Achtsamkeit für Skeptiker - Renato Kruljac - E-Book

Achtsamkeit für Skeptiker E-Book

Renato Kruljac

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Beschreibung

Das Buch für kritische Denker und Suchende Differenziert: Was ist heilsame Achtsamkeitspraxis und was nur Hype? Übungen: Im Buch und online als Audiodateien Plus: Achtsamkeit in der Psychotherapie, Gastbeitrag von Dipl.-Psych. Michaela Schaumann Ein Wochenendseminar, ein Retreat – und alles wird besser? Es ist ein Irrglaube, dass ein paar Atemübungen und positive Affirmationen Heilung bringen. Der Weg der Achtsamkeit kann vieles und nichts. Vieles, wenn man sich auf den eigenen Pfad begibt und auf das Abenteuer einlässt. Nichts, wenn man nur oberflächlich McMindfulness konsumiert und die schnelle Lösung sucht. Der langjährige Achtsamkeits- und Meditationslehrer Kruljac verdeutlicht, was Achtsamkeit ist, und wie sie tiefgreifend wirksam werden kann. Hierzu stellt er die passenden Übungen vor. Das Buch hilft Praktizierenden, Trainer:innen und Therapeut:innen, die dunklen Ecken des Hypes zu verstehen und das wahre Potenzial des Mythos Achtsamkeit zu leben und zu lehren. Es wird deutlich: Achtsamkeit ist die Basis jeder Heilung und wir können lernen, sie dauerhaft in unseren westlichen Alltag zu integrieren.

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Seitenzahl: 350

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Dies ist der Umschlag des Buches »Achtsamkeit für Skeptiker« von Renato Kruljac

Renato Kruljac

Achtsamkeit für Skeptiker

Warum jede Heilung eine achtsame Basis benötigt

Mit einem Beitrag von Dipl.-Psych. Michaela Schaumann

Schattauer

Die digitalen Zusatzmaterialien haben wir zum Download auf www.klett-cotta.de bereitgestellt. Geben Sie im Suchfeld auf unserer Homepage den folgenden Such-Code ein: OM40186

Impressum

Besonderer Hinweis:

Die in diesem Buch beschriebenen Methoden sollen psychotherapeutischen Rat und medizinische Behandlung nicht ersetzen. Die vorgestellten Informationen und Anleitungen sind sorgfältig recherchiert und nach bestem Wissen und Gewissen weitergegeben. Dennoch übernehmen Autor und Verlag keinerlei Haftung für Schäden irgendeiner Art, die direkt oder indirekt aus der Anwendung oder Verwertung der Angaben in diesem Buch entstehen. Die Informationen sind für Interessierte zur Weiterbildung gedacht.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe

Schattauer

www.schattauer.de

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von © AlSimonov

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

Lektorat: Miriam Seifert-Waibel

Projektmanagement: Dr. Nadja Urbani

ISBN 978-3-608-40186-8

E-Book ISBN 978-3-608-12333-3

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20677-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

1 Einleitung

2 Erste Schritte zur Achtsamkeit

2.1 Auf der Suche: Meine persönliche Reise zur Achtsamkeit

2.2 Einatmen, ausatmen

2.3 Im Hier und Jetzt

2.4 Jenseits der Gedanken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein

2.5 Zur transformativen Kraft der Beobachterrolle

2.6 Ungeduld ist die Feindin der Achtsamkeit

3 Einblicke in unsere Wahrnehmungswelt

3.1 Von Faultieren und Elefanten

3.2 Der Pfad zur inneren Klarheit und Intuition

3.3 Trio in Balance: Alarm-, Antriebs- und Fürsorgesystem

4 Wahrnehmungswandel

4.1 Vom Grübeln zur Dankbarkeit

4.2 Von Missgunst zu Mitgefühl

4.3 Von Zielorientierung zur Gelassenheit

5 Im Tanz des Daseins: Achtsamkeit als Wegweiser zum Wesentlichen

5.1 Zerbrochen und dennoch ganz

5.2 Welcher Weg soll es sein?

5.3 Von Macht und Ohnmacht

5.4 Stufen der menschlichen Entwicklung

5.5 Das Leben leben

5.6 Vom Glauben zu Freiheit und Erfüllung

5.7 Wendepunkte: Von der Vollkommenheit in der Unvollkommenheit

6 Heilung erfahren durch Achtsamkeit

6.1 Das Labyrinth des Lebens

6.2 Mentale Viren

6.3 Ausbruch aus dem Reiz-Reaktions-Muster

6.4 Selbstverwirklichung und Glück

6.5 Was wirklich zählt

6.6 Von der Kraft der Akzeptanz

6.7 Mitgefühl: Ein Pfad zum wahren Erwachen

6.8 Gib alles

6.9 Beziehung und Resonanz

7 Lebenswege und Selbstfindung

7.1 Achtsamkeit, Wissenschaft und der neugierige Verstand

7.2 Meditation ist nicht gleich Meditation

7.3 Sechs Irrtümer über Meditation

7.4 Was Meditation und MBSR zu bewirken vermögen

7.5 Der Schlüssel zu echter innerer Freiheit und Transformation

7.6 Vom Stress zur inneren Stärke

7.7 Die Revolution der Freundlichkeit

7.8 Die Wut ist ein Geschenk

7.9 Achtsamkeit und unangenehme Gefühle

8 Das Geheimnis liegt in dir

8.1 Du musst den Weg selbst gehen

8.2 Von Meistern und Scharlatanen

8.3 Was bedeutet Erleuchtung?

8.4 Das erste Mal

8.5 Erwachen

8.6 Abschied von der Erleuchtung

9 Der Weg zur inneren Freiheit

9.1 Achtsame Stille

9.2 Geistiges Fasten

9.3 Achtsames Zuhören

9.4 Bewusst sein

9.5 Liebevolle Disziplin

9.6 Der Alltag als Übungsfeld

10 Mach dich auf den Weg

10.1 Sei wachsam und (selbst-)kritisch

10.2 Werde, wer du bist

10.3 Finde die goldene Mitte

10.4 Erkenne deinen (Selbst-)Wert

10.5 Verlass die Heimat

10.6 Birg den Schatz in dir selbst

10.7 Folge deinem Herzen

10.8 Wo gehst du hin?

11 »Komisch« ist kein Gefühl?

Dank

Literatur

Schmuckzitate

»In der Ewigkeit ist fürwahr etwas Wahres und Erhabenes. Aber alle diese Zeiten, Orte und Gelegenheiten sind jetzt und hier […].

Wir sind nur dann imstande, alles Edle und Erhabene aufzufassen, wenn wir stets die uns umgebende Wirklichkeit in uns aufnehmen, uns von ihr ganz durchdringen lassen.«

Henry David Thoreau

1 Einleitung

Willkommen in einer Ära, in der Achtsamkeit zu einem wirtschaftlichen Aushängeschild geworden ist, getrieben von McMindfulness-Apps und vermarktet wie Fast Food; in einer Zeit, in der die Rückgriffe auf spirituelle Traditionen weniger der Befreiung des Geistes als monetären Interessen oder der Festigung verstaubter Ideologien und Dogmen zu dienen scheinen. Diese Entwicklung führt dazu, dass sich viele Menschen von diesen wertvollen Traditionen abwenden, da sie nicht mehr als Wege zur spirituellen Erkenntnis oder zur Verbesserung des individuellen und kollektiven Wohlbefindens angesehen werden.

Du liest dieses Buch vielleicht, weil du die leeren Versprechungen satthast, die dir von sogenannten Gurus gemacht wurden; weil du die Wahrheit suchst, nicht eine weitere schön verpackte, übersüßte Version davon. Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich nicht nur durch eigene Praxis der Achtsamkeit in die tieferen Winkel meines Bewusstseins vorgedrungen bin, sondern auch wiederholt die Bekanntschaft mit jener Naivität und Eitelkeit gemacht habe, die nicht selten mit dieser Praxis einhergehen. Bevor wir nun über die Lösung sprechen, müssen wir das Problem erkennen und anerkennen: Fehlinformationen zu und Missbrauch von Achtsamkeit sind real und weit verbreitet. Sie sind nicht nur ein Nebenprodukt des modernen Kapitalismus, sondern auch Symptom einer Kultur, die an der Oberfläche lebt – und stets auf der Suche nach schneller Heilung ist.

Die Weltgesundheitsorganisation hat Stress als eine der hauptsächlichen Gesundheitsbedrohungen des 21. Jahrhunderts identifiziert und prognostizierte, dass ab dem Jahr 2020 stressbedingte Beschwerden für jede zweite Krankschreibung verantwortlich sein werden (vgl. Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften o. J.). Die Ursachen dafür sind vielfältig: Zeit- und Arbeitsdruck, Mobbing, körperliche Schmerzen, zahlreiche begründete und unbegründete Ängste, so zum Beispiel die Angst vor Krankheit, die Angst, zu versagen, die Angst, ausgegrenzt zu werden, die Angst, nicht zu genügen. Es ist einfach, sich in dieser Flut von Stress, Angst und schmerzhafter Realität zu verlieren. Wir alle kämpfen gegen unsere eigenen Dämonen und sind auf der Suche nach einem Hafen in diesem Sturm. Manche wenden sich achtsamkeitsbasierten Stressreduktionstechniken zu, als wären sie magische Elixiere. Andere glauben, dass alte spirituelle Traditionen Antworten bieten, die in der modernen Welt verloren gegangen sind. Doch Vorsicht: Es ist leicht, auf den Achtsamkeitszug aufzuspringen und dabei die wahre Bedeutung und das Potenzial dieser Praxis zu übersehen. Es ist ein naiver Fehler, zu glauben, dass du mit ein paar Atemübungen und positiven Affirmationen deinen inneren Turbulenzen adäquat begegnen kannst. Bevor du also weiterliest, lass deine Vorurteile hinter dir und räume deinen Geist frei von überholten Dogmen und Klischees.

Viele der oben genannten Ängste haben mehr mit unseren Selbstüberzeugungen und Interpretationen als mit realen Tatsachen zu tun, und so wächst in uns stetig das Gefühl, dass unser Leben von etwas – vor allem vom Außen – abhängig sei: von unserem Job, der Gesundheit, den materiellen Dingen, die wir besitzen und anhäufen, sowie von den Personen, die uns umgeben und von denen wir uns Anerkennung wünschen. Einiges scheint verrückt. Im wahrsten Sinne des Wortes verrückt – nicht mehr in der Spur, in Balance, im Fluss, im Einklang mit dem Leben. Der harte Wettbewerb in der Wirtschaftswelt, der sich schon in der Grundschule mit der Jagd nach Bestnoten entwickelt, sowie der ständige Vergleich mit anderen fördern zunehmend Stress, Unbehagen und Verhärtung. Wir nehmen unsere Bedürfnisse gar nicht mehr wahr und ignorieren die Botschaften unseres Körpers: die chronische Müdigkeit, die Gereiztheit und die Verspannungen, bis der komplette Zusammenbruch eintritt, ein Burn-out. Ausgebrannt, beherrscht von einer lebensfeindlichen Angst, tritt Härte an die Stelle von Weichheit, zeigt sich Verschlossenheit statt Offenheit und Kälte statt Wärme. Eine zunehmende Entfremdung von uns selbst, den anderen und letztlich vom wahren Leben tritt ein. Das ist kein ganz neues Phänomen, schrieb doch schon der indische Mystiker und Dichter Kabir (1414–1518) vor langer Zeit:

»Ich lache, wenn ich höre,

dass der Fisch dürstet im Wasser.

Du siehst nicht, dass Zuhause die Wirklichkeit ist,

und du wanderst von Wald zu Wald lustlos!

Hier ist die Wahrheit!

Gehe hin, wo immer du willst, nach Benares oder Mathura –

wenn du die eigene Seele nicht findest,

bleibt dir die Welt unwirklich.« (Kabir 1984, S. 55)

In meinen MBSR1-Kursen begegnen mir immer wieder Menschen mit großem Leid und harten Schicksalsschlägen. Sie wurden konfrontiert mit Krebs, unerwarteten Todesfällen naher Angehöriger oder sie kämpfen seit Jahrzehnten mit chronischen Krankheiten und Schmerzen. Vieles haben sie ausprobiert, zahlreiche Ärzte2, Heilpraktiker und andere Experten konsultiert, ohne Heilung zu erfahren. Oft sage ich dann, dass wir das Problem nicht immer lösen, aber das Leid zumindest verringern können – denn je größer der Widerstand gegen den Schmerz ist, desto größer ist das Leid. Indem wir mithilfe der Achtsamkeitspraxis den Widerstand gegen ein, das Hadern mit einem Problem allmählich aufgeben, verringern wir das Leid. Der Schmerz – sei er körperlicher oder auch seelischer Art – bewirkt Druck. Kommt dazu noch Widerstand, erhöht sich der Druck und verschlimmert das Leid. Widerstand bedeutet: Nicht-haben-Wollen. Das ist das Gegenteil von Akzeptanz. Akzeptanz wiederum bedeutet nicht, alles gut zu finden oder hinzunehmen. Sie bedeutet, die Situation zuerst einmal so anzunehmen, wie sie ist – auch wenn sie nicht schön ist.

Nicht anders ist es beim Haben-Wollen, der Anhaftung. Wir halten oftmals an Dingen fest, an unserer Gesundheit, an unserer Schönheit, materiellen Besitztümern. Diese Anhaftung kann ebenso das Leid verstärken wie der Widerstand. Wir wollen das Angenehme nicht verlieren, das Unangenehme nicht zulassen.

Hier wie dort geht es um Akzeptanz; um das Annehmen dessen, was ist. In vielen Fällen bleibt uns schließlich nichts anderes übrig, als die Dinge anzunehmen, wie sie sind. Sich über schlechtes Wetter zu beklagen, wird keinen Sonnenschein bringen. Wenn wir aber Möglichkeiten haben, etwas zu verändern, dann sollten wir es auch tun. Es ist nicht sinnvoll, Dinge, auf die wir keinen Einfluss haben, verändern zu wollen; genauso wenig wie etwas auf sich beruhen zu lassen, das wir positiv verändern können. Wir haben immer eine Wahl. Wir können frei entscheiden, welche Einstellung wir zu den Dingen und Lebensumständen haben. Entsprechend schrieb der Psychologe und Wissenschaftler Viktor Frankl in seinem berühmten Buch … trotzdem Ja zum Leben sagen, das er ein Jahr nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager 1946 verfasste, »daß man dem Menschen […] alles nehmen kann, nur nicht die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen« (Frankl 1977, S. 108; Hervorh. im Original).

Der Weg der Achtsamkeit kann vieles und nichts: vieles, wenn man sich auf den Weg macht und auf das Abenteuer einlässt; nichts, wenn man beim Zweifeln bleibt und nicht ausprobiert. Es gibt aber auch ein Nichts, das in den spirituellen Traditionen als Leerheit oder Erleuchtung beschrieben wird. Die Leerheit, in der die Dualität aufgehoben ist und wo sich der Mensch in seiner Unvollkommenheit vollkommen und frei erleben kann. Man sollte nicht denken, dass wir dazu etwas erschaffen und erreichen müssen. Es geht dabei vorrangig um ein Loslassen von starren Konzepten, Identifikationen und Vorstellungen, wie man sein und was man haben sollte. Das durch die Praxis entstehende Weniger wandelt sich dann allmählich zu einem Mehr. Einem Mehr an Sein und Lebensqualität.

Dieses Buch wird keine allumfassenden Antworten bieten, aber es wird dich herausfordern, kritisch zu denken und deine eigenen Schlüsse zu ziehen. Wir werden den Mythos von der Achtsamkeit als universellem Heilmittel dekonstruieren und die dunklen Ecken dieser Praxis beleuchten, die oft übersehen werden.

Wenn du nach einer Sammlung oberflächlicher Weisheiten und instagramable Mantras suchst, lege dieses Buch jetzt weg. Wenn du jedoch bereit bist, dich mit den komplexen Wahrheiten hinter diesem modernen Phänomen auseinanderzusetzen, dann lies weiter.

Achtsamkeit ist keine Pille, die man schluckt, um Probleme zu lösen; sie ist ein Prozess, ein ständiges Infrage-Stellen und Entwirren des Wollknäuels deiner konditionierten Gedanken und Überzeugungen. Dies ist kein weiteres Buch, das Achtsamkeit zur Heilsbringerin erklärt. Es ist eine Auseinandersetzung mit dem, was Achtsamkeit wirklich ist und was nicht. Es ist ein Buch für Skeptiker, Suchende und auch für bereits Überzeugte, die den Mut haben, ihre eigenen Überzeugungen nochmals zu hinterfragen.

Hier beginnt unsere Reise. Lass dich ein auf ein Abenteuer des Bewusstseins, eine Expedition des Geistes und eine Erkundung des Herzens. Du hältst nicht nur ein Buch in den Händen, sondern auch einen Kompass für die Seele. Und so gehen wir voran, Schritt für Schritt, Atemzug für Atemzug, im Rhythmus des Jetzt.

2 Erste Schritte zur Achtsamkeit

2.1 Auf der Suche: Meine persönliche Reise zur Achtsamkeit

»Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen.«

Johannes 14,2

Mein erster Kontakt mit Meditation erfolgte in jungen Jahren. Als ich acht war, begann ich mit den Kampfkünsten. Gelegentlich führten wir im Training neben Körperübungen kleine Meditations- und Konzentrationspraktiken durch. Durch Bücher und persönliche Begegnungen lernte ich Kampfkunstmeister aus dem fernen Osten kennen, die außergewöhnliche Leistungen erbracht hatten. Viele Jahre blieben diese Erkenntnisse unterschwellig haften, bis ich mich mit Anfang 20 intensiver damit zu beschäftigen begann. Ich las, recherchierte im Internet, besuchte zahlreiche Meditationsgruppen. Doch verspürte ich bei Letzteren Unbehagen. Die Lehrenden und ihre unterschiedlichen Meditationsformen und Rituale waren mir entweder zu esoterisch, zu kommerziell oder zu dogmatisch.

So stieß ich beispielsweise mit einem Freund zu einer Gruppe, die als Wohngemeinschaft in einem Haus eine traditionelle Form des Zen praktizierte. Der Leiter, ein Schüler einer fernöstlichen spirituellen Meisterin, gab mir vor dem ersten Besuch am Telefon zu verstehen, dass nur die Praxis zähle und wir, wenn wir dabei sein wollten, täglich mit der Gruppe sitzen müssten. »Natürlich«, dachte ich mir, denn mir war klar, dass Wissen allein nicht ausreicht und die praktische Erfahrung entscheidend ist. Also machten wir uns nach ein paar Tagen auf den Weg dorthin. Angekommen, wurden wir in die erste Etage des Hauses begleitet, wo eine riesige Buddhastatue stand. Die Zeremonie begann, der Leiter und die wenigen Schüler fingen laut und ekstatisch an, in einer asiatischen Sprache immer wieder denselben Text zu rezitieren. Meinem Freund war das Ganze zu viel, er blickte mich mit leicht verstörtem Blick an, stand auf und verließ den Raum. Aus Respekt gegenüber den Gastgebern blieb ich, schaffte es aber auch nicht, bis zum Ende durchzuhalten. Das Einzige, das mir nachhaltig durch den Kopf ging, war die Frage, wie bloß die riesige Buddhastatue in die erste Etage gebracht worden war.

Ein anderer Versuch führte uns zu einem Lehrer der transzendentalen Meditation. Auf durchaus freundliche Weise wollte er uns davon überzeugen, dass diese Art von Meditation mehr oder weniger alle Probleme dieser Welt lösen könne. Der Einführungsabend war kostenlos und die späteren Einheiten, in denen jeder sein spezielles Mantra zum Üben bekommen sollte, wurden als ultimatives Werkzeug für teures Geld angeboten. Ich empfand das nicht als stimmig und verabschiedete mich auch hier.

Ich besuchte weitere Schulen und begegnete dabei Lehrenden, die anstatt von ihrer eigenen Erfahrung von den Erfahrungen anderer berichteten – angelesene Weisheiten, ohne wirklich Bescheid zu wissen. Im Internet stieß ich dann auf eine Meditationsgruppe, die sich in regelmäßigen Abständen in der Nähe meines Wohnortes traf. Es war einfaches Zen. Keine großen Versprechen auf der Website, sehr schlicht und bodenständig. Dieses Einfache sprach mich an. Inzwischen aber reichlich ernüchtert, zögerte ich dennoch, zu der Gruppe zu gehen. Jener Freund, der mich meistens begleitet hatte, redete mir aber gut zu. »Diese eine Gruppe noch«, dachte ich, »danach ist Schluss.« Der vereinbarte Termin fand in einem kleinen, schwach beleuchteten Nebenraum einer Kirche statt. Drei Frauen saßen dort. Die Anweisung war schlicht: »Setz dich hin und versuche, einfach still zu sein.« Mit einem kleinen Ritual beendeten wir den Abend. Nichts Spektakuläres. Wir bekamen dann noch den Hinweis, dass es in Würzburg einen Zen-Meister namens Willigis Jäger gebe und es sich eventuell lohnen könnte, ihn zu besuchen. Die Frauen erzählten uns von Übungstagen, bei denen von morgens bis abends in Stille meditiert werde. Ganz verstand ich nicht, um was es gehen sollte. Wo war der Unterricht, der Input, um den Output – also die Erleuchtung oder zumindest etwas mehr von dem Glück, nach dem ich suchte – erreichen zu können? Eine der Frauen gab mir noch einen Buchtipp: Die Welle ist das Meer von Willigis Jäger (2020). Ich besorgte mir das Buch. Das, was ich dort las, war exakt, wonach ich gesucht hatte. Die Rede war von einer inneren Weisheit, die in uns allen vorhanden ist. Ich bin die Welle und das Meer. Die Welle kann nie getrennt sein vom Meer. Ich bin ein Teil und zugleich das Ganze. Bei jedem Satz spürte ich tief im Inneren ein Ja. Kein Glaube, sondern eine Ahnung von dem, was ich irgendwie schon immer gewusst hatte.

Daraufhin besuchte ich das Kloster, in dem Willigis Jäger seine Kurse leitete. Doch er war nicht da. Auf die Frage, wann und wie ich an einer seiner Veranstaltung teilnehmen könnte, sagte man mir, dass die Voraussetzung sei, einen Einführungskurs besucht zu haben. Ich buchte den Kurs. Die Reise war ein kleines Abenteuer, denn der Ort an der Schweizer Grenze lag abgelegen. Es kostete mich einiges an Überwindung, durch die verlassen wirkende winterliche Landschaft zu fahren, den Berg hoch hinauf zum Seminarhaus, in dem die Einführung stattfinden sollte. Auf der Fahrt und am Seminarort kam immer wieder der Gedanke auf, was ich denn hier überhaupt suchte und ob es nicht besser wäre, zurückzukehren.

Die Einführung wurde nicht von Willigis Jäger gehalten, sondern von einer Zen-Lehrerin, einer seiner Weggefährtinnen. Was mich ansprach, war weniger ihre Person als die ganze Atmosphäre und die Haltung der Lehrerin. Irgendwie nahm ich in mir eine Veränderung wahr, ein besonderes Gefühl: etwas, das mich stärkte und in mir innere Ruhe und Vertrauen bewirkte. Am Ende des Kurses fuhr ich inspiriert und motiviert nach Hause und meldete mich für das nächste Abenteuer an.

Nach einiger Zeit und fleißiger Praxis zu Hause folgte im Frühjahr 2003 die Teilnahme an einem mehrtätigen Schweigeretreat. Der Benediktinermönch Willigis Jäger war damals bereits ein recht bekannter Zen-Meister, der auf der Grundlage seines eigenen spirituellen Weges den Zugang zu tiefen Erfahrungen vermittelte. Der Ablaufplan des Zen-Seminars war klar strukturiert: Aufstehen um 5 Uhr, Meditieren auf dem Kissen, Gehmeditation, Meditieren auf dem Kissen bis zum Abend mit einigen kleinen Pausen. Schweigen, sitzen, gehen, essen, schlafen. Am dritten Tag konnte ich es kaum noch aushalten: Die vielen Gedanken in meinem Kopf, die Schmerzen im Rücken und in den Beinen, die Verspannungen im ganzen Körper machten mir das Leben zur Hölle. Auch hatten sich meine negativen Projektionen auf die Personen, die neben mir saßen, verstärkt. Ihr Atmen oder ein kurzes Schmatzen brachten mich zur Weißglut. Willigis Jäger hatte uns gewarnt: »Ist die Bühne frei, tanzt der Teufel.« Am Nachmittag ging mir immer wieder der Gedanke durch den Kopf, ob ich das Seminar vorzeitig beenden sollte. Bis jetzt hatte ich nichts als Anstrengung, Widerstand, Schmerz erfahren.

In der letzten Meditationseinheit vor dem Abendessen geschah dann etwas Unbegreifliches: Mit einem Mal kehrte eine unbeschreibliche Ruhe ein; ein bis dahin nie erlebter Frieden, ein Gefühl des vollkommenen Angenommen-Seins; als wäre ich nach langer Suche endlich nach Hause gekommen. Es war ein Gefühl der Verbundenheit mit den im Raum anwesenden Personen. Ich war ein Teil des Ganzen und das Ganze. In dem für mich jetzt heiligen Raum nahm ich mich nur noch als Energie wahr, die alle umhüllte und durchdrang. Gedankenlos, zeitlos, grenzenlos. All dies geschah bei völliger Präsenz – ich war mir dessen, was im Raum geschah, bewusst. Doch mein Ich beziehungsweise ein Teil von mir war irgendwie nicht mehr vorhanden. Diese Erfahrung ließ mich erkennen, was es wirklich bedeutet, ganz und vollkommen im Hier und Jetzt zu sein.

Auf die Sitzmeditation folgte eine Gehmeditation. Auch hierbei war ich eingebettet in etwas Größeres und Teil eines nicht erklärbaren Prozesses. Am Ende des Tages ging ich in mein Zimmer, machte das Fenster auf, blickte hinaus. Eine grenzenlose Liebe durchströmte mich. Ich hatte das Gefühl, dass jede und jeder meine Schwester und mein Bruder sind. Begriffe, die man aus Ordensgemeinschaften kennt, erschienen mir hier auf einmal sinnvoll. In diesem besonderen Zustand gab es kein Gut und Böse, kein Richtig und Falsch. Diese ekstatische Erfahrung hielt die ganze Nacht an.

Ab diesem Zeitpunkt lief der Kurs so, als sei ich schon seit Jahren dabei. Widerstände und negative Gedanken schwanden, alles war leicht und fließend. Keine körperlichen Verspannungen mehr, der Kopf war frei von dem, was mich sonst belastete. Tagelang war ich wie verwandelt und konnte das, was ich erlebt hatte, kaum in Worte fassen. Mir war, als sei ich in etwas so viel Größerem angekommen, als sei ich aus der Enge meines Schneckenhauses herausgekommen.

Im Traum symbolisiert ein Haus uns selbst. Manchmal träumen wir von einem Haus, das brüchig, alt ist, oder von unbekannten Räumen, die uns Angst machen. Es gab Zeiten, in denen ich von Kellerräumen träumte, in großer Furcht, diese zu begehen. Ich fürchtete mich vor den sogenannten Leichen im Keller, also meinen Schattenseiten, die ich verdrängte. Es gab aber auch Zeiten, in denen ich Räume, von denen ich nichts geahnt hatte, entdeckte. Im Zuge dieser für mich neuen Erfahrung erlebte ich mich – die eingangs zitierten Worte Jesu als Metapher nehmend – in dem unbeschreiblich großen Haus des Vaters angekommen. Und zugleich erfuhr ich mich in einer bis dato nicht gekannten Freiheit.

Euphorisch sprach ich über meine Erfahrung, diesen grenzenlosen Raum, den wir alle sehen und erfahren sollten. Ich fühlte mich fast verpflichtet, den anderen zu sagen: »Kommt hierher, hier ist viel mehr vorhanden, hier ist die Freiheit.« Die Menschen, denen ich davon erzählte, einschließlich meiner Frau, konnten mich nicht verstehen und schauten mich verständnislos an.

Es hat Zeit gebraucht, um diese Erfahrung in den Alltag zu integrieren. Ich bin überzeugt, dass ich ohne diese Erfahrung nicht da wäre, wo ich nun bin, nicht der wäre, der ich geworden bin – und dass ich dieses Buch nicht geschrieben hätte. Dass ich als Achtsamkeits- und Meditationslehrer heute tätig bin, hatte ich mir nicht zum Ziel gesetzt. Es waren die verschiedenen und für mich tiefgreifenden Erfahrungen, die ich auf dem Weg machen durfte und die dazu geführt haben, dass ich nun Menschen in der Kunst der Achtsamkeit und Meditation unterrichte. Mit den Jahren änderte sich vieles: die Sichtweise auf die Welt, mein Freundeskreis und die privaten und beruflichen Interessen. Manches blieb, war aber irgendwie anders als zuvor.

Einige Jahre später machte ich wiederum in einem Retreat eine interessante Erfahrung. Meine Gedanken und Gefühle fuhren wie so oft Karussell. Immer wieder hörte ich die Worte meines Lehrers Willigis Jäger: »Geh in deine Übung.« – »Hat er denn nichts anderes zu bieten?«, dachte ich mir. Nein. Geh in deine Übung – sonst nichts. So richtete ich also meine Aufmerksamkeit auf den Atem. Das Kommen, das Gehen, die Pause dazwischen. Plötzlich überkam mich eine tiefe Stille. Meine Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen nahm ich wie entfernte Objekte wahr. Meine Biografie, mein ganzes Leben mit all seinen freudvollen und leidvollen Erfahrungen, zog vor meinem geistigen Auge wie ein feiner Windhauch an mir vorbei. Ich war in einem Zustand tieferer Erkenntnis. Auf der einen Seite nichts Besonderes, da mir die meisten Erfahrungen doch bekannt waren; aber irgendwie war es doch ganz anders, wie ein Film, der mir im Zeitraffer noch einmal mein Leben in seiner Ganzheit zeigte: Bekanntes und Vergessenes, Schönes und Hässliches, einfach alles. Ich konnte alles wahrnehmen, war aber mit all dem nicht identifiziert. Wie ein Beobachter blickte ich auf all das – wie ein neutraler Beobachter. Ich war mir plötzlich der tieferen Zusammenhänge bewusst. Ich verstand, wer ich im tiefsten Inneren bin und nicht geglaubt hatte zu sein. Das Wichtigste aber war, dass ich mich dabei in meiner Unvollkommenheit bedingungslos annehmen konnte. Kein Hadern, kein Wünschen, kein Machen und kein Erreichen-Müssen. In diesem Zustand des Zulassens all dieser Erfahrungen konnte ich einfach sein. Diese Erkenntnis löste nicht alle Probleme und so manches kam mit der Zeit wieder, aber es war eine sehr wertvolle Erfahrung, die mich auf meinem Weg der Selbsterkenntnis – meinem Weg der Achtsamkeit – weitergebracht hat.

2.2 Einatmen, ausatmen

»Es gibt nur zwei Fehler, die man auf dem Weg zur Wahrheit machen kann: Nicht den ganzen Weg gehen und nicht beginnen.«

Buddha

Vor Kurzem stieß ich in einer Buchhandlung auf das Buch des israelischen Historikers Yuval Noah Harari. In seinem Bestseller 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert erzählt er davon, dass er zwar viel Wissen und Erfahrungen in seinem Leben gesammelt habe – er promovierte 2002 an der Oxford University und lehrt aktuell an der Hebrew University in Jerusalem –, die Stille und das beurteilungsfreie Wahrnehmen in der Meditation sein ganzes Wissen jedoch relativiert hätten.

Zu Anfang seiner Achtsamkeitspraxis beim indischen Meditationslehrer S. N. Goenka lehrte dieser ihn eine Übungsanleitung, die Harari als das Wichtigste bezeichnet, was jemals irgendjemand zu ihm gesagt habe: »Wenn der Atem einströmt, bist du dir einfach nur bewusst – jetzt strömt der Atem herein. Wenn der Atem hinausfließt, bist du dir einfach nur bewusst – jetzt fließt der Atem hinaus. […] Und wenn du die Konzentration verlierst und dein Geist damit beginnt, zu Erinnerungen und Fantasien abzuschweifen, bist du dir einfach bewusst – jetzt schweift mein Geist vom Atem ab.« (Harari 2020, S. 473–477) Das Erste, was er lernte, als er seinen Atem bewusst wahrnahm, war, dass er trotz all der Bücher, die er gelesen, und all der Seminare, die er besucht hatte, so gut wie nichts über seinen Geist wusste – und nur ganz wenig Kontrolle über ihn besaß.

Es bedarf schon einer gewissen Intelligenz, um das zu erkennen. Viele würden sagen, dass das Beobachten des Atems doch nichts Besonderes ist. Oh doch, den Atem nur zu beobachten und sich von den eigenen Widerständen und Anhaftungen zu lösen, ist alles andere als leicht. Die, die es versucht haben, wissen um die Herausforderung. Eine große Veränderung kann also mit einer vermeintlich kleinen Sache wie dem Wahrnehmen, dem Beobachten unseres Atems beginnen.

Möchten wir etwas im Leben verändern, braucht es Mut, neue Wege zu gehen. Mut, nach innen zu schauen, um sich selbst ehrlich zu begegnen. Mut, die ganze Verletzlichkeit, die unangenehmen Gefühle und Schattenseiten, denen wir gern aus dem Weg gehen, bewusst wahrzunehmen. Es geht um ein beurteilungsfreies und annehmendes Nach-innen-Schauen, um die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Es geht darum, den Atem zu spüren, wie er kommt und geht. Unsere auftauchenden Gefühle zu spüren. Die Angst, die unseren Körper eng macht und den Atem stocken lässt. Die Wut, die sich ausbreitet und die Muskeln zum Kampf bereit macht. Es geht um ein Erkennen der eigenen Wünsche, Vorlieben und Anhaftungen, der Widerstände gegen all die Dinge, die wir nicht haben wollen. Wenn wir all dem offen und neugierig begegnen, haben wir die Chance, mehr über uns und das Leben zu erfahren. 

Mit der folgenden Atemmeditation üben wir, im gegenwärtigen Moment zu sein oder zu merken, wenn wir es nicht sind. Richte während der gesamten Übung auf eine sanfte und entspannte Art deine Aufmerksamkeit auf das, was sich in dir vollzieht. 

ÜBUNG »Der Anker«

Um mit der Praxis der Atemmeditation zu beginnen, ist es hilfreich, eine Zeit zu wählen, in der du von äußeren Störungen nicht abgelenkt bist. Schalte dein Telefon aus und richte den Raum so ein, dass du dich gut in ihm fühlst.

Nimm auf einem Meditationskissen, einer Meditationsbank oder auf einem Stuhl eine bequeme, aber wache Haltung ein. Egal, welche Sitzposition du wählst, versuch aufrecht, mit geradem Rücken zu sitzen. Die Augen sind geschlossen oder leicht geöffnet und richten sich auf den Boden. Die Hände liegen offen, mit den Handflächen nach unten auf den Oberschenkeln. Falls du beim Sitzen Schmerzen hast, such nach einer für dich angenehmeren Haltung.

Spür nun den Kontakt deiner Füße und Beine mit dem Boden/Stuhl. Spür dein Gesäß und die Unterlage, auf der du sitzt, sowie deinen aufgerichteten Oberkörper, deine Wirbelsäule, die aus dem Becken emporsteigt. Spür deinen Rücken, die Schultern, den Nacken und den Kopf. Nimm den Kontakt der Hände mit den Oberschenkeln wahr. Spür den ganzen Körper, so, wie es für dich im Moment möglich ist.

Lenk jetzt deine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass du atmest. Nimm dich als atmenden und lebendigen Menschen wahr. In der Übung wird der Atem, unabhängig davon, ob er schnell oder langsam, flach oder tief ist, einfach beobachtet. Er wird so angenommen, wie er ist.

Der anfangs manchmal eher kurze Atem wird mit der Zeit immer länger und tiefer. Bei der Übung kann sich die Aufmerksamkeit auf die ein- und ausströmende Luft richten, deren Temperatur, auf die Nase und den Rachen sowie die Bewegung der Brust und des Bauches. Es ist hilfreich, die Aufmerksamkeit auf jene Körperstelle zu lenken, wo du den Atem am besten wahrnehmen kannst. Verweile mit der Achtsamkeit auf dieser Körperstelle und atme weiter. Versuch auch, in der Pause zwischen Ein- und Ausatmung achtsam zu bleiben.

Deine Aufmerksamkeit kann von Zeit zu Zeit zu einem Gedanken, einer Körperempfindung oder etwas anderem abschweifen. Nimm das einfach wahr und kehr dann sanft mit deiner Aufmerksamkeit zur Atmung zurück. Sei mit dem Atem. Erlebe den Atem im Atmen.

Die Atemübung kann auch informell im Alltag praktiziert werden, zum Beispiel im Büro, im Zug oder beim Warten an der Ampel. Dazu müssen wir nur unsere Aufmerksamkeit auf den Atem lenken.

2.3 Im Hier und Jetzt

»Jetzt. Das ist es. Das ganze Ziel und der ganze Sinn allen Seins.«

Weisheit aus dem fernen Osten

Meist leben wir in einer Erwartungshaltung auf etwas hin, das wir ersehnen, erträumen, das uns glücklich machen soll, in der Zukunft liegt und mit der Klausel »wenn … dann« eingeleitet wird: Wenn endlich die Kinder aus dem Haus sind; … ich in Rente bin; … der Kredit für das Haus abbezahlt ist; … ich im Lotto gewinne; … ich irgendwann mehr Zeit habe, dann …

Ist der Zeitpunkt des Dann endlich gekommen, sieht die Welt jedoch inzwischen ganz anders aus. Das Leben macht keine Pause, und die Natur lebt nach ihren eigenen Gesetzen. Was auch geschieht und ob wir uns darüber freuen oder ärgern, ob wir angesichts dessen weinen oder lachen: Es ist, wie es ist. Jetzt, genau so. Den Augenblick anzunehmen, wie er ist, und nicht wie wir ihn haben wollen, ist die Kunst der Achtsamkeit. Dies zu verstehen und wirklich zu leben, stellt die große Herausforderung auf unserem Weg dar.

Am Anfang meiner Zen- und Kontemplationsschulung hörte ich meinen Lehrer immer wieder von der Wichtigkeit des Augenblicks sprechen. Die Koanschulung, die ich bei ihm machte, war dabei hilfreich. Koans sind paradoxe Fragen und Geschichten aus der Zen-Tradition, die zum Ziel haben, die Übenden weg vom Denken und in eine vertiefte Erfahrung zu bringen, in eine wache radikale Akzeptanz des gegenwärtigen Augenblicks. Hier ein Beispiel: »Goso sagte: ›Begegnet ihr unterwegs einem Mann, der auf dem Weg Vollendung erlangt hat, grüßt ihn weder mit Worten noch mit Schweigen. Sagt mir: Wie wollt ihr ihn grüßen?‹« (Yamada 2011, S. 230). Auf der Ebene des Verstands ist diese Frage nicht sonderlich sinnvoll und alle logischen Herangehensweisen werden scheitern. Irgendwann, wenn man genügend über dieses Koan meditiert hat, wird der Verstand kapitulieren und man wird eins mit dem Faktum dieser Frage – und so den tieferen Sinn erfahren. Gäbe ich hier nun die Antwort, würde dir das gar nichts nützen. Es wäre einfach eine »tote« Information, die bei dir keinen tieferen Lösungsprozess anstößt. Die Frage ist hier der Funke, der das Feuer entfachen soll, um die Augen für die wahre Wirklichkeit zu öffnen.

Im Zustand der Gegenwärtigkeit verlieren unnötige Gedanken ihre Macht. »Leiden braucht Zeit, es kann im Jetzt nicht überleben«, sagt Eckhart Tolle und weist in diesem Zusammenhang auf Texte aus dem Evangelium hin, auf Aussagen, die im Christentum bekannt sind und die Wichtigkeit des Augenblicks betonen: »Sorge dich nicht um das Morgen, das Morgen wird sich um sich selbst sorgen.« – »Niemand, der den Pflug führt und zurückschaut, ist reif für das Königreich Gottes.« (Tolle 2018, S. 70)

»Was fehlt im jetzigen Augenblick?«, fragte einmal der große Zen-Meister Rinzai (ebd., S. 71). Unabhängig von den äußeren und inneren Turbulenzen, die jeder mehr oder weniger erlebt, ist in der tieferen Erfahrung der Gegenwart der Augenblick rein und frei.

Abb. 2.1: Die Freiheit des Hier und Jetzt: In der bewusst erlebten Gegenwart erfahren wir die Freiheit von Vergangenheit und Zukunft. Quelle: Renato Kruljac.

In der bewussten Erfahrung der Gegenwärtigkeit – im achtsamen Zustand des Seins – sind wir frei von belastenden Gedanken, die sich mit der Vergangenheit und der Zukunft beschäftigen. Den gegenwärtigen Zustand anzunehmen, heißt nicht, ihn gut zu finden, sondern ihn zunächst einmal wahrzunehmen, wie er in diesem Moment ist. Manche mögen denken, die Situation würde anders ausgehen, wenn sie in einer für sie unangenehmen Situation in den inneren Widerstand gehen oder bestimmte Gedanken ausblenden. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil: Wenn wir lernen, uns auch dem Unangenehmen zuzuwenden und es anzunehmen, wird die Macht des Unliebsamen entkräftet.

ÜBUNG »Der Schlüssel zur Gegenwart«

Richte deine Aufmerksamkeit häufiger am Tag auf den Atem. Schon fünf Minuten können hilfreich sein, um aus dem gedanklichen Hamsterrad auszusteigen. Nimm deinen Körper wahr, wie er sich in diesem Moment anfühlt; nimm den Atem wahr, sein Kommen und Gehen. Die Wahrnehmung des Körpers hilft uns, in die Gegenwart zu kommen. Hier ist, wo dein Körper ist. Du hast ihn immer bei dir, er kann nicht woanders sein. Das kann nur der Geist. Und das Jetzt ist der Moment, in dem du den Atem spürst.

Nutz diese Momente der bewussten Atmung, um deinen Körper und deinen Geist zu erden. Mit jedem Atemzug, mit jeder bewussten Wahrnehmung, trittst du tiefer in den gegenwärtigen Moment ein – den einzigen Ort, an dem das Leben wirklich stattfindet.

2.4 Jenseits der Gedanken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein

»Die große Freiheit besteht darin, zu wissen, dass wir im Geiste und im Herzen frei sind […].«

Jack Kornfield

Von anderen kritisiert, ignoriert oder nicht freundlich behandelt zu werden – was macht das mit uns? Ist es möglich, sich von den Meinungen anderer nicht beeinflussen zu lassen? Worte haben eine große Macht. Sie können uns zu großen Leistungen bewegen, uns berühren, uns geschätzt und glücklich fühlen lassen. Worte können ebenso kränken und vernichten – vor allem, wenn sie von aus unserer Sicht wichtigen Personen kommen. Gerade negative Äußerungen können sehr heftig und nachhaltig in Erinnerung bleiben und uns das Leben erschweren. Oft sind es aber nicht nur die Worte der anderen, die das Gefühl von Scham, Schuld, Wut oder Minderwertigkeit in uns hervorrufen, sondern es ist unser Urteil über uns selbst. Das geschieht dann, wenn die Worte unserem verinnerlichten Glaubenssatz entsprechen. Wenn sie ins Schwarze treffen, den wunden Punkt berühren. Dann erwecken sie unangenehme Bilder in uns zum Leben und lassen uns leiden. In solchen Momenten erzeugt die Kritik in unseren eigenen Unsicherheiten und Zweifeln eine Resonanz. Sie ist ein Echo unserer innersten Gedanken und Gefühle – und nährt sie zugleich.

Wenn wir Worte als Worte und nicht als Tatsachen begreifen könnten, hätten sie nicht diese zerstörerische Kraft. Wer möchte das nicht – in sich ruhen, in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf bewahren und über den Dingen stehen; von den Gedanken der Schuld und Bosheit, den Gefühlen Scham, Angst und Wut freundlich Abstand nehmen? Es ist nicht einfach, sich davon zu befreien. Oder anders gesagt: Es ist nicht einfach, Mensch zu sein.

»Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen und dann würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein«, textete einst der deutsche Liedermacher Reinhard May. Ja, über den Wolken ist der Himmel frei. Die buddhistische Nonne Pema Chödrön geht einen Schritt weiter und führt uns näher an eine Art Freiheit heran, die immer schon da ist. Wir müssen nur die Perspektive wechseln. Folgender Satz von ihr, den ich im Zuge einer angeleiteten Meditation hörte, fasst das wunderbar zusammen: »Du bist der Himmel. Alles andere ist nur das Wetter.«

Dass wir nicht unsere Gedanken sind, war mir am Anfang meiner Praxis vom Verstand her klar. Aber es hat lange Zeit gebraucht, dies auf einer tieferen Ebene zu begreifen. Die wirkliche Erfahrung, dass ich nicht meine Gedanken bin, dass ich mich nicht von ihnen beeinflussen und zu ungewollten Handlungen verleiten lassen muss, war befreiend. Das war Begreifen auf der Metaebene, kein Wahrnehmen aus der Verstandesperspektive, sondern ein anderer Bewusstseinszustand: ein Erleben aus einer völlig anderen Perspektive.

Wenn Menschen behaupten, dass sie sich nicht frei fühlen, und ich sie dann frage, welche Gedanken sie in diesem Zustand denn hätten, so sagen sie meist, dass sie eigentlich keine belastenden Gedanken wahrnehmen können. Wie uns die Forschung zeigt, liegt das daran, dass die meisten Gedanken, die wir im Laufe des Tages haben, unbewusst sind. Alltägliche Entscheidungen werden zu 90 Prozent ohne längeres vorheriges Nachdenken getroffen. In solchen Situationen kommen automatisierte »Entscheidungs- und Steuerungsprozesse« zum Tragen (vgl. Roth 2008). Jedoch kann ich mich nicht sorgen, ohne sorgenvolle Gedanken zu haben. Wenn ich sie nicht wahrnehmen kann, dann sind es unbewusste Gedanken. Man könnte vereinfacht sagen: Denke ich positiv, fühle ich mich positiv. Denke ich negativ, fühle ich mich negativ.

»Wir sind, was wir denken«, sagte Buddha. »Alles, was wir sind, entsteht aus unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken erschaffen wir die Welt.« (Dhammapada o. J.) Deshalb ist es so wichtig, sich bewusst zu machen, auf was wir unsere Aufmerksamkeit im Alltag richten. In der hektischen und unvorhersehbaren Welt von heute ist es ein Muss, sich ab und an eine Pause zu gönnen und darüber klarzuwerden, worauf wir unsere geistige Energie lenken. Jeder Moment, jeder Atemzug, jede Regung unseres Geistes oszilliert zwischen Positivem und Negativem. Jede Emotion und jeder Gedanke sind ein Spiegelbild dessen, worauf wir unseren Fokus richten und wie wir die Welt, die uns umgibt, deuten. Das heißt nicht, dass man die unangenehmen Dinge des Lebens ignorieren sollte, denn das wäre eine Verdrängung der Realität, eine Flucht. Es geht darum, das Licht und den Schatten, die in uns existieren, zu erkennen und zu umarmen. Unsere Gedanken und Emotionen formen unseren Weg, unsere Realität und unser Selbst.

Hier kommt die Achtsamkeit ins Spiel. Sie ist eine Brücke zur Selbstakzeptanz, im Zuge derer verdrängte Gedanken und Emotionen ihre Dominanz verlieren. Es geht um die Entwaffnung des inneren Feindes und die Begrüßung eines Freundes, um die Befreiung von automatisierten Reaktionen und das Erwachen als eine authentische, bewusste Existenz. Achtsamkeit ist unser persönlicher Reset-Knopf, ein kraftvolles Werkzeug zur De-Automatisierung unseres Geistes.

Stell dir einen Computer vor, der unter der Last unaufhörlicher Prozesse und Anforderungen ins Stocken gerät. In solchen Momenten wird die Reset-Taste zu unserer Retterin, sie ist ein simples, aber wirkungsvolles Mittel, um den Betrieb wieder ins Fließen zu bringen. Genauso verhält es sich mit der Achtsamkeit. Sie befreit unseren Geist von der Fessel automatisierter Gedanken und Reaktionen, spült die mentalen Blockaden fort, stellt die Klarheit und Leichtigkeit wieder her. In diesem Zustand der geistigen Erneuerung lassen wir uns von den trügerischen Spiegelungen unserer eigenen Vorurteile und Ängste nicht mehr täuschen und erblicken die Welt in ihrer unverstellten Wahrheit.

Heute weiß man um die Neuroplastizität unseres Gehirns. Es ist formbar und kann bis ins späte Alter trainiert und verändert werden (vgl. Jäncke 2017). Durch Methoden wie das Achtsamkeitstraining können wir unsere automatisierten Verhaltensweisen und unsere verinnerlichten Glaubenssätze in Echtzeit wahrnehmen und geeignetere Alternativen für sie finden. Es bedarf bewusster Impulse und neuer Erfahrungen, um neue Verschaltungen im Gehirn entstehen zu lassen. Und man muss sich bewusst machen, dass wir jederzeit Schöpfer unserer Realität sind.

Das Problem ist, dass die meisten Menschen nicht merken, dass sie mit ihren Gedanken identifiziert sind. Und was wir nicht merken, was uns nicht bewusst ist, können wir auch nicht verändern. Die meisten Gedanken laufen zudem, wie erwähnt, auch unbewusst ab. Und es sind leider sehr viel mehr negative als positive. Eine Methode, diesen Gedanken auf die Schliche zu kommen, ist, den umgekehrten Weg zu gehen und zunächst auf die Körperempfindungen zu achten. Verspannungen im Rücken, eine gefühlte Faust im Magen, ein zugeschnürter Hals oder Gefühle wie Wut und Angst sind letztendlich Ausdruck unserer Gedanken, vor allem der unbewussten, die sich in Gefühlen oder Körperempfindungen manifestieren. Alles fängt mit einem Gedanken an. Der Geist geht dem Gefühl voraus, ist aber so blitzschnell, dass wir unsere Gedanken erst durch das nachfolgende Gefühl beziehungsweise die Körperempfindungen dechiffrieren können.

Mithilfe der folgenden Achtsamkeitsübung können wir uns dieser im Hintergrund ablaufenden Gedanken bewusst werden.

ÜBUNG »Die innere Welt entdecken«

Gönn dir eine Pause in deinem vollen Terminkalender und begib dich auf eine Entdeckungsreise in die Welt deiner inneren Empfindungen. Erlaube dir, inmitten der täglichen Hektik, zum Beispiel beim Autofahren, innezuhalten und in dich hineinzuhören.

Stell dir vor, du sitzt am Steuer, die Straße vor dir ist belebt und hektisch. Wie reagiert dein Körper darauf? Lehnst du dich instinktiv vor? Umklammern deine Hände das Lenkrad ein wenig zu fest? Nimm jede Regung, jede Spannung wahr.

Jetzt versetz dich in die dichte, pulsierende Energie einer vollen U-Bahn. Fühlst du die Enge? Die Wärme der Menschen um dich herum? Oder betrachte ein spielendes Kind – spürst du die Unbeschwertheit, die Freude in deinem eigenen Körper widerhallen?

Bei jedem Szenario, das du durchlebst, lenk deine Aufmerksamkeit auf die Empfindungen, die in dir aufsteigen. Wo ist das Gefühl lokalisiert? Ist es ein Flimmern in deinem Bauch, eine Wärme, die sich in deiner Brust ausbreitet, oder ein Kribbeln, das durch deine Hände strömt?

Tauch nun tiefer ein: Lass deinen inneren Blick in die Region deines Herzens wandern. Was spürst du dort? Ist es ein Raum der Offenheit, der Wärme, der Weichheit – oder verspürst du Verschlossenheit, Kälte, Härte?

Stell dir vor, dass jedes Gefühl eine Farbe, eine Form hat – visualisier sie. Wie viel Raum nehmen diese Gefühle ein? Wie beeinflussen sie deine Gedanken, dein Handeln, dein Sein?

Diese Übung ist nicht nur eine Momentaufnahme, sondern ein Schlüssel, um tiefer in deine eigene innere Welt einzutauchen. Sie schärft nicht nur deine Selbstwahrnehmung, sondern bereichert auch deine Beziehung zur äußeren Welt. Mit jedem Mal, wo du diese Übung machst, werden die Farben deiner inneren Welt lebendiger, die Empfindungen klarer – gehst du einen weiteren Schritt in Richtung eines bewussteren, achtsameren Selbst.