Accidental Knight - Nicole Snow - E-Book

Accidental Knight E-Book

Nicole Snow

3,5

Beschreibung

Als mein Großvater starb, erbte ich alles – auch Drake. Er sollte mich beschützen und dafür sorgen, dass mir nichts passiert. Wovor? Keinen blassen Schimmer! Wenn er nur wenigstens reden würde und nicht so schweigsam wäre. Dann hätte ich eine Möglichkeit, den Grund herauszufinden. Keine Chance! Der Typ sagt nichts. Doch auf Dauer kann er mir nicht entkommen. Und das ein oder andere werde ich diesem Muskelmann schon noch entlocken können …

Alle Titel der "Marriage by Mistake Reihe" können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Wir wünschen viel Vergnügen.

Ihr »more – Immer mit Liebe« –Team

Über das Buch

Als mein Großvater starb, erbte ich alles – auch Drake. Er sollte mich beschützen und dafür sorgen, dass mir nichts passiert. Wovor? Keinen blassen Schimmer! Wenn er nur wenigstens reden würde und nicht so schweigsam wäre. Dann hätte ich eine Möglichkeit, den Grund herauszufinden. Keine Chance! Der Typ sagt nichts. Doch auf Dauer kann er mir nicht entkommen. Und das ein oder andere werde ich diesem Muskelmann schon noch entlocken können …

Alle Titel der »Marriage by Mistake Reihe« können unabhängig voneinander gelesen werden.

Über Nicole Snow

Nicole Snow ist eine Wall Street Journal und USA Today Bestseller Autorin. Sie entdeckte ihre Liebe zum Schreiben, als sie sich in ihren Mittagspausen oder in langweiligen Büromeetings Liebesszenen ausdachte und sich in Liebesgeschichten wegträumte.

Im Mittelpunkt von Nicole Snows Büchern stehen sexy Alpha-Helden, viel Spannung und noch mehr Leidenschaft.

Cécile Lecaux ist Diplom-Übersetzerin und Autorin. Sie lebt in der Nähe von Köln.

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Nicole Snow

Accidental Knight – Drake

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt vonCécile G. Lecaux

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog: Kein verflixtes siebtes Jahr (Bella)

Impressum

Kapitel 1

Altlasten (Bella)

Meine Nerven machen das nicht mehr lange mit. Ich beiße die Zähne zusammen, da ich weiß, dass das erst der Anfang ist.

Oh, Grandpa, ich vermisse dich jetzt schon so sehr. Und doch bin ich auch ein Stück weit froh, dass du das Gezanke nicht mehr miterleben musst.

Ich weiß nicht, was ich schlimmer finde: Dass mein Großvater nicht mehr da ist oder dass auch sein Tod der Egozentrik meiner Eltern keinen Dämpfer verpasst hat.

Ich tupfe mir mit einem zerknüllten Taschentuch die Tränen aus den Augenwinkeln und öffne dann langsam die Augen, um mich der Realität zu stellen.

Eigentlich sollte die Trauer inzwischen zumindest zeitweise ein wenig nachgelassen haben, aber ich heule schon seit Tagen nonstop. Erst, sollte ich wohl sagen, da es mir vorkommt, als wären es schon Jahre. Grandpa Jonah – Gramps – war die einzige Konstante in meinem Leben, mein Fels in der Brandung.

Und jetzt ist es, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen und als wäre ich in ein tiefes Loch gefallen.

Meine Eltern sind scharf auf die Kohle. Das ist an sich nichts Neues. In ihrem Leben dreht sich alles nur ums Geld, aber sie haben schon angefangen, Pläne zu schmieden, noch bevor Grandpa unter der Erde war.

Vaters neues Weingut in Nordkalifornien.

Mutters neue Sauna mit japanischem Garten, der ganz bestimmt von den besten japanischen Gärtnern angelegt wird, die sie extra aus Tokio einfliegen lässt.

Neue hanebüchene Investitionspläne, von denen ich jetzt schon weiß, dass sie in einem Fiasko enden werden. Anscheinend haben meine Eltern aus ihren vergangenen Fehlern nichts gelernt.

Du hättest ihnen schon vor Jahren den Geldhahn zudrehen sollen, Gramps!

Doch schon im nächsten Moment plagt mich das schlechte Gewissen. Ich bin ja nicht viel besser als sie. Das College, meine gescheiterten Geschäftsvorhaben … ohne meinen geduldigen, großzügigen Sponsor in Gestalt meines Großvaters Jonah Reed säße ich selbst in der Patsche.

Zwar behaupten meine Eltern, sie seien für das alles aufgekommen, aber ich weiß es besser. Gramps hat alles bezahlt. Er war der wunderbarste Mensch auf der ganzen Welt, und an manchen Tagen, so wie heute, frage ich mich, ob mein Vater auch nur ein einziges gutes Gen von ihm geerbt hat.

Wenn ich die Energie aufbringen könnte, würde ich meinen Eltern Vorwürfe machen wegen ihrer Schamlosigkeit und ihrer Gier. Sie sind ja so enttäuschend berechenbar!

Aber wozu? Es wäre sinnlos.

Sie sind erst in allerletzter Minute eingetroffen. Wir mussten uns um nichts kümmern.

Gramps hat seinen Abgang lange im Voraus bis ins Detail geplant.

Einer seiner Angestellten hat gemeinsam mit seinem Anwalt alles arrangiert, einschließlich der heutigen Besprechung.

Wenigstens bin ich schon gestern aus North Dakota angereist und nicht erst heute Morgen, fünf Minuten vor dem Abtransport der Urne zum Friedhof, beim Bestatter aufgeschlagen. Aber meine Eltern fanden das offenbar völlig ausreichend und normal.

Tatsächlich hatten sie es so eilig, sich in die Kanzlei des Testamentsvollstreckers zu begeben, dass sie nicht einmal an der eigentlichen Bestattung teilgenommen haben. Einen Trauergottesdienst für Gramps gab es nicht. Keine Litanei von Lobgesängen auf den großartigen Menschen, der er gewesen ist. Er ist so einfach und still aus dem Leben geschieden, wie er seinerzeit hineingeboren worden ist.

Die zahllosen Kränze, Blumen und Kondolenzkarten, die aus dem ganzen Land eingetroffen sind, beweisen jedoch, wie viele Menschen ihm in Dankbarkeit und Anerkennung verbunden waren. Ich habe heute Morgen beim Bestatter jede einzelne Karte gelesen, als ich ganz allein neben der kleinen Urne saß, die die Asche des einzigen Menschen enthielt, der mir je wirklich etwas bedeutet hat.

Gramps war der einzige Mensch, der mich geliebt hat, bedingungslos, so wie ich bin, mit all meinen Schwächen.

»Würden Sie mich bitte nicht ständig unterbrechen«, weist Reynold Sheridan, der Anwalt und Testamentsvollstrecker, in dessen nüchternem Büro wir uns befinden, meine Eltern zurecht. »Dann kämen wir deutlich schneller voran.«

Mutter schnaubt beleidigt. Vater tätschelt ihren Arm. Ich presse die Lippen zusammen.

Einfach nur peinlich!

Aber der Anwalt, der sie so streng in die Schranken weist, gefällt mir. Der lässt sich nicht von ihnen auf der Nase herumtanzen.

Sie sind es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen, trotzdem sollte ihnen klar sein, dass sie sich gerade daneben benehmen. Der Anwalt lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, und ich vermute, dass Gramps ihn vorgewarnt hat.

Ich stöhne innerlich.

Was mache ich überhaupt hier? Ich kann mir sowieso denken, worauf es hinausläuft.

Mein Vater ist ein Einzelkind, also wird er – werden sie – das gesamte Vermögen erben, einschließlich der riesigen Ranch und der Ölgesellschaft, deren Wert im zehnstelligen Bereich angesiedelt ist.

Die beiden sind schon länger verheiratet, als ich auf der Welt bin. Meine Zeugung einige Jahre später war ein »Unfall«. Das einzige Missgeschick ihres Lebens, das sie nicht mit Geld aus der Welt schaffen konnten. Erst recht nicht mit Grandpas, der sich wohl als Einziger über den Nachwuchs gefreut hat.

Ich weiß nicht, wie oft ich mir anhören musste, dass sie längst ein drittes Haus auf Lanai oder irgendeiner anderen exotischen Insel besitzen würden, wenn »das mit mir« nicht passiert wäre.

Sie hielten beide nichts davon, ein Kind im Ausland großzuziehen.

Na ja, streng genommen war es auch nicht lustig, ein Kind in den Staaten aufzuziehen. Noch etwas, das sie mir zum Vorwurf gemacht haben.

Gut, wir sind reich, auch ohne das Vermögen, das Dad heute erbt, und ich sollte dankbar sein.

Mir hat es materiell nie an etwas gemangelt, und was meine Eltern betrifft, waren sie auch nicht direkt Monster. Da gibt es zweifellos schlimmere. Und ich hatte ja Gramps.

Bis jetzt. Jetzt bleibt uns nur noch sein Vermögen, und schon bald wird auch der einzige Ort, den ich je als wirkliches Zuhause empfunden habe, veräußert sein: die Reed Ranch.

Als ich noch klein war, habe ich mich immer gefreut, wenn meine Eltern – selbstverständlich ohne mich – in den Urlaub gefahren sind, weil ich dann zu Grandpa konnte. Ich habe, solange ich denken kann, jeden Sommer bei ihm verbracht sowie fast alle Schulferien.

Manchmal haben meine Eltern mich sogar bei ihm geparkt, wenn ich eigentlich Unterricht gehabt hätte, weil sie dringend eine »Auszeit« brauchten, um sich zu erholen.

Ich habe nie verstanden, wovon die beiden sich hätten erholen müssen, da keiner von beiden je ernsthaft einer Arbeit nachgegangen ist. Dad ist im Vorstand von North Earhart Oil, was aber im Grunde nur eine Scheinposition ist, aber natürlich besser klingt als zuzugeben, dass er vom väterlichen Unternehmen faktisch großzügig dafür bezahlt wird, dass er sich aus den Geschäften heraushält.

Ich weiß nicht, was zwischen den beiden vorgefallen ist, warum es böses Blut gab, außer dass Grandpa mir einmal sagte, für ihn und seinen Sohn sei es nicht gut, zu viel Zeit miteinander zu verbringen. Er hat ihn mehr oder weniger dafür bezahlt, sich fernzuhalten.

Entspannte, fröhliche Familienessen gab es also bei uns nicht. Auch nicht an den Feiertagen, da zu befürchten stand, dass jemand zu tief ins Glas schaute und womöglich bei Tisch ein schockierendes Familiengeheimnis ausplauderte. Ich war immer entweder mit Gramps oder mit meinen Eltern zusammen. Zwei Parallelwelten, die sich niemals überschnitten.

Nur dass ich zuletzt nicht mehr viel Zeit bei Gramps auf der Ranch verbracht habe.

Wieder verspüre ich nagende Schuldgefühle.

Mich hat niemand dafür bezahlt, dass ich wegbleibe. Und doch sind volle sechs Jahre vergangen, seit ich das letzte Mal hier in Dallas, North Dakota, war.

Wie die Zeit vergeht! Den letzten Sommer habe ich nach meinem Highschool-Abschluss bei Gramps verbracht, vor meinem Umzug nach Kalifornien, wo ich studiert habe.

Sommerferien gab es nicht mehr. Genau genommen gab es gar keine Ferien mehr. In diesen sechs Jahren war ich vollauf damit beschäftigt, erwachsen zu werden und mein eigenes Leben zu leben.

Heißt es nicht, man solle wohlüberlegt handeln im Leben, insbesondere in Finanzdingen?

Ich habe das nicht getan, und urplötzlich war mein erstes Unternehmen pleite, und ich arbeitete wie verrückt, um den Bankrott des zweiten abzuwenden. Inzwischen habe ich bereits meine dritte Firma aufgelöst.

Drei Versuche, Bella. Das war’s, du bist raus!

Ich wünschte, ich hätte schon aus dem ersten Scheitern etwas gelernt. Immobilien, Kalifornien und ich. Das konnte nicht gut gehen.

Nein, ich habe nicht mein letztes Hemd verloren, wie Gramps es genannt hätte, aber ich hatte jedes Mal größte Mühe, meinen Eltern ihr Geld zurückzuzahlen, etwas, worauf mein Grandpa immer bestanden hat, bevor ich mich ins nächste Abenteuer stürzen durfte.

Oder genauer: meine nächste Pleite.

Wenn ich nur zehn Cent bekommen hätte für jedes Mal, das ich mir gewünscht habe, ich wäre daheim auf der Ranch, wäre ich heute reicher, als meine Eltern es sind – oder am Ende dieses elenden Termins sein werden.

Ich male mir die kommenden düsteren Monate aus.

Zuerst werden sie die alte Ranch verkaufen, so viel steht fest.

Mom hat sie gehasst, also tut Dad das auch. Tatsächlich ist er damals ihretwegen von dort weg und ist nie wieder zurückgekehrt. Sie wollte weg aus der Stadt und wusste, dass mein Vater ihr Ticket zum Mond war. Es hat funktioniert, und es »funktioniert« seit mehr als zwanzig Jahren für die wohl verkorksteste Familie auf Erden.

Das ungläubige Japsen meiner Mutter und der zornige Ausruf meines Vaters holen mich in die Gegenwart zurück.

»Das kann nicht sein!«, schreit mein Dad mit erhobenem Zeigefinger. »Sie sind doch ein vernünftiger Mann. Niemals hätte mein Vater ein solches Testament aufgesetzt. Da ist etwas schiefgelaufen. Das kann so unmöglich richtig sein.«

Ich halte die Luft an und frage mich, was ich verpasst habe, dass sie so plötzlich von ungeduldig zu stinkwütend übergegangen sind.

»Das hat so seine Richtigkeit, Sir. Da steht es«, entgegnet Sheridan ungerührt und lässt die Lesebrille auf die Nasenspitze gleiten. »Jonahs Testament ist bemerkenswert detailliert. Jede Aktie, jedes Konto, jeder Penny, jeder Anteil an North Earhart Oil und jeder sonstige Besitz fällt an seine Enkelin, Miss Bella Reed.« Er wirft mir über den Rand der Brille hinweg einen Blick zu. »Annabelle Amelia Reed, um genau zu sein.«

Heilige Scheiße! Das bin ich. Annabelle Amelia Reed.

Benannt nach der berühmten Flugpionierin Amelia Earhart, von der Gramps immer behauptet hat, sie wäre eine entfernte Verwandte. Er war der Einzige, der aus Annabelle und Amelia Bella gemacht und mich so genannt hat.

Allein schon aus diesem Grund, weil in dem Testament »Bella« steht, muss ich nachfragen. »Moment. Wie bitte?«

»Jonah Reed war senil!«, erklärt Mom eiskalt. »Das war er schon bei unserer ersten Begegnung. Ich gehe nicht von einem Fehler aus, Gary.«

Sie wirft meinem Vater einen Blick zu, der sich die Nasenwurzel massiert und etwas murmelt, das nach einem Fluch klingt.

»Das ist ein kranker Scherz. Der verrückte alte Mann wollte uns aus dem Grab heraus noch einmal verhöhnen. Hören Sie, Mr. Sheridan. Auf keinen Fall erbt Annabelle das ganze Vermögen. Sie ist viel zu jung.«

Ich muss mir ein abfälliges Schnauben verkneifen bei dieser lächerlichen Argumentation. Ihr Gesicht wirkt seltsam starr, was, wie ich weiß, ihren regelmäßigen Botox-Injektionen geschuldet ist, aber ihr Tonfall ist umso ausdrucksvoller. Sie war schon immer eifersüchtig auf meine enge Beziehung zu Gramps.

Natürlich immer nur dann, wenn es ihr nicht gerade zum Vorteil gereichte, immerhin war es praktisch, dass sie mich jederzeit auf die Ranch abschieben konnte. Ansonsten fand sie, dass der alte Mann sich in Dinge einmischte, die ihn nichts angingen, wie beispielsweise meine Erziehung.

Es war hässlich. So wie jetzt.

»Sie ist über einundzwanzig«, entgegnet Sheridan nüchtern. »Somit also volljährig und nach Bundesgesetz und geltendem Recht des Staats North Dakota erbberechtigt. Sie ist also rechtmäßige Alleinerbin von Mr. Reed.« Der Hauch eines Lächelns umspielt seine Lippen, als er hinzufügt: »Mr. Edison eingeschlossen.«

Edison! Mein Herz setzt einen Schlag aus. »Im Ernst … er lebt noch?«

»Er ist sogar überaus lebendig und so schwierig wie eh und je«, bestätigt Sheridan mit einem Grinsen.

Edison ist das klügste Pferd des Planeten. Er muss inzwischen über dreißig sein, was richtig alt ist für ein Pferd.

Ich muss lächeln. Ich kann mich so gut an ihn erinnern, als hätte ich ihn gestern noch gesehen: Er ist lackschwarz mit einer weißen Blesse und ein wahrer Houdini. Vor ihm ist kein Tor und kein Zaun sicher.

Gramps hat Edison bei unseren letzten Telefonaten nicht erwähnt, und ich habe mich nicht getraut zu fragen, weil ich Angst hatte, er könnte tot sein.

Gramps hat dieses Pferd ebenso sehr geliebt wie ich. Immerhin war er in meiner Kindheit mein bester Freund und liebster Spielgefährte.

»Lächerlich! Was soll sie denn bitte mit einer Ranch und einer Ölgesellschaft mitten im Nirgendwo anfangen?«, sagt meine Mutter schnippisch.

Sheridan hebt eine Braue. »Was immer sie möchte, Mrs. Reed.«

»Das geht nicht. Sie hat Verpflichtungen in Kalifornien.« Mutter wirft mir einen bohrenden Blick zu, die Lippen geschürzt, als wartete sie darauf, dass ich ihr beipflichte. Sag was, verdammt noch mal, sagen ihre Augen.

»Also eigentlich … nicht. Seit der Auflösung meiner Firma letzte Woche habe ich keinerlei Verpflichtungen mehr.« Im nächsten Moment zucke ich zusammen, wohl wissend, dass das nicht das war, was sie hören wollte.

Die Situation ist schon schlimm genug. Andererseits kann ich vor meinem geistigen Auge sehen, wie Gramps mir zuzwinkert.

Dad schüttelt nur den Kopf und wendet den Blick ab. Er ist zutiefst schockiert und muss das erst mal sacken lassen.

»Miss Reed, an die Erbschaft sind ein paar Bedingungen geknüpft, über die ich Sie im Anschluss unter vier Augen unterrichten werde.« Hierauf richtet Sheridan seinen stoischen und ein wenig müden Blick wieder auf meine Eltern. »Auch das wurde so im Testament verfügt.«

»Was Sie nicht sagen.« Mutter schäumt vor Wut. »Und das nach allem, was wir für sie getan haben.«

Sie nimmt ihre blau-weiße gesteppte Gucci-Handtasche vom Boden auf, die perfekt zu ihrem Outfit passt. Meine Mutter legt größten Wert darauf, ihre Accessoires auf ihre Kleidung abzustimmen. »Mir reicht’s. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie derart beleidigt worden.« Sie steht auf. »Komm, Gary. Wir gehen.«

Mein Vater gehorcht. Der Blick, den er mir zuwirft, als er aufsteht, ist beinahe mitfühlend. Einen Sekundenbruchteil erinnert er mich vage an Grandpa, vor allem seine Augen, die tiefgrün sind, so wie meine.

Er wendet sich noch einmal an den Anwalt. »Habe ich das richtig verstanden, dass wir draußen warten sollen?«

Sheridan erhebt sich, eine Bewegung, die ewig zu dauern scheint, weil er so groß und dürr ist wie eine Bohnenstange.

»Ob Sie warten, ist Ihnen überlassen«, sagt er. »Sie können aber auch gerne ins Hotel fahren oder auf dem Friedhof vorbeischauen.«

Eine Sekunde sind meine Eltern wie versteinert.

Er weiß, dass sie nicht zugegen waren, als die kleine Urne bestattet wurde. Nur ich war dort. Die einzige Menschenseele abgesehen von dem Bestatter.

»Also bitte! In dieses Hotel?«, schimpft Mom und marschiert hoch erhobenen Hauptes zur Tür. »Hotelketten sind mir ein Gräuel. Haben Sie eine Ahnung, was die Bleiche in den Laken mit meiner Haut macht?«

Ich versuche, nicht die Augen zu verdrehen. Wenn wir doch nur die Hälfte ihrer Macken auf die Bettwäsche zurückführen könnten.

»Wir warten in der Lobby, Annabelle«, sagt Dad und eilt seiner Frau hinterher, um ihr die Tür zu öffnen.

Ich nicke und schlucke den Kloß in meinem Hals herunter, weil ich ehrlich wünschte, ich müsste das nicht alleine durchstehen.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten?«, fragt Sheridan, als die Tür mit einem Klicken zufällt und wir allein in seinem Büro zurückbleiben. »Kaffee? Eine Limonade? Ein Glas Wasser?«

Ich schüttle den Kopf, erleichtert, dass ich dazu noch fähig bin. Ich fühle mich ganz steif und sehr verunsichert. Ich habe bislang nur drei Insolvenzen vorzuweisen, meist mit Immobiliengeschäften, von denen ich mir einen satten Profit erhofft hatte. Wie sollte ich jemals ein so komplexes und verzweigtes Imperium leiten wie jenes, das Grandpa erfolgreich aufgebaut und geleitet hat? Wie könnte ich dieser Herausforderung je gerecht werden?

Eine Ölgesellschaft! Ich kenne noch nicht einmal den tagesaktuellen Benzinpreis!

Mom hat wahrscheinlich recht. Ich kann das nicht.

Panik steigt in mir auf.

Mr. Sheridan lässt sich bedächtig auf einen Stuhl zurücksinken und mustert mich dabei aufmerksam. »Verzeihen Sie, Miss Reed. Ich hatte kürzlich eine Rücken-OP und muss mich noch schonen.«

Ich nicke wieder und sage dann höflich: »Ich hoffe, Sie sind bald wieder auf dem Damm. Gramps ist auch vor ungefähr zehn Jahren am Rücken operiert worden, und ein Jahr später war er wieder fit wie ein Turnschuh.« Gott. Ich fühle mich hier so was von fehl am Platz.

»Dann hoffe ich mal, dass es bei mir auch so gut läuft. Sie brauchen übrigens keine Angst zu haben, glauben Sie mir. Sie stehen mit dieser Aufgabe nicht allein da. Ihr Großvater war ein umsichtiger und vorausschauender Mann. Er hat mich sehr großzügig dafür bezahlt, dass ich Sie berate, solange es nötig ist. Darüber hinaus steht Ihnen sein Freund zur Seite, dem er rückhaltlos vertraut hat und der ebenfalls im Testament geführt wird. Mr. Larkin wird Ihnen alles besorgen, was Sie brauchen.«

Sein Freund? Mr. Larkin?

Ich weiß, dass Gramps jemanden hatte, der ihn daheim unterstützt, aber abgesehen von seinem Namen weiß ich nicht das Geringste über diesen Mann. Gramps hat nie viel von ihm erzählt. Er hat nur ab und an seinen »Helfer« erwähnt. Jemanden, der ihm auf der Ranch zur Hand gegangen ist und ihm auch die eine oder andere geschäftliche Angelegenheit abgenommen hat.

Die Ranch ist zwar ziemlich groß, wird aber nicht mehr so aufwendig bewirtschaftet wie früher. Gramps hat schon vor Jahren die Rinder und Hühner abgeschafft und den Großteil der Ländereien verpachtet. Besagter Mr. Larkin ist wohl so was wie ein Hausmeister, der die schweren Arbeiten erledigt hat.

Ich war froh, dass er nicht allein war auf der Ranch. Jetzt wünschte ich, ich hätte mich mehr dafür interessiert, aber jetzt wird mir bewusst, dass es bei unseren Telefonaten immer nur um mich gegangen ist. Ich war Grandpas Lieblingsthema. Vielleicht weil ich mich nicht mehr habe blicken lassen. Er wollte immer ganz genau wissen, was ich mache und wann ich ihn besuchen komme. Wir haben stundenlang geplaudert, auch wenn ich die vielen geplanten Besuche auf der Ranch immer wieder abgesagt habe, was ich heute bitter bereue.

Gramps war immer bestens informiert. Über mein Leben. Meine Träume. Meine Erfolge. All die positiven Dinge, die ein liebender Großvater wissen möchte.

Und jetzt sitze ich hier. Wenigstens bin ich nicht ganz auf mich allein gestellt und habe Hilfe: einen in die Jahre gekommenen Anwalt, einen alten Freund meines Großvaters und ein altes Pferd.

Ich kann nur hoffen, dass sie mir nicht alle davonsterben.

Im nächsten Moment schüttle ich beschämt den Kopf. Was für ein furchtbarer, egoistischer Gedanke. Ich hoffe, dass Moms Egozentrik nicht allmählich auf mich abfärbt.

Ganz langsam streiche ich das schwarze Kleid über den Beinen glatt, lege dann die Hände in den Schoß und versuche mich wieder auf das zu konzentrieren, was Sheridan sagt.

»… müssen mindestens sechs Monate auf der Ranch wohnen. Ich werde regelmäßig nach Ihnen sehen. Haben Sie dazu noch Fragen?«

Da ich fast nichts von dem mitbekommen habe, was er gesagt hat, müsste ich eigentlich eine Million Fragen haben, aber ich schüttle den Kopf. Ich möchte nicht, dass er weiß, wie schlecht ich in geschäftlichen Dingen bin, ja dass ich nicht einmal in der Lage bin, einer wichtigen Unterhaltung mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu folgen.

Dann lasse ich die Schultern hängen. Wahrscheinlich weiß er das längst.

Wenn ich es richtig verstanden habe, habe ich sechs Monate Zeit, um mich des Erbes würdig zu erweisen.

Gott allein weiß, was dann passiert. Sheridan weiß es vermutlich bereits, aber ich frage ihn nicht danach, weil ich es lieber nicht wissen möchte.

»Wie gesagt«, fährt er fort. »Jonah hat alles bis ins Detail vorbereitet. Um North Earhart Oil kümmert sich der Vorstand. Das Unternehmen hat eine eigene Rechtsabteilung, ich werde also damit nicht viel zu tun haben, aber ich bin immer für Sie da, um Ihnen alles zu erklären, wenn Sie Fragen haben in Zusammenhang mit ihrer Rolle an der Unternehmensspitze.«

Das erinnert mich an die Sage vom Damoklesschwert, nur dass ich im Gegensatz zu Damokles gar nicht wirklich scharf bin auf den Thron. Allein bei dem Gedanken, den Managern gegenüberzutreten, bekomme ich Magenschmerzen.

Ich nicke, schlucke schwer und versuche, Zuversicht vorzutäuschen.

Sheridan lehnt sich in seinem Chefsessel zurück. »Wie ich Ihrem Vater vorhin sagte, behält er seinen Posten, und auch an seinem Gehalt wird sich nichts ändern. Jonah hat keine Veranlassung gesehen, diesbezüglich etwas zu verändern.«

Klingt fair. Dad tut zwar nichts, was ein sechsstelliges Gehalt rechtfertigen würde, aber ich weiß auch, dass meine Eltern ausflippen würden, wenn es wegfiele.

Gramps hat North Earhart Oil noch als kleine Firma geerbt. Sein Vater war ein sogenannter Wildcatter, also jemand, der auf gut Glück nach Rohstoffen schürfte oder bohrte. Er war schon recht erfolgreich gewesen, doch als schließlich der Öl-Boom North Dakota erreichte, während Gramps die Geschicke der Firma leitete, wuchs das Unternehmen rasant.

Das ist das Einzige, worauf Mom immer stolz war. Ansonsten hat sie kein gutes Haar an Grandpa gelassen.

»Mir ist bewusst, dass Sie das erst einmal verdauen müssen. Zumal Sie noch sehr jung sind. Aber, wie gesagt, ich stehe Ihnen zur Seite. Rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Rufen Sie einfach an, wenn etwas sein sollte.« Seine Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln. »Jonah war sehr präzise in seinen Wünschen und was deren Umsetzung betrifft. Ich habe ihm feierlich geschworen, dass ich dafür sorgen werde, dass alles bis ins kleinste Detail eingehalten wird.«

Ich nicke wieder. Ich habe keine Wahl. Schwimmen oder untergehen, und das, wo ich eine so grottenschlechte Schwimmerin bin.

Aber das muss ja niemand wissen.

Er schiebt einen Papierstapel zu mir herüber. »Die müssen Sie bitte unterschreiben. Je zwei Exemplare dessen, was wir heute hier besprochen haben.«

Ich greife nach dem Kuli und unterzeichne mechanisch neben den kleinen roten Post-its.

»Waren Sie schon draußen auf der Ranch?«, fragt er.

»Nein. Nachdem ich benachrichtigt worden bin, habe ich meine Sachen gepackt und bin sofort hergefahren.« Ich setze meine Unterschrift unter die zweite Ausfertigung. »Ich bin gestern angekommen und direkt zum Bestatter gefahren. Letzte Nacht war ich im Hotel und dann heute auf dem Friedhof und jetzt hier.«

Er sammelt die Unterlagen ein. »Verstehe. Haben Sie einen Schlüssel der Ranch?«

»Ja.« Den Schlüssel trage ich an meinem Schlüsselbund, seit Grandpa ihn mir gegeben hat, als ich zwölf war.

Aber das behalte ich für mich. Für die meisten wäre es sicher unwichtig, aber für mich ist der Schlüssel ein Symbol dafür, dass ich irgendwo hingehöre. Dass ich ein Zuhause habe.

»Möchten Sie ein Exemplar mitnehmen, oder soll ich es für Sie aufbewahren?« Sheridan schenkt mir ein mitfühlendes Lächeln. »Wir können in ein paar Tagen noch einmal alles durchgehen, wenn Sie möchten. Wenn Sie das alles einmal haben sacken lassen.«

Ich denke an meine Eltern. Solange sie in der Stadt sind, sind die Papiere hier sicher besser aufgehoben. »Gute Idee. Ich nehme dann meine Ausfertigung mit, wenn wir noch mal gesprochen haben.«

»Perfekt. Eins noch, bevor Sie gehen …«

Beinahe ängstlich blicke ich auf, und meine Finger zucken, bevor ich nach dem weißen Umschlag greife, den er mir reicht.

»Der ist von Ihrem Großvater. Eine persönliche Nachricht an Sie.«

Ich nicke, schließe einen Moment die Augen und hole tief Luft, bevor ich den Umschlag öffne.

Obwohl ich mit den Tränen kämpfe, muss ich lächeln, als ich das beige Post-it mit dem Aufdruck JONAH REED sehe.

Gramps hatte eine Schwäche für die kleinen Klebezettel. Sie hafteten an jeder Karte und an jedem Geschenk, das er mir je geschickt hat.

Ich ziehe den Zettel aus dem Umschlag und muss schlucken beim Anblick der vertrauten Handschrift.

Bella, du bist deinem Kopf nach Kalifornien gefolgt.

Ich weiß, wer dir das eingeredet hat, aber jetzt ist es an der Zeit, dass du deinem Herzen folgst.

Vertrau mir.

In Liebe, Gramps

Die subtile Anspielung entlockt mir ein Lächeln. Ich habe in den vierundzwanzig Jahren meines Lebens nie erlebt, dass mein Grandpa offen auch nur ein schlechtes Wort über meine Eltern verloren hätte, obwohl die wiederum ungeniert über ihn hergezogen haben.

Und auch jetzt verkneift er es sich, aber ich kann zwischen den Zeilen lesen. Ich kann förmlich vor mir sehen, wie seine Augen blitzen und er mir zuzwinkert.

»Eine wichtige Botschaft?«, fragt Sheridan neugierig, aber zu professionell, um direkt nach dem Inhalt zu fragen.

»Ja, kann man so sagen.« Ich stecke den Zettel zurück in das Kuvert und verstaue dieses in der Handtasche. »Er … nur ein paar aufmunternde Worte. Ich nehme an, er hat geahnt, dass er nicht mehr lange leben würde, wenn er mit Ihnen dieses Testament aufgesetzt hat.«

Sheridan nickt. »Also dann, ein letztes Mal für heute: Haben Sie noch Fragen?«

Ich atme tief ein und halte einen Moment lang die Luft an. »Im Augenblick nicht«, sage ich schließlich. »Alles gut so weit.«

»Gut. Auf der Ranch liegen auch noch Papiere, die Sie unterschreiben müssen. Schicken Sie sie mir bitte bei Gelegenheit zu.« Er überreicht mir seine Visitenkarte. »Hier sind alle meine Nummern. Kanzlei, Handy, privates Festnetz. Sie können mich jederzeit anrufen, Miss Reed. Tag und Nacht.«

Ich sehe zu, wie er in Zeitlupe aufsteht und dabei vor Schmerzen das Gesicht verzieht. Der Arme. Ich werde ihn nur anrufen, wenn es unbedingt sein muss. Er sollte zu Hause im Bett liegen und sich ausruhen, anstatt sich mit der Testamentsvollstreckung zu befassen.

»Soll ich Ihre Eltern noch einmal hereinrufen? Ich könnte dabei bleiben oder Sie drei allein lassen, wie Sie möchten.«

»Heute nicht, aber danke für das Angebot.« Ich stehe auf. Never ever.

Ich möchte ihm keine weitere Konfrontation mit meiner Mutter zumuten.

Er begleitet mich zur Tür und durch das Vorzimmer zu einem kleinen Warteraum mit roten Lederstühlen, in dem meine Eltern warten. Mutter lässt ihren Handtaschenspiegel zuschnappen und stopft ihn in die Handtasche, als wir eintreten. Sie war ziemlich verblüfft, dass kein Leichenschmaus vorgesehen war.

Wahrscheinlich hat sie sich schon darauf gefreut, ganz Dallas, North Dakota, vor Augen zu führen, wie gut es ihr doch geht, seit sie vor Jahrzehnten weggezogen ist.

Dad erhebt sich und kommt auf uns zu. »Alles geregelt?«

»Ja«, sage ich, wende mich dem Anwalt zu und reiche ihm die Hand. »Nochmals vielen Dank, Mr. Sheridan.«

»War mir ein Vergnügen«, entgegnet er und schüttelt mir die Hand.

Dad verabschiedet sich knapp, und dann gehen wir hinaus in die Sonne.

Es ist windig. In North Dakota ist es fast immer windig, ein Wetterphänomen, das einen ständig daran erinnert, wer und was die typische schroffe Landschaft geformt hat.

»Du kannst hinter uns her zum Hotel fahren«, sagt Dad.

Ich nicke und gehe zu meinem Wagen, einem aufgemotzten Jeep, den Gramps mir zum Highschool-Abschluss geschenkt hat. Wir wohnten damals in Oregon, und er bestand darauf, dass ich einen Geländewagen mit Vierradantrieb bräuchte, wenn ich zwischen Kalifornien und Oregon pendelte, und natürlich, wenn ich ihn in North Dakota besuchen käme.

Es versetzt mir einen Stich, dass ich es erst zu seiner Beerdigung geschafft habe, mit dem besagten Jeep herzufahren.

Ich bin ja so blöd. Ich habe gedacht, wir hätten noch ewig Zeit.

Falsch. So falsch.

Wenn ich es doch nur geahnt hätte!

Zum Hotel am Stadtrand ist es nicht weit. Als ich einparke, stehen meine Eltern bereits neben ihrem Mietwagen.

»Wir werden das wie zivilisierte Menschen in unserem Zimmer besprechen«, sagt Mom ohne eine Spur von Ironie. »Unsere Privatangelegenheiten gehen niemanden etwas an. Ich will nicht, dass die Leute sich das Maul zerreißen.«

Mir ist immer noch flau, und ihre Worte machen es nur noch schlimmer.

»Es gibt nichts zu besprechen. Ich bin nur gekommen, um meine Sachen zu packen und auszuchecken. Ich fahre zur Ranch. Ihr könnt euch gerne anschließen. Da kann man sowieso besser reden.«

»Auf keinen Fall!« Mom starrt mich aus großen Augen an. »Die Ranch war vor Jahren schon ziemlich heruntergekommen und wird jetzt die letzte Bruchbude sein. Vielleicht ist das Haus sogar einsturzgefährdet.«

Einsturzgefährdet … ihre Beschreibung für jedes Gebäude, das nicht über einen Kakao-Automaten und einen Indoor-Wasserfall verfügt.

Aber natürlich spreche ich das nicht laut aus. Es wäre sowieso zwecklos.

Ich habe immer gewusst, wie sie zu Grandpa und seiner wunderschönen Ranch steht, aber auf seinen Rat hin aufgehört, mich darüber aufzuregen. Er meinte, ich solle ihre Probleme nicht zu meinen machen. Ein guter Rat, damals wie heute.

Hoffnung steigt in mir auf bei dem Gedanken an die Ranch. Zwar wird Gramps nicht dort sein, aber immerhin Edison, und ich kann es gar nicht erwarten, ihn wiederzusehen.

»Du meinst das doch nicht etwa ernst?« Meine Mutter kommt auf mich zu und mustert mich prüfend, als argwöhne sie, dass ich an einem exotischen Fieber leide.

»Und ob. Jemand muss sich ja um Edison kümmern.«

»Der alte Klepper war schon vor Jahren reif für die Leimfabrik«, scherzt Dad. Zumindest hoffe ich, dass es ein Scherz sein soll, wenn auch ein geschmackloser. Aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um darüber zu streiten.

Moms Worte sind an mir abgeperlt wie Wasser am Gefieder einer Ente, aber Dads Bemerkung trifft mich. Sofern ich noch irgendwelche Zweifel hatte, den Teil des Testaments zu erfüllen, der von mir verlangt, sechs Monate dort zu wohnen, sind sie jetzt verflogen. Jetzt erst recht.

»Niemals. Edison bekommt auf der Ranch sein Gnadenbrot und wird auch dort begraben. Dafür sorge ich höchstpersönlich.«

Eine halbe Stunde später wuchte ich meinen Koffer auf den Rücksitz des Jeeps, während meine Eltern ein weiteres Mal versuchen, mir auszureden, zur Ranch rauszufahren. Ich höre nicht auf sie und lasse sie einfach stehen.

Es fällt mir nicht leicht, hart zu bleiben, immerhin sind sie meine Eltern, und ich habe immer auf sie gehört, auch wenn es um meine geschäftlichen Misserfolge ging, aber diesmal nicht.

Diesmal werde ich das tun, was ich für richtig halte, und basta.

»Siehst du mich, Gramps? Ich folge meinem Herzen, so wie du es wolltest.« Ich lächle beim Klang meiner eigenen Stimme, und als ich auf dem Highway bin, gebe ich ungeduldig Gas.

Die Ranch liegt mehrere Meilen nördlich von Dallas, hinter dem Big Fish Lake, wo ich das Angeln gelernt habe.

Ich habe Jahre nicht mehr geangelt. Fischen gehörte zu Grandpas Lieblingsbeschäftigungen, und wir sind während meiner Aufenthalte hier oft zum See gefahren. Für ihn gab es nichts Schöneres, als ein paar Zander und Hechte zu angeln und zum Abendessen zuzubereiten.

Bei der Erinnerung knurrt mir der Magen.

Ich hatte in den letzten Tagen nicht viel Appetit, aber jetzt, wo ich an fangfrischen Fisch denke, der mit viel Butter und Dill in der Pfanne brutzelt, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich hätte in der Stadt noch ein paar Lebensmittel einkaufen sollen.

Zu spät. Zur Ranch ist es mit dem Auto eine halbe Stunde.

Ich habe noch Müsliriegel in der Handtasche, das muss reichen, bis ich ein ordentliches Frühstück bekomme. Ich schaue erst einmal nach, was die Vorratskammer hergibt, und fahre dann morgen wieder in die Stadt, um Besorgungen zu machen.

Es kann auch gut sein, dass Gramps einiges da hat wie Eingemachtes, Suppen und Corned Beef. Egal, wie reich man ist, manche Gewohnheiten legt man nie ab, wenn man in einfachen Verhältnissen aufgewachsen ist.

Ich beiße mir auf die Unterlippe und schüttle den Kopf, überzeugt davon, dass Mom mit ihrer Einschätzung des Zustands des Hauses falschliegt. Heruntergekommen oder gar einsturzgefährdet? So ein Unsinn. Das Haus mag alt sein, aber Gramps hat es immer in Schuss gehalten. Das Haus hat mich inspiriert und meine Liebe zur Innenarchitektur geweckt. Ich durfte mehrere Räume umgestalten, und wir haben uns in den letzten Jahren häufiger über Renovierungsarbeiten unterhalten, die er insbesondere in der Küche vorgenommen hat.

Mr. Sheridans Frage nach dem Hausschlüssel war auch insofern überflüssig, als Gramps nie abgeschlossen hat. Die nächsten Nachbarn wohnen zehn Meilen entfernt, und Edison ist ein besserer Wachhund als so mancher Kläffer.

Meine Vorfreude auf das Haus, auf die Ranch, auf meine Heimkehr, wächst mit jeder Meile, die ich zurücklege.

Hier sind die Tage im Frühling bereits länger. Die Sonne scheint angenehm warm und freundlich durch das Fenster und schafft eine gemütliche Atmosphäre. Richtig heiß wird es erst im Sommer.

Jetzt ist es nur warm. Lau, wohlig, friedlich.

Das habe ich vermisst. Es gibt so vieles, was ich vermisst habe.

Sogar die offene Weite zu beiden Seiten des Highways. Hier in North Dakota kann man meilenweit über die flache Ebene blicken, auf der sich nur vereinzelte Hügel befinden. Noch etwas, was mir gefehlt hat: die Ruhe. Kalifornien ist so überlaufen und hektisch.

Mir schlägt das Herz bis zum Hals, als ich oben von einer niedrigen Kuppe aus weiter unten den vertrauten Briefkasten entdecke. Als ich näher komme, muss ich lächeln beim Anblick der Milchkanne unter dem verwitterten Kasten. Manches ändert sich eben nie, und genau diese Beständigkeit macht mich glücklich. Ich gehe vom Gas, setze den Blinker und biege vom Highway ab.

Die Zufahrt ist über zwei Meilen lang, und ich habe gerade erst die Hälfte zurückgelegt, als sich ein breites Grinsen auf mein Gesicht stiehlt und mir Freudentränen in die Augen schießen. Ich halte an, schalte auf Parken und blicke Edison entgegen, der am Zaun entlang mit wehender schwarzer Mähne auf mich zu galoppiert, so erhaben wie eh und je.

Ich öffne die Tür, springe aus dem Wagen, setze über den Graben und laufe auf den Holzzaun zu. Wir erreichen den Zaun gleichzeitig. Ich bin ganz außer Atem, nicht von der Anstrengung, sondern vor Glück.

»Hey, hey, hey, Dicker. Erinnerst du doch noch an mich?«

Edison wiehert und schlägt mit dem Kopf. Ich schwöre, dass ich ihn förmlich sagen höre: Klar.

Gott.

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich je so erleichtert gewesen wäre wie in diesem Augenblick. Ich steige auf das untere Brett des Zauns und lege ihm die Arme um den kräftigen Hals. »Es ist ja so schön, dich wiederzusehen, alter Junge. Ich habe dich so vermisst!«

Er lehnt sich an mich und winkelt tiefenentspannt einen Huf an. »Weißt du noch? Immer, wenn Gramps eine Auszeit von mir wollte, hat er mich auf deinen Rücken gesetzt, und du bist mit mir Runde um Runde um das Haus herum gelaufen.« Ich lache bei der Erinnerung an diese glücklichen Zeiten. »Wenn ich runter wollte, hast du den Kopf gesenkt, und ich bin an deinem Hals heruntergerutscht. Und wenn ich dann wieder aufsteigen wollte, hast du dich neben die Veranda gestellt, sodass ich vom Geländer aus auf deinen Rücken klettern konnte.«

Eigentlich sollte ich als erwachsene, gestandene Frau nicht so rührselig sein wegen eines alten Pferdes, aber …

Nichts aber.

Er ist hier. In meinen Armen. Unverändert.

Er ist der beste Beweis dafür, dass es auch in düsteren Zeiten Lichtblicke geben kann.

Edison schnaubt leise. Ich drücke ihn noch fester und genieße den Moment in vollen Zügen.

Es dauert nicht lange, bis mir wieder Tränen in die Augen steigen. Ich dachte eigentlich, ich hätte keine Tränen mehr übrig, so viel wie ich in den letzten Tagen geweint habe, aber das war offensichtlich ein Irrtum.

Und so vergieße ich heiße Tränen des Glücks und der Trauer in einem. Tränen der Einsamkeit, der Furcht und der Vertrautheit. Meine Rückkehr an diesen Ort, an dem ich so glücklich war, überwältigt mich, und mir ist klar, dass ich gar keine andere Wahl habe, als Gramps’ letzten Willen zu erfüllen. Das ist nicht verhandelbar.

Edison, der nichts von meinem inneren Tumult ahnt, rührt sich nicht von der Stelle, beinahe so, als wüsste er, dass ich ihn als Stütze brauche, um nicht vom Zaun zu fallen.

Nach einiger Zeit versiegen meine Tränen, und als ich tief durchatme, fühlt es sich an wie der erste richtige, läuternde Atemzug, seit mich die Nachricht von Grandpas Tod erreicht hat.

Ich lockere meinen Griff um den Pferdehals und streichle Edisons Nüstern.

»Jetzt sind nur noch wir zwei übrig, Kumpel.«

Er stampft mit dem Huf auf, wiehert und weicht vom Zaun zurück.

»Ich gehe nicht fort und du ebenso wenig. Versprochen.«

Er mustert mich prüfend.

Ich kann es ihm nicht verdenken. Ich habe ihm vor langer Zeit einmal versprochen, bald zurückzukommen, und mich nicht daran gehalten.

Seufz.

»Ich verspreche es«, wiederhole ich mit mehr Nachdruck. »Diesmal ist es etwas anderes. Wart’s nur ab. Ich bleibe hier auf der Ranch, ganze sechs Monate. Vielleicht auch länger …«

Er streckt den Hals, sodass ich gerade so an ihn herankomme. Ich kratze ihn hinter dem Ohr. »Ich bin froh, dass du mir noch vertraust. Edison, ich werde deine Hilfe brauchen. Ich will dir da nichts vormachen.«

Edison schnaubt diesmal etwas lauter und nickt erneut mit dem Kopf. Ich fasse das mal als Zustimmung in Pferdesprache auf.

Ich kraule ihn wieder, und das Glücksgefühl stellt sich wieder ein. »Und du musst artig sein. Ich werde keine Zeit haben, dich zu suchen. Du lässt also die Tore in Ruhe und büxt nicht aus, verstanden?« Vor dem Hengst ist kein Riegel sicher, und sogar Türknäufe halten ihm nicht lange stand. »Deal?«

Er schüttelt den Kopf, und ich frage mich ernsthaft, ob er mich verstanden hat. Im nächsten Moment nickt er wieder.

Lachend springe ich vom Zaun und wäre beinahe umgeknickt wegen meiner hochhackigen Schuhe. Selber schuld. Westküsten-Schick ist auf einer Ranch in North Dakota eben fehl am Platz.

»Ich muss auspacken und mich umziehen. Wir sehen uns später.«

Als er hierauf wiehert, muss ich erneut lachen. Es hat tatsächlich den Anschein, als würde er jedes Wort verstehen.

Ein Gefühl der Zufriedenheit steigt in mir auf, noch bevor ich den Jeep erreicht habe. Ich drehe mich noch einmal um und winke Edison. »Wir sehen uns bei der Scheune, alter Junge!«

Ich setze mich ans Steuer und schalte auf Drive, während Edison auf der anderen Seite des Zauns davongaloppiert.

Er wird dort sein, kein Zweifel.

Früher haben wir das ständig gemacht. Damals habe ich gelernt, wie klug, sanft und unfassbar schlau ein Pferd sein kann.

Ich blicke ihm nach, bis er hinter den Bäumen verschwindet, die den Graben säumen. Die Bäume hat Gramps extra als Windschutz gepflanzt, um Schneeverwehungen auf der Zufahrt zu vermeiden. Der Winter ist hier in North Dakota noch sehr streng und sogar gefährlich.

Im Ernst.

Es gab Zeiten, da habe ich Gramps jeden zweiten Tag angerufen, wenn von Schneestürmen in der Gegend berichtet wurde, um sicherzugehen, dass es ihm gut ging. Er hat die Unwetter immer heruntergespielt, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass sich der Schnee auf den Straßen extrem hoch auftürmen und die Ranch von der Außenwelt abschneiden kann.

Die Schotterstraße zwingt mich trotz aller Ungeduld zu einem gemäßigten Fahrtempo. Der Gedanke, dass Gramps mich nicht empfangen wird, stimmt mich wieder traurig, vermag mir aber nicht ganz die Vorfreude zu verderben.

Dieser Ort ist mein wahres Zuhause. Nie habe ich mich je irgendwo anders so geborgen gefühlt. Diese alte Ranch bedeutet mir mehr als das luxuriöseste Penthouse meiner Eltern auf irgendeiner Privatinsel.

Ein Lächeln umspielt meine Lippen, als ich vor dem Haus halte, den Motor abschalte und mir Zeit lasse, mich gründlich umzusehen.

Es ist noch alles genauso wie in meiner Erinnerung: das Haus, die Scheune, die Remise und die anderen Nebengebäude. Sicher, sie sind alt, sogar rustikal, aber keineswegs schäbig.

Tatsächlich sehen die Gebäude sogar aus, als wären sie vor nicht allzu langer Zeit gestrichen worden. Wind und Sonne haben das leuchtende Apfelrot, das kräftige Blau und das grelle Weiß noch nicht ausgebleicht.

Gramps war ein glühender Amerikaner, und die traditionellen Farben berühren mich mit ihrer klaren Aussage. Welcome Home.

Das massive dreistöckige Haus mit der rundum verlaufenden Veranda ist ebenfalls frisch gestrichen. Weiß mit roten Fenstern und Türen. Genauso wie früher.

Ich ziehe den Schlüssel aus dem Zündschloss, steige aus und lasse noch einmal den Blick schweifen. Wieder holt die Trauer mich ein, und ich wünschte, ich wäre früher zurückgekommen.

Ich nehme erst mal nur mit ins Haus, was ich für die Nacht brauche, und lasse mein übriges Gepäck im Wagen. Als ich auf das Haus zugehe, höre ich in der Ferne ein Wiehern und drehe mich um.

Wie konnte ich das vergessen? Ich gehe hinüber zum Paddock und tätschle ihm den Hals. »Also gut, du hast gewonnen. So wie immer.«

Er scharrt mit dem Huf.

»Jetzt muss ich die blöden Schuhe aber wirklich ausziehen, bevor ich sie endgültig ruiniere.«

Nach einem letzten Klaps gehe ich zum Haus.

Zu meiner Überraschung lässt sich die Haustür nicht öffnen. Abgeschlossen. Das ist ungewöhnlich. Das passt gar nicht zu Gramps. Aber vielleicht war nach seinem Tod jemand hier und hat abgeschlossen.

Vermutlich hat Mr. Sheridan deshalb nach dem Schlüssel gefragt. Als Grandpas Anwalt war er vielleicht selbst hier, um abzusperren. Andererseits vielleicht auch nicht, bei den Rückenschmerzen.

Aber es gibt ja noch Grandpas Hilfskraft.

Gramps hat mal erwähnt, dass sein Helfer in einem kleinen Cottage etwas abseits wohnt. Damals war es nicht viel mehr als eine Jagdhütte, aber vermutlich hat Gramps sie zwischenzeitlich herrichten lassen.

Beide Schaukelstühle neben der Eingangstür wippen im Wind leicht vor und zurück, als wollte Gramps mich willkommen heißen.

Der Gedanke entlockt mir ein Lächeln. Manch einer würde die Vorstellung vielleicht unheimlich finden, aber ich finde sie tröstlich.

Ich sperre auf, betrete das Haus und schließe die Augen. Ich weiß, dass er nicht hier ist, aber ich schwöre, dass ich seine Gegenwart fühlen kann.

Reflexartig möchte ich als Erstes die Tür zur Rechten öffnen. Sein Arbeitszimmer. Aber ich beschließe, damit noch zu warten. Ich möchte den verlassenen Raum jetzt nicht sehen.

Der Anblick des leeren schweren Ledersessels hinter dem ausladenden Eichenschreibtisch würde mir seine Abwesenheit allzu schmerzlich bewusst machen. Ich möchte lieber noch eine Weile so tun, als wäre er dort drin.

Mag sein, dass das albern ist. Ich verstehe genug von Psychologie, um zu wissen, dass viele Leute sich nach dem Verlust eines geliebten Menschen gerne selbst etwas vormachen oder sogar halluzinieren. Mir ist absolut bewusst, dass ich das Unausweichliche nur hinauszögere und verdränge, aber das ist mir gerade egal, weil es mir hilft.

Es hilft mir, dieses Erbe anzutreten, diese Bürde auf mich zu nehmen, mit der ich niemals gerechnet hätte.

Seufzend durchquere ich die Diele und blicke die breite Treppe hinauf. Mein Zimmer wird noch genauso aussehen, wie ich es verlassen habe. Ich werfe einen flüchtigen Blick ins Vorderzimmer und wende mich dann der Küche zu.

Wow.

Nein, im Ernst. Ich bin geflasht.

Grandpa hat sie nicht nur renoviert, sondern aufwendig modernisiert, und das Ergebnis ist atemberaubend.

Alles ist funkelnagelneu: die Schränke, die Arbeitsplatte und die Geräte. Die gemütliche, aber in die Jahre gekommene Küche hatte sich in einen Traum aus Marmor, Edelstahl und edlen europäischen Fliesen verwandelt.

»Alter Falter«, flüstere ich beeindruckt. Sogar Mom wäre hin und weg.

Die Küche ist ein Traum und hat bei aller Modernität nichts von ihrem Charme eingebüßt. Das Beste aus zwei Welten wurde geschickt zusammengefügt zu einem perfekten Ganzen. Gramps hat sich wahrlich selbst übertroffen.

Der Aufwand erscheint mir ein wenig übertrieben, da ich mir nicht vorstellen kann, dass er die Küche viel genutzt hat. Er hat die einfache Küche geliebt, Fleisch und Kartoffeln ohne viel Schnickschnack, auch wenn er sehr wohl wahre Köstlichkeiten zaubern konnte, wenn er Besuch hatte. Wozu also der ganze Aufwand, nur um …

Fump!

Ein seltsames Geräusch hallt durch das Haus.

Ich erstarre. Ich ziehe den Kopf ein, halte die Luft an und lausche, den Blick auf die Decke gerichtet. Aber das Geräusch ist nicht von dort gekommen. Nicht direkt.

Ich atme erleichtert auf, als ich die Vorhänge flattern sehe und den Ofen darunter entdecke. Es ist zwar ein milder Tag, aber doch noch so frisch, dass die Sensoren offenbar die Heizung eingeschaltet haben.

Gott sei Dank. Ich brauche also nicht die Heizung in Gramps Arbeitszimmer aufzudrehen.

Ich werde einen Rundgang machen, damit mir beim nächsten ganz normalen Geräusch nicht wieder fast das Herz stehen bleibt.

Ich beschließe, mein Gepäck nach oben zu bringen, bevor ich mir die Küche genauer ansehe. Es wird ein bisschen dauern, mir ein Bild zu machen von den Vorräten in den Schränken und im Kühlschrank und mich insgesamt mit der neuen Ordnung vertraut zu machen.

Ich gehe nach oben und wende mich auf dem oberen Treppenabsatz nach links. Dort befinden sich neben meinem Zimmer zwei weitere Schlafzimmer und ein Bad. Die gleiche Aufteilung findet sich gespiegelt auf der rechten Flurseite.

Ich komme nicht weit.

Ein weiteres Fump! Ertönt und jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken.

Ich bleibe stehen und lausche.

Ich bin nicht allein. Es ist noch jemand im Haus.

Ich überlege noch, was ich tun soll, ob ich mir von einem der offenen Kamine in den Zimmern einen Schürhaken holen soll, bevor ich …

Zu spät.

Die Badezimmertür fliegt auf, und mein Atem stockt.

Im nächsten Moment tritt ein Mann, genauer, ein Hüne, auf den Flur. Er ist muskelbepackt, und ein Gewirr von Tattoos bedeckt seine nackte Brust und seine muskulösen Arme. Er ist nackt, abgesehen von einem weißen Handtuch, das er sich um die Hüften geschlungen hat.

Ich reagiere rein instinktiv und tue das, was jeder normale Mensch in dieser Situation tun würde.

Kapitel 2

Die Unterschrift (Drake)

Was zum Teufel …?!

Ein schriller Schrei, durchdringend wie eine Sirene, stellt meine Trommelfelle auf eine harte Probe. Verdammt, Jonah, du hast mir nicht gesagt, dass deine Enkelin ein Organ hat, mit dem sie jedes Fenster im Haus zerspringen lassen kann.

Ich halte mir ein Ohr zu und hätte um ein Haar das Handtuch losgelassen, das ich mit der anderen Hand festhalte. Mir steht gerade nicht der Sinn danach, mich ihr splitterfasernackt zu präsentieren.

Der Schmerz, der meine Schläfe durchzuckt, ist ein Überbleibsel aus meiner Zeit beim Militär. Eine Detonation hat einen akustischen Nerv geschädigt, und seitdem kann ich manche Frequenzen nicht mehr hören, während andere sofort rasende Kopfschmerzen verursachen.

»Raus hier, verschwinden Sie, Sie Perversling!« Wenigstens ist sie vom Kreischen zum Schreien übergegangen.

Immerhin ein Fortschritt.

»Beruhigen Sie sich, Lady! Ich bin Drake Larkin. Haben Sie denn die Nachricht nicht erhalten?«

Offenbar nicht.

Sie stolpert rückwärts, bis sie gegen die Wand stößt. »Ich kenne keinen Drake Larkin! Das hier ist das Haus meines Großvaters! Raus!« Ihre Augen weiten sich, als sie mir die letzten Worte entgegenschleudert wie einen Speer.

Verdammt.

Wieder durchzuckt mich der glühend heiße Schmerz beim schrillen Klang ihrer Stimme.

»Hören Sie um Himmels willen auf zu schreien«, blaffe ich sie an. »Ich weiß, dass das hier Jonahs Haus ist. Ich habe für ihn gearbeitet!«

Ich schwöre, es sieht aus, als wollte sie mit dem Hintern durch die Wand. Wenigstens dreht sie die Lautstärke etwas herunter, während sie mich verwirrt anstarrt. »Sie haben für ihn gearbeitet? Was? Wo?«

Dankbar für den normalen Tonfall, nehme ich die Hand von der Schläfe, erleichtert, dass der Schmerz ebenso abrupt verklingt, wie er angefangen hat.

Also dann.

Jonah hat ihr von mir erzählt, oder? Ich für meinen Teil weiß jedenfalls bestens über sie Bescheid. Dann verstehe ich allerdings nicht, warum es sie derart schockiert, mich hier anzutreffen.

»Hier auf der Ranch«, entgegne ich, bemüht, nicht zu schroff zu klingen, da dies immerhin offensichtlich ist, oder? »Und überall, wo er mich sonst noch gebraucht hat. Ich bin seit Jahren bei ihm beschäftigt.«

»Sie?«, haucht sie. »Moment. Dann waren Sie … sein Kamerad? Sein Mitarbeiter? Sie waren mit ihm in der Army?

Was redet sie da? Was meint sie mit »Kamerad«? Ja, ich war in der Army, so wie Jonah auch, aber dazwischen liegen Jahrzehnte. Der Koreakrieg hat lange vor meinem Dienst für Onkel Sam stattgefunden. Meine Einsatzgebiete waren Afghanistan und Irak.

»Was machen Sie hier im Haus?«, fragt sie, während sie den Blick über meine nackte Brust wandern lässt. »Gramps sagte, Sie wohnen im Cottage.«

Ich presse die Lippen zusammen und mustere sie prüfend, angefangen bei ihren geweiteten Augen. Sie sieht nicht aus, als könnte sie die ganze Wahrheit verkraften, und so beschließe ich, es langsam angehen zu lassen.

»Ich habe nur geduscht. Das war nötig, nachdem ich Edison fast bis zum Big Fish Lake nachjagen musste.« Ich schwöre, der Gaul ist ein Mustang, wenn auch im Körper eines überzüchteten Warmbluts. Vor ihm ist kein Schloss und kein Riegel sicher. Wenn ich nicht gerade auf der hinteren Veranda meine Ausrüstung gecheckt hätte, hätte ich ihn gar nicht auf der Anhöhe hinter dem Haus entdeckt.

Abgesehen von seiner Enkelin war Edison Jonah Reed das Liebste auf der Welt. Ich musste ihm versprechen, über beide zu wachen, so wie ich auf ihn ein Auge hatte. Ich musste also das Pferd wieder einfangen, obwohl ich wusste, dass sie irgendwann im Laufe des Tages hier aufschlagen würde.

»Geben Sie mir noch eine Minute, dann erzähle ich Ihnen mehr. Ich möchte mir nur schnell etwas anziehen. Wir sehen uns in der Küche.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, gehe ich in mein Schlafzimmer und schließe die Tür hinter mir.

Scheiße.

Ich habe ja mit Ärger gerechnet, aber das?

Jonah hat mich vor seiner Schwiegertochter Molly und seinem Sohn Gary gewarnt. Er hat damit gerechnet, dass sie ausflippen wegen des Testaments. Ich gehe davon aus, dass die beiden über kurz oder lang auch hier aufschlagen werden. Leider hat Jonah mit keinem Wort erwähnt, dass ich meine Trommelfelle vor Miss McScreamy schützen soll.

Wäre das Geschrei nur eine halbe Oktave höher gewesen, wäre mir nicht einmal aufgefallen, wie hübsch sie ist.

Efeufarbene Augen, in denen man geradezu versinken könnte. Dazu langes welliges braunes Haar, das geradezu dazu einlädt, die Finger hineinzukrallen.

Und dieser Hüftschwung, der knackige, runde Po … das alles kann einen Mann, der schon so lange ein Einsiedlerdasein führt wie ich, in ernste Schwierigkeiten bringen.

Aber sie ist tabu. Ich habe mir geschworen, in Jonahs Sinne zu handeln, und Kopfkino mit seiner Enkelin in der Hauptrolle gehört ganz sicher nicht dazu.

Schlimmer noch. Er hat mir vertraut, dass ich den Plan umsetze, den er ausgetüftelt hat, um unseren Arsch zu retten.

Scheiße.

Ich lege wieder eine Hand an die Schläfe. Der Schmerz ist weg, aber ich habe das Gefühl, dass ich bald noch ganz andere Sorgen haben werde als Kopfschmerzen.

Und zwar in Gestalt der jungen Dame, die unten auf mich wartet.

Ich kann immer noch nicht fassen, dass ich mich auf diesen Wahnsinn eingelassen habe. Sicher, Jonah war ein schlauer alter Fuchs. So schlau, dass er nicht nur mich überzeugt hat, sondern dazu noch seinen Rechtsverdreher.

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich eine Schublade der Kommode herausziehe.

Jonah Reed war ein Teufelskerl. Und er ist immer noch sehr präsent, auch wenn er nicht mehr unter den Lebenden weilt.

Ich schulde ihm sehr viel. Ohne ihn würde ich heute nicht hier stehen. Nein, ohne ihn würde es mich gar nicht mehr geben. Wir haben uns kennengelernt, als ich am absoluten Tiefpunkt meines Lebens war und keinen Schimmer hatte, wie es weitergehen sollte. Ich war am Ende, und zwar auf mentaler und emotionaler Ebene. Kaputt.

Der alte Jonah fand mich mitten in einem Schneesturm mit einem Platten auf einer Straße mitten im Nirgendwo.

Die Straße führte zu seiner Ranch. Mir war nicht weit von seinem Briefkasten entfernt ein Reifen geplatzt, und wenn seine Zufahrt nicht gewesen wäre, wäre ich wohl im Graben gelandet und dort eingeschneit. Schneeverwehungen machen den Highway immer wieder für Tage unpassierbar. Ich hatte es gerade noch ein Stück seine Auffahrt hinunter geschafft, bevor der Reifen geplatzt war.

Ich war auf das Schlimmste gefasst und hatte fast damit gerechnet, dort am Straßenrand zu erfrieren.

Ohne Jonah Reed wäre ich das vermutlich auch.

Er ist mitten im Schneesturm vorbeigekommen und hat mir den Arsch gerettet.

Ich lächle bei der Erinnerung und ziehe mir das T-Shirt über den Kopf, bevor ich mir vor dem Spiegel das Haar zurückkämme.

Er war um die Ecke gebogen und ohne abzubremsen mit dem an seinem alten rot-weißen Geländewagen montierten Schneepflug durch die fast einen Meter hohen Schneewehen gepflügt, unbeeindruckt davon, dass der Schnee fast vollständig seine Windschutzscheibe verdeckte und ihm die Sicht nahm.

Sein Grinsen war so breit wie der Rand seiner rot-schwarz karierten Schirmmütze, und um ehrlich zu sein, sah er sogar ein wenig verrückt aus. Seine falschen Zähne strahlten so weiß wie der Schnee, als er neben meinem Truck hielt und die Scheibe herunterkurbelte.

Und wie könnte ich seine ersten Worte vergessen, die mir das Leben retteten.

»Steig ein, Junge. Und schnall dich an. Das wird eine holprige Fahrt.«

Männer wie der alte Jonah sind rar.

Die Fahrt bis zur Ranch glich einem Himmelfahrtskommando, und ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass wir uns im dichten Schneegestöber im Blindflug befanden. Während mir der Reifen geplatzt war, schaffte er es wie durch ein Wunder heil bis zum Haus.

Zwei Tage später schneite es immer noch, aber der Sturm hatte sich gelegt, sodass wir mit dem Traktor meinen Truck bis zum Haus schleppen konnten. So kam ich auf die Reed Ranch und bin bei meinem Retter geblieben.

Und jetzt kann ich auch nicht fort. Ich habe Jonah versprochen zu bleiben.

Ich werde dafür sorgen, dass alles so kommt, wie er es sich gewünscht hat, so verrückt das alles auch sein mag. Das ist das Mindeste, was ich für den Mann tun kann, der mir das Leben gerettet hat, als ich mich schon damit abgefunden hatte, mutterseelenallein da draußen zu erfrieren. Ich könnte Jonah nie hängen lassen.

Ich hatte eigentlich schon gestern im Laufe des Tages mit dem Eintreffen seiner Enkelin gerechnet, aber wie ich dann von Sheridan erfuhr, war sie direkt zum Bestatter gefahren.

Als sie sich auch am Abend nicht blicken ließ, ging ich davon aus, dass sie nach der Testamentseröffnung hier aufschlagen würde. Sheridan hatte versprochen, mich hinterher anzurufen und mir Bescheid zu geben, und wahrscheinlich hat er das auch getan.

Mein Handy liegt noch mit dem Rest meiner Ausrüstung auf der hinteren Veranda. Mit Ausnahme der Smith and Wesson Kaliber 500. Jonah hat die Waffe geliebt, und ich weiß auch, wo sie ist.

Auf dem Schießplatz.

Ich habe mich persönlich von Jonah verabschiedet und musste nicht zum Bestatter.

Ich war stattdessen auf dem Schießplatz hinter der Scheune. Es hat Jonah einen Riesenspaß gemacht, mit meiner Smith and Wesson zu schießen. Er meinte, der Revolver erinnere ihn an die schweren Waffen im Wilden Westen, in der Zeit, da man mit einem Schuss auskommen musste.

Während also am Morgen die Familie bei ihm war, habe ich den Revolver auf die Bank gelegt, auf der er so gern gesessen hat, und habe dann ein paar Runden geschossen, so wie wir es so oft getan haben.

Das war meine ganz persönliche Hommage an den Mann, der dieser Welt und mir seinen Stempel aufgedrückt hat.

Zu blöd, dass ich die Pistole dort habe liegen lassen, als ich gepackt habe und zum Haus gekommen bin.

Der alte Edison hatte – mal wieder – beschlossen abzuhauen. Ehrlich gesagt kann ich es ihm nicht verdenken. Der Gaul spürt, dass etwas passiert ist. Dass Jonah nicht mehr da ist.

Wenn ich ihn nicht am See erwischt hätte, wäre er wahrscheinlich bis in die Stadt gelaufen, zum Bestatter oder Friedhof.

Vielleicht hätte ich ihn einfach laufen lassen sollen. Edison stand Jonah näher als diese Geier, die angereist sind, um sich sein Vermögen unter den Nagel zu reißen.

Jonah hätte dem natürlich widersprochen, zumindest in Bezug auf seine Enkelin.

Er hat sie mehr als jeden anderen Menschen geliebt und immer wieder geschworen, dass er dafür sorgen würde, dass sie niemand um das betrog, was er ihr hinterlassen wollte. So wie er auch Vorkehrungen getroffen hat, um zu verhindern, dass die Reed Ranch und North Earhart Oil nach seinem Tod zerschlagen werden.

Ich setze mich, ziehe Socken über, steige in meine Stiefel und stehe auf. Auf dem Weg zur Tür stopfe ich mir das Shirt in die Hose.

Dann mal los.

Ich denke, dass die Enkelin mir von den dreien den wenigsten Ärger machen wird. Sie hat regelmäßig mit Jonah telefoniert, was man von ihren Eltern nicht behaupten kann. Ich kann an einer Hand abzählen, wie oft sein Sohn sich in den vier Jahren, die ich jetzt hier bin, bei ihm gemeldet hat, und ich gehe davon aus, dass er vor meiner Ankunft auch nicht öfter von sich hat hören lassen.

Die Enkelin war, als Jonah mich seinerzeit aufgelesen hat, noch auf dem College. Jonah hatte gedacht, sie würde nach dem Studium herziehen. Er war sehr enttäuscht, als sie in Kalifornien geblieben ist, auch wenn er es nie ausgesprochen hat. Nicht einmal mir gegenüber.

Aber ich wusste es. Und die Erinnerung an seine Enttäuschung begleitet mich auf dem Weg nach unten.

Er hat seinen Sohn und seine Schwiegertochter dafür verantwortlich gemacht, und das ist einer der Gründe, weshalb ich mich auf diesen Irrsinn eingelassen habe.

Ein Schauer kriecht mir den Rücken hinunter. Verdammt.

Eine Hand auf dem Geländer, steige ich langsam die Treppe hinunter, um der Frau gegenüberzutreten, mit der ich im Rahmen einer Stellvertreterhochzeit, wie sie in Montana zulässig sind, verheiratet wurde.

Da ich nach wie vor Bürger von Montana bin, war der Vorgang absolut legal, obwohl sie selbst nichts davon ahnt. Und auch nichts davon erfahren darf, bis ich sie dazu gebracht habe, die Papiere zu unterschreiben, und diese Sheridan ausgehändigt habe. Sheridan hat Jonahs Wünsche alle abgesegnet, nur in diesem Fall ist er hart geblieben und hat auf der verfluchten Unterschrift bestanden.

Wie ich sie dazu bringen soll, danach hat er nicht gefragt, einfach darauf beharrt, dass sie zwingend erforderlich sei.

Jonah hat das kein bisschen erschüttert. Er hat keine Sekunde daran gezweifelt, dass ich einwillige und das hinbekomme. Er wollte, dass ich Bella beschütze und dafür sorge, dass sie bekommt, was ihr zusteht, ob sie es will oder nicht.

Auf der letzten Treppenstufe hole ich noch einmal tief Luft. Ich denke, man sollte andere nicht zu ihrem Glück zwingen. Scheiße! Wir haben sie ohne ihr Wissen verheiratet. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich mich dazu habe überreden lassen. Der Zweck heiligt die Mittel, sagt man, aber ist das so?

Ich verspüre die gleiche Anspannung wie damals als Soldat, wenn ich im Einsatz mit einem Hinterhalt gerechnet habe.

Aber genau deshalb hielt Jonah mich für die ideale Besetzung. Weil ich einen sechsten Sinn habe und in der Lage bin, auch knifflige Situationen zu einem guten Ende zu führen.

Ich muss mir ein Grinsen verkneifen. Wahrscheinlich hat er der Kleinen erzählt, wir wären alte Kameraden, um mir eins auszuwischen. Der alte Knabe hatte manchmal einen seltsamen Sinn für Humor.

Sie ist in der Küche. Sie sitzt am Tisch. Schmollend. Oder ist sie wütend?