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Achterloo, 1983 uraufgeführt, vom Publikum begeistert, von der Kritik eher kühl aufgenommen, ließ Dürrenmatt bis zuletzt nicht mehr los: Gemeinsam mit Charlotte Kerr dokumentierte er in dem Band Rollenspiele die vielen Stufen der Um- und Überarbeitungen. 1988 folgte Dürrenmatts Inszenierung des noch radikaler gefaßten Stoffs, Achterloo IV, der hier vorliegenden Fassung letzter Hand.
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Seitenzahl: 544
Friedrich Dürrenmatt
Achterloo I | Rollenspiele | Achterloo IV
Komödie in zwei Akten | Protokoll einer fiktiven Inszenierung von Charlotte Kerr sowie Achterloo III | Komödie
Diogenes
Eine Komödie in zwei Akten
Meiner Frau, die noch die erste Fassung lesen konnte.
Napoleon Bonaparte
Louis Bonaparte
Plon-Plon Bonaparte
Generalleutnant Cambronne
Woyzeck
Benjamin Franklin
Kardinal Richelieu
Jan Hus
Robespierre
Marion
Marx I
Marx II
Marx III
Marx IV
Marx V
Lord Tony
Ort der Handlung:
Achterloo in Acherloo irgendwo bei Waterloo
Zeit: Gegenwart
Geschrieben 1983
Uraufführung im Schauspielhaus Zürich am 6. Oktober 1983
1. Zur Bühne (Vorschlag): Bühne auf der Bühne. Die Hinterwand der Spielbühne ist transparent und in der natürlichen Farbe von Sackleinen gehalten. Hinter ihr ist die eigentliche Bühne sichtbar, derart eingerichtet, daß der Eindruck entsteht, es handle sich um ein altes Theater, in welchem ein Stück gespielt werde. Vor der Hinterwand der Spielbühne, in der Mitte, das Feldbett Napoleons: olivgrüne Matratze, Kopfende links (vom Zuschauer aus gesehen). Über dem Feldbett ein runder Betthimmel, von dem wie ein Zelt ein schweres, zerrissenes, aber nicht transparentes Leinen herunterfällt, gegen vorne offen. Links davor ein mit rotem Leder bezogener Stuhl. Rechts vom Bett ein auf die Hinterwand gezeichnetes Fenster. Zwischen dem Fenster und dem Bett hängt ein Schlafrock. Rechts vom Fenster die eingerahmte Karte Korsikas. Links neben dem Bett eine Nachtkonsole mit einigen Fotos. An der Wand dahinter ein großes Poster des Darstellers des Generals sowie Fotos anderer Napoleon-Darsteller wie Charles Boyer usw., auch sie transparent. Links vorne ein drehbarer Fernsehsessel, links von ihm ein Tischchen mit einer Sprechanlage und Telefon. Rechts vorne ein Schreibtisch schräg zum Publikum, hinter und vor ihm ein Stuhl, beide wie der vor dem Bett. Die linke Seitenwand wird durch einen großen blaßblauen, ebenfalls transparenten Wandschirm angedeutet. Eine rechte Seitenwand ist nicht nötig. Von der Decke hängen zwei triste Kugellampen. Sie brennen. Zwischen ihnen kann eine Filmleinwand heruntergelassen werden. Durch die Hinterwand dringt Morgendämmerung. Überall Akten, Bücher, auch auf den Stühlen.
2. Zur Inszenierung: Die beiden Diener Napoleons sind durch das ganze Stück sichtbar, bald der eine, bald der andere. Sie verfolgen das Stück als Regisseure, beschäftigen sich auch mit den Requisiten, die benötigt werden, schütteln manchmal den Kopf, wenn ein Text nicht richtig kommt, führen die anderen Schauspieler auf die Spielbühne oder hindern sie am falschen Auftreten usw., doch immer so, daß vom Spiel nicht abgelenkt wird.
Napoleon in klassischer Uniform und Pose, fett geworden, betrachtet auf der Filmleinwand eine tonlose Videoaufzeichnung der ›Gräfin Waleska‹.
NAPOLEON
Ich schau mir die ›Gräfin Waleska‹ an mit Greta Garbo und Charles Boyer. Der Film kam gestern im Fernsehen, und ich ließ ihn aufzeichnen.
Er setzt sich eine randlose Sonnenbrille auf.
NAPOLEON
Die Garbo nannte man ›die Göttliche‹, und Goethe sah in mir einen Dämon. Warum, ist schleierhaft. Den Ton hab ich abgeschaltet, der Dialog ist mir zu stupid.
Von rechts Plon-Plon und Louis. Beide in Frack mit Kniebundhosen und Kniestrümpfen, Schnallenschuhen und weißen Handschuhen. Plon-Plon mächtig, Louis schmächtig. Beide tragen einen Stapel Herrenmagazine.
NAPOLEON
Meine Neffen Louis und Plon-Plon. Charles-ouis Bonaparte ist der jüngste Sohn meines Bruders Louis, den ich zum König von Holland machte, und meiner Stieftochter Hortense Beauharnais.
Louis verneigt sich.
NAPOLEON
Er wurde Thurgauer, bernischer Hauptmann der Artillerie, in Thun ausgebildet, und später als Napoleon III. Kaiser der Franzosen. Plon-Plon, wie immer etwas betrunken.
Plon-Plon verneigt sich.
PLON-PLON
An-angesäuselt.
NAPOLEON
Er ist der Sohn des Königs von Westfalen, Jérôme, meines jüngsten Bruders, und der Katharina, Prinzessin von Württemberg. Ich liebe deutsches Blut. Ich beschäftige die beiden alten Knacker als Kammerdiener. Ich bin sentimental und nachsichtig geworden.
PLON-PLON
Die neuen sa-saftigen Magazine, lieber Onkel.
NAPOLEON
Auflage?
LOUIS
Dreieinhalb Millionen in Westeuropa, guter Onkel.
NAPOLEON
In Nordamerika?
LOUIS
Über acht Millionen.
NAPOLEON
Das Magazin erweist sich als Riesenknüller.
PLON-PLON
Und – und wie, lieber Onkel.
NAPOLEON
Niemand weiß, ob es ein sozialistisches oder ein pornographisches Produkt ist.
LOUIS
Niemand.
PLON-PLON
Kein – kein Mensch.
Beide legen die Herrenmagazine auf den Schreibtisch.
NAPOLEON
Unsere einzige Devisenquelle. Dabei plünderte ich einmal ganze Länder leer. Verschwinden!
Louis und Plon-Plon ab.
Napoleon setzt sich in den Fernsehsessel, betrachtet aufs neue die Videoaufzeichnung.
NAPOLEON
Unvorstellbar, daß ich je mit der im Bett gelegen bin.
Von links tritt eine Gestalt (ob Weib oder Mann, ist nicht auszumachen) in der Uniform eines napoleonischen Generals hinter dem Wandschirm hervor und kräht.
CAMBRONNE
Me – Me – Me –
Schwenkt den Sessel herum, verschwindet.
NAPOLEON
Cambronne. Er war mit mir auf Elba. Dann ernannte ich ihn vor der Schlacht bei Waterloo zum Generalleutnant, Grafen und Pair. Ich war immer großzügig. Er versucht, sich an sein berühmtes Wort zu erinnern.
Von rechts kommt Woyzeck im Kostüm seiner Zeit mit Rasierutensilien.
WOYZECK
Rasieren, Herr General.
NAPOLEON
Woyzeck. Eine Stunde früher als sonst.
Napoleon stellt den Fernseher mit der Fernbedienung ab.
Das Videobild verschwindet. Die Leinwand rollt sich auf.
WOYZECK
Den Hut, Herr General, die Sonnenbrille.
Nimmt Napoleon den Hut und die Sonnenbrille ab, legt beides auf den Schreibtisch neben die Magazine.
WOYZECK
Verzeihung, Herr General. Ein dunkler Morgen. Kalt. Der Winter kommt.
Bindet Napoleon das Rasiertuch um.
WOYZECK
Und die Freimaurer.
NAPOLEON
Langsam, Woyzeck, langsam.
WOYZECK
Das hat der Hauptmann auch immer gesagt.
Schlägt Seifenschaum.
NAPOLEON
Woyzeck, es schaudert mich, wenn ich denke, daß sich die Welt an einem Tag herumdreht! Was für eine Zeitverschwendung!
WOYZECK
Das hat der Hauptmann –
NAPOLEON
Auch immer gesagt. Das weiß ein jeder, Woyzeck. Ein jeder weiß das.
WOYZECK
Heut sind zwanzig –
Seift Napoleon ein.
NAPOLEON
Zwanzig was?
WOYZECK
Jahr. Zwanzig Jahr, seit ich den Herr General rasier.
NAPOLEON
Zwanzig Jahr, seit Er der Marie die Kehle durchschnitten hat, Woyzeck, Er hat keine Tugend! Er ist kein tugendhafter Mensch.
WOYZECK
Das hat der Hauptmann auch –
NAPOLEON
Und Er hat den Hauptmann unter dem Rasiermesser gehabt, Woyzeck, den Hauptmann und den Tambourmajor, die beide mit der Marie geschlafen hatten. Beide. Hat Er ihnen die Kehle durchschnitten? Wenn ich sag Er, so mein ich Ihn, Ihn.
WOYZECK
Herr General sind eingeseift.
NAPOLEON
Der Marie hat Er die Kehle durchschnitten, Woyzeck. Der Marie.
WOYZECK
Nicht mit meinem Rasiermesser, Herr General.
NAPOLEON
Mit einem Messer, das Er von einem Jud gekauft hat.
WOYZECK
Mein Rasiermesser ist mir heilig, Herr General.
NAPOLEON
Nicht schwatzen, rasieren.
WOYZECK
Jawohl, Herr General.
Rasiert.
NAPOLEON
Nichts ist Ihm heilig, Woyzeck, nichts. Vor zwanzig Jahren hab ich Ihn um Mitternacht zum Tod verurteilt, um fünf Uhr morgens begnadigt und zum Scharfrichter ernannt, und – was sag ich – schon um sechs, fix, hat Er dem Chef der Partei die Kehle durchschnitten. Mit Seinem Rasiermesser. Ist das heilig?
WOYZECK
Ich rasier Sie ja auch mit meinem Rasiermesser, Herr General.
NAPOLEON
Fünfmal hat Er seither einem Chef die Kehle durchschnitten. Einem Chef der Partei, Woyzeck! Fünfmal! Macht fünf Parteichefskehlen, die Er durchschnitten hat. Das ist enorm, Woyzeck.
WOYZECK
Jetzt sind Sie der Chef der Partei, Herr General.
Rasiert.
WOYZECK
Seit zwei Monaten. Es ist ein Schnitter, der heißt Tod.
NAPOLEON
Nicht schneiden, Schnitter, rasieren.
Von links wieder Cambronne, kräht.
CAMBRONNE
La garde meurt –, la garde meurt –
Verschwindet.
NAPOLEON
Auch sein zweites Zitat kann Cambronne nicht mehr auswendig.
WOYZECK
Herr, wie dein Leib war roth und wund
So laß mein Herz seyn aller Stund.
NAPOLEON
Er ist ein guter Mensch – ein guter Mensch.
WOYZECK
Das hat der Hauptmann auch immer gesagt.
Rasiert.
NAPOLEON
Aber, Woyzeck, Er hat keine Moral.
WOYZECK
Unsereins ist nicht in der Partei, Herr General.
Rasiert.
NAPOLEON
Hat Er das neue Magazin gesehen, Woyzeck?
WOYZECK
Unsereins schaut sich so was nie an, Herr General. Unsereins hat keine Mannskraft nicht mehr.
NAPOLEON
Die Marion ist ein schönes Mädchen, Woyzeck. Er kann stolz auf Seine Tochter sein.
WOYZECK
Vielleicht ist sie meine Tochter, Herr General. Vielleicht ist sie die Tochter des Tambourmajors oder des Hauptmanns, Herr General. Sie ist eine Hur wie ihre Mutter, die Marie, Herr General.
Rasiert.
NAPOLEON
Er muß endlich Seine Marie vergessen, Woyzeck.
WOYZECK
Was kann der liebe Gott nicht, was, Herr General? Das Geschehene ungeschehen machen.
NAPOLEON
Zitier Er nicht immer sich selber, Woyzeck. Er macht mir ganz schwindlig.
WOYZECK
Robespierre ist gelandet.
Legt das Rasiermesser weg.
WOYZECK
After-shave, Herr General?
NAPOLEON
Robespierre?
WOYZECK
Robespierre.
NAPOLEON
Wann?
WOYZECK
Vor zwei Stunden.
NAPOLEON
Warum ist Er informiert und ich nicht?
WOYZECK
Jetzt sind Sie informiert, Herr General.
NAPOLEON
Von Ihm und nicht von meinem Geheimdienst. Dunhill.
Fährt sich über den Hals.
NAPOLEON
Hat Ihm Fouché, Woyzeck –
WOYZECK
Jawohl, Herr General. Fouché hat mir befohlen, Ihre Kehle durchzuschneiden, Herr General. Beim Rasieren. Aber ich bin ein Patriot, Herr General, und Sie sind auch ein Patriot. Fouché ist kein Patriot. Er ist der Zweite Sekretär der Partei. Und wer in der Partei ist, ist kein Patriot. Dunhill.
Reibt ihm Dunhill-After-shave ein.
WOYZECK
Sie sind zwar auch in der Partei, Herr General, aber Sie sind ein General, und jeder General ist ein Patriot. Wenn Sie keiner wären, hätt ich. Hätt ich, Herr General, hätt ich.
NAPOLEON
Glück gehabt.
WOYZECK
Jawohl, Herr General.
Betrachtet Napoleons Kopf.
NAPOLEON
Woher hat Er die Nachricht über Robespierre!
WOYZECK
Von meiner Tochter, Herr General.
NAPOLEON
Er ist bei der Marion?
WOYZECK
Vom russischen Militärflughafen direkt, Herr General.
NAPOLEON
Dann wird er auch bei mir aufkreuzen.
WOYZECK
Erst am Nachmittag. Der Chefideologe wird sich ausruhen müssen. Hier noch, Herr General.
Nimmt eine kleine Schere.
WOYZECK
In Ihren Nasenlöchern.
Macht sich an ihnen zu schaffen.
WOYZECK
Ich denk immer an Vogelnester, schneid ich in Ihren Nasenlöchern herum.
Tritt zurück.
WOYZECK
Fertig, Herr General.
NAPOLEON
Er ist ein guter Mensch, Woyzeck, ein guter Mensch. Aber Er denkt zuviel, das zehrt. Er sieht immer so verhetzt aus. Geh Er jetzt zu Fouché, Woyzeck.
Woyzeck packt seine Rasierutensilien zusammen.
WOYZECK
Ich komm doch schon von Fouché, Herr General.
NAPOLEON
Macht nichts, Woyzeck, macht nichts. Rasier Er ihn.
WOYZECK
Er hat sich schon rasiert, Herr General. Elektrisch.
NAPOLEON
Nicht sauber genug, nicht gründlich genug. Nicht für immer, Woyzeck.
Louis von rechts.
LOUIS
Benjamin Franklin, guter Onkel.
NAPOLEON
Rein mit ihm.
Louis ab.
Napoleon erhebt sich, reckt sich.
NAPOLEON
Müd, Woyzeck, müd. Die Nacht eine Besprechung nach der andern, und nun noch der amerikanische Botschafter.
Zieht den Rock aus, wirft ihn hinten aufs Bett, setzt sich wieder.
NAPOLEON
Geh Er jetzt rasieren, Woyzeck. Langsam, hübsch langsam die Straße hinunter.
WOYZECK
Wie hell! Über der Stadt ist alles Glut! Ein Feuer fährt um den Himmel und ein Getös herunter wie Posaunen.
Geht nach rechts ab, am eintretenden Benjamin Franklin vorbei, der ihm nachstaunt.
FRANKLIN
Der dichtet ja.
Erblickt Napoleon, erschrickt.
NAPOLEON
Hei, Benjamin! Sie kommen in aller Herrgottsfrühe! Ich bin dabei, mich ins Bett zu legen. Als Politiker leb ich in verkehrter Reihenfolge: Arbeit, Frühstück, Schlaf; für den ist der Vormittag da.
Franklin starrt Napoleon entgeistert an.
NAPOLEON
Was haben Sie denn?
FRANKLIN
Ich – ich –
Stammelt.
FRANKLIN
Ich bin völlig konsterniert.
NAPOLEON
Funktioniert der Blitzableiter nicht mehr, den Sie erfunden haben wollen?
FRANKLIN
Das war doch der Scharfrichter!
NAPOLEON
Mein Barbier.
FRANKLIN
Der sollte doch –
NAPOLEON
Mein Barbier bleibt mein Barbier.
FRANKLIN
Und ich bin gekommen, Ihre Leiche zu besichtigen.
NAPOLEON
Tut mir leid.
FRANKLIN
Fouché?
NAPOLEON
Wird jetzt rasiert.
FRANKLIN
Ich bin noch immer perplex.
NAPOLEON
Beruhigen Sie sich. Im großen ganzen sind Ihre Informationen ja richtig. Woher stammen sie denn?
FRANKLIN
Von ihr. Marion.
Hebt ein Herrenmagazin hoch.
NAPOLEON
Das Biest schläft auch mit jedem.
FRANKLIN
Leider segelt meine Gattin übermorgen über den Teich herüber.
Setzt sich auf den Schreibtisch rechts außen.
Louis von rechts.
LOUIS
Darf serviert werden?
NAPOLEON
Halten Sie mit, Benjamin?
FRANKLIN
Mit Vergnügen, Napoleon. Gut gefrühstückt –
NAPOLEON
Bitte, Benjamin, kein Sprichwort.
FRANKLIN
Ich hab doch noch gar keines –
NAPOLEON
Trotzdem nicht.
FRANKLIN
Na schön.
NAPOLEON
Ein Gedeck mehr.
Plon-Plon schiebt einen Servierwagen mit Frühstück zu Napoleon.
LOUIS
Das Frühstück, guter Onkel.
Ab.
PLON-PLON
Der Em-, der Emmentaler–
Nimmt ungeniert eine Schnapsflasche vom Servierwagen, trinkt.
PLON-PLON
Ist – ist noch nicht eingetroffen.
NAPOLEON
Plon-Plon, nicht schwindeln. Du hast ihn selber gefressen.
Louis bringt ein zweites Gedeck.
LOUIS
Das zweite Gedeck, bitte sehr.
Louis und Plon-Plon ab.
Franklin bemerkt, daß er sich auf Napoleons Hut gesetzt hat.
FRANKLIN
Oh, Pardon. Ich saß auf Ihrem Hut, Napoleon. Und beinah auf Ihrer Brille.
NAPOLEON
Macht nichts.
FRANKLIN
Bitte.
Reicht Napoleon den Hut.
NAPOLEON
Danke. Die Brille brauche ich nicht.
Setzt sich den Hut auf.
Franklin schaut sich verlegen um.
NAPOLEON
Kippen Sie die Akten auf den Boden.
Franklin läßt die Akten vom Stuhl vor dem Schreibtisch rutschen, setzt sich.
NAPOLEON
Was hat Ihr Präsident wieder Schlaues vor?
FRANKLIN
Sie sollten unseren Präsidenten politisch nicht unterschätzen.
NAPOLEON
Schauspieler sollten nicht Präsidenten spielen.
FRANKLIN
Einer Eurer Präsidenten war Klavierspieler.
NAPOLEON
Er spielte scheußlich. Aber Chopin, nicht Weltpolitik. Greifen wir zu. Tee?
FRANKLIN
Anständig?
NAPOLEON
Vom chinesischen Botschafter.
FRANKLIN
Ihre Politik wird riskant.
Napoleon gießt zwei Tassen Tee ein.
NAPOLEON
Lachs? Kaviar? Russische Eier? Geräucherte Forelle?
FRANKLIN
Es geht in Ihrer Kaserne lukullisch zu.
NAPOLEON
Sie erwarteten ja auch ein Henkersmahl.
Schiebt Franklin den Wagen zu.
Sie frühstücken.
FRANKLIN
Über dem Teich ist man hoch besorgt.
NAPOLEON
Darüber sind wir hoch besorgt. Parmaschinken.
Franklin schiebt Napoleon den Wagen zu.
FRANKLIN
Wären wir nicht um Ihr Land besorgt, wäret ihr schon längst besetzt.
NAPOLEON
Ich fürchte mich vor dieser Gefahr weniger als vor euren schlechten Nerven. Arteriosklerotiker stehen Hysterikern gegenüber.
Schiebt Franklin den Wagen zu.
FRANKLIN
Unser Präsident wollte Fouché einen Nichtangriffspakt anbieten.
NAPOLEON
Ihm?
FRANKLIN
Ich meldete, Sie seien gestürzt.
Schiebt Napoleon den Wagen zu.
NAPOLEON
Voreilig.
FRANKLIN
Weiß der Teufel.
NAPOLEON
Drüben ist jetzt tiefste Nacht?
FRANKLIN
Halb zwei.
NAPOLEON
Ihre Morgenblätter und das Fernsehen werden meinen Sturz und das Angebot Ihres Präsidenten bekanntgeben.
FRANKLIN
Der Präsident wird das Angebot auch Ihnen unterbreiten.
Napoleon schiebt Franklin den Wagen zu.
NAPOLEON
Ich glaube nach und nach, Ihr Präsident sei einmal auch ein dilettantischer Kunstmaler gewesen.
FRANKLIN
Napoleon, ich muß doch sehr bitten.
Schiebt Napoleon empört den Wagen zu.
NAPOLEON
Ich denke an Churchill, Benjamin.
FRANKLIN
Churchill?
Denkt nach.
FRANKLIN
Ach ja. Der malte auch. Nein, an Churchill kommt er nicht heran.
NAPOLEON
Trotzdem. Alle Staatsmänner mit künstlerischen Ambitionen –
FRANKLIN
Ich begreife nicht, weshalb Sie sich ärgern, Napoleon. Sie haben mit dem Angebot des Präsidenten einen kolossalen Trumpf zugespielt bekommen.
NAPOLEON
Jemand anders hat einen kolossalen Trumpf zugespielt bekommen. Wird sein Angebot bekannt, werden wir morgen besetzt. Zwischen uns und unserem Nachbarn liegt kein Teich.
FRANKLIN
Verdammt, Napoleon, Sie haben recht.
NAPOLEON
Noch Tee?
FRANKLIN
Ich brauche einen Schnaps.
Napoleon schiebt Franklin den Wagen zu.
FRANKLIN
Ich setze mich mit unserem Außenminister in Verbindung. Hoffentlich hat unser Verteidigungsminister nicht schon gequatscht.
NAPOLEON
Von dem wird ohnehin die Schnapsidee stammen.
Franklin stürzt den Schnaps hinunter, erhebt sich.
FRANKLIN
Die Absichten unseres Präsidenten sind falsch interpretiert worden.
NAPOLEON
In der Politik leuchten die faulsten Ausreden am besten ein.
FRANKLIN
See you, Napoleon.
Schiebt Napoleon den Wagen zu.
NAPOLEON
Bye, bye, Benjamin.
Franklin nach rechts ab.
Napoleon gießt sich wieder Tee ein, denkt nach, wirft den Hut ins Publikum.
NAPOLEON
Ein blödsinniger Hut.
Von rechts Louis.
NAPOLEON
Bereite das Bad vor, Louis.
LOUIS
Kardinal Richelieu, guter Onkel.
NAPOLEON
Ich werde diesen morgen überfallen. Soll kommen.
LOUIS
Der Kardinal ist im Ornat, guter Onkel.
NAPOLEON
Hilf mir in den Rock.
Erhebt sich. Louis holt den Rock vom Bett, hilft ihm hinein.
NAPOLEON
Die Brille. Den Hut.
Louis findet die Brille, sucht weiter.
LOUIS
Finde den Hut nicht, guter Onkel.
NAPOLEON
Schmiß ihn ins Publikum.
Louis tritt an die Rampe.
LOUIS
Darf ich bitten, daß mir jemand den Hut –
Der Hut wird ihm hinaufgereicht.
LOUIS
Vielen Dank.
Geht zu Napoleon.
LOUIS
Die Brille, guter Onkel, der Hut.
NAPOLEON
Setz ihn mir auf.
Louis setzt ihm den Hut auf.
NAPOLEON
Sitzt er?
Louis tritt zurück, betrachtet Napoleon, tritt noch einmal heran, rückt am Hut.
LOUIS
Jetzt, guter Onkel.
Napoleon steht in seiner historischen Pose da.
NAPOLEON
Ein Magazin.
Louis reicht Napoleon ein Herrenmagazin.
NAPOLEON
Rein mit ihm.
Louis ab.
Napoleon blättert im Vordergrund im Magazin.
Richelieu kommt von rechts, gekleidet nach dem bekannten Porträt Champaignes. (Er wird von einer Frau gespielt.)
RICHELIEU
Napoleon Bonaparte.
NAPOLEON
Armand-Jean Du Plessis. Ich bin dabei, mich schlafen zu legen.
RICHELIEU
Stört mich nicht.
NAPOLEON
Bleich, Richelieu.
RICHELIEU
Wieder einmal Fieber. Sie sehen gesund aus.
Von links taucht Cambronne auf.
NAPOLEON
Überrascht? Ich bin fett geworden und alt. Ich bin seit zwei Monaten Staatschef, und Sie besuchen mich zum ersten Mal.
Cambronne steht plötzlich vor Richelieu, kräht.
CAMBRONNE
Amen! Amen!
Verschwindet.
RICHELIEU
Das war doch Cambronne.
NAPOLEON
Das war auch Cambronne.
RICHELIEU
Der sagt doch »merde«.
NAPOLEON
Er ist textunsicher.
Richelieu sieht sich um.
RICHELIEU
Sie sind noch nicht ins Staatspalais übergesiedelt, Bonaparte?
NAPOLEON
Ich bin an diese Bude gewöhnt.
RICHELIEU
Kärglich.
NAPOLEON
Früher ein Arrestloch für Offiziere. Alles da, was ich brauche: Feldbett, Schreibtisch, Telefon, Fernseher, Videogerät, aufrollbare Filmleinwand, hinter dem Wandschirm Bad und Toilette.
Zeigt auf den Wagen.
NAPOLEON
Tee? Schnaps? Toast? Butter? Lachs? Kaviar?
Blättert im Magazin weiter.
RICHELIEU
Das Volk hungert.
NAPOLEON
Wir stehen vor dem puren Chaos.
RICHELIEU
Das neuste Magazin?
NAPOLEON
Toll, nicht?
Zeigt auf ein zweiseitiges Aktbild Marions im Magazin, das er Richelieu reicht.
RICHELIEU
Ein Wunderwerk der Natur.
Blättert im Magazin.
RICHELIEU
Eine geniale Idee. Mit Hilfe dieses Magazins verbreitet Hus seine politischen Ziele. Die Freie Gewerkschaft ist die populärste Arbeiterbewegung der Welt geworden. Das hätten Sie verhindern sollen, Bonaparte. Die gefährlichsten Pfeile sind die vergifteten. Die mit Pornographie vergifteten Pfeile.
NAPOLEON
Der Staat ist pleite, Milliarden Schulden im Westen, keine Hilfe vom Osten. Nur das Magazin bringt Devisen. Wir sind das einzige sozialistische Land, das nicht prüde ist, und diese Chance muß ausgenutzt werden.
RICHELIEU
Damit rechnet Hus, und er rechnet gut. Er ist ein Reformator. Will er heute die Partei reformieren, wird er morgen die Kirche zu reformieren suchen. Ich kenne den Ketzer. Schon in Konstanz versuchte ich, dieses faule Holz abzuhauen und zu verbrennen, damit die Fäulnis nicht den ganzen Stamm anstecke. Das Feuer loderte vergebens. Der Stamm ist angesteckt. Wir sind beide hilflos. Ihnen sind die Hände wirtschaftlich gebunden, Bonaparte, und mir religiös gefesselt. Exkommuniziere ich Marion und setz das Magazin auf den Index, ist die Kirche politisch erledigt.
Legt verärgert das Magazin auf den Schreibtisch zurück.
RICHELIEU
Er fordert in seinen Leitartikeln freie Wahlen.
NAPOLEON
Ich les nie seine Leitartikel. Zu schlecht geschrieben.
RICHELIEU
Sprengstoff benötigt keinen Stil. Ich kenne Sie, Bonaparte, aber ich durchschaue Sie nicht. Sie spielen den Sorglosen, und dabei haben Sie Robespierre auf dem Hals. Der Advokat von Arras wird heute nachmittag eintreffen.
NAPOLEON
Seine Ankunft ist ein Staatsgeheimnis.
RICHELIEU
Und?
NAPOLEON
Sie wissen es, Richelieu.
RICHELIEU
Wußten Sie’s?
NAPOLEON
Ich bin der Partei- und Staatschef.
RICHELIEU
Wie lange noch?
NAPOLEON
Wer spielte Ihnen die Nachricht zu?
RICHELIEU
Nebensächlich.
NAPOLEON
Setzen wir uns.
Napoleon setzt sich in den Fernsehsessel, wirft den Hut auf den Stuhl, auf dem Franklin saß, legt die Brille auf die Sprechanlage.
Richelieu betrachtet die Karte zwischen den Fenstern.
RICHELIEU
Korsika.
NAPOLEON
Ich bin ein Korse geblieben.
Richelieu betrachtet die Fotos auf der Konsole.
RICHELIEU
Josephine Beauharnais.
NAPOLEON
Ich hätte mich von ihr nicht scheiden lassen sollen.
RICHELIEU
Marie-Louise –
NAPOLEON
Die Habsburgerin war eine Kuh.
RICHELIEU
Die Waleska?
NAPOLEON
Greta Garbo.
RICHELIEU
Die Poster an der Wand?
NAPOLEON
Die Schauspieler, die mich dargestellt haben. Meines ist das beste.
Zieht den linken Stiefel aus.
RICHELIEU
Ich zweifle, Bonaparte, ob Sie heute noch ins Bett kommen. Die immer extremeren Forderungen der Freien Gewerkschaft, die wütenden Angriffe gegen Hus in den russischen Zeitungen, die Ankunft Robespierres –
NAPOLEON
Zur Sache, Richelieu.
Zieht den rechten Stiefel aus.
RICHELIEU
Ich hab nicht resigniert wie Sie, Bonaparte.
NAPOLEON
Ihr Metier ist dasselbe geblieben.
RICHELIEU
Ich hab mein Ziel nicht aufgegeben. Aber es hat weltweite Dimensionen angenommen.
NAPOLEON
Ein solches Ziel hatt ich auch einmal.
Richelieu nimmt den Hut vom Stuhl, setzt sich.
RICHELIEU
Unvollkommen. Sie wollten Europa mit dem bürgerlichen Pack Ihrer Spaghetti-Dynastie einigen, geschminkt mit ›Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‹. Läppisch. Sie schürten gleichzeitig zwei Feuer: die Demokratie und die Despotie. Das Resultat? Die Reaktion auf beide: die Freiheitskriege mit ihren Hoffnungen und die Restauration mit ihren Enttäuschungen: der Nationalismus endlich, der Europa endgültig zerfetzte.
Napoleon erhebt sich.
NAPOLEON
Scheiße.
RICHELIEU
Jetzt zitieren Sie Cambronne. Wenn auch auf deutsch.
NAPOLEON
Klingt besser.
Wirft die Stiefel nach rechts hinaus.
Scherbengeklirr.
NAPOLEON
Ich soll womöglich noch die beiden Weltkriege bewirkt haben!
RICHELIEU
Warum nicht?
NAPOLEON
Das werfen Sie mir vor?
RICHELIEU
Seelenruhig.
Spielt gedankenverloren mit dem Hut Napoleons.
NAPOLEON
Historisch sind Sie als Staatsmann nach Strich und Faden gescheitert.
RICHELIEU
Nur stilvoller als Sie. Ich prägte ein Zeitalter, Sie sind eine Episode.
Napoleon zieht den Rock und die Weste aus, legt beides auf den Stuhl vor dem Bett.
RICHELIEU
Ich schuf den absoluten Staat mit einem alleinherrschenden König und mit einer Kirche, um einen Kulturstaat zu formen, und Sie krönten sich zum Kaiser, um mich zu übertrumpfen. Ich herrschte nicht, ich ließ den König herrschen. Sie wollten Herrscher und Richelieu zugleich sein. Sie waren nichts als eine maßlos übertriebene Kopie meiner selbst.
Napoleon verschwindet hinter dem Wandschirm.
RICHELIEU
Zugegeben, jetzt sind wir beide marode. Die Menschen brauchen einen eisernen Käfig, sonst werden sie gemeingefährlich. Nichts schadet der Menschheit mehr als Menschlichkeit. Die Käfige, die wir bauten, waren zu schwach.
Hinter dem Wandschirm werden Hemd, Hose, Unterwäsche ins Zimmer geworfen.
RICHELIEU
Wir sind beide schuldig, aber Hus ist schuldiger als wir, auch wenn er nur einer unter den Ketzern ist. Als Gott die Welt schuf, schuf er auch die Schlange. Auf die Schlange folgte Kain. Die Reihe brach nie ab, gleichgültig, ob sie religiöse oder politische Ketzer waren, gleichgültig, auf welchem Scheiterhaufen sie verbrannten oder an welche Wand man sie auch stellte.
Napoleon kommt im Nachthemd hinter dem Wandschirm hervor.
NAPOLEON
Ich war auf Sankt Helena.
RICHELIEU
Na und? Ich kann mir Ihre Nostalgie nicht leisten. Heute sind wir in der Lage, den ausbruchsicheren Käfig zu konstruieren. Die Kirche ist etwas Absolutes, und die Partei ist etwas Absolutes. Beide denken global.
Napoleon setzt sich wieder in den Fernsehsessel.
RICHELIEU
Die Kirche und die Partei müssen miteinander verschmelzen, der Vatikan und der Kreml sich vereinen, das Hirtenamt des Papstes und jenes des Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei sich in einer Person verkörpern. Die Partei hat ihren Atheismus aufzugeben und sich einer Kirche unterzuordnen, die marxistisch geworden ist. Zum absoluten Weltstaat ist weder die heutige Kirche noch die heutige Partei, sondern nur eine katholisch-marxistische alleinseligmachende Kirche fähig. Mein Ziel. Ich erlebe es nicht mehr, aber ich bereite es vor. Der Mensch braucht Gerechtigkeit im Diesseits und Gnade im Jenseits. Die Gerechtigkeit im Diesseits ist nur ohne Freiheit möglich und die Gnade im Jenseits nur durch die Freiheit Gottes. Er wird auch uns beiden gnädig sein. Allein die Ketzer sind auf ewig verdammt. Wer die Freiheit im Diesseits wünscht, fällt der Gerechtigkeit im Jenseits anheim: der Hölle.
Starrt verwundert auf den Hut in seinen Händen.
RICHELIEU
Ihr Hut, Bonaparte.
Gibt ihm den Hut.
RICHELIEU
Heute abend treff ich Robespierre.
NAPOLEON
Falls er für Sie zu sprechen ist.
Setzt gedankenverloren den Hut auf.
RICHELIEU
Das Treffen wurde vor einer Woche zwischen Bischof Zabarella und Botschafter Molotow arrangiert.
NAPOLEON
Wo haben sich denn die beiden kennengelernt?
RICHELIEU
Bei der schönen Marion.
NAPOLEON
Drum sind Sie im Bilde.
RICHELIEU
Das Wunderwerk ist auch der Kirche nützlich. Mit Fouché hab ich mich geeinigt. Der akzeptiert die Neutralität der Kirche. Ich muß auch Robespierre dazu bringen. Ein schwierigeres Unterfangen. Ich werde ihn an seine Vergangenheit erinnern: Er gab die Existenz eines höchsten Wesens zu.
Erhebt sich, zieht ein Brevier hervor, tritt feierlich zu Napoleon.
RICHELIEU
Bonaparte, es gibt für Sie kein Sankt Helena mehr. Darf ich die letzte Beichte –
Von rechts Hus in einem Arbeiterkleid wie Lech Wałęsa. Er trägt auf dem Kopf den mittelalterlichen Ketzerhut aus Papier, mit Teufeln bemalt.
HUS
Napoleon, ich –
Stutzt.
HUS
Richelieu. Verdammt. Heilige Jungfer Marie!
RICHELIEU
Sie stören eine heilige Handlung, Jan Hus.
NAPOLEON
Ich bin dabei, in die Klappe zu gehen, Jan Hus.
Von rechts Louis.
LOUIS
Hus ließ sich nicht aufhalten, guter Onkel.
NAPOLEON
Schwatz nicht, Louis. Den Schlafrock.
Erhebt sich.
LOUIS
Sehr wohl, guter Onkel.
Nimmt den Schlafrock, der rechts vom Bett hängt.
NAPOLEON
Sie sind schon der dritte Besucher, der mich heute morgen stört, Hus. Draußen ist es fast taghell.
Louis hilft Napoleon in den Schlafrock.
NAPOLEON
Die Stiefel.
LOUIS
Die haben Sie in die Vitrine mit dem Meißner Porzellan geschmissen, guter Onkel.
NAPOLEON
Geschenk vom Erich.
LOUIS
Sie haben noch den Hut auf, guter Onkel.
NAPOLEON
Ach so. Nimm ihn mit.
Louis mit Hut ab.
NAPOLEON
Schnaps? Toast? Butter?
HUS
Das Volk hungert.
NAPOLEON
Das hat schon Richelieu festgestellt.
RICHELIEU
Wir stehen vor dem puren Chaos.
Steckt ärgerlich das Brevier wieder ein.
HUS
Geräucherte Forelle, Lachs, Kaviar, kaltes Huhn, Parmaschinken.
Beugt sich über den Servierwagen.
NAPOLEON
Greifen Sie zu.
HUS
Ich muß essen. Wenn ich so ’ne Menge Speisen seh, muß ich essen.
Schiebt den Wagen zum Stuhl vor dem Bett, setzt sich, greift nach den Speisen, beginnt zu essen.
NAPOLEON
Sie sitzen auf meinen Kleidern, Hus.
HUS
Wenn schon.
Ißt weiter.
RICHELIEU
Sind wir uns nach Konstanz nicht noch irgendwo begegnet?
HUS
Erinnern Sie sich nicht?
RICHELIEU
Nein.
HUS
Dann nicht.
Ißt.
HUS
Der Parteiideologe Robespierre landet heute nachmittag.
NAPOLEON
Wissen wir auch.
HUS
Fouché wird Regierungschef.
RICHELIEU
Wissen wir auch.
HUS
Jeder weiß schon alles!
NAPOLEON
Das Natürlichste in einem Land, wo alles geheim ist.
HUS
Tauchen Sie unter, Napoleon.
Langt weiter zu, dann endlich, kauend:
HUS
Eine Adresse.
Gibt Napoleon einen Zettel.
HUS
Dort sind Sie sicher.
NAPOLEON
Hier bin ich sicher.
Steckt den Zettel ein.
HUS
Sie hocken in einer Mausefalle, Napoleon. Sie lassen sich in Ihrer Kaserne so nachlässig bewachen, daß es zugeht wie in einer Bahnhofshalle.
Ißt.
NAPOLEON
Das ist mir auch schon aufgefallen.
HUS
Woyzeck kommt heut zu Ihnen.
Ißt.
NAPOLEON
Er rasiert mich jeden Morgen.
Setzt sich wieder.
HUS
Heut rasiert er Sie zum letzten Mal.
Ißt.
HUS
Sehn Sie, das wissen Sie nicht.
Ißt.
RICHELIEU
Und Sie von Gott verlassener Ketzer hindern Napoleon Bonaparte am Beichten?
NAPOLEON
Regen Sie sich nicht auf, Richelieu. Woyzeck ist schon bei mir gewesen.
Schweigen.
Napoleon nickt.
RICHELIEU
Mit Ihrem Nicken ist uns nicht gedient, Bonaparte.
NAPOLEON
In meinem Fall ist Nicken eine Antwort.
RICHELIEU
Aber Fouché –
NAPOLEON
Kann nicht mehr nicken.
HUS
Hat Woyzeck ihn –?
NAPOLEON
Woyzeck ist ein Patriot. Er glaubt, ich sei auch einer.
Schweigen.
NAPOLEON
Fouché ist für Woyzeck keiner.
Draußen Chopins ›Trauermarsch‹.
NAPOLEON
Sie bringen ihn schon.
RICHELIEU
Ich gehe.
NAPOLEON
Wollen Sie Fouchés Leiche besichtigen?
RICHELIEU
Ich will Sie nicht hindern, sich schlafen zu legen, Bonaparte. Ich kehre in den erzbischöflichen Palast zurück.
NAPOLEON
Langsam, hübsch langsam. Ihr Diskurs hat mich ganz angegriffen. Ein Zitat, Kardinal, ein Zitat.
Richelieu ab.
Hus ruft ihm nach.
HUS
Adieu!
Schiebt den Wagen von sich.
HUS
Für den bin ich Dreck.
NAPOLEON
Du gibst das Magazin heraus.
HUS
Die Priester reißen sich darum.
Napoleon in die Sprechanlage.
NAPOLEON
Abräumen.
Geht zum Fenster, schaut in den Hof hinunter.
Immer noch die Trauermusik.
NAPOLEON
Sie bahren Fouché für das Volk auf.
HUS
Den besichtigt niemand.
Plon-Plon und Louis kommen.
HUS
Was ihr beide hier zum Frühstück aufgetrieben habt, war gewaltig.
LOUIS
Beziehungen.
HUS
Napoleon verstand es immer, Europa auszuplündern.
PLON-PLON
Vom – vom Delikatessen-Mauler in Zürich geliefert.
Plon-Plon und Louis schieben den Wagen nach rechts hinaus.
Hus kommt nach vorne.
HUS
Richelieu trifft sich heut abend mit Robespierre.
NAPOLEON
Du bist ja auch ganz schön informiert.
HUS
Zabarella ist auf meiner Seite.
Setzt sich in den Fernsehsessel.
NAPOLEON
In Konstanz war er Untersuchungsrichter.
HUS
Die Menschen ändern sich.
NAPOLEON
In diesem unserem Lande verrät ein jeder jeden.
Kommt nach vorne.
NAPOLEON
Nimm endlich deinen komischen Hut ab.
HUS
Einen Ketzerhut nimmt man nicht ab. Ich trug ihn in Konstanz auf der Scheiterbeige.
Setzt sich hinter den Schreibtisch.
NAPOLEON
Was hat die Freie Gewerkschaft beschlossen?
HUS
Die Sitzung hat die ganze Nacht gedauert.
NAPOLEON
Und?
HUS
Die Freie Gewerkschaft hat mit deinem Sturz gerechnet.
NAPOLEON
Sie hat sich verrechnet.
Hus stopft sich eine Pfeife.
HUS
Die Regierung hat die Legalität der Freien Gewerkschaft vertraglich bestätigt. Fouché hätte die Bestätigung zurückgenommen. Diese Gefahr hast du beseitigt. Aber die Schwierigkeiten bleiben.
NAPOLEON
Im Vertrag steht, daß du dich nicht politisch betätigen willst.
HUS
Ich halte mich daran.
NAPOLEON
Ich halte mich auch an den Vertrag.
HUS
Die Verhaftungen nehmen zu.
Zündet sich die Pfeife an.
NAPOLEON
Ich verhafte nur, wer sich politisch gegen mich wendet.
HUS
Ich verlange eine Wirtschaft, die funktioniert, genügend Lebensmittel für die Bevölkerung, gerechtere Löhne.
NAPOLEON
Freie Wahlen.
HUS
Die sind von der Verfassung garantiert.
NAPOLEON
Du stellst politische Forderungen.
HUS
Ich stelle selbstverständliche Forderungen.
NAPOLEON
Auch selbstverständliche Forderungen sind bei uns politisch.
HUS
Was hat bei uns nicht eine politische Bedeutung? Furzen: daß die Partei stinkt; Gähnen: daß der Marxismus langweilig ist; Bumsen mit Pariser: daß man nicht mehr an den Sieg des Proletariats glaubt; Bumsen ohne Pariser: daß man einen Revisionisten zeugen will.
Pafft vor sich hin.
HUS
Ich kann nicht schweigen, wenn Studenten und Dissidenten in den Gefängnissen verschwinden.
NAPOLEON
Wer bei uns nicht schweigt, raucht auf dem Gelände einer Pulverfabrik. Du hast dermaßen geschlotet, daß jetzt Robespierre aufgetaucht ist. Und der ist schlimmer als Fouché.
Draußen schweigt die Trauermusik.
HUS
Der Trauermarsch ist zu Ende.
NAPOLEON
Dein Optimismus ist sträflich.
HUS
Diese Nacht hat die Freie Gewerkschaft beschlossen, morgen den Generalstreik auszurufen.
NAPOLEON
Dann greifen sie ein.
HUS
Sie wagen’s nicht.
NAPOLEON
Sie müssen eingreifen. Ihre Ideologie zwingt sie dazu.
HUS
Das Risiko ist zu groß.
NAPOLEON
Du stehst Dogmatikern gegenüber.
HUS
Die können mir mit ihren Dogmen den Arsch wischen.
NAPOLEON
Du bist immer noch so leichtsinnig wie damals in Konstanz.
HUS
Du bist ebenso leichtsinnig gewesen, als du den britischen Kreuzer ›Bellerophon‹ bestiegen hast.
Beide erheben sich.
NAPOLEON
Jan Hus, du bist unverbesserlich.
HUS
Du stehst auf meiner Seite. Du bist mein Freund.
Umarmt Napoleon.
HUS
Du wirst mich nicht verraten, wie mich Kaiser Sigismund verraten hat.
NAPOLEON
Wir müssen vermeiden, was vermieden werden kann. Keine Provokationen und Deklarationen mehr.
Hus legt die Pfeife zur Sprechanlage.
NAPOLEON
Keinen Generalstreik, und Schluß mit deinen Artikeln.
HUS
Die Freie Gewerkschaft läßt sich nicht mehr zügeln.
NAPOLEON
Du hast sie zu zügeln.
Draußen Trauermarsch.
HUS
Wieder der Trauermarsch. Ich geh ins Bett.
Von rechts Louis.
LOUIS
Robespierre.
NAPOLEON
Verflixt. Der Chefideologe.
LOUIS
Er verneigt sich vor der Leiche Fouchés.
NAPOLEON
Statt mit Marion zu schlafen, wird er sie verhaftet haben.
Plon-Plon kriecht von rechts auf allen vieren herein.
PLON-PLON
Er-er – Ro-Ro-Robespierre kommt her-her-herauf!
Beginnt die ›Marseillaise‹ zu singen.
PLON-PLON
Allons, enfants de la patrie –
Hört abrupt auf.
NAPOLEON
Hinter den Wandschirm.
Hus geht hinter den Wandschirm, läßt seine Pfeife bei der Sprechanlage.
NAPOLEON
Plon-Plon, Louis, ankleiden!
Geht mit Louis hinter den Wandschirm.
Plon-Plon sammelt torkelnd die Kleider ein, singt die ›Marseillaise‹ weiter.
PLON-PLON
Le jour de gloire est arrivé
Contre nous de la tyrannie –
Hört abrupt auf.
Von rechts wankt Robespierre herein, setzt sich auf den Stuhl vor dem Bett. Er ist ein winziger verschrumpelter Greis in der Kleidung Robespierres, Brille auf die Stirn geschoben, und kann auch von einem Mädchen gespielt werden.
ROBESPIERRE
Die sogenannte Revolution ist noch nicht fertig; wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt sich selbst ein Grab.
Plon-Plon verschwindet torkelnd hinter dem Wandschirm.
Robespierre läßt sich nicht stören.
ROBESPIERRE
Jan Hus ist keineswegs ein Angeklagter. Ich bin keineswegs Richter. Ich bin und kann nur ein Repräsentant des Proletariats sein. Ich habe keineswegs ein Urteil für oder gegen einen Menschen zu fällen, sondern einen Akt jenes dialektischen Prozesses auszuführen, den man die Weltgeschichte nennt.
Hinter dem Wandschirm kommt Hus nach vorn, zur Sprechanlage, nimmt die Pfeife, zündet sie wieder an, geht nach rechts hinaus.
Robespierre läßt sich nicht stören.
ROBESPIERRE
Ein entlarvter Revisionist ist in einer sozialistischen Republik nur zu zwei Dingen gut: entweder die Ruhe der Republik zu stören und die Freiheit zu erschüttern oder beide zugleich zu befestigen. Wenn man der Welt seine Probleme als Schwächen hinstellt, wenn man seine Sache zum Gegenstand einer feierlichen Diskussion stempelt –
Hinter dem Wandschirm stürzt Louis hervor, rennt über die Bühne nach rechts hinaus.
Robespierre läßt sich nicht stören.
ROBESPIERRE
so erreicht man damit nur, daß der Revisionist noch einmal zu einer Gefahr für die Freiheit wird. Jan Hus ist Revisionist, und die sozialistische Republik ist gegründet.
Von rechts rennt Louis mit den beiden Stiefeln und dem Hut Napoleons wieder nach links hinter den Wandschirm.
Robespierre läßt sich nicht stören.
ROBESPIERRE
Damit sind die Fragen bereits entschieden. Jan Hus hat durch seine Verbrechen die Partei verlassen. Er hat, um sie zu züchtigen, die Heere der ausländischen Agenten herbeigerufen.
Hinter dem Wandschirm kommen Plon-Plon und Louis hervor. Plon-Plon nimmt Robespierre auf die Arme, trägt ihn schwankend herum. Louis verschwindet mit Rock und Weste Napoleons hinter dem Wandschirm.
Robespierre läßt sich nicht stören.
ROBESPIERRE
Hus kann aber nicht gerichtet werden. Er ist schon verurteilt, oder die sozialistische Republik ist nicht freigesprochen. Vorzuschlagen, daß man Jan Hus den Prozeß macht, heißt, die Revolution selbst in Frage zu stellen. Denn wenn das Schicksal eines Revisionisten noch zum Gegenstand einer Gerichtsverhandlung werden kann, dann kann er freigesprochen werden, kann er unschuldig sein, dann sind die Partei, das Volk der Hauptstadt, alle Patrioten des Landes schuldig.
Plon-Plon stellt Robespierre aufs Bettende, schwankt nach rechts hinaus.
Robespierre läßt sich nicht stören. Er steht auf dem Bett wie ein Volkstribun.
ROBESPIERRE
Und der große Prozeß zwischen Verbrechen und Tugend, den wir vor dem Tribunal der Weltgeschichte anhängig gemacht haben, endet mit dem Sieg des Verbrechens und des Faschismus.
Von rechts kommt Marion in Bluejeans-Kleidung.
Nach ihr tritt der Lord auf, elegant modisch gekleidet, behangen mit Kameras, ständig fotografierend.
Robespierre läßt sich nicht stören.
ROBESPIERRE
Ich beantrage, daß die Partei Hus unverzüglich zum Verräter an der sozialistischen Republik, zum Verbrecher an der Menschheit erklärt. Ich beantrage, daß man ein großes Exempel statuiert und daß man dieses denkwürdige Ereignis durch ein Monument verewige, dazu bestimmt, in den Herzen der Völker den Abscheu vor den Revisionisten …
Fällt nach hinten auf das Bett und bleibt unbeweglich.
Plon-Plon nach rechts ab.
Hinter dem Wandschirm kommt Napoleon hervor, wieder angekleidet, in klassischer Pose.
NAPOLEON
Genosse Bonaparte –
Blitzlicht. Während des Folgenden geht der Lord im Raum herum, beugt sich über Robespierre, läuft Napoleon oder Marion nach, steht auf Stühlen, auf dem Schreibtisch usw., kniet, liegt, ständig fotografierend, mit oder ohne Blitzlicht, neue Filme einlegend.
Napoleon erblickt Marion.
NAPOLEON
Wer bist du?
MARION
Marion.
Napoleon, von ihrem Blick gelenkt, sieht Robespierre, geht zum Bett, schaut auf ihn hinunter.
MARION
Tot?
Draußen verklingt der Trauermarsch.
NAPOLEON
Maximilien!
Blitzlicht.
MARION
Eben lag er noch in meinem Bett.
NAPOLEON
Nun liegt er in meinem.
Bückt sich über Robespierre.
NAPOLEON
Rührt sich nicht.
MARION
Er war bei mir schon einmal so.
NAPOLEON
Da hat er keine Rede gehalten.
MARION
Vorher doch.
NAPOLEON
In deinem Bett?
MARION
Bevor er –
NAPOLEON
Bevor er?
Sie starren auf Robespierre.
NAPOLEON
Worüber hat er denn geredet? In deinem Bett? Bevor er.
MARION
Über die Tugend.
NAPOLEON
Sein Lieblingsthema.
Rüttelt Robespierre.
NAPOLEON
Maximilien!
Rüttelt ihn weiter.
NAPOLEON
Genosse Robespierre!
Läßt von ihm ab.
NAPOLEON
Mundbeatmung mach ich nicht.
Sie starren auf Robespierre.
NAPOLEON
Du?
MARION
Nein.
NAPOLEON
Und ich hab mich wieder angezogen.
MARION
Ich mich auch.
Blitzlicht.
NAPOLEON
Wer fotografiert da immer?
MARION
Der Lord.
NAPOLEON
Welcher Lord?
MARION
Tony. Er fotografiert für das Magazin.
NAPOLEON
Soll sich zum Teufel scheren.
Der Lord fotografiert weiter.
MARION
Gott sei Dank ist der gräßliche Trauermarsch nicht mehr zu hören.
NAPOLEON
Der wird bald wieder einsetzen.
MARION
Sollte man nicht einen Arzt –
NAPOLEON
Nein.
Sie starren auf Robespierre.
MARION
Er sieht aus wie ein Mädchen.
Schweigen.
MARION
Ganz sanft.
Schweigen.
MARION
Ich kam mir mit ihm im Bett wie eine Kinderschänderin vor.
Schweigen.
NAPOLEON
Man hat vor ihm gezittert.
MARION
Sie auch?
NAPOLEON
Einmal.
Schweigen.
MARION
Er hat gesagt, ich sei seine erste Frau gewesen.
NAPOLEON
Um Jan Hus zu widerlegen, hat er zu gründlich das Magazin gelesen und dich zu oft nackt gesehen.
Geht zur Sprechanlage.
NAPOLEON
Plon-Plon!
Kehrt zum Bett zurück.
Plon-Plon von rechts.
Blitzlicht.
PLON-PLON
Lieber Onkel?
NAPOLEON
Trag das da in den Hof.
Weist auf Robespierre.
NAPOLEON
Und aufbahren. Neben Fouché.
PLON-PLON
Jawohl, lieber Onkel.
Trägt Robespierre hinaus.
Blitzlicht.
NAPOLEON
Louis!
Hinter dem Wandschirm kommt Louis hervor.
Blitzlicht.
LOUIS
Guter Onkel?
NAPOLEON
Ein Telegramm an ihn.
LOUIS
An ihn.
Geht zum Schreibtisch, setzt sich, schreibt.
Napoleon diktiert.
NAPOLEON
Der Chefideologe Genosse Maximilien-Marie-sidore de Robespierre ist an seiner letzten Rede gestorben. Er äußerte, wer die Revolution zur Hälfte vollende, grabe sich selber ein Grab. Er stimmte mit unserem Zentralkomitee überein …
LOUIS
stimmte mit unserem Zentralkomitee überein –
NAPOLEON
überein …, daß unsere Partei imstande sei, die ökonomischen Schwierigkeiten sowie die revisionistischen und imperialistischen Machenschaften aus eigener Kraft zu überwinden …
LOUIS
aus eigener Kraft zu überwinden –
NAPOLEON
Genosse Bonaparte.
LOUIS
Genosse Bonaparte.
NAPOLEON
Aufgeben.
LOUIS
Jawohl, guter Onkel.
Rechts ab.
NAPOLEON
Fouché ist tot, Robespierre ist tot, die Staatsgeschäfte erledigt – jetzt komm ich doch ins Bett.
Betrachtet Marion.
NAPOLEON
Ich hab dich zuerst nicht erkannt. Man schaut ja bei deinen Fotos auch nicht aufs Gesicht.
Blitzlicht.
MARION
Hus duldet keinen Dilettantismus.
NAPOLEON
Er hat seit Konstanz seine Taktik geändert.
Geht zum Fernsehsessel, setzt sich.
Blitzlicht.
Draußen der Trauermarsch.
NAPOLEON
Da ist der Trauermarsch wieder.
Zieht den rechten Stiefel aus.
Blitzlicht.
NAPOLEON
Der Lord ist immer noch da. Raus!
Der Lord kriecht unter den Schreibtisch.
Napoleon stellt den rechten Stiefel links neben den Fernsehsessel.
NAPOLEON
Warum bist du gekommen?
MARION
Übermorgen marschieren sie ein.
Napoleon beginnt, den linken Stiefel auszuziehen.
NAPOLEON
Der Tod Robespierres hat diese Gefahr beseitigt. Ohne ihn lassen sie sich nicht zu einem Einmarsch provozieren.
MARION
Der Einmarsch ist schon beschlossen.
NAPOLEON
Das hast du von Robespierre?
MARION
Er hat’s mir gesagt.
NAPOLEON
Wann?
Hält mit dem Ausziehen des linken Stiefels inne.
NAPOLEON
Ich muß alles wissen.
MARION
Robespierre hat mir – war es wirklich zum ersten Mal in seinem Leben?
NAPOLEON
Wirklich.
MARION
Der arme Kerl.
NAPOLEON
Mit ihm mußt du kein Bedauern haben.
MARION
Darauf wurde er ohnmächtig.
NAPOLEON
Begreiflich.
MARION
Ich dachte, er sei tot.
NAPOLEON
Weiter.
MARION
Meine Angelegenheit.
NAPOLEON
Es ist nichts mehr deine Angelegenheit.
Schweigen.
MARION
Sie müssen es wissen?
NAPOLEON
In meiner Lage muß ich alles wissen.
MARION
Ich kann es nicht erzählen.
Blitzlicht.
Napoleon erhebt sich, humpelt in einem Stiefel zum Schreibtisch, zieht den Lord am Kragen hervor, wirft ihn nach rechts hinaus.
NAPOLEON
Seinerzeit ließ sich ein Invalide jeden Tag in einem Korb vor das Hauptportal der Tuilerien tragen. Er hatte weder Arme noch Beine. Fouché – damals noch auf meiner Seite – ließ ihn jeden Tag fortbringen, und ich sah den Invaliden nie.
Humpelt in einem Stiefel im Zimmer herum.
NAPOLEON
Als ich davon hörte, befahl ich, den Invaliden in Ruhe zu lassen und ihn zu verköstigen. So blieb er Tag und Nacht vor dem Hauptportal. Aber ich ging nie an ihm vorüber. Ich benutzte einen Seitenausgang, und ließ er sich dort hinbringen, ging ich durch das Hauptportal. Ich wollte ihn ebensowenig sehen, wie du von Robespierre reden willst.
MARION
Darf ich rauchen?
NAPOLEON
Rauch.
Sie nimmt eine Zigarette aus der Bluejeans-Jacke, die sich dabei öffnet.
NAPOLEON
Gib mir auch eine Zigarette.
MARION
Gauloise.
Wirft ihm ein Päckchen zu.
NAPOLEON
Die letzte?
MARION
Ich hab noch bei mir.
Gibt sich Feuer, wirft ihm das Feuerzeug zu.
MARION
Feuer.
NAPOLEON
Danke.
Gibt sich Feuer, wirft ihr das Feuerzeug zurück.
NAPOLEON
Nun?
Raucht.
MARION
Dann kam Robespierre wieder zu sich. In meinem Bett. Nachdem er zum ersten Mal in seinem Leben –
NAPOLEON
Weiter.
MARION
Er hat gesagt, ich müsse mit ihm nächsten Morgen zurückfliegen. Sie hätten beschlossen, übermorgen einzugreifen. Mit der Dritten und Vierten Armee. Und mit der Ersten von Westen und der Zweiten von Süden.
NAPOLEON
Die Hälfte der Ersten und Zweiten ist schon bei uns stationiert.
Setzt sich wieder in den Fernsehsessel.
NAPOLEON
Weiter?
MARION
Das ist alles.
NAPOLEON
Quatsch.
Schweigen.
MARION
Nicht alles.
NAPOLEON
Nun?
MARION
Ich wurde wütend.
NAPOLEON
Und?
MARION
Als er mir’s erzählt hat, wurde ich wütend.
NAPOLEON
Weiter.
MARION
›Ich bin immer nur Eins. Ein ununterbrochenes Sehnen und Fassen, eine Gluth, ein Strom. Es läuft auf eins hinaus, an was man seine Freude hat, an Leibern, Christusbildern, Blumen oder Kinderspielsachen, es ist das nemliche Gefühl, wer am Meisten genießt, betet am Meisten‹: Ich hab ihn gezwungen, mich wieder zu lieben.
NAPOLEON
Gezwungen?
MARION
Das kann eine Frau. ›Ich wurde wie ein Meer, was Alles verschlang und sich tiefer und tiefer wühlte.‹ Er war machtlos.
NAPOLEON
Du meinst, du hast ihn getötet?
MARION
›Es war für mich nur ein Gegensatz da, alle Männer verschmolzen in einen Leib. Endlich merkt’ er’s.‹ Er war tot.
NAPOLEON
Genug zitiert.
MARION
Ich hab gewußt, daß er schon drei Herzinfarkte –
NAPOLEON
Das hab ich nicht gewußt.
MARION
Aber ich.
NAPOLEON
Woher willst du denn das gewußt haben?
MARION
Von Molotow.
NAPOLEON
Dann brauch ich nicht weiterzufragen.
MARION
Ich hab ihn getötet.
NAPOLEON
Na ja. Beinahe biblisch. Wie Judith Holofernes.
Von rechts tritt sichtlich erschrocken Louis auf.
Von links Plon-Plon.
MARION
Judith?
NAPOLEON
Was hast du?
MARION
Nichts.
NAPOLEON
Du bist totenbleich.
Erblickt Louis.
NAPOLEON
Was willst du?
LOUIS
Nichts, guter Onkel.
NAPOLEON
Dann verschwind wieder.
Louis ab.
Napoleon erblickt Plon-Plon.
NAPOLEON
Und was hast du hier zu suchen?
PLON-PLON
Auch nichts.
Verschwindet.
MARION
War’s richtig, daß ich’s Ihnen erzählt hab?
NAPOLEON
Ich bin froh, daß ich weiß, warum Robespierre gestorben ist.
MARION
Nur Jan Hus weiß davon.
NAPOLEON
Nur?
Schweigen.
MARION
Und Tony. Er hat Robespierre und mich gefilmt.
NAPOLEON
Der Lord hat –
MARION
Als ich Robespierre –. Hus wollte es so. ›Wir thaten’s heimlich.‹
Schweigen.
NAPOLEON
Hus. Und ich erzähle dir von meinem Invaliden.
Setzt sich wieder.
MARION
Nun gibt’s vielleicht Krieg.
NAPOLEON
Vielleicht.
MARION
Benjamin Franklin bietet uns eine Chance.
NAPOLEON
Es ist mir bekannt, daß du mit dem Botschafter schläfst.
MARION
Würde uns der Nichtangriffspakt mit den Vereinigten Staaten nützen?
NAPOLEON
Nein.
MARION
Dann gibt es Krieg.
NAPOLEON
Gib mir noch eine Zigarette.
Sie wirft ihm ein Päckchen Zigaretten zu.
MARION
Amerikanische.
NAPOLEON
Na ja, bei deinen Beziehungen.
MARION
Feuer.
Wirft ihm das Feuerzeug zu.
NAPOLEON
Danke.
Gibt sich Feuer, wirft ihr das Feuerzeug zurück.
NAPOLEON
Ich werd mich hüten, jemals mit dir ins Bett zu gehen.
MARION
Sie müssen uns helfen.
NAPOLEON
Wir sind umzingelt.
MARION
Denken Sie an Morengo –
NAPOLEON
Marengo.
MARION
Marengo, Jena, Wagram, Austerlitz.
NAPOLEON
Studier besser meine Niederlagen.
MARION
Ich hab ein Buch über Sie gelesen. Es war voller Kaffee- und Rotweinflecken und hatte einen grünen Deckel. Auch Ihr Liebesleben war klasse. Und alle Filme über Sie hab ich gesehn. Am besten hat mir Charles Boyer gefallen.
NAPOLEON
An den komm ich nicht heran.
MARION
An Jan Hus kommen Sie nicht heran.
NAPOLEON
Du liebst ihn wohl sehr?
MARION
›Das ist der einzige Bruch in meinem Wesen.‹ Ich mach alles für ihn. Weil er für uns sein Leben einsetzt. Mein Vater ist ein armer Teufel, den man zwingt zu töten, und meine Mutter hat mit jedem geschlafen, weil sie eben so war. Aber ich bin nicht so. Ich schlafe auch mit jedem und lasse mich unanständig fotografieren, aber weil es einen Sinn hat, weil ich Jan Hus und der Freien Gewerkschaft damit helfe.
NAPOLEON
Geh jetzt. Marsch.
MARION
Du wirst sie besiegen, Napoleon.
NAPOLEON
Hinaus mit dir.
Marion geht stolz ab.
NAPOLEON
Jetzt duzt sie mich schon.
Zieht den rechten Stiefel an.
NAPOLEON
Übermorgen.
In die Sprechanlage.
NAPOLEON
Den Generalstabschef. Ich bleibe auf.
Betätigt die Fernbedienung. Die Filmleinwand rollt sich ab.
NAPOLEON
Schauen wir uns noch etwas die Waleska an.
Der Film erscheint.
Von rechts Cambronne.
CAMBRONNE
Ich hab meinen Text vergessen.
Von rechts hinten erscheinen Louis und Plon-Plon.
Der Raum wie im ersten Akt, nur die Bilder der Napoleon-Darsteller durch Marx-Darsteller ersetzt, Lenin, Stalin, Trotzki, Chruschtschow, Breschnew, Mao, Ho Chi Minh, Fidel Castro, Honecker usw.
Auch die Unordnung hat zugenommen.
Auf der Filmleinwand Napoleon zur Nation sprechend. Er ist schon zu hören, bevor der Vorhang aufgeht.
Im Fernsehsessel Napoleon, gekleidet wie zu Beginn des ersten Akts, nur daß der Rock über dem Stuhl vor dem Schreibtisch hängt.
Im Hintergrund Louis und Plon-Plon. Beide mit einem Stapel Herrenmagazine.
IM FERNSEHEN
Ich verkünde, daß sich diese Nacht ein Militärrat für die nationale Rettung konstituiert hat. Der Staatsrat hat entsprechend den Festlegungen der Verfassung gestern um Mitternacht den Ausnahmezustand auf dem Territorium des gesamten Landes verkündet. Ich möchte, daß alle die Motive und das Ziel unseres Handelns verstehen. Wir streben keinen Militärputsch, keine Militärdiktatur an. Das Volk hat genügend Kraft, genügend Weisheit, um ein funktionstüchtiges demokratisches System sozialistischer Ordnung zu schaffen.
Napoleon stellt den Fernseher mit der Fernbedienung ab.
NAPOLEON
Das Fernsehen lügt nicht. Der Basler Gelehrte Jakob Burckhardt schrieb, ich hätte ein Bild von einer großartigen Lächerlichkeit geboten. Der Mann hatte recht. Als Kaiser haßte ich Spiegel. Ich stellte mich vor ein Bild meines Hofmalers David, wollte ich mich betrachten – ich sah bei David großartig aus. Nun hab ich mich im Fernsehen betrachtet: Ich bin immer noch lächerlich, aber nicht mehr großartig. Das Volk, Louis?
LOUIS
Straßenkämpfe, guter Onkel.
PLON-PLON
Die Armee geht mit Panzerwagen und Wasserwerfern vor.
LOUIS
Die Kaserne ist abgeschirmt.
NAPOLEON
Ich regiere aus einem Grab.
LOUIS
Das neue Magazin, guter Onkel.
Reicht ihm ein Magazin.
PLON-PLON
Extraausgabe.
LOUIS
Wird alle Rekorde schlagen.
Napoleon blättert im Magazin.
NAPOLEON
Der Fotograf?
PLON-PLON
Lord Tony sitzt in der Verkehrsmaschine der British Airways nach London.
LOUIS
Woyzeck wartet.
NAPOLEON
Kann kommen.
PLON-PLON
Sie haben sein Todesurteil unterschrieben.
NAPOLEON
Er soll mich noch rasieren.
Beide ab.
Napoleon stellt das Videogerät mit der Fernbedienung an.
Auf der Filmleinwand Napoleon zur Nation sprechend.
IM FERNSEHEN
In einem solchen System werden die Streitkräfte dort bleiben können, wo ihr Platz ist: in den Kasernen. Keines unserer Probleme kann man auf längere Sicht mit Gewalt lösen. Der Militärrat …
Von rechts kommt Woyzeck, hinkend, mit seinen Rasierutensilien.
WOYZECK
Die Schwämme, Herr General. Da, da steckt’s. Haben Sie schon gesehen, in was für Figuren die Schwämme auf dem Boden wachsen? Wer das lesen könnt!
Napoleon stellt das Videogerät ab.
Die Filmleinwand rollt sich auf.
NAPOLEON
Woyzeck. Eine Stunde später als sonst.
WOYZECK
Ich komm von ihm, Herr General.
NAPOLEON
Vom Generalsekretär?
WOYZECK
Er ist gelandet.
NAPOLEON
Wann?
WOYZECK
Vor zwei Stunden.
NAPOLEON
Warum ist Er informiert und ich nicht?
WOYZECK
Jetzt sind Sie informiert, Herr General.
NAPOLEON
Von Ihm und nicht von meinem Geheimdienst.
WOYZECK
Der ist Ihnen davongelaufen. Den Hut, Herr General, die Sonnenbrille.
Nimmt Napoleon den Hut und die Sonnenbrille ab, legt beides auf den Schreibtisch.
NAPOLEON
Eins nach dem andern.
WOYZECK
Jawohl, Herr General.
NAPOLEON
Woher hat Er die Nachricht?
WOYZECK
Von meiner Tochter, Herr General.
NAPOLEON
Der Generalsekretär ist bei Marion?
WOYZECK
Das Schicksal Robespierres wird ihn neugierig gemacht haben.
Bindet Napoleon das Rasiertuch um.
NAPOLEON
Dann kommt er erst am Nachmittag.
WOYZECK
Robespierre kam bereits vormittags.
NAPOLEON
Du hinkst.
WOYZECK
Ein Stein hat mich getroffen. Das Volk ist zornig, Herr General. Die Erd ist höllenheiß.
NAPOLEON
Kein Grund, ein trauriges Gesicht zu machen, Woyzeck. Neben der Jungfrau Marie, dem Heiligen Vater und Hus ist Seine Tochter unser vierter Nationalheld geworden, und auch Er hat gestern tüchtig gearbeitet, Woyzeck. Fouché bekommt ein Staatsbegräbnis. Geh Er zu meinem Rock.
Woyzeck gehorcht.
NAPOLEON
Greif Er in die rechte Tasche.
Woyzeck gehorcht.
WOYZECK
Der Große Rote Treueorden mit Sichel und Hammer, Herr General.
NAPOLEON
Steck Er ihn sich an.
Woyzeck steckt sich den Orden an.
WOYZECK
Jawohl, Herr General.
NAPOLEON
Seif Er mich ein.
WOYZECK
Sofort, Herr General.
Schlägt Seifenschaum.
WOYZECK
Dank auch für den Orden, Herr General.
NAPOLEON
Fürs Hinrichten, nicht fürs Rasieren.
WOYZECK
Werd’s mir merken, Herr General.
NAPOLEON
Er trägt den Orden, den Fouché getragen hat. Hat sich dieser willig hingesetzt?
WOYZECK
Es blieb ihm nichts anderes übrig, dem Fouché, als sich mir hinzusetzen, und es blieb mir nichts anderes übrig, als ihm die Kehle durchzuschneiden, Herr General, und nun haben Sie sich ja auch hingesetzt.
Seift ein.
NAPOLEON
Woyzeck, Er philosophiert wieder.
WOYZECK
Es war eine Fehlleistung, Herr General.
NAPOLEON
Wer hat Ihm das denn beigebracht?
WOYZECK
Der Doktor, Herr General. Auch die Marie ist eine Fehlleistung gewesen, vor zwanzig Jahr. Ich hätt dem Hauptmann und dem Tambourmajor die Kehle durchschneiden sollen, hat der Herr General selber gesagt, und ich hätt gestern Ihnen die Kehle durchschneiden sollen, nicht dem armen Fouché. Sie sind eingeseift, Herr General.
Beginnt zu rasieren.
NAPOLEON
Dient Er immer noch dem Doktor für seine Experimente, Woyzeck? Frißt Er immer noch Erbsen?
WOYZECK
Als Scharfrichter wird unsereiner Vegetarier, Herr General.
Rasiert.
NAPOLEON
Langsam, Woyzeck, langsam. Er macht mir ganz schwindlig. Was soll ich denn mit den zehn Minuten anfangen, die Er heut zu früh fertig wird?
Woyzeck rasiert, singt.
WOYZECK
Auf der Welt ist kein Bestand
Wir müssen alle sterben.
NAPOLEON
Schabt Er mit dem gleichen Messer, mit dem Er Fouché –?
WOYZECK
Unsereins hat kein zweites Messer, Herr General. Sie war doch vom Tambourmajor.
NAPOLEON
Wer?
WOYZECK
Die Marion. Sonst läge sie jetzt nicht mit dem Generalsekretär im Bett.
Rasiert, singt.
WOYZECK
Ach, Tochter, liebe Tochter
Was hast du gedenkt
Daß du dich an die Landkutscher
Und die Fuhrleut hast gehängt
Und ein ordentlicher Mensch hat sein Leben lieb, und ein Mensch, der sein Leben lieb hat, hat keine Courage. Wer Courage hat, ist ein Hundsfott.
Rasiert.
Draußen Befehle und Salve eines Erschießungskommandos.
WOYZECK
Man schießt. Herr General. Man schießt im Kasernenhof. Päng.
NAPOLEON
Vorbei mit der Grabesstille.
Befehle, Salve.
Woyzeck rasiert.
WOYZECK
Päng, päng, päng und päng! Immerzu, immerzu. Das hat die Marie gesagt und getanzt mit dem Tambourmajor. Was ist der Mensch? Knochen, Staub, Sand, Dreck. Aber die dummen Menschen, die dummen Menschen. Der Mensch haut, schießt, sticht, hurt.
Wirft das Rasiermesser auf den Boden.
WOYZECK
After-shave, Herr General?
NAPOLEON
Dunhill.
Woyzeck reibt Napoleon After-shave ein.
WOYZECK
Die Höll ist kalt, wollen wir wetten?
NAPOLEON
Ich mein es gut mit Ihm. Er hätte zuschneiden sollen.
WOYZECK
Herr General, ich hab’s Zittern.
NAPOLEON
Die Erbsen, Woyzeck, die Erbsen.
Befehle, Salve.
WOYZECK
Blaue Bohnen, Herr General, blaue Bohnen. Päng, päng, immerzu.
Tritt zurück.
WOYZECK
Fertig, Herr General.
Packt seine Rasierutensilien zusammen.
Louis von rechts.
LOUIS
Benjamin Franklin, guter Onkel.
NAPOLEON
Rein mit ihm.
Louis ab.
WOYZECK
Ich hab keine Courage, Herr General. Ich bin kein Hundsfott.
NAPOLEON
Wer kein Hundsfott ist, ist ein Ehrenmann, Woyzeck, und Er ist ein Ehrenmann.
Gibt Woyzeck einen Fußtritt.
NAPOLEON
Wenn ich sag Er, so mein ich Ihn, und wenn ich sag Ihn, so mein ich das Volk. Es ist unanständig, vom Volk Courage zu fordern.
Von rechts Benjamin Franklin.
FRANKLIN
Hallo, Bonaparte.
NAPOLEON
Hei, Franklin. Ich hab Sie erwartet.
FRANKLIN
Ihr Hut.
Reicht Napoleon den Hut.
FRANKLIN
Diesmal setz ich mich nicht auf Ihn.
Setzt sich auf den Schreibtisch.
NAPOLEON
Dafür auf meine Sonnenbrille.
FRANKLIN
O Pardon.
NAPOLEON
Macht nichts.
FRANKLIN
Etwas verbogen.
Reicht ihm die Brille, setzt sich wieder auf den Schreibtisch.
NAPOLEON
Danke. Sie bluten an der Stirn, Franklin.
FRANKLIN
Nicht der Rede wert, Bonaparte. Ein Panzer fuhr frontal in meinen Cadillac.
NAPOLEON
Ich bin bestürzt.
FRANKLIN
Mein Fahrer ist tot. Ein Schwarzer.
NAPOLEON
Mein Beileid.
FRANKLIN
›Black is beautiful.‹ Gut für unsere Propaganda. Der Panzer fuhr mich in Ihre Kaserne.
WOYZECK
Adjes, Herr General.
Will gehen.
NAPOLEON
Woyzeck.
WOYZECK
Herr General?
NAPOLEON
Das Messer.
WOYZECK
Verzeihung, Herr General.
Kommt zurück, hebt das Rasiermesser auf.
WOYZECK
Das machen die Freimaurer, Herr General, die Freimaurer. Seht, wie die Sonn kommt zwischen den Wolken hervor, als würd ’n Nachttopf ausgeschütt.
Nach links ab.
FRANKLIN
Immer noch poetisch.
NAPOLEON
Die Menschen dichten, anstatt zu handeln.
FRANKLIN
Phantastisch die Extraausgabe.
NAPOLEON
In Rekordzeit gedruckt.
FRANKLIN
Wie wird es der Generalsekretär aufnehmen?
NAPOLEON
Ich erwarte ihn am Nachmittag.
FRANKLIN
Eine Information?
NAPOLEON
Er ist bei Marion.
FRANKLIN
Das wundert mich. Ein leerer Sack kann nicht aufrecht stehen.
NAPOLEON
Wieder ein Sprichwort.
Zieht den rechten Stiefel aus.
NAPOLEON
Ich bin achtundvierzig Stunden nicht mehr in der Heia gewesen.
Louis von rechts.
LOUIS
Darf serviert werden, guter Onkel?
NAPOLEON
Halten Sie mit, Franklin?
FRANKLIN
Diesmal nicht.
NAPOLEON
Ein Gedeck mehr.
Louis ab.
NAPOLEON
Danke, daß Sie den Präsidenten noch stoppen konnten.
FRANKLIN
Er tobt.
NAPOLEON
Er sollte mir dankbar sein. Hätt ich sein Angebot angenommen und mit ihm einen Nichtangriffspakt geschlossen, wär er der Blamierte.
Zieht den linken Stiefel aus.
NAPOLEON
Er wäre mit einer weiteren Militärdiktatur verbündet.
Wirft die Stiefel über die Rampe.
NAPOLEON
Die zieh ich heute nicht mehr an.
FRANKLIN
Ich habe den zweitschärfsten Protest zu überreichen, den der Präsident je verfaßt hat.
Gibt Napoleon einen Brief, den dieser auf ein Aktenbündel wirft.
NAPOLEON
Ich bin enttäuscht.
FRANKLIN
Sie hätten es voraussehen müssen.
NAPOLEON
Ich habe mit dem schärfsten gerechnet.
FRANKLIN
Der geht an den Generalsekretär.
NAPOLEON
Na, sehen Sie: Jetzt hat der Präsident endlich einmal eine glanzvolle Idee gehabt.
FRANKLIN
Sie haben auf Befehl des Generalsekretärs gehandelt.
Plon-Plon und Louis schieben einen Servierwagen mit Frühstück für zwei zu Napoleon.
PLON-PLON
Der – der Emmentaler ist eingetroffen, lieber Onkel.
NAPOLEON
Auf die Schweiz kann man sich wieder verlassen.
Louis und Plon-Plon ab.
Befehle, Salve.
FRANKLIN
Man schießt.
NAPOLEON
Erschießt.
FRANKLIN
Wen?
NAPOLEON
Parteifunktionäre. Ich nutze eine Gelegenheit: Alles denkt an die Gewerkschaft und niemand an die Partei; ein Grund, sie zu säubern.
FRANKLIN
Na schön, ich esse mit.
Setzt sich vor den Schreibtisch.
NAPOLEON
Passen Sie auf meinen Rock auf.
FRANKLIN
Pardon.
NAPOLEON
Sie haben wieder mit Marion geschlafen?
FRANKLIN
Sie überschätzen mich, Bonaparte.
NAPOLEON
Ihre Gattin kommt erst heute über den Teich.
FRANKLIN
Sie fliegt nicht herüber, ich fliege hinüber. Ich bin vom Präsidenten zurückgerufen worden.
Sie frühstücken und schieben dabei einander den Servierwagen zu.
NAPOLEON
Toast?
FRANKLIN
Bitte.
NAPOLEON
Kaviar?
FRANKLIN
Hungrig.
NAPOLEON
Schnaps?
FRANKLIN
Gern.
Schenkt sich ein.
FRANKLIN
Wenn ich aufgeregt bin, kann ich meinen Appetit nicht bändigen.
Trinkt den Schnaps aus.
FRANKLIN
Und meinen Alkoholkonsum auch nicht.
Schenkt sich wieder Schnaps ein.
Der General trinkt Tee.
NAPOLEON
Morgen wären sie einmarschiert.
Franklin trinkt, starrt Napoleon entgeistert an.
FRANKLIN
Napoleon –
NAPOLEON
Benjamin?
FRANKLIN
Noch einen Schnaps.
Schenkt sich ein.
FRANKLIN
Glauben Sie –
Leert das Glas.
FRANKLIN
Napoleon, glauben Sie, daß sie nicht einmarschieren?
NAPOLEON
Wenn der Präsident wirklich glaubt, ich hätte auf ihren Befehl hin gehandelt, marschieren sie nicht ein.
FRANKLIN
Ich begreife nichts mehr.
NAPOLEON
Noch einen Toast mit Kaviar?
Franklin streicht gehorsam Kaviar auf ein Stück Toast.
FRANKLIN
Lieber noch einen Schnaps.
NAPOLEON
Es ist wichtig, daß Sie jetzt nüchtern bleiben. Besaufen können Sie sich im Flugzeug. Sie beschwören den dritten Weltkrieg herauf, wenn der Präsident auf die Idee kommt, ich hätt aus eigenem Antrieb eine Militärdiktatur errichtet. Den Wagen.
Franklin schiebt den Wagen zurück.
NAPOLEON
Passen Sie auf, Benjamin.
Demonstriert das Folgende mit Toaststücken.
NAPOLEON
Wir haben zwei Machtblöcke: den Ihren und den unsrigen. Ihrer ist ein Bündnis von Staaten, der unsrige auch. Der Ihre wird von einer Supermacht dominiert, der unsrige auch.
FRANKLIN
Die beiden Machtsysteme können Sie unmöglich vergleichen.
NAPOLEON
Gerade auf ihre Gleichheit gründet sich meine Überlegung.
FRANKLIN
Unterschiede sind Unterschiede.
NAPOLEON
Jede Supermacht glaubt, die andere beherrsche ihre Partner vollständig.
FRANKLIN
Das ist in Ihrem Machtlager jedenfalls so.
NAPOLEON
Ihr Einwand beweist, daß meine Überlegung nicht ganz falsch ist. Sie projizieren in unsere Machtlager das Bild, das Sie sehen möchten. Daß unsere Seite der Ihren gegenüber der gleichen Täuschung verfällt, ist ein weiterer Beweis. Jeder Versuch einer politischen Änderung in den zwei Machtbereichen wird auf den Einfluß der anderen Supermacht zurückgeführt: Unsere Freie Gewerkschaft wird euch und eure Friedensbewegung uns zugeschrieben.
FRANKLIN
Banalitäten.
NAPOLEON
Auch die Grundlagen der Logik sind banal. Der Identitätssatz, der Satz vom ausgeschlossenen Dritten und so weiter, und was läßt sich nicht aus diesen Banalitäten folgern. Nach der Ansicht des Präsidenten geschieht nichts in unserem Machtsystem ohne den Willen des Generalsekretärs, also auch nicht meine Machtübernahme. Und weil es der Präsident glaubt, unternimmt der Generalsekretär nichts, den Glauben des Präsidenten zu zerstören. In dem Augenblick aber, wo der Präsident glaubt, ich hätte eigenwillig gehandelt, bricht auch der Grund des Generalsekretärs zusammen, gegen mich nichts zu unternehmen, und ich vermag den Krieg unserer Armee gegen seine Truppen nicht zu verhindern, und der Präsident muß einschreiten.
FRANKLIN
Sie spielen riskant.
NAPOLEON
Ich zähle darauf, daß Sie den Präsidenten in seiner fixen Idee bestärken, ich hätte auf Befehl des Generalsekretärs gehandelt, sonst könnte der Atomkrieg ausbrechen.
FRANKLIN
Dafür stehen Sie jetzt als Verräter da.
NAPOLEON
Nur Verrat macht Politik noch möglich. Einem Verräter zuliebe löst man keine Weltkatastrophe aus.
FRANKLIN
Noch einen Schnaps.
NAPOLEON
Bedienen Sie sich.
Schiebt Franklin den Wagen zu.
Franklin schenkt sich ein.
FRANKLIN
Napoleon –
NAPOLEON
Franklin?
FRANKLIN
Ich muß in meine Botschaft zurück.
NAPOLEON
Der Panzer steht zu Ihrer Verfügung.
FRANKLIN
Da wär noch was.
Trinkt.
NAPOLEON
Ach?
FRANKLIN
Ich hab in meinen Schriften ein einfaches Leben gepredigt. Ich glaubte an den Erfolg durch Fleiß, Rechtschaffenheit, Selbstdisziplin und Sparsamkeit.
NAPOLEON
Nun?
FRANKLIN
Lord Tony hat Robespierre mit Marion in delikaten Situationen fotografiert.
NAPOLEON
Das kann man wohl sagen.
FRANKLIN
Ob wohl solche Aufnahmen auch von Marion und mir –?
NAPOLEON
Anzunehmen.
FRANKLIN
Die Vereinigten Staaten wurden im Namen Gottes und der Vernunft gegründet. Ich bin neben Washington, Jefferson und Lincoln für die Amerikaner ein Idol der Demokratie, ihr lebendiges Denkmal sozusagen.
NAPOLEON
War ich auch einmal. Beethoven hat mir die ›Eroica‹ gewidmet.
FRANKLIN
Die Widmung hat er wieder durchgestrichen.
NAPOLEON
Komponisten sind launisch.
Von hinten rechts führt Plon-Plon vorsichtig Richelieu herein.
Der Kardinal ist mit der braunen Kutte eines Trappistenmönchs bekleidet und vollkommen durchnäßt. Er trägt eine tote sandfarbene Hündin in den Armen, bedeckt mit einem violetten Tuch mit goldenem Kreuz. Er bleibt schlotternd neben dem Feldbett unbemerkt stehen.
Plon-Plon wieder ab.
FRANKLIN
Wenn an den Kantinenwänden unserer Soldaten Poster hängen, auf denen ich mich mit Marion nackt in einem Bett wälze, werde ich aus dem Buch der Geschichte gestrichen.
Napoleon steht auf.
NAPOLEON
Im Gegenteil, Sie würden noch populärer. Helfen Sie mir in den Rock, Benjamin.
Franklin hilft ihm in den Rock.
NAPOLEON
Doch wie Sie wünschen.
Öffnet die Schreibtischschublade, gibt Franklin einen Briefumschlag.
NAPOLEON
Die Fotos und die Negative, Benjamin. Fliegen Sie in Frieden über den Teich zurück.
Franklin nach rechts ab, ohne Richelieu zu bemerken.
Napoleon gießt sich wieder Tee ein.
Richelieu kommt nach vorne.
RICHELIEU
Bonaparte.
NAPOLEON
Richelieu!
Stutzt.
NAPOLEON
Was tragen Sie denn für eine unmögliche Kutte?
RICHELIEU
Ich trete in ein Trappistenkloster ein.
NAPOLEON
Wozu?
RICHELIEU
Damit ich endlich den Mund halte.
NAPOLEON
Sie sind flotschnaß.
RICHELIEU
Einer Ihrer Wasserwerfer.
NAPOLEON
Saßen Sie denn nicht in Ihrem Mercedes?
RICHELIEU
Ich stand hinten im offenen Kabriolett, um mich unwürdigen Sünder den Gläubigen zu zeigen. Ich stand wie in einer Badewanne, als ich in Ihrer Kaserne ankam. Ich bin bis auf die Knochen durchfroren.
NAPOLEON
Ziehen Sie schleunigst diese Kutte aus.
RICHELIEU
Mich ausziehen –? Niemals!
Niest.
RICHELIEU
Ich hörte Ihre mitternächtliche Rede, Bonaparte. Sie haben die Freie Gewerkschaft aufgelöst.
NAPOLEON
Nun?
RICHELIEU
Sie haben den Vertrag der Regierung mit Jan Hus gebrochen.
NAPOLEON
Die Regierung ist abgesetzt.
RICHELIEU
Sie hatten den Vertrag mit Hus eigenhändig unterzeichnet.
NAPOLEON
Als Oberbefehlshaber der Armee stürzte ich mich als Ministerpräsidenten samt der Regierung selber.
RICHELIEU
Haben Sie sich auch als Chef der Partei entmachtet?
NAPOLEON
Auch.
RICHELIEU
Im Hof dieser Kaserne finden Erschießungen statt.
NAPOLEON
Ich säubere.
RICHELIEU
Jan Hus?
NAPOLEON
Wird verhaftet.
RICHELIEU
Verhaften Sie mich statt seiner.
NAPOLEON
Ich mache mich nicht lächerlich.
RICHELIEU
Meine Antwort.
Legt Napoleon feierlich den Tierkadaver zu Füßen, enthüllt ihn.
RICHELIEU
Eine tote Hündin. Sie wurde vor meinem Palais von einem Panzer überfahren. Was hat dieser blutige Brei von Fleisch, Knochen und sandfarbenem Fell mit Ihren Plänen zu tun, Bonaparte?
NAPOLEON
Wenn ich den Volksaufstand jetzt nicht niederschlage, kommt es zum Bürgerkrieg; kommt es zum Bürgerkrieg, marschieren sie ein. Der Generalsekretär ist schon im Land, und der Kardinal Richelieu legt mir eine tote Hündin vor die Füße. Ich habe nichts mit diesem Kadaver zu tun.
RICHELIEU
Nichts. Und wenn es ein Kind gewesen wäre, nichts. Und hundert Kinder, nichts. Und nichts mit den Plänen des Hus, der Ihre Pläne bewirkte, Bonaparte, und nichts mit meinen Plänen, die durch die Ihren bestimmt wurden, und nichts mit den Plänen des Generalsekretärs, die Sie zu beeinflussen suchen. Alle unsere Pläne haben nichts mit dieser toten Hündin zu tun. Nichts. Nichts. Ich schlottere.
Setzt sich in den Stuhl vor dem Schreibtisch.
NAPOLEON
Tee mit Schnaps?
RICHELIEU
Kümmern Sie sich nicht um mein zeitliches Wohl.
NAPOLEON