Adorno. Eine Einführung - Tilo Wesche - E-Book

Adorno. Eine Einführung E-Book

Tilo Wesche

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Beschreibung

Der 1969 verstorbene Philosoph, Musik- und Kunsttheoretiker Theodor W. Adorno beeinflusst unser Denken bis heute. Tilo Wesche beleuchtet in seiner Einführung Adornos philosophisches Gesamtwerk, etwa dessen mit Horkheimer verfasste Dialektik der Aufklärung oder die Negative Dialektik, die moralphilosophischen und gesellschaftspolitischen Ansätze, seine Kapitalismus- und Gesellschaftskritik sowie sein epochemachendes Kunstverständnis. Das letzte Kapitel zielt auf Hoffnung – denn Adorno hoffte auf "das Entronnensein des Humanen aus dem Bann", dass "Schicksal und Macht nicht das letzte Wort behalten".

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Seitenzahl: 254

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Tilo Wesche

Adorno

Eine philosophische Einführung

Reclam

Für Gesine Winter

 

 

 

2018 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2018

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961339-0

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019506-2

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung: Leben und WerkI. Wozu Dialektik?1. Dialektik der Aufklärung1.1 Aufklärungskritik1.2 Mythos als Aufklärung2. Negative Dialektik2.1 Widerspruch2.2 Negativismus2.3 Kritik2.4 Das NichtidentischeII. Ethik1. Probleme der Moralphilosophie1.1 Moralische Geltung1.2 Moralische Achtung1.3 Moralische Urteile2. Der neue kategorische Imperativ2.1 Gleichgültigkeit2.2 SelbsttäuschungIII. Gesellschaft1. Kapitalismus1.1 Die Logik des Gewinns1.2 Soziale Pathologien2. Gesellschafts- und Erkenntniskritik2.1 Gesellschaftlicher Schein2.2 Der Sinn des EigentumsIV. Kunst1. Ästhetische Vernunft1.1 Autonomieästhetik1.2 Form und Material1.3 Ästhetische Beredtheit1.4 Der Darstellungsgehalt der Kunst2. Hoffen2.1 Kontingenz2.2 Der Grund des HoffensAusblick: Warum Adorno heute?LiteraturhinweiseZitierte Literatur von Theodor W. Adornoa) Zitierweiseb) SiglenKommentierte Bibliographiea) Lebenb) Nachschlagewerke und Kommentarec) Allgemeind) Dialektike) Ethikf) Gesellschaftg) Ästhetikh) MusikphilosophieSchlüsselbegriffeZeittafelZum AutorDanksagung

Einleitung: Leben und Werk

Bürgerlicher Wohlstand und Lebensstil ermöglichen Theodor Ludwig Wiesengrund-Adorno eine unbeschwerte, beschützte und glückliche Kindheit. Niemand konnte deshalb ahnen, dass er später eine Tradition mitbegründen wird, die unter dem Namen »Kritische Theorie« gerade bürgerlichen Gewissheiten ihre Selbstverständlichkeit nehmen sollte. Am 11. September 1903 wird ›Teddie‹, so sein Spitzname, in Frankfurt am Main geboren. Dort wächst er im behüteten Umfeld familiärer Geborgenheit, materieller Sicherheit und geistiger Förderung auf. Im Odenwaldidyll Amorbach verbringt die Familie die Sommer, das ihm seitdem als die Wirklichkeit gewordene Utopie gilt, mit der Welt eins zu sein. Neben der Mutter, einer geborenen Calvelli-Adorno della Piana, widmet sich besonders deren unverheiratete Schwester Agathe der musikalischen und literarischen Bildung des Hochbegabten. Mit 17 beginnt Adorno das Philosophiestudium in Frankfurt, wo Hans Cornelius sein Lehrer und Förderer wird. Bereits mit 21 wird er mit einer Arbeit über Husserls Phänomenologie1 promoviert. 1931 habilitiert Adorno sich mit der Schrift Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Noch im gleichen Jahr hält er seine Antrittsvorlesung »Die Aktualität der Philosophie«2 als Privatdozent für Philosophie.

Doch schlagartig bekommt die Idylle Risse. Adornos Vater, ein stadtbekannter Weinhändler, ist Jude. 1935 machen die Nürnberger Gesetze Adorno zum ›Halbjuden‹. Es folgen der Entzug der Privatdozentur, Publikationsverbot und polizeiliche Einschüchterungen. Adorno wird Augenzeuge der ersten Verhaftungswellen und Emigrationen jüdischer und oppositioneller Bürger*innen. Seine Beobachtungen drückt er in dem komponierten Singspiel Der Schatz des Indianer-Joe (in Anspielung auf die gruselige Gegenfigur in Mark Twains Tom Sawyer) aus. Dort heißt es im »Lied vom Zusehen«: »Einer ist tot gegangen, / einer hat’s getan, / zwei haben zugesehen, / alle sind schuldig, / solange sie nicht reden«3. Wegen ihrer Gleichgültigkeit trägt die schweigende Mehrheit die Verbrechen mit.

Von der beobachteten Gleichgültigkeit geht jener verstörende Impuls aus, der sein Denken fortan bestimmen sollte. Erschüttert wurde die bürgerliche Selbstgewissheit, dass materieller Wohlstand, kulturelle Tradition und geistige Bildung vor der Kälte gegenüber dem Schicksal der anderen schützen. Die bürgerlichen Werte haben Bürgerinnen und Bürger nicht von der Passivität abhalten können, mit der sie die Barbarei des Nationalsozialismus geschehen ließen. Nicht minder als die NS-Verbrechen hat die Gleichgültigkeit, die sie erst möglich machte, dem Vertrauen in Moral, Bildung und Wissenschaft den Boden entzogen.

Im Sommer 1934 emigriert Adorno nach Oxford, wo er sich am Merton College für ein Promotionsprojekt über Husserl einschreibt, das später unter dem Titel Zur Metakritik der Erkenntnistheorie veröffentlicht werden wird.

Nach vier Jahren siedeln er und seine Frau Gretel nach New York über. Zunächst arbeitet er am von Paul Lazarfeld geleiteten Radio Research Project in Princeton; später erhält er eine Anstellung am Institute of Social Research, dessen Direktor Max Horkheimer ist. Diesem folgt Adorno im November 1941 nach Los Angeles. Hier kommt es zur ertragreichen Zusammenarbeit mit Horkheimer und damit zur eigentlichen Geburtsstunde der Kritischen Theorie: Im kalifornischen Exil entsteht die von beiden gemeinsam verfasste Dialektik der Aufklärung, das Gründungsdokument der Kritischen Theorie. Auch schreibt Adorno hier das später erfolgreichste Buch dieser Denkrichtung, die Horkheimer gewidmeten Minima Moralia.

Zwei Einsichten aus Adornos Emigrationszeit prägen nachhaltig das Selbstverständnis der Kritischen Theorie: Erstens ist jene Gleichgültigkeit, die die NS-Barbarei möglich gemacht hatte, das Grundmerkmal jeder Gesellschaftsordnung, die vom ökonomischen Profitinteresse bestimmt wird. Gleichgültigkeit nimmt in ihr verschiedene Gestalten an. Die ›Kulturindustrie‹ beispielsweise bewirkt, dass die Betroffenen sich gleichgültig gegenüber ihren eigenen Interessen an einem guten Leben verhalten. Statt der Profitökonomie, die ihnen ein gutes Leben vorenthält, die Stirn zu bieten, geben sie sich mit deren oberflächlichen Ersatzangeboten zufrieden.

Zweitens bedarf es der empirischen Sozialforschung, um den »Zusammenhang politischer Ideologien mit einer bestimmten psychologischen Beschaffenheit derer, die sie hegen«4, zu untersuchen. Theorien müssen durch »das Gewicht dessen […], was Empirie heißt,«5 geerdet werden und im empirischen Forschungsprozess anhand von Datenerhebungen überprüfbar sein. Dabei müssen wirtschaftliche, soziale, politische und psychologische Faktoren mit berücksichtigt werden, die die geäußerten Meinungen der Befragten bestimmen und die zugleich den Befragten verborgen bleiben.

1949 kehrt Adorno nach 15-jähriger Emigration an die Universität Frankfurt zurück, um zunächst als außerordentlicher Professor und ab 1957 als Ordinarius für Philosophie und Soziologie zu lehren. 1959 übernimmt er die Leitung des Instituts für Sozialforschung, das nach Frankfurt umgezogen bzw. zurückgekehrt war. Rückblickend beurteilt er die Emigrationsjahre für seine Neuorientierung im Nachkriegsdeutschland als ausschlaggebend. »[E]ntprovinzialisiert« und »von naturgläubiger Naivetät befreit« habe ihn vor allem

»die Erfahrung des Substantiellen demokratischer Formen: daß sie in Amerika ins Leben eingesickert sind, während sie in Deutschland nie mehr als formale Spielregeln waren. […] Drüben lernte ich ein Potential realer Humanität kennen, das im alten Europa so kaum vorfindlich ist. Die politische Form der Demokratie ist den Menschen unendlich viel näher. Dem amerikanischen Leben eignet, trotz der viel beklagten Hast, ein Moment von Friedlichkeit, Gutartigkeit und Großzügigkeit, das von […] den Jahren 1933 bis 1945 in Deutschland […] aufs äußerste sich abhebt.«6

Verstärkt mischt sich Adorno in die öffentlichen Debatten um die Demokratiedefizite und Vergangenheitsverdrängung in der jungen Bundesrepublik ein. In seinem Engagement drückt sich das Selbstverständnis einer Philosophie aus, die gleichermaßen Wissenschaft und Aufklärung sein will. Adorno verstand sich als Forscher und zugleich Intellektueller, der die öffentliche Kontroverse bewusst sucht. Diese Einheit von Theorie und Praxis steht im Kontrast sowohl zum Elfenbeinturm einer Wissenschaft, die sich gegen öffentliche Themen abschottet, als auch gegen einen Aktivismus, der Veränderungen ohne theoretische Reflexion herbeizuführen können glaubt: Damit Gesellschaftskritik in der Praxis wirksam wird, bedarf es, nur scheinbar paradox, der Theorie. Sie erfordert nicht nur eine Gesellschaftstheorie, in der die Strukturen des Sozialen, der Politik und Ökonomie untersucht werden. Sie muss zudem auf Augenhöhe mit dem Problemniveau der klassischen Philosophie sein und dabei über deren Antworten kritisch hinausgehen. Philosophische Grundlagenreflexion dient dabei dazu, zwischen Theoriealternativen zu unterscheiden, die jeweils andere Zeitdiagnosen und Lösungsansätze nach sich ziehen. Mit seiner Verankerung von Praxis in Theorie widerspricht Adorno insoweit der elften Feuerbach-These von Marx. »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert. Es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.«7 Die Welt zu verändern sei dem Marxismus, so Adornos Kritik, aber gerade selbst deshalb misslungen, weil sie die Welt zu wenig interpretiert habe:

»Praxis, auf unabsehbare Zeit vertagt, ist nicht mehr die Einspruchsinstanz gegen selbstzufriedene Spekulation, sondern meist der Vorwand, unter dem exekutiven den kritischen Gedanken als eitel abzuwürgen, dessen verändernde Praxis bedürfte.«8

Obwohl Theorie und Praxis für Adorno zusammengehören, hat er sie nie miteinander vermischt. Strikt wird getrennt zwischen der wertfreien Wissenschaft, deren Zweck Erkenntnis ist, und einer effektiven Einflussnahme, die der Durchsetzung von Zielen dient. Nur eine solche Arbeitsteilung scheint Theorie und Praxis miteinander versöhnen zu können.

Auch als akademischer Lehrer verstand es Adorno, Verschiedenes zusammenzuführen. Lehre und Forschung waren für ihn derartig eng miteinander verwoben, wie es in heutigen Bachelor- und Master-Studiengängen undenkbar wäre. Insbesondere seine Vorlesungen dienten als ein Laboratorium, in dem die Grundgedanken für Werke wie die Negative Dialektik und die Ästhetische Theorie entwickelt wurden. Die Vorlesungen werden deshalb in dieser Einführung ausdrücklich mitberücksichtigt.

Adorno äußerte sich bei seiner Rückkehr aus dem Exil begeistert über die Talente, Interessen und Neugier der Studentinnen und Studenten. Ab 1967 kommt es jedoch verstärkt zu Konfrontationen mit der Studentenbewegung, die in der von ihm veranlassten polizeilichen Räumung des besetzten Instituts für Sozialforschung gipfelten. Am 6. August 1969 stirbt Adorno während eines Urlaubs in Zermatt an den Folgen eines Herzinfarkts.

 

Adornos Werk umfasst Schriften aus drei Themenbereichen, nämlich Philosophie, Sozialwissenschaft und Ästhetik. Zu jedem dieser Bereiche hat Adorno Monographien, Aufsätze und Gelegenheitsarbeiten wie etwa Nachrufe verfasst. Dazu kommen die Mitschriften seiner Vorlesungen, die aus dem Nachlass veröffentlicht werden. Zudem hat er einen erstaunlich großen und vielseitigen Briefwechsel geführt. Die Korrespondenzen mit Walter Benjamin, Max Horkheimer, Thomas Mann, Siegfried Kracauer, Alban Berg, Gershom Scholem, Ingeborg Bachmann und anderen Persönlichkeiten widmen sich neben Privatem und Beruflichem vor allem einer wechselseitigen Selbstvergewisserung über wissenschaftliche Fragen.

Die philosophischen Schriften zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Vielfalt an Gattungen und Stilen aus. Sie reichen von den Interpretationen einzelner Autoren wie Søren Kierkegaard über die Aphorismen der Minima Moralia bis zur weit ausgreifenden Konzeptarbeit der Negativen Dialektik. Adornos Formideal ist dabei, wie er schon in seiner Antrittsvorlesung betont,9 der Essay, der seinen Gegenstand gleichsam umkreist:10 »In einem philosophischen Text sollten alle Sätze gleich nahe zum Mittelpunkt stehen.«11 Kein Satz ist wichtiger als der andere. Weder lässt sich der Gehalt eines Textes in einen Satz pressen, noch sollten einzelne Sätze entbehrlich sein. Adornos essayförmige Schriften durchwehen dabei eine souveräne Nachlässigkeit in der Argumentation. Sie ist teilweise der rhetorisch-polemischen Zuspitzung geschuldet. Entsprechende Übertreibungen verwendet Adorno als Stilmittel, um Themen Aufmerksamkeit zu verschaffen, die ihnen bisher vorenthalten blieb. Allerdings sind sie oft wenig hilfreich für eine nüchterne Sachklärung. In der vorliegenden Einführung sollen deshalb besonders die jeweils wichtigsten Argumentationslinien nachgezeichnet werden, die in Adornos Texten zumeist unausdrücklich bleiben.

Das sozialwissenschaftliche Werk umfasst eine Fülle von zumeist kürzeren Arbeiten zu Themen der Soziologie, Psychologie, der Kommunikations- und Medienforschung, der Vorurteilsforschung und der Pädagogik. Einen Meilenstein in der Sozialforschung stellen die von der Berkeley Public Opinion Study Group erstellten Studies in the Authoritarian Personality12 dar, an denen Adorno beteiligt war. In ihnen werden mit Methoden der empirischen Sozialforschung die sozialpsychologischen Voraussetzungen für die Bildung von antisemitischen Vorurteilen untersucht. Zudem hat er größere Studien über einen rechtsradikalen Agitator in den USA,13 über Astrologie14 und über Schuld und Abwehr15 verfasst.

Adornos Werk zu ästhetischen Fragen umfasst die postum veröffentlichte Ästhetische Theorie, Beiträge über Literatur, die größtenteils in den Noten zur Literatur versammelt sind, und vor allem musikphilosophische Untersuchungen sowie einige eigene Kompositionen. Noch vor der Emigration war Adorno bereits als Musikkritiker, Komponist und Musiktheoretiker öffentlich in Erscheinung getreten. 1925 nimmt er in Wien bei Eduard Steuermann Klavierstunden und bei Alban Berg, dem Schüler von Arnold Schönberg, Kompositionsunterricht. Thomas Mann wird in musiktheoretischen Fragen für seinen Roman Doktor Faustus von Adorno beraten. Mit dem Komponisten Hanns Eisler führt er empirische Untersuchungen über Filmmusik durch. Von der Philosophie der Neuen Musik16 über seinen Versuch über Wagner17 bis zum großartigen Buch über Mahler. Eine musikalische Physiognomik18 hat er ein einschlägiges Werk zur Musikphilosophie verfasst, die er damit als Disziplin überhaupt erst etabliert hat. Mit seinem einflussreichen Konzept der freien Atonalität, das er in eigenen Kompositionen durchgeführt hat, setzte er zudem in der musikwissenschaftlichen Debatte und Praxis einen eigenen Akzent.

Adornos musikphilosophische Schriften stehen sowohl in Umfang als auch Wirkung dem philosophischen Werk in nichts nach. Alban Berg erkannte früh Adornos Doppelbegabung und schreibt ihm am 26. Januar 1926, dass er sich eines Tages, »da Sie doch Einer sind, der nur auf’s Ganze geht (Gott sein Dank!) für Kant oder Beethoven entscheiden müssen«19. Adorno ist diesem Rat nicht gefolgt, und zwar aus einem bestimmten sachlichen Grund: Musik und Philosophie sind für ihn keine voneinander isolierten Arbeitsgebiete. Beide sind unersetzbare Bestandteile einer Kritischen Theorie der Gesellschaft; diese Theorie bildet ihre gemeinsame Einheit, die beide miteinander verknüpft. Gesellschaftskritik gelingt nach Adorno nämlich nur im Verbund mit Kunst. Gesellschaftskritik und Musik schließen sich deshalb gegenseitig nicht aus. Der Musik der Avantgarde

»frommt es nicht, in rastlosem Entsetzen auf die Gesellschaft hinzustarren: sie erfüllt ihre gesellschaftliche Aufgabe genauer, wenn sie in ihrem eigenen Material und nach ihren eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme zur Darstellung bringt, welche sie bis in die innersten Zellen ihrer Technik in sich enthält. Die Aufgabe der Musik als Kunst tritt damit in gewisser Analogie zu der der gesellschaftlichen Theorie«20.

Obwohl Musik gesellschaftliche Probleme zur Darstellung bringt, lässt sie sich nicht handstreichartig vor den Karren der Gesellschaftskritik spannen. Ihre Darstellungskraft beruht vielmehr auf dem musikalischen Material und seiner Form.

Der Kürze halber kann Adornos Musikphilosophie im Folgenden nur insoweit gestreift werden, als sie für die Erörterungen seiner Ästhetik relevant ist. Für einen Überblick sei auf das Adorno-Handbuch verwiesen, das einen eigenen musiktheoretischen Schwerpunkt setzt.21 Stattdessen wird sich diese Einführung dem Zusammenhang widmen, der in Adornos Werk zwischen Ethik, Gesellschaftstheorie und Ästhetik besteht. Das theoretische Zentrum, das diese Teile verbindet, bildet Adornos Konzept der Dialektik. Mit diesem Konzept werden wir uns deshalb zuerst beschäftigen.

I. Wozu Dialektik?

Allein schon die Titel von Adornos beiden Hauptwerken, Dialektik der Aufklärung und Negative Dialektik, lassen die große Bedeutung der Dialektik für seine Philosophie vermuten. Für ihn ist Dialektik eher Programm als nur ein Begriff. Um ihren Bedeutungsreichtum auszuschöpfen, genügt es deshalb nicht, darauf zu verweisen, dass der Begriff vom griechischen Wort διαλεκτική/dialektiké stammt und so viel wie ›Zwiegespräch‹ bedeutet. Vielmehr muss es um ein Verständnis der konzeptionellen Grundannahmen gehen, durch die sie sich gegenüber theoretischen Alternativen auszeichnet.

Dialektische Philosophie bildet eine eigenständige Tradition, die von Platon über Hegel, Kierkegaard und Marx bis zur Kritischen Theorie reicht.22 Diese Traditionslinie zeigt eine Theoriealternative an, die sich von anderen Strömungen der Philosophie unterscheidet. In der Theoriebildung steht man hier quasi vor einer Weggabelung, wo zu entscheiden ist, welche Richtung man einschlagen will. Völlig unabhängig davon also, wie man sich zur dialektischen Philosophie verhält, sollte man verstehen, welche Theoriealternativen überhaupt zur Wahl stehen und was deren Stärken und Schwächen jeweils sind. Die Frage lautet daher: Wozu Dialektik? Und wozu insbesondere negative Dialektik?

An der Dialektik kommt man bei Adorno auch aus einem weiteren Grund nicht vorbei. Dialektik bildet die Einheit in der Vielheit seiner Interessen. Sie verknüpft seine Ausführungen über Musik, Literatur, Philosophie, Politik, Ethik und Sozialwissenschaft zu einem einheitlichen Theoriefeld. Ihre Allgegenwart ist Adornos – an Platon anschließendes – Verständnis von Dialektik als Grundlagendisziplin geschuldet.23 Deren Aufgabe besteht darin, jene theoretischen Vorentscheidungen aufzudecken, mit denen auch in den Einzeldisziplinen die Weichen gestellt werden. Der Begriff »Dialektik« signalisiert deshalb eine Zuordnung. Er verweist auf die Grundannahmen, mit denen es gelingen soll, Phänomene der Künste, Gesellschaft und des guten Lebens zu begreifen.

Im Folgenden werden Adornos Begriff der Dialektik und die Grundannahmen erörtert, die mit ihm verbunden sind. Mit der einführenden Begriffsklärung soll ein Vorverständnis gewonnen werden, das am Anfang eher schemenhaft sein mag, aber in den späteren Kapiteln Kontur gewinnen wird. Die Dialektik der Aufklärung stellt den Grundgedanken mit der unverbrauchten Frische einer Entdeckung dar; allerdings um den Preis der begrifflichen Schärfe. Die Negative Dialektik hingegen geht lange Wege durch Begriffswüsten, holt jedoch die Details näher heran. Wir sollten uns dementsprechend zuerst (1.) des Grundgedankens vergewissern und anschließend (2.) sein Bedeutungsspektrum auffächern.

1. Dialektik der Aufklärung

»Die Philosophie ist eigentlich dazu da, das einzulösen, was im Blick des Tieres liegt.«24

Die Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente ist in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnliches Buch. Einen vergleichbaren Fall findet man selten: Zwei Akademiker führen im Exil über Jahre hinweg Gespräche, die zur Selbstverständigung verschriftlicht werden und letztlich dann zu einem Klassiker der modernen Philosophie avancieren.

Die Vorgeschichte dieses Erfolgs beginnt zehn Jahre vor der Veröffentlichung im November 1934 mit einem Brief Adornos aus Oxford, in dem er Horkheimer auf ihr gemeinsames Interesse an einer »materialistischen Logik« aufmerksam macht. In den folgenden Jahren bezieht er sich zunehmend auf »unsere große gemeinsame Arbeit« über »dialektische Logik« und »dialektischen Materialismus«. Im März 1937 konkretisiert er das Vorhaben erstmalig als »unser gemeinsames Buch«, dessen Titel »Dialektik der Aufklärung« von Adorno zum ersten Mal im Brief vom 10. November 1941 erwähnt wird.25

Das gemeinsame Projekt reifte gleichsam in der experimentellen Atmosphäre eines Laboratoriums. Eine Vorstufe bildet der rege Briefwechsel, in dem beide ihre Standpunkte entwerfen und jeweils auf die Entwürfe des anderen eingehen. Zudem werden Vorstudien publiziert und somit ihre Thesen in der Öffentlichkeit erprobt. Vor allem aber suchten Adorno und Horkheimer ihre Positionen in Gesprächen zu klären, die von Gretel Adorno protokolliert wurden, erstmalig 1939 in New York, verstärkt ab 1942 in Kalifornien. Diese Protokolle wurden zu Vorlagen ausformuliert, die von der Gegenseite kommentiert, ergänzt und redigiert wurden. So entstand ein Gemeinschaftswerk, ohne dass das unverwechselbar Besondere der jeweiligen Position verlorenging.

Die sechs Kapitel tragen dabei eine jeweils eigene Handschrift. Mit dem Exkurs über Marquis de Sade und den aphoristischen »Aufzeichnungen und Entwürfen« am Schluss setzt Horkheimer eigene Akzente. Beim Exkurs über »Odysseus oder der Mythos der Aufklärung« und dem Kapitel über die »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug« war Adorno federführend. Am deutlichsten sprechen sie mit einer Stimme im programmatischen Anfangskapitel über den »Begriff der Aufklärung« und im Kapitel »Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung«.

Nicht minder erstaunlich als die Entstehungsgeschichte der Dialektik der Aufklärung verläuft ihre Wirkungsgeschichte. Aus heutiger Sicht gilt sie als das bleibende Vermächtnis der Kritischen Theorie. Niemand, der an deren Tradition anschließt, kommt daran vorbei, sich zu den hier aufgeworfenen Fragen der Vernunftkritik, Dialektik und Moderne ins Verhältnis zu setzen. Fast schon mit Händen zu greifen ist dieses Ringen um eine Position, die Nähe und Distanz herstellt, in der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas.26 Ihren Ruhm verdankt die Schrift nicht zuletzt auch der Anziehungskraft, die sie in den 1960er und 1970er Jahren auf die studentische Protestbewegung, auf Intellektuelle und Wissenschaftler ausübte. Die Kritik am Umschlagen der Aufklärung in ihr Gegenteil vermochte dem Unbehagen an den Nachkriegskontinuitäten in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft eine begriffliche Form zu geben, die jenseits der marxistischen Dogmatik liegt. Mit ihr wird an das Freiheits- und Glücksversprechen der Moderne erinnert; sie drückt aus, dass die Welt nicht unvermeidlich so geworden ist, wie sie ist, und sie einst etwas anderes als ein zweckrationaler Verwertungsmechanismus zu sein versprach.

Im Kontrast zur Breitenwirkung stand die Veröffentlichung der Dialektik der Aufklärung zunächst unter ganz anderen Vorzeichen. Die Erstausgabe erschien 1944 anlässlich des 50. Geburtstags von Friedrich Pollock in der sehr überschaubaren Auflage von 500 Exemplaren als hektographiertes (d. h. als Matrize vervielfachtes) Typoskript des Instituts für Sozialforschung. Drei Jahre später wurde das Buch mit Änderungen und Ergänzungen in Amsterdam im deutschsprachigen Exilverlag Querido immerhin in einer Auflage von 2000 Exemplaren veröffentlicht.

Allerdings blieb das Buch ein Ladenhüter. Erst kurz vor dem Tod Adornos, der in seinen Vorlesungen beständig auf das Gemeinschaftswerk verwies, und nach einigem Zaudern Horkheimers, entschloss man sich zu einer Neuauflage im Fischer Verlag, die den Durchbruch brachte. Mit ihr wollte man nicht nur den blühenden Markt von Raubkopien trockenlegen. Sie bot vor allem die Gelegenheit zu Umformulierungen, mit denen man sich aus weltanschaulichen Grabenkämpfen und ideologischem Schubladendenken herausziehen wollte. Verfängliche Begriffe wurden ersetzt, etwa »Ausbeutung« durch »Leiden«, »Kapitalist« durch »Unternehmer«, oder »Proletarier« durch »Arbeiter«.

Den theoretischen Kern der Dialektik der Aufklärung bildet ein einziger Grundgedanke: »Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie.«27 Diese »Verschlingung von Mythos und Aufklärung« beruht auf zwei Annahmen:28 Erstens schlägt die Aufklärung in ihr Gegenteil, in den Mythos um (1.1). Zweitens leistet der Mythos bereits einen Beitrag zur Aufklärung; der Mythos ist also nicht schlechterdings unvernünftig (1.2).

1.1 Aufklärungskritik

Zunächst soll das Problem genauer bestimmt werden, zu dessen Lösung die Theorien der Dialektik beitragen sollen. Auf welche Frage geben sie eine Antwort? Sie behandeln die Leitfrage, wie der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit der Vernunft erfolgt. Wie überhaupt kommt es zur Verwirklichung von Vernunft? »Vernunft ist […] der Inbegriff des Bewußtseins, das sich auf Wahrheit richtet.«29 Vernunft bedeutet demnach Wahrheitsorientierung. Adornos Leitfrage lautet also, wie es dazu kommt, dass man Wahrheit wichtig nimmt und ihr einen Vorrang gegenüber dem Schein einräumt. Dabei wird unter Verwirklichung der Vernunft keineswegs ihre vollkommene und abgeschlossene Verwirklichung, sondern ein Prozess verstanden. Gefragt wird nach dem, was den Prozess anstößt und in Gang hält. Es geht darum, wie die Vernunft an die Stelle der Unvernunft tritt, die ihrerseits, so Adorno, vom Unrecht und Leiden in der Mitte des 20. Jahrhunderts verkörpert wird.

Zunächst ist es wichtig, zwischen einer subjektiven und einer objektiven Vernunft zu unterscheiden. Der subjektive Begriff der Vernunft bezieht sich auf die denkerischen bzw. kognitiven Fähigkeiten, die eine Person ausübt. Der objektive Begriff der Vernunft bezieht sich demgegenüber auf jene Bedingungen, unter denen die kognitiven Fähigkeiten zur Ausübung kommen. Solche Wirklichkeitsbedingungen werden von der Realität, genauer gesagt von Praktiken, Institutionen und Interaktionen verkörpert. Vernunft wird dann verwirklicht, wenn Personen ihre Vernunftfähigkeiten ausüben und dabei die Bedingungen realisiert werden, denen die Fähigkeiten ihre Ausübung verdanken. Die Frage, wie es zur Verwirklichung der Vernunft kommt, betrifft bei Adorno also den Grund, warum Vernunftfähigkeiten ausgeübt und die Bedingungen verwirklicht werden, die eine solche Ausübung ermöglichen.

Adornos erste Annahme, dass Aufklärung sich in Mythologie »verstrickt« oder den Mythos »wiederholt«, geht von einer Figur des »Umschlags« und »Rückfalls« der Aufklärung in ihr Gegenteil aus. Der Vernunftbegriff dieser Aufklärung wird damit zum Problem: Die Wirklichkeit tritt in Widerspruch zum Anspruch der Aufklärung. Vernunft wird demnach nicht verwirklicht. In der Vorrede heißt es entsprechend, dass das, was »wir uns vorgesetzt hatten«, tatsächlich nicht weniger war »als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt«30. Horkheimers und Adornos Kritik an der Aufklärung beanstandet also, dass die Verwirklichung der Vernunft grundsätzlich ausbleibt. Das Ausbleiben einer vernünftigen Wirklichkeit wird von ihnen in fünf Hinsichten erörtert.

(1.) Die Kluft zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit: Trotz ihrer Unterschiede ist der Kritik an der Aufklärung von Hegel über Kierkegaard und Nietzsche bis zur Dialektik der Aufklärung gemeinsam, dass sie die Moderne von der Figur des Rückfalls her begreifen. Diese Figur zielt auf eine Realität, in der die Freiheits-, Glücks- und Erkenntnisversprechen der Moderne uneingelöst bleiben. Aufklärung charakterisiert jedoch ein Versprechen, nämlich ein Fortschrittsversprechen hinsichtlich Freiheitsgewinne, Glückszuwächse und Erkenntnisentwicklungen. Menschen sollen in der Geschichte zunehmend ein selbstbestimmtes und gutes Leben führen und ihr Wissen vermehren können. Allerdings bleibt, so der Ansatz der Kritik, die Wirklichkeit weit hinter diesem Versprechen zurück.

Mit der Annahme eines ›Umschlags‹ oder ›Rückfalls‹ der Aufklärung in ihr Gegenteil wird dabei jedoch keineswegs bestritten, dass in Wissenschaft, Politik und Moral Verbesserungen zu beobachten sind. Alles in allem betrachtet sind in der Geschichte zweifellos Fortschritte in Bezug auf Wohlstand, Lebensqualität, Verteilungsgerechtigkeit, Sicherheit, Bildung und Wissenschaft erzielt worden. Der Umschlag der Aufklärung in den Mythos verweist jedoch darauf, dass die Aufklärung unter ihren Möglichkeiten geblieben ist: Es wäre nämlich durchaus möglich, dass Unrecht weitgehend überwunden wird.31 Trotz wissenschaftlicher, politischer und moralischer Entwicklungen bleibt aber die Wirklichkeit hinter dem zurück, was tatsächlich möglich wäre. Zwischen ihnen und der ernüchternden Realität entsteht eine zunehmende Kluft.

Die Unrechtserfahrungen der Moderne werden von Horkheimer und Adorno anhand dieser Kluft zwischen der Möglichkeit und Wirklichkeit der Aufklärung erklärt. Ihre Aufklärungskritik richtet sich dabei besonders gegen den Kapitalismus, der einerseits soziale, ökonomische und politische Emanzipationskräfte entfacht und andererseits neue Verwerfungen schafft.32 Im Mittelpunkt ihrer Kritik steht die instrumentelle Verwertungsdynamik des Kapitalismus. Selbst- und Weltbeziehungen werden nur noch unter dem Vorzeichen ihrer Verwertbarkeit gesehen. Die Verwertungsdynamik führt dazu, dass Personen, Sachen, Güter und Natur nur hinsichtlich jenes Werts berücksichtigt werden, den sie für die materielle Reproduktion, Selbsterhaltung und Profitmaximierung haben. Ihr möglicher Selbstwert wird dabei nicht anerkannt. Hingegen wird Erkenntnis ihren Gegenständen eigentlich erst dann ›gerecht‹,33 wenn deren Selbstwert berücksichtigt wird, der sich mit ihrem marktförmigen Tauschwert gar nicht verrechnen lässt.

(2.) Schicksal: Der Rückfall hinter die eigenen Möglichkeiten erscheint wie ein unabwendbares Schicksal. Zwar verspricht Aufklärung eine Befreiung von jenen Schicksalsmächten, die im Mythos beschrieben werden. Die Verwertungsdynamik durchdringt die Lebensbereiche jedoch mit einer solchen Wucht, dass sie einer Schicksalsmacht vergleichbar ist. Sie widerfährt als eine unveränderliche Gegebenheit. Horkheimers und Adornos Mythosbegriff verweist damit auf eine bestimmte Erfahrung von Ohnmacht, in der man einem unentrinnbaren Schicksal und unumstößlichen Naturgegebenheiten ausgeliefert ist.

Beide heben dabei auf den Scheincharakter des Mythos ab.34 Zwar scheint es so zu sein, als sei der Kapitalismus ein Schicksal. Ihre Aufklärungskritik wendet sich jedoch gegen diesen Schein und macht geltend, dass der Kapitalismus keineswegs unveränderlichen Gesetzen unterliegt. Es scheint nur so zu sein, als würden die Unrechtserfahrungen der Moderne unentrinnbar über die Betroffenen hereinbrechen. Dabei wird der Eigenanteil verschleiert, den sie dazu beitragen, dass das Unrecht überhaupt zustande kommt. Verschleiert wird die Schuld, die sie für das Unrecht tragen.

(3.) Schuld: Die Dialektik der Aufklärung ist Sinnbild einer Moderne, die im Widerspruch zu ihren Erkenntnis- und Freiheitsmöglichkeiten steht. Sie ist das Schicksal, das schuldhaft widerfährt. Als ein Negatives, das man letztendlich nicht bejahen kann, geschieht das moderne Unrecht gegen die Intentionen der Betroffenen. Gleichwohl löst es sich nicht in reines Erleiden auf. Ein Rest von Schuld, die für das Unrecht mitverantwortlich macht, steht im Kontrast zu den homerischen Schicksalsmächten, denen etwa Odysseus schuldlos ausgeliefert ist. Aber auch von tragischer Schuld ist die Schuld in der Moderne verschieden, da man ihr durchaus entrinnen kann. Von episch-mythischer Schuldlosigkeit unterscheidet das moderne Unrecht sein aktives Verschulden und von tragischer Schuld seine Vermeidbarkeit. Auf diese spezifisch moderne Schuld verweist Adornos Begriff des »Schuldzusammenhangs«.35 Damit wird eine Zwischenposition markiert, die zwischen moralischer Autonomie und sozialem Determinismus liegt. Sie gibt Adornos Gedanken einer schuldhaften Verstrickung Raum, die nicht einer moralisierenden Schuldzuweisung dient, sondern der Ermächtigung bzw. der emanzipatorischen Aufklärung. Denn dort, wo Unrecht und Leiden hausgemacht sind, liegt es eben auch in der Macht ihrer Verursacher, sie zu vermeiden.

Der Schuldgedanke ist Teil der Figur des Umschlags. Die Umschlagsfigur verweist darauf, dass die Kluft zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit nicht von außen der Aufklärung zugefügt wird, sondern aus der Aufklärung selbst hervorgeht. Sie entsteht aus der »Selbstzerstörung der Aufklärung«36. Das Aufklärungsversprechen bleibt dabei nicht deshalb unerfüllt, weil eine äußere Macht dies verhindert. Vielmehr unterbietet die Aufklärung ihren Anspruch aus dem Grund, weil sie selbst Herrschaft, Leiden und Verblendung erzeugt. Der Mythos ist letztlich ihre Folge.37 Mit diesem Paukenschlag beginnt die Dialektik der Aufklärung:

»Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.« 38

Das Unrecht zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist nicht das Ergebnis einer vormodernen Gegenaufklärung, sondern die Frucht einer »vollends aufgeklärten« Welt und einer »restlos aufgeklärten Menschheit«39. Der fortschreitenden Rationalisierung wohnt selbst ein irrationales Moment inne, insofern sie selbst die Verblendung erzeugt, deren Überwindung sie eigentlich verspricht. Die Rationalisierung schlägt also durch sich selbst und nicht aufgrund äußerer Umstände in ihr Gegenteil um.40

(4.) Rationalisierung: Sofern der Umschlag der Aufklärung in ihr Gegenteil nicht durch äußere Umstände verursacht wird, liegt die Ursache in der Aufklärung selbst. Mit anderen Worten: Die Rationalisierung selbst ist die Ursache für die Verblendung. Aufklärung vollzieht sich als ein Prozess der Rationalisierung, in dem Lebens- und Weltdeutungen ihre autoritativ verbürgten Gewissheiten einbüßen. Mit dem Wegfall der traditionalistischen Deutungshoheit von Religion und Ethik entsteht ein zunehmender Legitimationsdruck, sich der Selbst- und Weltbilder durch eine andere Form der Rechtfertigung zu vergewissern. Fortan versichern sich die Betroffenen ihrer Selbst- und Weltdeutungen aus der unvertretbaren Teilnehmerperspektive, in der man sich ein eigenes Urteil bildet. Mit diesem Legitimationsdruck wächst auch die Neigung dazu, sich von diesem Druck zu entlasten. Der Prozess der Rationalisierung entfaltet nicht nur das emanzipatorische Potential, sich der Lebens- und Weltdeutungen selbst zu vergewissern. Aus ihm geht zugleich die gegenläufige Tendenz hervor, sich vom Legitimationsdruck zu entlasten, indem man sich auf vermeintliche Gewissheiten verlegt, die einem den gewünschten Halt versprechen.

Diese Entlastung zugunsten vermeintlicher Gewissheiten wird von Adorno als ›Sekuritätsdenken‹41 bezeichnet. Man versucht in diesem Sinne, sich an einem ›Festen‹, ›Unmittelbaren‹ und ›Ersten‹ festzuhalten.42 Dieser Ansatz drückt sich in der Wissenschaft als ›System‹-Denken und in der Praxis als ›verwaltete Welt‹ aus. Das Sekuritätsdenken wandert in die Urteilsbildung in dem Maße ein, wie sich traditionalistische Deutungsautoritäten aus der Urteilsbildung zurückziehen. Je weniger man sich auf vorgegebene Weltanschauungen verlassen kann, desto weiter öffnet sich das Einfalltor für einfache Antworten, mit denen man sich zu beruhigen sucht. Die dereinst autoritativ verbürgten Sicherheiten werden durch vermeintliche Gewissheiten ersetzt, die man nun selbst für begründeter halten will, als sie es tatsächlich sind. Die Emanzipation von traditionalistischen Autoritäten schlägt dann in Ideologie um, und Rationalisierung wird von ihrem Gegenteil eingeholt. Dieser Umschlag wird durch die sozioökonomischen Rahmenbedingungen des Kapitalismus unterstützt. Durch den Wegfall traditionalistischer Deutungshoheiten wird nicht nur der Rechtfertigungsdruck erhöht, der auf der individuellen Urteilsbildung lastet. Zusätzlich spielt der Kapitalismus der Neigung in die Hände, sich von der unvertretbaren Urteilsbildung zu entlasten.43

Aufklärung schlägt demnach in zwei Richtungen um. Sowohl die theoretische als auch die praktische Vernunft fällt hinter ihren Anspruch zurück, oder anders ausgedrückt: Erkenntnis schlägt in Verblendung und Freiheit in Herrschaft um. Verblendung geht mit der Rationalisierung einher, indem man sich vom Legitimationsdruck entlastet und an vermeintlichen Gewissheiten festhält. Freiheit schlägt wiederum in Herrschaft um, weil man sich von Lebens- und Weltdeutungen führen lässt, die ohne Not oder Zwang für begründeter gehalten werden, als sie tatsächlich sind. Aus freien Stücken hält man einfache Antworten für wahr.

Die Grundannahme der Dialektik der Aufklärung, dass Erkenntnis selbst in Verblendung und Freiheit selbst in Herrschaft umschlagen, würde anders auch überhaupt keinen Sinn machen: Wenn äußere Umstände zur Verblendung und Herrschaft zwingen würden, dann würden nicht Erkenntnis und Freiheit umschlagen. Zweifelsohne gibt es auch diese Fälle der Gegenaufklärung, durch die Verblendung und Herrschaft durch Not und Zwang gewaltsam herbeigeführt werden. Darüber hinaus wird in der Dialektik der Aufklärung geltend gemacht, dass auch aus Freiheit auf die emanzipatorische Kraft der Rationalisierung verzichtet werden kann, sich der Lebens- und Weltdeutungen durch wahrheitsfähige Urteile selbst zu vergewissern. Man gibt sich freiwillig mit einfachen Antworten zufrieden, die einem eine unvertretbare Urteilsfindung abnehmen sollen.

(5.) Selbstverwirklichung der Vernunft