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Eine Chimäre im Spiegel des abgestumpften Seins, ein gebrochener Geist im Leben des Scheins, eine verlorene Seele in einer seinem Urteil zufolge verlorenen Welt. Adlers Augen ist die Geschichte eines jungen Menschen, unrettbar in seiner Entfremdung von der Gesellschaft, missplatziert in Zeit und Raum. Es ist eine Verwirklichung toter Momente, die das Leid aller tragen, da ihre Schicksale niemals bis zu dem Zeitpunkt dieser Erzählung Eintritt in die Realitäten der Existenz fanden. Letztlich ist es ein Ausruf an das Leben und den Tod, welcher mit dem Fluss der roten Rosen im hellen Mondschein unter der kalten Winternacht durch die weißen Täler des Schutzes enden wird.
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Seitenzahl: 183
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Eine Chimäre im Spiegel des abgestumpften Seins, ein gebrochener Geist im Leben des Scheins, eine verlorene Seele in einer seinem Urteil zufolge verlorenen Welt. Adlers Augen ist die Geschichte eines jungen Menschen, unrettbar in seiner Entfremdung von der Gesellschaft, missplatziert in Zeit und Raum. Es ist eine Verwirklichung toter Momente, die das Leid aller tragen, da ihre Schicksale niemals bis zu dem Zeitpunkt dieser Erzählung Eintritt in die Realität der Existenz fanden. Letztlich ist es ein Ausruf an das Leben und den Tod, welcher mit dem Fluss der roten Rosen im hellen Mondschein unter der kalten Winternacht durch die weißen Täler des Schutzes enden wird.
Auszug vom 14. Dezember
Auszug vom 09. Februar
Auszug vom 10. Februar
Auszug vom 12. Februar
Auszug vom 13. Februar
Auszug vom 15. Februar
Auszug vom 20. Februar
Auszug vom 24. Februar
Auszug vom 24. Februar
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Auszug vom 02. März
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„Das Beil, das den Kopf von meinem Körper trennt,
Geschwungen mit der rechten Hand.
Der Hebel, der den Boden unter meinen Füßen nimmt,
Gezogen mit unfestem Stand.
Das Unheil wartet in der hinteren Ecke.
Schuld und Sühne hängt mir an wie eine Klette.
Der Kopf wird schon liegen.
Der Körper bleibt stehen.
Schon bald werd ich fliegen,
Und aufhören zu flehen.
Blind einem Sinne hinterhergerannt,
Der mich brachte vor den steilen Rand.
Ein Schritt zu viel gewollt, er war mir nicht bestimmt,
Ließ mich ins Unendliche fallen wie ein dummes Kind.
Abstand wars, was mir beliebt.
Einsamkeit und Wahn, alles andere versiebt.
Mein Vorhaben gescheitert, damit auch gleich ich.
Nun kommt alle Rettung für alle außer mich.
Einzig was mir übrig bleibt, ist dies unvollendete Werk.
Die Sinne mir versagt auf einem unüberwindbaren Berg.
Nun sitz ich hier,
Die Feder tanzt über das Papier,
Und verfasse meine letzten Worte.
Wer sie auch lesen mag, dem soll ´s eine Lehre seien.
Mein Name ist Adler,
Und was mir geschehen,
Soll auf ewig unvergessen bleiben.“
Die Verse, die sie hier in ihren Händen halten, bilden den abschließenden Teil eines der letzten Dokumente aus einer beachtlichen Reihe an Briefen und Niederschriften, welche über einen Zeitraum von mehreren Monaten, wöchentlich in den Briefkasten einer alten Dame in der Stadt eingingen. Diese Ansammlung von Manuskripten beschreibt die Geschichte eines jungen Studenten namens Adler.
Ich hörte das erste Mal von diesen Memoiren, als ich noch ein kleines Kind war, im Schoße der Familie am warmen Lagerfeuer, bei einer weiteren Erzählnacht mit allen vereint. Mein Großvater erzählte mir eine Geschichte eines Schulkameraden, der eines Tages aus heiterem Himmel alles hinter sich gelassen hatte und vom Erdboden verschwand. Niemand wusste, was mit dem Jungen geschehen war, bis eines Tages Briefe und Aufzeichnungen in der Stadt eintrafen – alle unterzeichnet mit Adler.
In der Stadt nahm man diese Schriften nicht für voll. Für die Bewohner, die tatsächlich nur wenig Interesse an der Geschichte zeigten, war es ein geschmackloser Jugendstreich. Doch die Allgemeinheit schenkte dem ganzen Spektakel keinerlei Aufmerksamkeit.
Es war nicht unüblich, dass junge Herren zur damaligen Zeit übermannt mit einem brennenden Entdeckergeist die Stadt verließen, um die Welt zu erkunden. Außerdem hatte, wie ich später erfuhr, niemand ein besonderes Interesse an dem Jungen und seinem Verschwinden, da er wohl ohne Eltern in mehreren Heimen aufwuchs und auch an der Universität sowie in seiner freien Zeit immer für sich selbst blieb.
Dennoch ließ mich die Geschichte nicht los. Ich konnte nicht verstehen, wie ein Junge einfach so verschwinden kann, ohne dass sich irgendjemand darum kümmert. Ich vernahm es als ungerecht, dass man sich nicht mehr darum bemühte, den Schriften nachzugehen. Vielleicht versteckte sich darin ein Hilfeschrei oder im schlechtesten Fall einfach eine spannende, erzählenswerte Narration, die es wert ist, nach außen getragen zu werden.
Deshalb machte ich es mir zur Aufgabe herauszufinden, was es mit den Schriften auch sich hat und was mit dem jungen Studenten geschehen war. Als ich das erste Mal einen Teil seiner Dokumentationen in den Händen hielt, überrannte mich ein Gefühl außerordentlicher Ekstase, da ich mit meiner Annahme recht hatte.
In seinen Erzeugnissen befindet sich mehr als eine Erzählung. Es ist ein ungehörter Ausschrei an das Leben, den Tod und die Menschheit, eine Niederschrift toter Momente, die nie das Glück hatten, das Dasein zu erblicken, eine Bluttragik mit vergossener Unschuld, ein Messerschnitt durch die Hände aller am Leibe vieler. Mir ist unklar, wie sich niemand dafür interessieren konnte, ich hoffe nur, dass sich dieser Status mit dieser Ansammlung ändern wird.
Ich möchte Ihnen nun Auszüge, Schriften und Verse von einem Menschen mit einem sehr jungen sonderlichen Verstand zeigen, der eine beachtliche Geschichte zu erzählen hat. So hören wir nun, wer zu uns spricht.
„Wie soll ich diese prekären Situationen beschreiben,
Die mein Leibe umkleiden.
Ich sitz vor dem Impluvium, leer wie meine Sinne.
Der Geist, er trägt kaum etwas inne.
Mein Leben lang war ich allein,
Selten spross daraus ein junger Keim.
Ich lernte zu existieren und zu überleben,
Doch wohl kaum im Vollen zu leben.
Was es wohl vermag für Glück und Freude,
Entwich meiner Hand, die scheue Eule.
Ich fand Zuflucht in Bildung und Büchern,
Schutz entrissen von vermeintlichen Brüdern.
Doch stets holte mich ein,
Die Plage, der betrübte Schein.
Nun gibt es keine Ruhe, Schreie im Gehirn.
Fragen kommen in mir auf, verworren im Zwirn.
οἱ πολλοί - die Vielen“
„Interessante Wesen, deren Sonderbarkeiten den Grenzen des eigenen Kernes entwachsen, sind die Menschen, die in ihrem irdischen Sein ein prädominantes Geburtsrecht sehen, welches sie in jeder Situation in ihrer unmittelbaren Umgebung ausleben und ihnen ein scheinbares Anrecht auf einen besonderen Wert des eigenen Lebens vermitteln.
Diese Geschöpfe durchlaufen ihre Existenz nur aus einer intrinsischen Perspektive und haben in ihrem Charakter keinerlei externe Objektivität, die ihnen eine detachierte Wahrheit über das Geschehen vermitteln könnte.
Sie schreiben ihrem mediokeren Leben, ihren unwichtigen Problemen des Alltags und ihren generellen Meinungen, die kaum nach dem Auffassen einen weiteren Gedankengang genossen, eine raumeinnehmende Relevanz zu, die allen sie nicht betreffenden Abweichungen, welche es womöglich eher verdient hätten, Aufmerksamkeit zu erlangen, die Luft zum Atmen stehlen. Sie wandeln durch die Welt mit einem spaltenden Kuhfänger vor der Stirn, der es ihnen ermöglicht tagtäglich in ihrer leeren Hülle zu verweilen.
Die Sonderbaren, mögen sie so genannt werden, sind aufs äußerste von sich selbst eingenommen, dass man bei Konversationen, oder Zusammentreffen mit ebendiesen die eigene Begegnung mit Thanatos in den Hintergedanken plant, während man dem Ausspei des Einheitsbreis lauscht. Diese Menschen, es gibt sie zu tausenden auf jedem Fleck der grünen Erde, machen die Welt zu einer plastischen Oberflächlichkeit, in der das Leid über das Schöne siegt, in der die Beschwerden die Wahrheit ertränken, in der letztlich nichts erreicht wird, machen begrüßende Umarmungen zu einer leblosen Tortur, die die Leichen in ihren Gräbern schmerzen lassen.
Sie reden über Nachrichten, die sie kaum merklich betreffen, oder interessieren sollten, beschweren sich über Inflationen und Kapitalprobleme und fahren in die Freizeit, um der Qual der eigenen Existenz und der Plage des plastischen Seins im Heim zu entkommen.
Die Sonderbaren, mit ihren verfälschten Selbstwahrnehmungen und ihrem Hang zum substanzlosen Charakter, verrohen das subjektive Erlebnis der Welt, da Begegnungen unausweichlich sind, sie wie Blutegel an dem eigenen Körper haften, wie Vampire den Lebenssaft aus den Adern saugen und wie Fliegen an jeder nächsten Ecke warten. Spricht man von einem emergenten Konstrukt der Gesellschaft, so sind diese Wesen der Kleber, der die Balken zusammenhält. Sie sind das Zahnrad der Gemeinschaftsuhr, das unaufhörlich im Kreise dreht.
Sie beschweren sich lieber untereinander in Gesellschaft der eigenen Spezies, als dem teuflischen Schaltschema zu entkommen, da sie die Sicherheit, den Komfort und Schutz des Uhrengehäuses genießen. Darin verlangt niemand etwas Größeres zu erreichen. Sie brauchen kein Rückgrat, denn zwei verbundene trügerische Bäuche erfüllen die Funktion eines stabilen Rückhalts.
Lieber ist es ihnen als Fliege im Fett des Leides zu suhlen, als dem Gefängnis zu entrinnen und das wahre Leben zu erfahren. Sie sind Menschen, die sich ihrer eigenen Situation nicht bewusst sind und ihre Existenz sowie ihr vermeintliches Geburtsrecht als Zentrum aller einschneidenden Systeme in den kleinen Kreisen der Konformität erblicken.
Der Sonderbare findet immer einen nächsten, da ihre Zentren gegenseitigen Zug verspüren, die Anziehungskraft der Irrelevanz. Geschieht dies, so verbinden sich Systeme, produzieren weitere, suhlen sich in ihrem Sein und ersticken gemeinsam alles, das in ihre schwirrende Laufbahn gerät. Ich liebe die Luft zu sehr, um weiter meinen Atem stehlen zu lassen.
Nun ist genug mit eurem Leid und euren nichtssagenden Meinungen. Ich streife den Blutegel von mir, bekämpfe den Vampir mit dem Holzpfahl im Herzen und töte die Fliege, die meine Aufmerksamkeit stört. Hört auf, mich ersticken zu wollen, ihr sonderbaren Ungeheuer!“
„Einem Gelehrten zu widersprechen, entspricht wohl nicht dem Ideal. Doch wenn jemand falsch liegt und es nicht weiß, dann muss doch jemand den Unsinnigen zur Hilfe schreiten. Wenn jemand nach dem Weg fragt, gebe ich demjenigen doch auch keine falschen Angaben und lasse ihn in seinem Leid allein. Und wenn jemand auf dem falschen Pfad schreitet, dann geleite ich ihn in die richtige Richtung. Nicht wahr?
Dies war zumindest meine Einstellung in der heutigen Vorlesung, was aber scheinbar nicht jeden Prinzipien entspricht, wie ich schmerzhaft zu lernen vermochte.
Es war ein interessanter Vortrag, der ab und an meine Aufmerksamkeit einnahm. Grob gesagt ging es um eine postmoderne Anschauung der gesellschaftlichen Konstruktionen innerhalb eines Landes, blah, blah, blah. Der Professor ging nach seiner Einführung in die Thematik kurz auf den Punkt der Individualisierung und Subjektivierung als Grundpfeiler der Infragestellung eines Gesellschaftsbegriffs ein.
Der Gelehrte stand vorne an seinem Pult, mittleren Alters bei einer Lebenserwartung von 95, ohne Haare auf dem Kopf, grauer Schnurrbart, mit einem Anzug, der eine Nummer zu groß ist, was darauf schließen lässt, dass er in letzter Zeit einiges an Gewicht verlor, was weiterhin darauf schließen lässt, dass er entweder krank ist, oder, wahrscheinlicher noch, viel Stress in Folge einer Scheidung erlebte, deshalb auch so gereizt auf meinen Widerspruch antwortete und mich nach der Vorlesung zu sich an sein Pult bat.
Meine Aussage umfasste so viel wie, von einer Gesellschaft könne man zu unserer Zeit überhaupt nicht mehr sprechen. Das war das Öl meiner Argumentation und ich begann alles in ein riesiges Feuer zu kippen.
Die Subjektivierung sei so sehr vorangeschritten, dass es in Jahren zuvor bereits zu einer Kappung des Systems kam. Mirko und Makro seien nicht mehr durch Emergenz gebunden, sondern sollten vielmehr als autarke Teilbereiche, ohne direkte ineinandergreifende Einflüsse, betrachtet werden. Das Individuum besitze seit geraumer Dauer keine relevante Stellung in übergeordneten Systemen.
Chaos, Ekstase und Hyperkomplexität brächten einen verdeckten irreversiblen Verfall der Interkonnektivität einer vergesellschaftlichen Bevölkerung. In aktuellen Zeiten könne kaum noch befriedigend der Begriff der Gesellschaft verwendet werden, da keine zwischenmenschlichen Verbindungen mehr bestehen, die diese Begrifflichkeiten unterstützen. Es liege keine offenbarende Wichtigkeit in einer Zusammenschließung von kooperativen Akteuren, da es einen vorgeschriebenen Konsens gebe, der sämtliche Dichotomien überschreite, weshalb eine Kritik an etablierten Zweiteilungen belanglos sei.
Ich sagte all diese Dinge nicht aus fester Überzeugung, noch aufgrund von starkem Interesse. Themen, wie diese und weitere menschliche Belange erwecken nur äußerst selten eine Interessiertheit meinerseits. Ich beobachte einfach gerne Menschen, die mit kontrastierenden Meinungen überfallen werden. Ich sehe die Kontrastpunkte als skrupellose Räuber, die sich auf ihre Gegner stürzen, Häuser in Brand stecken und ganze Dörfer verwüsten.
Weiterhin, wie sie sich in Zeiten der Verletzbarkeit verhalten und alles in ihrer Kraft Stehende dafür tun wollen, sich nicht zu blamieren. Wie ein verletztes Reh, seit Tagen gejagt mit einem Pfeil in den Hinterläufen, humpeln sie um die Thematik, verängstigt vor jeglichen Bewegungen der Umwelt.
Nach meinem zehnminütigen Vortrag im Vortrag sahen mich alle anderen Studierenden verdutzt an, und der Professor, mit Schweißperlen auf der Stirn griff sich ständig in sein nicht vorhandenes Haar, errötete bei dem Versuch einer Antwort mit zusammenhangslosen Gegenargumenten, die vollständig am Thema vorbeischossen.
Ich verlor schnell das Interesse an dem weiteren Verlauf. Ich blicke die Menschen immer nur an, damit sie das Gefühl haben, dass ich ihnen Gehör schenke, was nur sehr selten tatsächlich der Fall ist. Währenddessen denke ich immer gerne über den Lebensverlauf der Person nach, die dazu auserwählt wurde, meine Blicke zu durchstreifen. Ich sehe das Potenzial in den Kindern und Trauer in den Alten. Die Trauer entstammt nicht zwangsläufig dem Gesicht des Erblickten, sondern eher meinem eigenen Verstand.
Ich erblicke Wesen, die eine ausgiebige Zeitspanne auf dieser Welt in ihren Falten tragen und würde am liebsten anfangen zu weinen. Ich glaube, ich erspähe nicht nur das Leben, welches sie gerade führen, vielmehr alle Leben, die sie hätten führen können. Ich nehme alle verstorbenen Momente wahr, die es niemals in das wahrliche Sein geschafft haben.
Ich höre tausende Seelen in der Stimme einer. Ich sehe mehr als einen Menschen. Vielleicht sind meine Augen das Teleskop meines Geistes, der nicht nur die Gegenwart einer Knospe erhascht, sondern die Vergangenheit und Zukunft in einem Moment des Stilllebens vereint. Doch was weiß ich schon Genaueres davon.
Kurz nach meinem abschweifenden Strom der Gedanken war die Vorlesung auch schon beendet. Ich begann meinen Weg nach unten zu dem Professor, der mich schon sehnsüchtig erwartete, dies aber verbarg, in dem er sinnlos in seinen Unterlagen blätterte. Ich überlegte, was es jetzt so Interessantes geben sollte, worüber er mit mir sprechen mochte.
„Sie wollten mich sprechen?“, sagte ich mit stockender Stimme, um Schüchternheit zu vermitteln.
„Ja, genau. Ich wollte sie fragen, welcher Schule sie angehören. Ich hörte aus ihrer Darbietung nicht genau heraus, wessen Grundlage sie zur Hand nehmen.“
Schule… Grundlage… Das kann nicht sein Ernst sein, dachte ich im Stillen, da liefert man eine grundlegende kritische Darstellungsweise und die einzige Frage, die er hat, ist die wissenschaftliche Arbeit, die meine Annahme stützt. Ich bin kein Wissenschaftler, sondern nur ein Denker.
Darin liegt das Problem des Ganzen. Es ist nicht erlaubt nur eine Idee zu haben, die alles hinterfragt. Sobald es ans Hinterfragen geht, muss man am besten sein ganzes Leben offenlegen, die Leichen aus dem Keller tragen, jenen vor die Nase legen und höflich dabei grinsen.
Nach wenigen Atemzügen Pause antwortete ich: „Tut mir leid, wenn ich ihnen widersprochen habe, aber eine Grundlage dafür habe ich nicht wirklich. Ich habe nur so vor mich hingeredet, vielleicht habe ich es irgendwo gelesen, kann mich aber nicht daran erinnern, wo genau.“
„Das habe ich mir schon gedacht.“
Wie, das hat er sich schon gedacht.
„Sie haben einen interessanten Ansatz gebracht, der aber in den Tiefsten seiner Anfänge schon durchlöchert ist mit Problemen. Ein Schweizer Käse der Wissenschaft, wenn man möchte.“
Sein Problem ist sein riesiges Ego, mit dem er sich überall den Kopf stößt – natürlich nicht seinen richtigen Kopf, der auf seinem kleinen Körper sitzt, den würde er sich nur stoßen, wenn er auf Stelzen durch den Türrahmen schreitet.
„Vielleicht wenn Sie sich Notizen beim Lesen machen, dann können sie eine ordentliche Grundlage für Ihre Äußerungen schaffen. Was lesen Sie denn aktuell?“
Notizen beim Lesen, als nächsten rät er mir noch, welche Urlaubsmagazine ich abonnieren soll. Er denkt wirklich, er spricht mit einer echten Person… Er weiß gar nicht, dass ich eigentlich überhaupt nicht hier bin. „Ich existiere überhaupt nicht“, würde ich ihm am liebsten in seine großen Ohren schreien. Er stellt sogar Fragen… Mist, was war die Frage noch gleich? Ah, genau.
„Aktuell lese ich viel russische Literatur. Dostojewski, Tolstoi, Gontscharow, Turgenjew… Das Beste der Zeit, meiner Meinung nach.“ Das wird ihm bestimmt nicht gefallen, da es nicht wissenschaftlich genug ist.
„Ich meinte eigentlich wissenschaftliche Schriften.“
Ich bin bestimmt noch jung, deshalb ist es verzeihbar.
„Sie sind ja noch jung, deshalb kann ich ihnen ihre Torheit verzeihen.“ Er fing an zu lachen, sodass man seinen goldenen Backenzahn sehen konnte.
Meine Torheit… Das meine ich, wenn ich von eingemachtem Menschenbrei rede. Alle sind so vorhersehbar, langweilig und einfallslos. Ich sage nicht, dass ich besser bin als alle. Ich glaube nicht einmal, dass die Menschen Schuld an ihrem Sein tragen. Sie sind einfach so wie sie sind und ziehen weitere Menschen an, die ihnen gleichen. Sie fühlen sich wohl in ihrem Brei.
Die Wärme der Flüssigkeit, die ihren Körper umgibt, der süße Geschmack von Salz, der sich täglich auf ihre Zunge begibt, der Holzlöffel, welcher sie sanft streichelt und im Topf umherrührt.
Der Mensch im Brei, welcher aus Menschen im selben Brei besteht, hat die bezaubernde Eigenschaft, blind gegenüber den eigenen Umständen umher zuschwimmen. Die Breimenschen befinden sich schon so lange in dieser Lage, dass ihr Gehör gefüllt ist mit dem Wirrwarr anderer. Sie atmen, riechen, schmecken und fühlen nichts als ihre Alltagskost.
Entgehen kann man dem Ganzen nur mit Abschottung. Man muss sich der eigenen Lage bewusstwerden und alles dafür tun, dieser zu entkommen. Darin besteht eben das Wunder der Einsamkeit und des Anderssein.
Bist du anders als die Anderen, dann bleib unter dir, sonst ist alles weg, sie greifen mit unendlicher Gier.
„Ja, gottlob der Jugendlichkeit verdank ich mein Glück“, sprach ich lächelnd, „aber ich muss mich entschuldigen, da ich noch weitere Veranstaltungen habe, die alsbald beginnen.“
Ich habe keine Veranstaltungen, die alsbald beginnen.
„Ja, natürlich. Schreiten Sie von dannen und fangen Sie an besseres zu lesen, die Wissenschaft hat viel zu bieten.“
Ich antwortete nur mit einem leichten Lächeln und schritt „von dannen“.
„Besseres solle ich lesen“, als Antwort auf die größten Literaten, die die Weltgeschichte zu bieten hat… Solch eine Schandtat einer Aussage sollte strafbar gemacht werden und hätte mich vor Hass an den Rand der Vernunft gebracht, wenn denn überhaupt Gefühle in mir lebten. Der Weg vom Institut in meine Behausung war daraufhin so grau wie noch nie zuvor.
Der Professor tötete meine Gedanken, die Lust zu leben. Der königliche Flieder wurde schwarz, die grüne Erde zu Treibsand. Es ist ein Normalzustand, dass meine Sinne nach zwischenmenschlichen Interaktionen ausgelaugt sind.
Meine Knochen fühlen sich immer ganz träge und schwer, diese müssen sich im Bett erholen. Doch nach diesem Vorfall hätte ich mir am liebsten das Gesicht vom Schädel gekratzt.
Was kann man denn aus solch einer Begegnung lernen. Ich weiß jetzt auf jeden Fall, was ich zu tun habe. Und zwar nie wieder den Mund zu öffnen, wenn ich denke, etwas sagen zu müssen, sonst wartet wieder so eine schreckliche Tortur. Jetzt gilt es diesen abominablen Horror einer Konversation innerhalb der nächsten Wochen zu verdauen.“
„Nach diesem Vorfall am gestrigen Tage verließ mich all die Lust, die normalerweise in mir schwebt, das Bett zu verlassen. Die Knochen sind noch nicht verheilt. Eigentlich treibt es mich immer aus den Federn, die eigentlich gar keine Federn sind, sondern sich vielmehr wie Nägel auf einem Holzbrett anfühlen, oder wie Wanzen, die sich langsam stückweise in meine Haut einfressen. Letzteres ist wahrscheinlich tatsächlich der Fall, bedenkt man den Zustand der Ordnung in diesem Loch. Ein Kellerloch im dritten Stock.
Trotz der Ungemütlichkeiten konnte ich mich nicht dazu entschließen aufzustehen. Die Tortur war für mein Gemüt noch schlimmer als gedacht. Dieser Wortwechsel war die reinste Auspeitschung für meinen Verstand, jede Lippenbewegung ein neuer Hieb, jede Handbewegung ein neuer Nagel in Hand und Fuß. Gekreuzigt wurde ich in der Universität.
Ich blicke aus dem Dachfenster nach draußen, hinaus auf die grauen Wolken und lausche den Tropfen des Regens, wie sie auf das Dach aufschlagen. Regnen tut es hier sehr häufig, es kommt sehr selten vor, dass man einmal trocken an seinem Ziel ankommt. Komisch nur das es nicht schneit, denn eigentlich ist dafür die Zeit.
In der Ferne der Stadt kann man noch den Kirchturm erblicken, wie er dasteht aus rotem Gestein, über die Menschen wacht, mit dem Kreuz auf dem Haupt. Das dunkle Dach im Kontrast mit dem grünen Ziffernblatt der Uhr, auf dem die goldenen Zeiger unaufhaltsam wandern. Bald schlägt es schon halb eins. So viel schon rum, der Tag bald verprasst und doch nichts geschafft. Geht das Leben ohne mich überhaupt weiter? Wenn ich liege, bleibt alles andere stehen?
Die Tropfen fallen, der Zeiger läuft, aber sonst ist es so, als würde alles auf mich warten. Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, als würde alles stillstehen, wenn ich nicht in der Nähe bin. So zum Beispiel, wenn ich mich jetzt langsam nach unten zu der Hausherrin schleichen würde, dann würde sie einfach nur in ihrer Küche stehen, wie eingefroren, bis ich sie benötige. Das ist manchmal auch tatsächlich der Fall, der meine Annahme unterstützt.