teils modernen, teils aus älteren Epochen entsprungenen Häuser strahlten in vielen verschiedenen Farben. Studierende tummelten sich auf den Straßen ebenso wie kleine Kinder und ältere Menschen. Es war ein Ort voller Leben, in dem sich viele Touristen herumtrieben, und dennoch ging das Gefühl der freundlichen Idylle nicht verloren. Überall strahlte mir die Natur entgegen. Kleine Parks, Wiesen und Gemeinschaftsgärten schmiegten sich an Wohnhäuser und Geschäfte. Vorbeifliegende Möwen erinnerten an die unmittelbare Nähe des Ozeans, ebenso wie der salzige Geruch, den der Wind von dort mitbrachte.
Ich atmete tief durch und wandte mich nach rechts, wo Dustin merklich langsam zwischen den anderen Passanten entlangschlenderte. In wenigen Sekunden hatte ich ihn eingeholt, was er mit einem Lächeln quittierte.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich atemlos.
»Zu mir. Ich wohne ganz in der Nähe.«
Seine Antwort brachte mich kurz aus dem Tritt, doch ich fing mich schnell wieder. Du hast keine Wahl, drängte mich meine innere Stimme. Du brauchst diese Papiere. Sei nicht paranoid!
Dustin führte mich nur wenige Minuten durch die mir noch überwiegend unbekannten Straßen von Bar Harbor. Bisher fand ich mich nur mithilfe von Karten und dem Handynavi zurecht, dennoch erkannte ich schnell, in welche Richtung er mich führte. Vielleicht weil ich mir den Ort, der jetzt vor uns auftauchte, so oft im Internet angesehen hatte. Die altehrwürdigen Gebäude, die schmalen Steinwege, die sich über das weite Gelände schlängelten, und die kleinen Brunnen und Statuen, die auf den Wiesen zu finden waren.
»Du wohnst auf dem Campus?«
Dustin blickte mich an. »Scharfsinnig, Mädchen ohne Namen.«
Mein Blick glitt zu seinem T-Shirt. Ich verstand die Anspielung sofort. »Du bist ein Riesenfan von Game of Thrones, was?«
»Dass du das erkannt hast, kann nur bedeuten, dass du selbst einer bist.« Dustin lächelte und führte mich an zwei hellen Steinsäulen vorbei auf das Gelände der AU. Der Name Acadia Universityspannte sich in großen, hölzernen Buchstaben zwischen den Säulen auf und bildete so ein Tor, das langsam von Efeu überwuchert wurde.
»Wie könnte ich nicht?«, erwiderte ich, wobei meine Begeisterung in meinen Ohren vollkommen falsch klang. Denn mit ihr kämpften noch andere Gefühle um meine Aufmerksamkeit. Erinnerungen an seltene, friedliche Nachmittage, in denen Brian und ich uns die Serie angesehen hatten.
Um die mit Traurigkeit durchsetzten Gedanken abzuschütteln, richtete ich den Blick auf das Gelände der AU. Obwohl das Semester erst nächste Woche begann, entdeckte ich einige Studierende, die auf den Wiesen quatschten und etwas aßen oder an den beeindruckenden Gebäuden aus dunklem Stein vorbeischlenderten und miteinander lachten. Eine leise Zuversicht erfüllte mich, dass ich bald zu ihnen gehören könnte. Die Vorstellung, mir nach ein paar interessanten Kursen selbst einen Lernplatz auf einer der Wiesen zu suchen, die die Gebäude umgaben, lenkte mich für einen Moment ab. Dieser Gedanke war gleichermaßen mit Hoffnung und mit Zweifeln behaftet.
»Gehst du auch aufs College?«, wollte Dustin wissen, während er auf eines der Wohnheime zuhielt.
»Ich hab eine Zusage der AU«, erwiderte ich bloß.
»Aber?«
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Die Tatsache, dass ich überhaupt erwog, aufs College zu gehen, wirkte abwechselnd lächerlich und vollkommen leichtsinnig auf mich. Aber da war dieser kleine Teil in mir, der trotzig mit dem Fuß aufstampfte und mir sagte, dass ich es tun sollte. Dass ich jetzt frei war, und es, nach allem, was ich erlebt hatte, vielleicht verdient hatte.
Doch da waren auch die Schuldgefühle, die mich zu ersticken drohten. Wegen derer ich jeden Tag kurz davor stand, diesen Plan zu verwerfen. Deshalb erwähnte ich auch nicht, dass ich den Platz an der AU schon angenommen hatte. »Vielleicht gehe ich doch woanders hin«, antwortete ich schließlich.
Dustin blickte mich fragend an. »Du bist aber nicht von hier, oder?«
Die gläserne Tür des modernen Wohnheims glitt von selbst auf, als er seinen Studierendenausweis gegen das kleine Lesegerät hielt, das an der Mauer angebracht war.
Drinnen empfing uns eine Mischung verschiedener Musikrichtungen, die gedämpft aus den Zimmern drangen, und das Rauschen eines Ventilators, der sich an der Decke drehte. Bestimmt herrschte hier nach Semesterbeginn ein ständiges Kommen und Gehen. Jetzt jedoch waren die hellen Flure noch verlassen.
»Wie kommst du darauf, dass ich nicht von hier bin?«
Dustin führte mich eine Treppe hinauf in den ersten Stock und zog einen kleinen Schlüsselbund aus der Hosentasche. »So was sehe ich einfach«, meinte er zwinkernd und schloss die Tür auf. »Ich bin hier geboren. Und jemand wie du wäre mir sicher aufgefallen.«
Meine Erwiderung blieb mir irgendwo im Hals stecken, als Dustin seine Tür öffnete. Als Erstes sah ich das Schwert. Ein langes, silbernes Schwert mit einem weißen Knauf in Form eines Wolfskopfes. An den Wänden hingen Karten, die aussahen, als wären sie mehrere Jahrzehnte alt. Da sie Winterfell, Dorne und die Flusslande zeigten, waren sie höchstens ein paar Jahre alt, aber trotzdem beeindruckend. Zumindest für jeden Game-of-Thrones-Fan. Über einem Bett mit dunklem Bezug zierte ein riesiges Poster die Wand, auf dem drei Drachen abgebildet waren. Direkt neben dem Bett stand ein Regal mit der wahrscheinlich größten Comic-Sammlung, die ich je gesehen hatte.
»Wow«, entfuhr es mir, als mein Blick auf eine etwa kniehohe Nachbildung von BB8 fiel, auf der Dustin einen wackeligen Papierstapel abgelegt hatte.
»Das nehme ich als Kompliment«, gluckste er und schloss die Tür hinter mir. Dann zog er ein leeres Blatt von seinem überfüllten Schreibtisch und reichte es mir mit einem Kugelschreiber. »Du brauchst einen Ausweis und sicher auch einen Führerschein, richtig?« Er ließ sich auf seinen Stuhl sinken und klappte seinen Laptop auf.
»Keinen Führerschein.« Ich verzog das Gesicht. »Kann kein Auto fahren.«
Dustin blinzelte ungerührt. »Okay, dann nur den Ausweis. Schreib mir auf, welche Daten ich eingeben soll. Und ein aktuelles Foto brauche ich natürlich auch noch.«
Ich ließ mich auf sein Bett sinken, nutzte meine Tasche als Unterlage für das Blatt Papier und verharrte dann unsicher. »Wie viel willst du dafür? Ich meine, ich habe nicht allzu viel Geld.«
Dustin hob den Blick. Seine Augen wanderten langsam über meinen Körper. Vielsagend hob er eine Braue. »Da finden wir schon einen Weg, schätze ich.«
Sofort versteifte ich mich. Röte kroch mir bis unter die Haarspitzen, und Beklemmung stieg in mir auf. Unsicher huschte mein Blick zur Tür.
Link hob die Bierflasche und trank in langen, tiefen Schlucken, während sein Blick an meinem Körper hinabwanderte. Zum ersten Mal bekam ich wirklich Angst vor ihm. Er sah es. Und sein Grinsen zeigte mir, dass er es genoss.
Dustin lachte so plötzlich auf, dass ich zusammenzuckte. »Gott, du müsstest dein Gesicht sehen. Das war nur Spaß. Außerdem kommst du vom falschen Ufer.« Zwinkernd wandte er sich wieder seinem Laptop zu. »Sieh es als Freundschaftsdienst. Denn ich bin mir ziemlich sicher, dass wir beide gute Freunde werden. Zumindest wenn du auch auf die AU gehst.«
»Oh.« Erleichtert holte ich Luft und verdrängte Links Gesicht aus meinen Gedanken. Ich schrieb meine Daten auf und reichte Dustin den Zettel, den er kurz überflog.
»Ich bin übrigens Adriana«, sagte ich und bemühte mich um ein Lächeln. Es fühlte sich falsch an, als hätten meine Muskeln vergessen, was sie tun sollten. »Aber alle nennen mich Andy.«
»Freut mich dich kennenzulernen, Andy. Bist du wirklich achtzehn, oder gehört das zur Fälschung?« Er lächelte wieder dieses völlig ungezwungene, freundliche Lächeln. Für einen Moment fürchtete ich, dass eines Tages etwas passierte, das dieses Lächeln verschwinden ließ.
»Nein, das stimmt.«
»Dann, Andy, schalte mal dein Bluetooth ein und schick mir ein hübsches Foto von dir.«
Ich hatte mein Smartphone, nachdem ich es die letzten Tage ignoriert hatte, nur schnell vom Ladegerät genommen, bevor ich zum Café aufgebrochen war. Ohne es anzuschalten hatte ich es in meine Tasche gesteckt und nicht weiter gebraucht. Deshalb fiel es mir jetzt beim Aufleuchten des Displays fast aus der Hand. Es zeigte ein halbes Dutzend verpasster Anrufe an, alle von Brian. Ebenso wie eine Mailboxnachricht. Außerdem drei Mails, alle von derselben Person. Mein Atem stockte, als ich den Absender sah. Ich zitterte. Übelkeit stieg in mir auf. Panisch scrollte ich durch die Nachrichten.
Ich finde dich.
Du dreckige Schlampe, warte nur ab, was ich mit dir mache, wenn ich dich in die Finger kriege.
Was ich deiner Mutter angetan habe, wird dir dagegen wie ein Witz vorkommen.
»Alles okay?«
Dustins Stimme schreckte mich auf. Reflexartig drückte ich das Handy an meine Brust.
»Ja. Moment.« Ich riss mich zusammen und wollte die Mails meines Stiefvaters löschen. Er war der letzte Mensch, dem ich meine neue Nummer geben würde. Ob er erst jetzt bemerkt hatte, dass die alte nicht mehr funktionierte? Oder hatte er aus einem anderen Grund so lange damit gewartet, mich zu kontaktieren?
Eilig öffnete ich meine Galerie und schickte Dustin ein passendes Foto. »Ich muss mal telefonieren«, sagte ich dann und verließ das Zimmer. Nach einem Blick den schmalen Flur entlang, rief ich die Mailboxnachricht ab. Tränen stiegen mir in die Augen, als ich die Stimme meines Bruders hörte.
»Andy, wo bist du?« Brian klang aufgewühlt, geradezu panisch. Er war nur zwei Jahre jünger als ich, aber in Momenten wie diesem sah ich in ihm immer noch den kleinen Jungen, dessen Hand ich an seinem ersten Schultag gehalten hatte. »Weißt du, was hier los ist? Was du uns damit angetan hast?«
Schuldgefühle gruben sich brennend in meine Eingeweide. Ich musste ihn zurückrufen. Für einige Sekunden schwebte mein Daumen reglos über dem Tastenfeld. Seit zehn Tagen zögerte ich diesen Moment heraus. Seit ich Chicago hinter mir gelassen hatte. Ich hatte mich weder bei Brian noch bei meiner Mom gemeldet. Allein der Gedanke daran machte mir Angst. Die Schuldgefühle fraßen mich fast auf wegen dem, womit sie jetzt alleine zurechtkommen mussten. Ich schämte mich mehr dafür, als ich sagen konnte. Die Stunden im Zug, auf dem Weg nach Bar Harbor, hatte ich damit verbracht, mir selbst immer wieder zu sagen, was für ein furchtbarer Mensch ich war.
Ich hatte kein Recht mehr, Kontakt zu meiner Mutter aufzunehmen. Oder zu Brian. Dieses Recht hatte ich mit vielen anderen Habseligkeiten in Chicago zurückgelassen.
Doch jetzt waren da Links E-Mails und Brians Stimme auf meiner Mailbox, und mich überkam ein ungutes Gefühl. Ein Teil von mir wollte Brians Nummer nicht wählen. Aus Angst vor dem, was ich bei diesem Telefonat erfahren würde. Solange ich weder mit ihm noch mit meiner Mom sprach, konnte ich mir einreden, dass es ihnen gut ging. Dass Link seine Wut nicht an ihnen ausgelassen hatte. Ich war feige. Das war der einzige Grund, aus dem ich jetzt in diesem Flur stand und das Handy anstarrte wie ein giftiges Tier. Ich war feige, und ich wusste es.
Feigheit ließ mich davonlaufen.
Feigheit hielt mich davon ab, Brian anzurufen.
Feigheit verhinderte, dass ich noch einmal versuchte, Link anzuzeigen, um ihn ein für alle Mal loszuwerden.
Die Feigheit schmeckte wie bitteres Gift und zwang mich langsam in die Knie. Ganz zu schweigen von den Schuldgefühlen, an denen ich eines Tages zerbrechen würde.
Aber war meine eigene Sicherheit nicht auch wichtig? Wie oft hatte ich Verletzungen davongetragen, seelisch wie körperlich, um meine Liebsten zu schützen? Wie oft hatte ich mein eigenes Bedürfnis nach Sicherheit ignoriert, um sie ihnen zu schenken? Wenn niemand mich vor Link beschützte, musste ich mich dann nicht selbst schützen? Oder sollte ich zulassen, dass Link mich zerstörte? Mir nach und nach alles nahm, was mich ausmachte? Denn das war es, was er meiner Mom angetan hatte. Stück für Stück hatte er ihr genommen und die Löcher in ihrer Seele mit Angst und Schmerz gefüllt.
All diese Gedanken wirbelten mir ungeordnet durch den Kopf, während ich Brians Nummer wählte. Um seine Stimme zu hören, nur für einen Moment. Denn er fehlte mir. In manchen Augenblicken so sehr, dass mein ganzer Körper schmerzte. So sehr, dass ich diese Gedanken heute hinunterschluckte.
Es klingelte so lange, dass ich befürchtete und zeitgleich hoffte, er würde nicht drangehen. Was, wenn ihm etwas passiert war, und er deshalb nicht abnehmen konnte? Dann tat er es.
»Andy.«
Ein Schluchzen entwich mir, als ich seine Stimme hörte. Ich presste mir eine Hand auf den Mund, um es zu ersticken. »Brian«, keuchte ich erleichtert. »Gott sei Dank.«
Meine Knie wurden weich, und ich sackte gegen die Wand. Ich vermisste ihn. O Himmel, wie sehr er mir fehlte.
»Du bist es wirklich. Ich hatte Angst, dass du dich gar nicht mehr meldest. Du musst zurückkommen.«
Mein Herz gefror innerhalb von Sekunden. Langsam rutschte ich an der Wand hinab, bis der Holzboden schmerzhaft gegen meine Knie drückte, doch ich nahm nur die eisigen Splitter in meinem Inneren wahr. »Brian …« Ich schluckte schwer gegen den Druck in meiner Brust an. »Ich kann nicht. Ich wollte nur hören, wie es euch geht und -«
»Wie es uns geht?« Ein hohles Lachen drang aus dem Lautsprecher. »Soll das ein Witz sein?«
»Nein … Ich meinte, ich wollte -«, verzweifelt suchte ich nach den richtigen Worten. Doch Brian ließ mir keine Chance, den Satz zu beenden.
»Du bist abgehauen und hast mich und Mom allein gelassen. Weißt du eigentlich, was Link getan hat, als er es bemerkt hat?«
»Ich kann es mir vorstellen«, gab ich kleinlaut zu.
»Nein«, erwiderte Brian resigniert. »Kannst du nicht.«
Einige Sekunden war es still in der Leitung, nur unterbrochen von den Geräuschen fahrender Autos. Brian schien draußen unterwegs zu sein. Er war nicht zu Hause. Das war gut.
Ich wartete darauf, dass er mir erzählte, was geschehen war. Gleichzeitig wünschte ich mir, er würde es nicht tun. Ich wusste nicht, wie viel ich noch ertragen konnte.
Als Brian sprach, klang er gebrochen. »Es war schlimmer als sonst«, sagte er leise. »Diesmal dachte ich wirklich, er bringt uns um. Am Ende war Mom …«
Zitternd umklammerte ich das Handy. »Was?«
Brian seufzte schwer. »Link hat mir erlaubt, sie ins Krankenhaus zu bringen. Er hatte wohl Angst, dass sie es nicht schafft und er sich aus einem Mord rausreden muss.«
Seine Worte waren wie Fausthiebe. Mir blieb die Luft weg. Ich traute mich kaum, die nächste Frage zu stellen. »Wie schlimm ist es?«
»Sie hat eine Gehirnerschütterung, eine gebrochene Nase, eine Nierenprellung und noch ein paar andere Verletzungen«, antwortete er tonlos. »Link hat allen erzählt, sie wäre auf der Kellertreppe gestürzt. Ich hatte wirklich Angst. Sie sah furchtbar aus. Er hat sie schon nach zwei Tagen wieder aus dem Krankenhaus geholt, kaum, dass sie aufrecht stehen konnte.«
Tränen rannen mir stumm über die Wangen. »Und du?«
»Ging schon mal besser«, sagte er knapp. »Mom hat das meiste abbekommen.«
Weil ich nicht da war, um sie zu schützen.
Doch kaum war dieser Gedanke aufgetaucht, spürte ich Wut in mir aufsteigen. »Wieso hast du ihr nicht geholfen?«, entfuhr es mir unwillkürlich. »Du warst bei ihr. Du hättest sie beschützen müssen!«
»Ach, so wie du?«, fragte Brian kalt. »Nicht ich bin abgehauen, sondern du. Du hast uns allein gelassen. Es ist deine Schuld, dass er in dieser Nacht so ausgeflippt ist. Du hast nur an dich gedacht, und es schert dich einen Dreck, was jetzt mit uns passiert.«
Meine Wut wuchs weiter, während Brian sprach und ich an all die Male dachte, in denen er sich aus der Situation gezogen und es mir überlassen hatte, Schläge und Tritte für Mom einzustecken. Ich dachte an all die Stunden, die ich damit verbracht hatte, mir verschiedene Kampfsportarten anzueignen und alles über die Versorgung von Brüchen und offenen Wunden zu lernen. Ich dachte an all die Lügen, die ich mir ausgedacht hatte, weil kein Geld für Schulbücher da war oder ich mit immer neuen Verletzungen in die Schule kam. Ich dachte an all die Menschen, die jahrelang weggesehen und die Wahrheit ignoriert hatten. An all die Male, die ich geschwiegen hatte, um meine Mom nicht zu gefährden.
Während Brian sich bloß versteckte und sich von Link kon-trollieren ließ.
»Ich habe euch jahrelang beschützt«, presste ich mühsam hervor. »Immer wieder habe ich mich vor euch gestellt und eure Prügel eingesteckt. Mein Körper ist übersät mit Narben, die für euch bestimmt waren.«
Brian schwieg, während aus mir all die Gedanken herausbrachen, die ich sonst nicht auszusprechen wagte. Gedanken, für die ich mich hasste und die ich immer wieder zurückgedrängt hatte.
»Du hast keine Ahnung, was ich alles getan habe. Du weißt nicht, was Link getan hat, wenn du dich mal wieder versteckt hast. Du weißt nicht, was er tun wollte. Du hast seine Blicke nicht gesehen. In der Nacht, als ich gegangen bin -« Ich brach ab und schluckte. Ich konnte es Brian nicht erzählen. »Ich kann das nicht mehr Brian«, sagte ich stattdessen. »Und mir ist klar geworden, dass ich es nicht mehr ertragen muss. Das Leben muss nicht so sein. Ich will eine andere Zukunft als die, die mir bevorsteht, wenn ich in Links Nähe bleibe.«
»Denkst du, ich weiß nicht, dass es nicht einfach war?«
»Weißt du nicht. Und das ist gut so. Ich wollte nie, dass du das ertragen musst. Deshalb habe ich es immer getan. Aber ich kann nicht mehr. Es ist zu viel.« Erschöpft von all den Worten sank ich nach hinten, zog die Beine an und legte die Stirn auf die Knie.
»Du hättest uns mitnehmen können.«
Langsam schüttelte ich den Kopf. Natürlich hatte ich daran gedacht, lange bevor ich gegangen war. Schon als ich heimlich meine Collegebewerbungen geschrieben hatte. »Mom wäre niemals mitgekommen«, antwortete ich müde. »Das weißt du genau. Wie oft haben wir versucht, sie dazu zu überreden, einfach zu gehen?«
Ich konnte Brian schlucken hören. »Stimmt«, erwiderte er leise. »Mom wäre nicht mitgekommen. Aber du hast auch mich im Stich gelassen.«
Bevor ich noch etwas sagen konnte, legte er auf. Mein Handy rutschte mir aus der Hand und landete dumpf auf dem Boden.
Vielleicht war es besser so. Ich hätte ihm nie sagen können, was ich dachte. Dass ich mich nur so von allem lösen und neu anfangen konnte. Wenn ich alles zurückließ. Und jeden. So schwer es auch war.
2
Andy
Es dauerte, bis ich mich einigermaßen gefasst hatte. Dann wischte ich mir ein letztes Mal über die Wangen und ging zu Dustin ins Zimmer zurück.
Er sah von seinem Laptop auf. Sein Blick blieb an meinem verheulten Gesicht hängen, doch er sagte nichts. Stattdessen streckte er mir den Ausweis entgegen. »Ich bin fertig«, verkündete er fröhlich.
Erstaunt nahm ich ihm den falschen Ausweis ab. Ich zog das echte Gegenstück aus meiner Tasche und hielt es zum Vergleich daneben.
»Wahnsinn!« Es war kein Unterschied zu erkennen. So schnell wurde aus Adriana Torrez die neue Adriana Haraza. Erleichtert blickte ich Dustin an. »Vielen Dank.«
»Kein Ding.«
Neugierig musterte ich ihn, während ich den Ausweis in meine Tasche gleiten ließ. »Ich verstehe das nicht. Wieso tust du das für mich? Wir kennen uns nicht mal.«
Dustin legte den Kopf schief. »Solltest du hier aufs College gehen – und ich habe das Gefühl, dass du das tun wirst – kann sich das ja noch ändern. Außerdem stehe ich total auf gute Geschichten. Und irgendetwas sagt mir, dass deine verdammt gut ist.«
Du hast ja keine Ahnung, dachte ich mit einem gezwungenen Lächeln.
Mit meinem neuen Ausweis in der Tasche ging ich auf direktem Weg zum Zulassungsbüro, um ein paar letzte Unterlagen abzugeben. In manchen Augenblicken haderte ich mit meinem Entschluss, doch tief in mir drin wusste ich, dass ich nicht zurück nach Hause konnte. Deshalb hatte ich den Platz an der AU angenommen. Mit ihr hatte ich endlich einen Ort gefunden, an den ich fliehen konnte. Einen Ort, an dem ich sicher war, da niemand davon wusste. Von all den Universitäten, an denen ich mich beworben hatte, war die AU am weitesten entfernt. Und hatte zudem den Ruf, das beste College für Literaturwissenschaften und literarisches Schreiben zu sein. Für die entsprechenden Kurse und noch dazu welche in Anglistik und Publizistik hatte ich mich bereits angemeldet.
Meinen neuen Namen hatte ich mir schon bei meiner Bewerbung ausgedacht und es mit viel Mühe geschafft, sämtliche Zeugnisse und notwendige Unterlagen so zu bearbeiten, dass er darauf stand. Doch die AU wollte auch eine Kopie meines Ausweises haben. Es hatte einige geschickte Lügen und falsche Tränen erfordert, um die Zulassungsstelle zu überzeugen, dass er gestohlen worden war und sich die Ausstellung eines neuen verzögerte. Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt, als man mir schließlich sagte, dass ich ihn zu Semesterbeginn nachreichen konnte. Das Glück war tatsächlich mal auf meiner Seite.
Mit zitternden Fingern reichte ich meinen falschen Personalausweis jetzt über den hellen Tresen im Zulassungsbüro. Der lächelnden Mitarbeiterin schien das nicht aufzufallen. Ihr Blick huschte kurz über den Ausweis, dann kopierte sie ihn für meine Akte und gab ihn mir zurück. Die ganze Zeit raste mein Herz, und ich rechnete damit, dass sie die Fälschung erkannte. Nichts dergleichen geschah.
Durchgeschwitzt, aber erleichtert verließ ich das Büro und trat hinaus auf den Campus, in meiner Hand eine Mappe mit Informationen zum Semesterstart und eine Chipkarte, wie ich sie schon bei Dustin gesehen hatte. Sie gewährte mir Einlass in die verschiedenen Gebäude, diente zum Bezahlen in den Campusgeschäften und gleichzeitig als Studierendenausweis.
Draußen dämmerte es und war merklich kühler geworden. Ich war versucht, mich für einen Moment auf einer der hölzernen Bänke niederzulassen, und als ich die rosa- und orangefarbenen Spuren bemerkte, die den Abendhimmel durchzogen, gab ich dieser Versuchung nach. Mein Blick wanderte über den Himmel, der sich über den Campus und die bunten Häuser der Stadt erstreckte, und ich atmete tief durch. Ich nahm das Bild des fast verlassenen Campus in mich auf und versuchte, zu begreifen, dass ich es wirklich geschafft hatte. Ich war hier und fing ein neues Leben an.
Noch schöner wäre es nur, wenn ich die Aufregung und Vorfreude mit jemandem teilen könnte. In einem anderen Leben hätte meine Mom mich hergebracht. Wir hätten uns gemeinsam den Campus angesehen, vielleicht mein Wohnheimzimmer zusammen eingerichtet und uns tränenreich voneinander verabschiedet. Aber ich hatte meiner Mom nie von meinen Collegebewerbungen erzählt und die Antwortbriefe an ein Postfach schicken lassen, das ich heimlich eröffnet hatte. Meine Mom dachte, ich würde mir nach dem Schulabschluss einen richtigen Job suchen. Damit Link uns noch mehr Geld wegnehmen konnte und ich weiter dort feststeckte? Nein.
Ich hatte mich an jedem College beworben, das mir annähernd interessante Möglichkeiten bot, und hatte keinen Mucks darüber gesagt. Auch nicht, als die Zusagen ankamen. Nicht, weil meine Mom es nicht wissen sollte. Sondern weil Link auf keinen Fall davon erfahren durfte. Er hätte diese Info aus ihr herausgeprügelt. Auch Brian wusste es deshalb nicht.
Das College sollte stets mein Ausweg sein. Ich hoffte, auch wenn ich mich heimlich davonstehlen würde, meine Mutter würde es verstehen. Dass ich es tun musste, um neu anzufangen. Fernab von all dem Schmerz.
In diesem Moment wollte ich erleichtert sein und mich freuen, aber es gelang mir nicht so ganz. Immer wieder hatte ich Brians Stimme im Ohr. Die Vorwürfe. Das Leid in seiner Stimme. Die aufkommende Stille um mich herum machte es zunehmend schwerer, nicht hinzuhören. Deshalb zog ich nach wenigen Minuten mein Handy hervor, um meinen Rückweg rauszusuchen. Dann zögerte ich, aus Angst, eine weitere Mail darauf vorzufinden. Das konnte ich heute nicht verkraften.
Ich ließ mein Telefon ausgeschaltet, steckte es wieder in meine Tasche und lief los. Dabei versuchte ich, mich mit dem Gedanken anzufreunden, dass ich den langen Weg zum Campingplatz ohne technische Unterstützung finden musste.
Die Dunkelheit kroch allmählich über den Horizont hinaus, als ich müde zugeben musste, dass ich mich verirrt hatte. Ich stand irgendwo in einer von kleinen Einfamilienhäusern gesäumten Straße und blickte mich ratlos um. Der Wald, den ich bis vor kurzem noch in der Ferne gesehen und als Anhaltspunkt genutzt hatte, war nicht mehr zu entdecken. Unsicher ging ich ein paar Schritte hin und her. Von einem Haus zu meiner Rechten klangen Stimmengewirr und laute Musik. Vielleicht konnte ich jemanden nach dem Weg fragen?
Ich hatte kaum den ersten Schritt auf das Haus zugemacht, da wurde die Tür aufgerissen. Die Musik dröhnte laut heraus, und zwei Gestalten erschienen im Türrahmen. Zögernd trat ich einen Schritt näher und erkannte, dass ein Typ den anderen am Arm gepackt hielt. Einen Moment später verpasste er ihm einen Stoß.
»Sieh zu, dass du verschwindest! Jemanden wie dich brauchen wir hier nicht!«, rief er, und der andere Typ stolperte die kurze Treppe hinab.
Die Tür schlug zu, und plötzlich waren ich und der andere allein.
Er fluchte, tat ein paar wackelige Schritte durch den Vorgarten und stolperte betrunken durch die hellen Rosen.
In der Hoffnung, dass er mich aufgrund der Dunkelheit und seines Alkoholpegels nicht wahrnehmen würde, blieb ich einfach stehen und wartete darauf, dass er sich entfernte. Doch er trat durch die Gartenpforte und ging genau in meine Richtung. Er wäre blind in mich hineingelaufen, hätte ich nicht in letzter Sekunde einen Schritt zur Seite gemacht. Das war der Moment, in dem er mich bemerkte.
»Sorry«, nuschelte er.
Das verbleibende Licht reichte gerade so aus, um zu erkennen, dass er ziemlich gut aussah. Dunkles Haar, markante Wangenknochen und Augen, die beinahe schwarz wirkten und auf meinem Gesicht ruhten.
»Warst du auch auf der Party?« Er lallte ein wenig, aber nicht so sehr, wie ich erwartet hatte.
Ich löste meinen Blick von seinen Augen und schüttelte den Kopf.
»Stimmt«, antwortete er, jetzt etwas klarer. »Du wärst mir aufgefallen.« Sein Blick glitt über mein hellblondes Haar, bis zu den pinken und blauen Spitzen, und blieb an meinem Piercing hängen.
Ich spürte, wie mir bei seiner Musterung die Röte den Hals hinaufkroch. Um uns trotz der Dunkelheit erkennen zu können, waren wir uns unbewusst nähergekommen. Über den Alkohol hinweg roch ich sein herbes Aftershave.
Mich räuspernd trat ich einen Schritt zurück. »Kennst du dich hier aus?« Meine Stimme wirkte unerwartet laut in der verlassenen Straße.
Er lachte auf, und es klang seltsam freudlos. »Ich kenne jede noch so kleine Gasse.«
»Okay«, erwiderte ich beruhigt. »Kannst du mir sagen, wie ich zum Riftwood Campingplatz komme?«
Er schnaubte skeptisch. »Was willst‘n da?«
»Campen?«
Sein Blick glitt über meine Tasche und die Turnschuhe mit den Keilabsätzen. »Sicher«, murmelte er, und schüttelte den Kopf, als versuchte er, klar zu werden. Dann deutete er zum Ende der Straße. »Wenn du dort rechts abbiegst, kommste zu nem Feldweg. Der führt dich in den Wald und direkt zum Campingplatz.«
»Danke.« Ich seufzte erleichtert. »Du hast mir sehr geholfen.«
Ich hatte mich schon umgewandt, da hörte ich erneut seine Stimme.
»Kein Problem. Mach‘s gut, Little Rainbow.«
Als ich mich noch mal umdrehte, ging er bereits in die andere Richtung davon.
3
Andy
Dank der Beschreibung schaffte ich die restliche Strecke zum Campingplatz in kurzer Zeit. Auf dem Weg zu meinem Stellplatz hielt ich noch bei dem kleinen, pinken Häuschen am Platzrand an und warf Rosa, der Platzbesitzerin, einen Stapel Briefmarken und Umschläge in den Briefkasten, die ich am Morgen für sie besorgt hatte.
Rosa war der wunderbarste Mensch, der mir bisher begegnet war. Sie hatte keine Fragen gestellt, als ich vor ein paar Tagen in ihrem Büro stand und wissen wollte, ob ich für längere Zeit einen Platz mieten konnte. Aber nicht, um einen Wohnwagen daraufzustellen, sondern um zu zelten.
Für ein Wohnheimzimmer war ich in diesem Semester zu spät dran, und eine Wohnung konnte ich auf die Schnelle nicht finden. Außerdem war ich auf diesem Platz sicher etwas schwerer zu entdecken, sollte Link nach mir suchen. Denn ich hatte sein gefährliches Versprechen nicht vergessen, was er mir einst gegeben hatte.
Ich weiß, was du denkst. Aber du wirst mir nicht entkommen. Egal wohin du gehst, wo du dich versteckst und wer so dumm sein sollte, dir zu helfen. Es wird damit enden, dass ich dich finde.
Wahrscheinlich wollte er mir mit diesen Worten nur Angst machen. Ebenso wie mit seinen Nachrichten. Angst war seine schärfste Waffe. Sie funktionierte zuverlässig.
Dennoch wollte ich kein Risiko eingehen.
Rosa hatte mich zu einem Stellplatz geführt, der abgelegen lag und zwischen den Bäumen kaum zu sehen war. Dort stand ein alter, schmutziger Wohnwagen, umgeben von einem löchrigen Holzzaun. Der Besitzer war vor einiger Zeit verstorben, und niemand hatte den Wohnwagen abgeholt. Deshalb bot Rosa ihn mir an. Da sie Hilfe bei einigen Erledigungen und Aufgaben brauchte, konnte ich einen Teil der Stellplatzmiete bei ihr abarbeiten. Trotz der Spinnenweben und des Staubs, der mich empfing, hatte ich vor Glück geweint, als ich den Wohnwagen am ersten Abend betreten hatte.
Nach einer stundenlangen Putzaktion glänzte er mittlerweile sowohl von innen als auch von außen, sodass mich der frische Geruch des Allzweckreinigers empfing, als ich jetzt die Tür zu meinem kleinen Heim öffnete. Müde schaltete ich den Wasserkocher ein, den ich mir gleich am Morgen nach meinem Einzug gekauft hatte. Während das Teewasser warm wurde, ließ ich mich auf das Bett in der anderen Ecke des Wohnwagens fallen und zog meine alten und neuen Papiere hervor.
Dustin hatte wirklich großartige Arbeit geleistet. Ich musste unbedingt einen Weg finden, mich bei ihm zu bedanken.
Meine Augen glitten über das neue Foto und wie so oft in den letzten Tagen, erkannte ich mich selbst kaum wieder. Meine braunen Augen wirkten auf eine Art wach und lebendig, die ich nicht von mir kannte. Die langen, dunklen Haare waren einer blassblonden Frisur mit pinken und hellblauen Spitzen gewichen, die knapp unter meinem Kinn endeten.
Mach’s gut, Little Rainbow.
Auf einmal hatte ich das Gesicht des Fremden vor meinen Augen, der mir den Weg gewiesen hatte. Etwas an ihm hatte mich gleichermaßen irritiert wie gefesselt.
Das Wasser kochte, und ich schob die alten Papiere unter mein Bettlaken, bevor ich die neuen in meinem Portemonnaie verstaute und mir einen Tee aufgoss.
Still stand ich mit der Tasse in der Hand in meinem kleinen Wohnwagen und spürte die mittlerweile vertraute Nervosität in mir aufsteigen. Obwohl es beinahe Mitternacht war, stellte ich meine Tasse ab, zog einen meiner Notizblöcke hervor und schrieb all die Dinge auf, die ich in den nächsten Tagen erledigen wollte. Die Jobsuche stand ganz oben auf meiner Liste. Gefolgt von vielen Kleinigkeiten, mit denen ich mich beschäftigen wollte. Ich brauchte noch einige Dinge für die Uni, von Notizheften über Textmarker bis hin zu Karteikarten, weswegen ich eine weitere Liste anfertigte.
Sie war schnell geschrieben, deshalb zog ich im Anschluss meinen Laptop aus der Tasche und öffnete die Geschichte, an der ich aktuell arbeitete. Mit einer Hand griff ich unter mein Kopfkissen und holte das Notizbuch hervor, das dort immer lag. Es enthielt all meine Ideen und Skizzen zu den Charakteren, der Handlung und den Schauplätzen. Falls mir in der Nacht ein guter Gedanke kam, den ich sofort aufschreiben wollte, hielt ich ihn darin fest. Ich füllte es mit Worten, Gedanken, Emotionen und Satzfetzen, die irgendwann hoffentlich ein großes Ganzes ergaben. Das Notizbuch lag aber auch bereit für den Fall, dass ich aus einem Albtraum aufschreckte und mich ablenken musste, was fast jede Nacht geschah.
Heute schrieb ich Seite um Seite, bis mir in der Morgendämmerung vor Erschöpfung endlich die Augen zufielen. Aber es half nichts.
Blut quoll aus der Wunde und tropfte ins Waschbecken.
»Es ist nur ein Kratzer, Andy. Mach kein Drama daraus.«
Wütend blickte ich auf die tiefe Platzwunde an der Stirn meiner Mutter. »Das ist nicht nur ein Kratzer! Das muss genäht werden!«
»Sei nicht albern.« Das Zittern ihrer Stimme verriet sie. Sie hielt ein dünnes Pflaster in der Hand, das sie vorsichtig auf die klaffende Wunde drückte. Innerhalb von Sekunden war es blutdurchtränkt.
Ich schnaubte ungläubig und wandte mich ab. Vor der Badezimmertür zögerte ich einen Moment. Dann durchquerte ich mit schnellen Schritten unser Wohnzimmer, vorbei an Brian, der in der Küche die Scherben unseres Geschirrs aufsammelte. Im Flur schlüpfte ich in meine Sneakers und schnappte mir Links Autoschlüssel vom Haken.
»Wo willst du hin?«
Ich erstarrte. Meine Nackenhaare stellten sich auf, und mir brach der Schweiß aus. Langsam drehte ich mich um. Link blickte mich lauernd an. Die Arme vor dem bulligen Körper verschränkt, versperrte er mir den Weg.
Ich zwang mich, seinen Blick zu erwidern, und zog die Schultern zurück. »Das geht dich einen Scheiß an!«, zischte ich und drängte mich an ihm vorbei.
Alles in mir schrie laut, dass ich ihm nicht den Rücken zukehren durfte. Ich ging weiter, obwohl ich seinen stechenden Blick auf mir spürte.
Zurück im Badezimmer fand ich meine Mutter blass auf dem Badewannenrand sitzend. Sie presste sich ein blutiges Handtuch gegen die Stirn und zitterte merklich.
Ich packte sie am Arm, entschlossen ihr diesmal keinen anderen Ausweg zu lassen, als mir zu folgen. »Komm«, sagte ich barsch. »Wir fahren ins Krankenhaus.«
»Aber Schatz, du kannst doch gar nicht fahren!«
»Ich habe keinen Führerschein. Aber fahren kann ich.«
Entweder war es das Blut, das ihr ins Auge und an der Wange hinablief, oder sie war von meinem harschen Auftreten überrumpelt. Sie ging kommentarlos mit mir. Zumindest, bis wir den Flur erreichten.
Link stand immer noch dort. Bei seinem Anblick blieb meine Mutter wie angewurzelt stehen. Reflexartig stellte ich mich vor sie. Das boshafte Grinsen, das Link zur Schau trug, jagte mir einen Schauer über den Rücken.
»Ihr geht nirgendwo hin.« Link lachte spöttisch. »Du hast ja nicht mal einen Führerschein.«
Hass und Angst brachten mein Herz zum Rasen. Meine Hand schloss sich fester um den Autoschlüssel. Das Metall bohrte sich in meine Haut. Ich spürte, wie meine Mutter zurückweichen wollte, ließ ihren Arm aber nicht los.
»Warum?«, schleuderte ich ihm entgegen. »Hast du Angst vor den Fragen, die sie uns stellen werden? Dass du mit deinen Lügen nicht mehr durchkommst?«
Links Grinsen wurde noch breiter. »Eins solltest du dir merken: Ich komme mit allem durch.«
4
Hunter
Logan ächzte, als wir das Bücherregal hinter der letzten Treppenstufe einen Moment abstellten. Er lehnte sich an die Wand des Flurs und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Kannst du mir noch mal erklären, warum du dir keins der geräumigen Einzelzimmer gönnst, sondern bei mir einziehst?«
Schnaufend änderte ich meinen Griff, mit dem ich das Regal festhielt. »Sicher. Wenn du mir erklärst, warum du nicht bei den Sharks wohnst?«
Logan verdrehte die Augen.
»Oder versuchst du mir damit zu sagen, dass du mich nicht als Mitbewohner willst?«, fragte ich.
»Unsinn. Es wundert mich nur.« Auf mein Zeichen hin fasste er nach dem unteren Ende des Regals und dirigierte mich um eine weitere Ecke des Wohnheims, während ich rückwärtsging. »Wir werden eine tolle Zeit zusammen haben. Das letzte Jahr war total öde ohne dich.«
Mit einem Blick über die Schulter stellte ich erleichtert fest, dass wir unser Zimmer erreicht hatten. Kaum war ich über dessen Schwelle getreten, ließ ich das Regal auf den Boden sinken. Ich sah es als ein schlechtes Omen, dass der Fahrstuhl ausgerechnet heute defekt war.
Mein bester Freund schüttelte seine Arme aus, wobei die dunklen Sterne auf seinem linken Oberarm tanzten.
Ein letztes Mal hoben wir das Regal an und hievten es neben das freie Bett direkt gegenüber der Fenster.
Zur Grundausstattung jedes Wohnheimzimmers gehörten ein Bett, ein Schreibtisch mit Stuhl, ein Kleiderschrank und ein Bücherregal pro Bewohner. Mir war jedoch schnell klar geworden, dass ein einzelnes Regal für mich nicht ausreichen würde. Selbst mit dem zusätzlichen hatte ich nicht genug Platz für all meine Bücher, doch ein weiteres Möbelstück passte eindeutig nicht in den Raum. Es wäre tatsächlich angenehmer gewesen, eines der großen Einzelzimmer zu mieten. Nicht wegen Logan, er war wie ein Bruder für mich und wir verbrachten sowieso fast den ganzen Tag miteinander. Sondern weil ich in einem Einzelzimmer genug Platz gehabt hätte. Ich hätte mein Schlafzimmer zu Hause komplett ausräumen und diese Verbindung kappen können.
»Du grübelst«, stellte Logan fest. Sein blonder Schopf verschwand für einen Augenblick unter dem Schreibtisch, wo ein kleiner Kühlschrank stand. Kurz darauf flog mir eine Dose Cola entgegen. Lässig fing ich sie auf und ließ mich auf die noch nackte Matratze sinken.
»Also«, nahm Logan den Faden wieder auf und setzte sich auf den Schreibtischstuhl. »Was soll das mit dem Zimmer? Wenn ich mich richtig erinnere, hätte deine Mutter dir sogar eine ganze Wohnung in Campusnähe gemietet. Wieso ziehst du da lieber ins Wohnheim und noch dazu zu mir?«
Ich grunzte mürrisch und trank einen Schluck. Das Gespräch mit meiner Mom hatte ich noch gut im Kopf. Kurz nachdem ich meine Zusage von der AU bekommen hatte, hatte meine Mutter überall herumerzählt, was sie mir alles ermöglichen würde. Die schönste Wohnung, die besten Praktika und Lehrbücher. Ein Bray musste nichts aus der Bibliothek ausleihen. Vielleicht hoffte sie, dass so alle den Skandal vergaßen, der Maias Verschwinden vorausging.
»Ich will es nicht mehr, Logan«, antwortete ich, als sein forschender Blick unangenehm wurde. »Das Geld. Den Namen. Die Lügen für das Image. Ich hab die Schnauze voll davon. Je weniger Geld ich von ihnen nehmen muss, desto besser.«
»Das wird deine Mom nicht begeistern.«
Gleichgültig zuckte ich die Schultern. »Sie wird sich schon eine gute Story einfallen lassen. Das kann sie schließlich am besten. Ich sehe den Artikel im nächsten Klatschblatt schon vor mir. ›Wohlhabender Junge beweist Bodenständigkeit‹ – oder irgendwie so was.«
Logan leerte seine Dose in einem Zug und angelte sich eine weitere aus dem Kühlschrank. Als bräuchte er das Koffein. Durch seine Adern war immer schon reine Energie geflossen. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn je vollkommen still sitzen gesehen zu haben. Selbst jetzt wippte er unablässig mit den Füßen auf und ab. »Und …« Er zögerte, und ich ahnte, was er fragen würde. »Hast du etwas Neues gehört. Über Maia?«
Ich antwortete nicht. Logan wusste, dass ich es ihm erzählt hätte, wenn ich etwas über den Verbleib meiner Schwester herausgefunden hätte. Er fragte mich nur, weil er mein bester Freund war. Und weil sonst niemand fragte. Denn wieso sollte man sich bei dem gewalttätigen Bruder erkundigen, was mit seiner suchtkranken Schwester passiert war?
»Lass uns weitermachen.« Ich stand auf. »Unten warten noch zehn Kisten Bücher auf uns. Und ich will heute noch trainieren.«
»Du weißt, dass es nicht deine Schuld ist, oder?«, setzte Logan unser Gespräch ungerührt fort, während er mir durch die Flure folgte. »Maia … In ihrer Lage ist es nicht so einfach, sich jemandem entgegenzustellen. Diese Situation zu bewältigen, wäre jedem anderen schon schwergefallen. Für sie war es noch mal schwerer.«
Ich spürte, wie sich die Wut in mir regte, und hielt an. »Sie war nicht immer so«, erwiderte ich hart. »Sie war selbstbewusst und stark. Immer fröhlich.« Mühsam schluckte ich.
»Ich weiß.«
»Aber meine Mom hat es als Unsinn abgetan«, fuhr ich fort, »und mein Dad hat es immer zugelassen. Als Maia verschwand -« Ich brach ab und raufte mir die Haare. Ich ertrug die Gefühle nicht, die sich in mir nach oben kämpften. »Sie hatte es unter Kontrolle. Bis zu dieser Geschichte in der Schule. Meine Eltern haben einen Scheiß getan, um ihr zu helfen. Und jetzt machen sie weiter, als wäre nichts? Wie soll ich das Maia erklären? Sie ist erst fünfzehn und musste schon so viel ertragen. Wie soll sie das auch noch verkraften? Was, wenn sie wieder …« Meine Stimme versagte. Ich konnte es nicht aussprechen. Es war bereits Monate her, und dennoch fehlte mir die Kraft, es in Worte zu fassen.
Mitfühlend legte Logan mir eine Hand auf die Schulter. Nur mühsam konnte ich den Drang unterdrücken, sie abzuschütteln. Mitleid. Wie Säure brannte es auf meiner Haut.
»Es ist scheiße, Hunter«, sagte er. »Ich weiß das. Aber mit dieser Krankheit stehst du immer an der Schwelle. Auch ohne den Mist, den Maia erlebt hat. Wir müssen einfach für sie da sein, wenn sie zurückkommt.«
Ich atmete tief durch und lief weiter. Logan hatte recht, und ich wusste es. Doch Emotionen und Verstand gingen nicht immer Hand in Hand.
»Meinst du, ich hätte zu Hause bleiben sollen? Damit ich da bin, wenn sie zurückkommt? Glaubst du …« Die letzten Worte konnte ich nicht aussprechen. Meine Sorge, dass Maia sich etwas angetan hatte, das schlimmer war als alles, was sie bisher durchgemacht hatte. Dass sie nicht nur verschwunden war. Sondern tot. Weil ich dieses Mal nicht dagewesen war. Sie nicht rechtzeitig gefunden hatte.
Logan schüttelte den Kopf. »Nein, ich denke, der Abstand tut dir gut. Aber ich glaube nicht, dass das ausreicht, damit du endlich zur Ruhe kommst. Wann hast du das letzte Mal richtig geschlafen? Dich auf etwas anderes konzentriert als auf Maia? Ich sage das nicht gerne, aber sie ist nun seit fast einem halben Jahr verschwunden. Niemand hat auch nur die geringste Ahnung, wo sie ist. Meinst du nicht, du hast dir eine Pause verdient?«
Ich antwortete nicht. Stattdessen schluckte ich gegen den Kloß in meinem Hals an, der sich dort bei seinen Worten bildete. Ich wünschte, es wäre so einfach. Wenn ich doch weitermachen könnte. An etwas anderes denken könnte.
Wir traten nach draußen, und die Sonne stach mir für einen Moment in den müden Augen. Sicher brauchte ich mal eine Pause, doch heute Abend fand eine Party statt, auf der ein paar von Maias Freunden sein würden. Ich musste mich dort sehen lassen.
Plötzlich spürte ich eine Erinnerung von der gestrigen Party an meine Schläfe klopfen. Ich wusste nicht mehr, was genau geschehen war. Denn ich hatte mir ein paar Tequila zu viel gegönnt. Irgendetwas war mit einer Ziege gewesen, aber alles in allem war die Nacht in meiner Erinnerung so verschwommen wie eine Kreidezeichnung im Regen. Man hatte mich rausgeschmissen, nachdem ich begonnen hatte, die anderen Partygäste nach Drogen zu fragen. Natürlich nicht, um das Zeug selbst zu nehmen, sondern nur in der Hoffnung, dass sich einer der Dealer offen zeigen würde.
Dann war auf einmal dieses Mädchen aufgetaucht. Mit Haaren wie ein Regenbogen und einem Ausdruck in den Augen, der mir bekannt vorkam. Weil ich mich auch so fühlte. Als wäre mein Innerstes ein verbeultes und zerkratztes Blech. Stark beschädigt, aber nie zerbrochen.
Bis zum Abend hatten Logan und ich das Zimmer fertig eingeräumt. Ich sortierte meine Bücher nach Genre und Autor in die Regale und stapelte alle, die nicht mehr hineinpassten, auf dem Boden neben meinem Bett und unter dem Schreibtisch. Vielleicht sollte ich mir doch einen E-Reader besorgen. Aber nichts ging über den Geruch von echtem, bedrucktem Papier, das beim Umblättern leise raschelte.
Als ich mir ein frisches Shirt für die Party überzog, fiel mein Blick auf mein Handy. Das Display zeigte immer noch die Nachricht an, die mein Vater mir am Nachmittag geschickt hatte.
Ich hoffe, du bist gut angekommen.
Grüß Logan von mir. Dad.
Zwei Sätze, die bedeutungsloser nicht sein könnten und die ich dennoch bisher nicht beantwortet hatte, weil ich nicht wusste, wie. Ich nahm das Handy zur Hand und ließ mich aufs Bett sinken. Für einen Moment überlegte ich, ob ich ihn anrufen sollte. Die unangenehme Erinnerung an unser letztes Gespräch hielt mich davon ab. Ich ertrug keinen weiteren Dialog, bei dem letztendlich niemand von uns etwas sagte. Oder bei dem Mom heimlich lauschte, um unsere Worte im Nachhinein gegen uns zu verwenden.
Mein Vater und ich, wir hatten früher eine besondere Beziehung gehabt. Mit Moms Erfolg als Bürgermeisterin änderte sich ihr Verhalten jedoch, und irgendwie zog sie ihn mit sich. Sie war schon immer die Stärkere der beiden gewesen. Manchmal denke ich, dass es nie so weit gekommen wäre, wenn mein Dad sich ihr häufiger entgegengestellt hätte. Stattdessen verschwand er mehr und mehr in ihrem Schatten, und eine Katastrophe jagte die nächste, bis selbst ich Maia nicht mehr beschützen konnte. Die Geschehnisse des letzten Jahres hatten die langsam bröckelnde Beziehung zu meinem Dad endgültig zu Staub zerfallen lassen. Mit Maia verschwand auch jede Form von Nähe und Geborgenheit in meiner Familie.
Soweit ich zurückdenken konnte, war Maia unsere Sonne gewesen. Sie war unser Mittelpunkt. Wir bewegten uns um sie herum und taten alles für sie. Seit ich sie das erste Mal sah, so winzig, der kleine Kopf nur mit einem dünnen Flaum bedeckt, hatte ich dieses unbändige Gefühl, sie schützen zu müssen.
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