Afghanistan. Deutschland. Ich - Hassan Ali Djan - E-Book

Afghanistan. Deutschland. Ich E-Book

Hassan Ali Djan

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Beschreibung

Als Hassan Ali Djan 2005 nach Deutschland kam, war er minderjährig und Analphabet. Ein "Wirtschaftsflüchtling" aus Afghanistan. Heute hat er den Hauptschulabschluss, eine abgeschlossene Lehre, eine eigene Wohnung und besitzt seit 2015 die deutsche Staatsbürgerschaft. Er ist in Deutschland angekommen und angenommen. Hassan Ali Djan erzählt seine eigene Geschichte, von seiner Flucht und seinen Anfängen in München. Aber vor allem von den positiven Reaktionen seines Umfelds, seit Hassan Ali Djan in Deutschland heimisch ist. Die Geschichte von einem, der sich durchgebissen hat. Eine Geschichte, so außergewöhnlich wie der Mensch, der sie erzählt.

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Hassan Ali Djan

Afghanistan. Deutschland. Ich.

Meine Flucht in ein besseres Leben

In Zusammenarbeit mit Veronica Frenzel

Titel der Originalausgabe: Afghanistan. München. Ich.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Jan Schmiedel

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN E-Book 978-3-451-81483-9

ISBN Print 978-3-451-06905-5

Inhalt

1. „Tot bin ich also nicht“ Ankunft in Deutschland

2. „Du wirst für die Familie sorgen“ Abschied von Afghanistan

3. „Morgen gehe ich nach Europa!“ Leben im Iran

4. „Von jetzt an ist jeder für sich allein verantwortlich“ Der Weg nach Europa

5. „Wenn Deutschland dich nicht haben will, ist das dein Schicksal“ Das Asylverfahren

6. „Die Aufenthaltsgenehmigung? Ein Trick …“ Warten auf die Entscheidung

7. „Ich brauche Hilfe“ Schulzeit

8. „Wo ist der alte Hassan geblieben?“ Zwischen den Welten

9. „Es ist Zeit, nach Afghanistan zurückzukehren“ Heimat Deutschland

10. „Hierher kommen die Taliban nicht“ Heimreise nach Afghanistan

1. „Tot bin ich also nicht“ Ankunft in Deutschland

Fühlt sich so der Tod an? In meinem Inneren spüre ich einen Eisklotz. Meine Muskeln gehorchen nicht, Hände und Füße sind taub.

Wenn ich nicht tot bin, denke ich, dann kehre ich jetzt heim. In die Berge von Zentralafghanistan, in mein Heimatdorf Almitu. Zu meiner Mutter, zu meinen jüngeren Geschwistern, den drei Schwestern und den drei Brüdern. Mehr als vier Jahre zuvor bin ich dort aufgebrochen, im Frühjahr 2001. Seitdem habe ich alles getan, um meiner Familie und mir ein besseres Leben zu verschaffen. Ich habe es weit geschafft. Aber alles ist anders, als ich es mir vorgestellt habe.

Ich liege im Ersatzreifen eines Lastwagens unter der Ladefläche, eingerollt wie ein Embryo, zwei Tage schon. Mehr als 48 Stunden habe ich mich nicht bewegt, habe nichts getrunken, nichts gegessen. Immer wieder wurde ein Kieselstein gegen meine Beine, meine Arme, meine Brust geschleudert, beim ersten Mal dachte ich, mich hätte eine Kugel getroffen. Immer wieder nahmen mir die Abgase den Atem, sekundenlang fürchtete ich, ich würde ersticken. Auch jetzt steigt ätzender Geruch von verbranntem Diesel in meine Nase, legt sich auf die Zunge, brennt in meiner Kehle.

Ich habe gelitten in meinem bisherigen Leben. Habe oft schrecklichen Hunger gehabt und wahnsinnigen Durst. Habe immer wieder mein Leben riskiert. Aber nie habe ich mich so schlecht gefühlt wie in diesem Moment.

Wenn sich Europa so anfühlt, denke ich, dann will ich hier nicht sein.

Der Lastwagen, in dessen Ersatzrad ich liege, ist gerade am Zielort angekommen, über mir wird der Laderaum ausgeräumt. Es ist ein Tag Mitte Oktober im Jahr 2005. Ich habe keine Ahnung, in welchem Land ich mich befinde. Erst am folgenden Tag werde ich erfahren, dass ich in Deutschland bin, in einem Industriegebiet im Nordwesten von München.

Meine letzte Station war der Hafen von Patras. Drei Wochen lang habe ich dort versucht, mich auf einen der Lastwagen zu schmuggeln, die nach Norden fahren. Zuvor hatte ich in Athen erfahren, dass es nur in Nordeuropa Arbeit für Einwanderer wie mich gibt. In Athen sagte man mir auch, dass ich in Patras in das Ersatzrad eines LKWs klettern müsste, um in den Norden zu gelangen. Dass die Lastwagen von dieser griechischen Hafenstadt auf Schiffen nach Italien übersetzten und dann weiterfuhren nach England, Frankreich, Deutschland, Skandinavien. Nur drei Wochen bevor ich Patras erreichte, war ich in Teheran aufgebrochen, mit dem Ziel, nach Europa zu gelangen. Vier Jahre zuvor hatte ich meine Heimat Afghanistan verlassen.

Patras war schlimmer als alle Stationen zuvor. Dort lebten Tausende Flüchtlinge im Wald, wie ich, aßen, was sie in Mülltonnen fanden, kämpften, auch gegeneinander, um in den Norden zu kommen.

Während der drei Wochen dort habe ich Afghanen getroffen, die lange Zeit in Deutschland verbracht hatten, manche Jahre. Das Land sei nicht gut zu Einwanderern, erzählten sie. Zwar hatten sie, während sie auf das Ende ihres Asylverfahrens warteten, ein Bett und genug zu essen, sie waren nicht eingesperrt. Und trotzdem fühlten sie sich wie in einem Gefängnis, entmündigt. Alles wurde ihnen abgenommen, das Einkaufen, das Waschen, das Putzen. Das Schlimmste: Während sie darauf warteten, zu erfahren, ob sie bleiben konnten oder nicht, durften sie nicht arbeiten, keine Schule besuchen, kein Deutsch lernen. Sie hatten die ganze Zeit überhaupt nichts zu tun. Und dann waren sie nach Monaten und Jahren des Wartens doch nach Griechenland abgeschoben worden. Einfach, weil Griechenland das erste europäische Land war, das sie erreicht hatten. Jetzt wollten sie nach England oder nach Skandinavien. Sie fürchteten, wieder nach Deutschland zu gelangen.

Jahrelang warten? Ohne Arbeit? Das kann ich nicht, dachte ich, als ich ihre Erzählungen hörte. Was soll denn aus meiner Familie werden? Sie brauchen mich doch!

Als ich im Ersatzreifen lag und auf den Asphalt blickte, der unter mir vorbeiraste und immer neue graue Muster formte wie das Bild in einem Kaleidoskop, betete ich, mein Lastwagen möge bloß nicht nach Deutschland fahren.

Der Lastwagen steht schon eine Weile, als ich höre, wie jemand von der Ladefläche springt. Wie sich Schritte entfernen. Erst mal bin ich alleine, denke ich und versuche, aus dem Reifen zu klettern. Es geht nicht, meine Muskeln sind immer noch wie gelähmt. Die kleine Wasserflasche, die ich an einem Brunnen in Patras aufgefüllt hatte, bevor ich mich auf den Weg zum Hafen machte, fällt auf den Betonboden. Sie ist voll. Ich habe nichts getrunken, ich wusste nicht, wann ich wieder auf die Toilette gehen könnte. Die Flasche rollt aus meinem Blickfeld, und während ich ihr nachblicke, kriecht Panik in mir hoch. Ich bin in diesem verdammten Reifen gefangen! Ich stecke fest! Auf meine Brust drückt plötzlich ein Gewicht, ich schnappe nach Luft. Versuche mich zu beruhigen, sage mir: „Du hast doch bisher alles gemeistert, irgendwie.“

Nach endlosen Minuten schaffe ich es, meinen Kopf aus dem Reifen zu winden, dann die Arme, dann die Beine. Ich falle auf Beton. Der Aufprall tut weh. Tot bin ich also nicht.

Auf einer Seite des Lastwagens stehen ein paar Männer, ich kann ihre Schuhe sehen, schlammige Stiefel. Langsam rolle ich in die andere Richtung, zu einer Mauer. Niemand soll mich so sehen, so hilflos.

Ich versuche aufzustehen, stütze mich auf meine Arme, will die Beine durchdrücken. Die Arme knicken weg, bevor ich die Beine bewegen kann. Sie fühlen sich an, als gehörten sie nicht zu mir, sind unendlich schwer. Ich bleibe auf dem Bauch liegen, minutenlang. Versuche es dann noch mal. Die Arme halten stand. Jetzt die Beine. Sie geben nach, sind weich wie Gummi. Ich setze mich auf die Knie, schaue an mir herab. Mein ganzer Körper zittert.

Als ich mich ein drittes Mal aufrichten will und wieder in die Knie gehe, spüre ich an meinem Bein einen warmen Luftstrahl. Ein Lüftungsschacht! Ich krabble hinauf auf das Gitter, aus dem die warme Luft strömt, rolle mich wieder ein, automatisch, mein Körper will zurück in diese Haltung. Nach ein paar Sekunden beginnen meine Arme unerträglich zu kribbeln, dann meine Beine. Das Gefühl kenne ich aus den Wintern in Afghanistan, wenn ich nach dem Schneeschippen meine Hände ans Feuer hielt. Reflexhaft will ich mich vom Gitter rollen, weg von dem Schmerz. Doch ich sage mir, halt aus, du musst den Eisklotz in deinem Inneren auftauen, und ich bleibe liegen, ganz still, als ob ich so das Kribbeln abschalten könnte. Als der schlimmste Schmerz vorüber ist, strecke ich langsam die Beine, die Arme, bewege Zehen und Finger. Vorsichtig hebe ich die Arme in die Höhe, sie haben jetzt wieder Normalgewicht. Ich blicke auf meine Finger, sie sind blau.

Endlich schaffe ich es aufzustehen. Nicht weit entfernt sehe ich ein Häuschen. Vielleicht kann man mir dort helfen? Meine Beine sind immer noch wackelig, als ich loslaufe. Hinter einer Scheibe erkenne ich einen Mann, er blickt mich erstaunt an, tritt heraus. Er sagt etwas, aber ich verstehe nichts. Es kommen andere Männer, auch sie sprechen zu mir, blicken mich mit großen Augen an. Ich spüre: Sie erwarten eine Antwort. Ich schüttele den Kopf, ich will, dass sie sehen, dass ich ihre Sprache nicht kenne. Doch die Männer verstehen mich nicht, sie sprechen einfach weiter zu mir. Auch ich beginne zu reden, auf Dari, Neupersisch, meiner Muttersprache. „Rufen Sie bitte die Polizei“, sage ich, „ich will zurück nach Hause, nach Afghanistan.“ Noch während ich spreche, merke ich, dass die Männer jetzt sehen, dass ich sie nicht verstehe, dass auch sie mich nicht verstehen. Sie blicken erst irritiert, dann lächeln sie freundlich, ein wenig hilflos. Ich lächle zurück, auch ich hilflos.

Ein Mann zieht mich in das Häuschen, wo es warm ist. Noch immer zittere ich. Er fragt, ob ich Tee will, er sagt tatsächlich „Chai“, so heißt Tee auf Dari, ich nicke, er gießt Tee in einen Becher, drückt ihn mir in die Hand. Dann nimmt er den Telefonhörer, und ich verstehe, dass er jetzt die Polizei ruft.

Auch wenn ich es mir gerade noch gewünscht habe, bekomme ich Angst. Ich habe keine guten Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Im Iran, wo ich vier Jahre gelebt habe, haben wir uns immer versteckt, wenn wir Männer in Uniformen gesehen haben, es passierte oft, dass sie uns Afghanen festhielten und schikanierten. Und in Griechenland haben mich Polizisten geschlagen.

Während wir auf die Polizei warten, frage ich den Mann, wo ich bin. Auf Persisch nenne ich die Namen von ein paar Ländern, die ich kenne. England? Frankreich? „Alman?“ Alman heißt auf Dari Deutschland. Er versteht mich nicht. Natürlich nicht. Ich zeige mit dem Finger auf den Boden, ziehe die Schultern hoch und blicke ihn fragend an. Er zieht die Augenbrauen nach oben, er versteht, dass ich wissen will, wo ich bin. Er zeigt ebenfalls auf den Boden, sagt: „Deutschland.“

Deutschland? Das deutsche Wort für dieses Land, in das ich nie wollte, kenne ich nicht. Ich muss in einem Land gelandet sein, von dem ich noch nie zuvor gehört habe, denke ich, naiv.

Was für ein Glück, freue ich mich. Hierher muss es bisher kaum jemand geschafft haben. Und von hier kann niemand, den ich auf meiner Reise kennengelernt habe, weggeschickt worden sein.

Angesichts dieser neuen Erkenntnis schwindet mein Wunsch, nach Almitu zurückzukehren.

Nur wenige Minuten später stehen zwei junge Männer vor dem Häuschen. Sie lächeln freundlich und sehen überhaupt nicht aus, als würden sie mich schlagen wollen. Trotzdem bleibt mein Unbehagen. Die Polizisten beachten mich zuerst nicht weiter. Sie unterhalten sich mit den Männern, die immer noch um das Häuschen stehen. Durch die Scheibe beobachte ich die Szene, als würde ich nicht dazugehören. Einen Moment kann ich die Illusion aufrechterhalten, es würde hier gar nicht um mich gehen. Ich sehe, wie die Männer gestikulieren, wie sie auf den Lastwagen deuten, aus dessen Reifen ich geklettert bin, dann auf die Scheibe, hinter der ich sitze. Keiner schaut mich an. Erst als einer der Polizisten die Tür öffnet und mich ansieht, dringt in mein Bewusstsein, dass die Beamten wegen mir da sind. Der Mann sagt etwas. Ich blicke ihn stumm an. Er greift sanft nach meinem Unterarm, macht eine schnelle Kopfbewegung. Ich verstehe, dass ich mitkommen soll.

Auf dem Präsidium tastet mich ein neuer Polizist ab, nimmt meine Fingerabdrücke, auch er lächelt mich an. Er durchsucht meine Taschen und findet die 250 Euro, die ich in einer Innentasche meiner Jeans versteckt habe, mein letztes Geld. Er schiebt das Geld in einen Umschlag und verwahrt ihn in einer Kiste. Dann führt er mich in einen Raum, der vollkommen weiß gekachelt ist, selbst die Bank in der Mitte ist weiß gefliest. In einer Ecke steht eine Toilette. Auf der weißen Bank sitzen drei Männer. Sie starren mich an, sagen nichts. Auch der Polizist bleibt stumm. Wahrscheinlich weiß er, dass ich sowieso nichts verstehen würde. Er schiebt mich in den Raum, schließt hinter mir die Tür, sie ist weiß und aus Stahl. Auf der Bank ist kein Platz, ich setze mich auf den Boden, lehne mich mit dem Rücken an die Wand.

Wie geht es jetzt weiter?, frage ich mich. Muss ich wieder gehen? Darf ich bleiben? Und was ist das überhaupt für ein Land? Ich schaue die Männer an, die neben mir auf der Bank sitzen, als ob sie mir eine Antwort geben könnten. Der erste schläft, sein Kopf ist nach hinten gefallen, der Mund offen. Der zweite starrt auf die weiß gekachelte Wand vor ihm, ohne mit den Wimpern zu schlagen. Der dritte mustert mich, stumm. Sind sie Flüchtlinge? Sie sehen anders aus als die Menschen, die ich in Griechenland kennengelernt habe, die wie ich nach Nordeuropa wollten. Ihre Klamotten sind ordentlicher, ihre Haut ist heller.

Weil ich keine Antworten finde, male ich mir meine Zukunft aus, so wie ich sie mir wünsche, wieder mal. Wie immer tauchen Bilder aus dem Iran vor meinem inneren Auge auf, wo ich vier Jahre lang auf Baustellen gearbeitet habe, vor allem Bilder aus meinem letzten Jahr, als ich in einem Luxushotel Fliesen gelegt habe. Ich stelle mir vor, dass ich auch in diesem Land auf Baustellen arbeiten werde und dass sie so schön sein werden wie das iranische Luxushotel.

Als ich mir gerade eines der Hotels vorstelle, öffnet sich die weiße Stahltür. Ein Polizist schiebt vier Tabletts herein, darauf stehen jeweils ein Glas Wasser sowie ein Teller mit zwei dicken, schneeweißen Scheiben, dazwischen klemmt eine dünne, orangegelbe Scheibe, die glänzt wie Plastik. Toastbrot mit Schmelzkäse, werde ich später erfahren. Jetzt habe ich keine Ahnung, was ich vor mir habe. Während ich den Teller noch skeptisch beäuge, beißen die drei anderen schon in das Sandwich. Ich merke, dass ich unglaublichen Hunger habe. Doch als ich in das Brot beiße, muss ich würgen. Es schmeckt seltsam, ungewohnt. Ich versuche es noch einmal. Wieder muss ich würgen. Ich lege das Brot auf den Teller und trinke langsam das Wasser. Plötzlich übermannt mich große Müdigkeit, ich lege mich auf die kalten Kacheln und dämmere weg, falle in einen traumlosen Schlaf.

Das Quietschen der Stahltüre weckt mich. In der Tür steht ein Polizist, er gibt mir Zeichen, ihm zu folgen. Ich blicke mich um, die anderen Männer sind weg. Der Polizist schiebt mich in einen dunkelgrauen Raum, schließt die graue Tür hinter mir, lässt mich alleine zurück. Auf dem Betonboden liegen eine dünne Matratze und dünne Decke. In der Ecke steht eine Toilette. Durch ein kleines Fenster erahne ich den Nachthimmel.

Ich lege mich auf die Matratze. Doch ich kann nicht mehr schlafen. Mein ganzer Körper tut jetzt weh, mein Rücken, meine Schultern, meine Beine. Ich wälze mich hin und her, halte es nie länger als ein paar Minuten in einer Position aus. Meine Gedanken rasen, von Afghanistan in den Iran, nach Griechenland, in dieses neue Land. „Wann ist endlich diese Nacht vorbei?“, frage ich mich, immer wieder, und versuche erst an das grüne Tal von Almitu zu denken, dann an den grauen, fensterlosen Bauarbeiterverschlag, in dem ich in Teheran wohnte. An jene Orte, an denen mein Kopf klar war und meine Gedanken langsam dahinplätscherten.

Als am nächsten Morgen die Stahltür aufgeht und ein Polizist ein Tablett auf den Boden stellt, springe ich auf, wie erlöst. Ich habe das Gefühl, keine Sekunde geschlafen zu haben. Doch kaum stehe ich, fällt die Tür schon wieder ins Schloss. Wieder liegt auf dem Tablett weißes Brot mit gelbem, glänzendem Käse. Wieder bringe ich keinen Bissen hinunter. Ich trinke das Wasser. Und werde allmählich ruhiger.

Zwei Beamte kommen wenig später in den grauen Raum, an ihrer Seite ist ein älterer Mann. Auf Persisch stellt er sich als Dolmetscher für die deutsche Sprache vor, für „Almani“.

Deutsche Sprache? Bin ich doch in Deutschland gelandet, in diesem Land, in das ich niemals wollte, in dem man jahrelang auf das Ergebnis seines Asylverfahrens wartet, nicht arbeiten darf und dann doch abgeschoben wird? Was soll meine Familie tun ohne mich? Und was wird jetzt mit mir passieren? Soll ich gehen? Kann ich einfach gehen?

Meine Gedanken rasen wieder. Nach Almitu. Im Oktober kann die Kälte dort schon unerträglich sein, wenn kein Feuerholz da ist. In den Iran. Einem Freund habe ich ein paar Hundert Euro hinterlassen, damit er das Geld meiner Familie gibt, wenn er das nächste Mal nach Afghanistan fährt. Und nach Deutschland, ins Jetzt. Ich sage mir, dass die Polizisten und die anderen Leute, die ich bisher kennengelernt habe, freundlicher waren als an allen anderen Orten, an denen ich bisher gewesen war. Und dass es hier deshalb so schlimm nicht sein kann. Vielleicht habe ich Glück? Vielleicht ergeht es mir anders als den anderen?

Der Dolmetscher – ein kleiner, schmaler Mann, mit dunkelgrauem, zurückgekämmtem Haar und schmalem Mund – fragt, ob ich einen Pass dabeihabe. Er scheint mich zum zweiten Mal zu fragen, seine Stimme ist fordernd, sein Blick ungeduldig. Ich schüttele den Kopf. Nie in meinem Leben habe ich einen Pass besessen. Ich wüsste nicht einmal, wo und wie ich in Afghanistan einen Pass hätte bekommen können. Der Dolmetscher fragt mich jetzt nach meinem Namen, nach meinem Geburtsdatum.

Als die Beamten hören, dass ich im Jahr 1368 geboren bin, lachen sie, der Dolmetscher lächelt. Er erklärt mir, dass in Deutschland ein Kalender gilt, der dem afghanischen um 621 Jahre voraus ist. Das afghanische Jahr 1368 entspricht also dem westlichen 1989, demnach bin ich zum Zeitpunkt meiner Ankunft 16 Jahre alt. Die Polizisten fragen nach meinem Geburtstag, und ich erkläre, dass ich leider nicht weiß, ob ich im Winter oder im Sommer geboren bin. Erst schauen sie erstaunt. Dann lachen sie wieder. Ich lächele, ohne zu verstehen, was lustig sein soll. Der Dolmetscher erklärt, dass die Deutschen ihr genaues Geburtsdatum kennen.

Die Beamten fragen dann, wie ich gekommen bin, wie ich die Reise vom Iran nach Europa organisiert habe. Ich antworte, dass ich einen Iraner dafür bezahlt habe, mich nach Istanbul zu bringen. Der Dolmetscher übersetzt. Dann erklärt er mir, er habe den Polizisten gesagt, mein Vater habe die Reise für mich organisiert. Das sei besser, sagt er.

Ich starre ihn an, Gedanken jagen wieder durch meinen Kopf. Ich denke an meinen Vater, daran, wie er vor vier Jahren auf dem Sterbebett zu mir sagte: „Ich gehe jetzt in eine andere Welt, du trägst jetzt die Verantwortung für die Familie.“ Ich denke an die Nacht, in der ich Almitu verließ, um in den Iran zu gehen, weil ich dieser Verantwortung in Afghanistan nicht gerecht werden konnte. Daran, wie ich vier Jahre später, mitten in der Nacht, in Teheran meine besten Freunde Hamid und Naem überredete, mit mir nach Europa zu gehen, auf der Suche nach einem besseren Leben für meine Familie.

Ich bin verwirrt, fühle mich schwach, stumm. Will der Dolmetscher mir helfen? Wieso sonst sollte er für mich lügen? Glaubt er, dass mir die deutschen Behörden wohler gesonnen sind, wenn nicht ich selbst die Entscheidung getroffen habe, nach Europa zu gehen? Aber wie soll ich dann erklären, wieso ich hier bin? Wieso ich mein Land verlassen habe?

Während ich noch grüble, bringen mich die Beamten zurück in die Zelle, es gibt Mittagessen. Ich fühle mich wie ein Taubstummer, der nicht kommunizieren kann, hilflos, ausgeliefert. Bin wütend auf den Dolmetscher, der ohne mein Wissen Unwahrheiten über mich verbreitet hat. Immer wieder frage ich mich, ob er es böse mit mir meinen könnte. Und schließlich beruhige ich mich, dass er mir wahrscheinlich helfen wollte. Dass es besser ist, wenn ich bei seiner Version bleibe. Ich denke darüber nach, was das bedeutet. Was ich bei künftigen Verhören sagen muss. Der Gedanke beunruhigt mich, ich müsste beginnen zu lügen. Ich bete, die Aussage des Dolmetschers über meinen Vater werde niemand ernst nehmen. Wenn mich das nächste Mal jemand nach meiner Flucht fragt, sage ich mir, werde ich widersprechen.

Am Nachmittag holen mich die Beamten wieder in den Verhörraum. Ein anderer Dolmetscher ist jetzt da. Die Beamten fragen wieder nach meiner Reiseroute. Ich erzähle nicht, dass ich in Griechenland war. Ich muss an die Afghanen in Patras denken, die aus Deutschland nach Athen abgeschoben wurden. Ich fühle mich unbehaglich. Misstrauisch beobachte ich die Gesichter der Beamten, wenn der Dolmetscher übersetzt. Passt ihre Reaktion auf meine Antwort? Stellen sie die passenden Rückfragen? Übersetzt er das, was ich sage? Ich habe das Gefühl, es passt nichts. Oft fragen die Polizisten Dinge, die ich gerade schon gesagt habe. Ich denke: Mein Sprachrohr funktioniert nicht. Der Dolmetscher verdreht meine Worte.

Bis über meinen Fall entschieden ist, soll ich in einem Asylbewerberheim leben, erklärt der Dolmetscher schließlich. Ich will fragen, wie lange es dauern wird, bis ich weiß, ob ich bleiben kann oder nicht. Wieder denke ich an die Afghanen aus Patras, die ein paar Jahre hier waren, und bleibe stumm. Das will ich nicht hören.

Die Beamten gehen dann nach draußen, der Dolmetscher fordert mich auf zu folgen. Der Himmel hängt tief und grau über der Stadt, ein kalter Wind weht. Noch immer trage ich nur ein T-Shirt. Der Iraner führt mich zur Rückbank eines Polizeiwagens, nimmt neben mir Platz. Wir fahren zu Orten, die so ähnlich aussehen wie das Gelände, auf dem ich am Vortag angekommen bin. Der Dolmetscher fragt mich immer, ob ich etwas wiedererkenne, ob ich an diesem oder jenen Ort schon mal gewesen bin. Ich schüttle jedes Mal den Kopf. Dann halten die Beamten vor dem Gelände, auf dem der LKW, aus dessen Ersatzrad ich mich am Vortag gequält habe, gehalten hat. Ich zeige mit dem Finger auf die Stelle.

Die Polizisten schauen plötzlich unfreundlich, murmeln in kühlem Ton etwas. Der Dolmetscher sagt, dieser Lastwagen sei am Tag zuvor aus Griechenland gekommen. Panik kriecht in mir hoch. Ich fürchte, man könnte mich nach Griechenland zurückschicken. Erst Jahre später werde ich vom Dublin-Abkommen hören, von diesem europäischen Vertrag, der besagt, dass jeder Flüchtling in Europa in dem Land Asyl beantragen muss, das er als erstes betreten hat.

Jetzt schüttele ich den Kopf, aus dieser diffusen Angst heraus, mich könnte das gleiche Schicksal wie die anderen Afghanen ereilen. Ich will nicht nach Patras zurück, wo jeder ums Überleben kämpft, ums Fortkommen, auf sich alleine gestellt, ich sage: „In Griechenland bin ich nie gewesen.“

Dies sei aber der einzige Laster, der gestern bei dieser Firma angekommen ist, übersetzt der Dolmetscher, kühl. „Und der ist aus Griechenland gekommen.“ Ich erwidere, es könne ja sein, dass der Laster aus Griechenland kommt. Ich aber sei schon in der Türkei in das Ersatzrad gestiegen.

„Wir könnten dich jetzt sofort nach Athen zurückschicken“, sagt einer der Polizisten, er schaut mich streng an. Ich will protestieren, doch ich bin zu schwach. Der Polizist blickt mich lange an. „Wir geben dir eine Chance. Weil du minderjährig bist.“ Ein Gericht werde entscheiden, ob ich bleiben kann oder nicht. Ein Gericht? Ich werde meine Geschichte erzählen können, denke ich, ich werde für mich sprechen können.

Ich muss an Griechenland denken, wo mir Polizisten einen Abschiebebescheid ausgestellt hatten, ohne ein Wort mit mir gewechselt zu haben. Und wieder denke ich: Deutschland kann so schlecht nicht sein.

Dann wollen die Beamten genau wissen, wie ich nach Deutschland gekommen bin. Wo ich auf den Lastwagen geklettert bin, wie genau ich mich in dem Ersatzreifen versteckt habe. Ich sage, ich hätte am Hafen von Izmir gewartet, bis das Sicherheitspersonal außer Sichtweite war, um über den Zaun zu klettern. Dort hätte ich zuerst meine Beine in den Reifen gelegt, zum Schluss hätte ich meinen Kopf hineingezogen.

Als ich geendet habe, fordern die Beamten mich auf, ins Auto zu steigen. Nach zehn Minuten halten sie an. Einer der beiden reicht mir zwei Zettel. Der Dolmetscher erklärt, dass auf einem die Adresse meines neuen Zuhauses steht und dass ich den anderen Zettel am Eingang des Zuhauses abgeben soll. Auch den Umschlag mit meinem Geld, den 250 Euro, erhalte ich zurück.

Der Dolmetscher sagt, dass ich jetzt aussteigen soll. Doch ich bleibe im Auto sitzen, stumm, blicke fragend zu den Polizisten, zum Dolmetscher, auf den Zettel, wieder zu den Polizisten. Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll, wohin ich muss, wie ich dorthin komme. Ich sage dem Dolmetscher, dass ich nicht lesen kann. Weder persische noch lateinische Schrift. Er übersetzt. Einer der Beamten nickt in meine Richtung, steigt aus, Ich verstehe, dass ich mit ihm gehen soll. Er begleitet mich in den Bahnhof, kauft für mich eine Fahrkarte, zeigt mir auf einem Plan, wo ich aussteigen soll, und bringt mich zum Bahnsteig. Dort wartet er, bis mein Zug kommt.

Als ich einsteige, lächelt er und winkt. Ich winke zurück. Noch immer habe ich keine Ahnung, wie ich zu der Adresse finden soll. Dem ersten Mann, der mir sympathisch scheint, halte ich den Zettel mit der Adresse der Unterkunft vors Gesicht, gleichzeitig ziehe ich fragend die Schultern hoch. Auch er will mir auf dem Fahrplan, der auch in der Bahn hängt, den Weg erklären. Ich schüttele den Kopf, sage auf Persisch, dass ich nicht lesen kann, dass ich diesen Plan nicht verstehe, vielleicht ein wenig zu aufgeregt. Er lächelt und legt eine Hand auf meine Schulter, als wolle er mich beruhigen. An der nächsten Haltestelle schiebt er mich nach draußen. Er selbst steigt auch aus. Er fasst mich sanft am Arm, zieht mich nach vorne, ich folge. Treppen rauf, Treppen runter. Mit eindeutigen Gesten erklärt er mir an einem anderen Gleis, dass ich zwei Stationen später aussteigen soll. Als ich in den Zug steige, bleibt auch er am Gleis stehen und winkt. Ich winke zurück, berührt von seiner Hilfsbereitschaft.

Als ich zwei Haltestellen später aus der Bahn steige, halte ich einen Mann am Arm fest, der gleichzeitig mit mir ausgestiegen ist, mit fragendem Blick zeige ich ihm den Zettel. Er schüttelt meine Hand ab, deutet genervt auf Schilder und geht weiter. Erst Wochen später verstehe ich, dass im U-Bahnhof der Weg zu der Adresse auf dem Zettel ausgeschildert ist. Der Weg zur Erstaufnahmeeinrichtung Obersendling, meiner ersten Unterkunft in Deutschland. Der zweite Mann, den ich frage, ignoriert mich, der dritte auch. Der vierte schließlich macht mit der Hand eine kräftige Bewegung: „Folge mir.“

Nach nur wenigen Minuten hält er vor einem dreistöckigen, senfgelben Gebäude, er tippt mit dem Zeigefinger auf die Adresse, deutet auf das Gebäude, lächelt aufmunternd und geht. Als er nicht mehr zu sehen ist, vergleiche ich die Buchstaben auf dem Zettel mit denen auf dem Straßenschild an der Ecke. Sie stimmen überein. Ich bin angekommen.

Am Eingang kontrollieren mich zwei Wachmänner. Sie finden mein Geld, behalten 200 Euro und geben mir 50, notieren etwas auf Blättern. Ich wundere mich, traue mich aber nicht zu widersprechen. Dann drückt mir einer der beiden ein Bündel in die Hand – darin sind Bettwäsche, Handtücher, Duschgel, Zahnbürste und -pasta – und bringt mich zwei Etagen höher, bis vor eine Tür. Er klopft, wartet, bis sich die Tür öffnet, und lässt mich dann alleine zurück.

Im Türrahmen steht ein dunkelhaariger Junge, er ist etwa so alt wie ich. Das Zimmer hinter ihm ist klein und vollgestopft mit Stockbetten und Schränken. An einem Tisch in der Mitte sitzen drei weitere Jungs, auch sie sind in meinem Alter, auch sie dunkelhaarig. Alle vier starren mich entgeistert an. „Was ist los?“, frage ich auf Dari. „Hast du versucht, ein Auto zu reparieren, oder was?“, fragt der Junge an der Tür auf Persisch zurück und lacht laut. Er zieht mich ins Zimmer und vor einen Spiegel. Mein Gesicht ist schwarz von Ruß und Öl.

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich das erste Mal, seit ich in Deutschland angekommen bin, in einen Spiegel schaue – und dass ich bisher keine Möglichkeit hatte, mich zu waschen. Wieso haben die Polizisten mich nicht auf den Ruß hingewiesen? Wieso konnte ich ihn nicht abwaschen? Gleichzeitig muss ich an all die Menschen denken, denen ich bisher begegnet bin, und die mich freundlich behandelt haben – trotz meinem schwarzen, verschmierten Gesicht: in dem Industriegebiet, in dem ich aus dem Lastwagen geklettert bin, in der Bahn, auf dem Weg in die Unterkunft. Ich beschließe, dass ich die Deutschen nett finde.

„Woher kommst du?“, fragt einer der Jungs. Ich erzähle, dass ich im Ersatzrad aus Griechenland gekommen bin, dann berichten sie durcheinander von ihren Reisen. Die vier sind ebenfalls im Lastwagen aus Griechenland gekommen, allerdings nicht im Reifen, sondern im Laderaum. Ich hatte in Patras von dieser Möglichkeit gehört. Es ist sicherer als im Ersatzrad, aber teuer. Man muss einen Helfer bezahlen, der den Container verschließt und plombiert, nachdem man hineingeklettert ist.

Der Junge, der mir die Tür geöffnet hat, stellt sich als Arif vor. Er fragt, ob ich auch bei der Polizei übernachten musste. „Und hast du auch dieses weiße, labbrige Brot bekommen? Und diesen Plastikkäse?“, fragt er. „Ich konnte keinen Bissen essen!“, antworte ich. Alle vier verziehen mitleidig das Gesicht. „Leider mögen die Deutschen dieses Brot und diesen Käse – das bekommen wir hier auch.“ Jetzt ziehe ich eine leidende Grimasse. Wir lachen.

„Du musst Hunger haben“, sagt Arif. Aus zwei Kühlschränken holen die vier Jungs bunte Becher und stellen sie vor mir auf den Tisch „Joghurt, iss, so viel du willst.“

Als ich die Becher vor mir sehe, überwältigt mich der Hunger. Fast vier Tage habe ich jetzt schon nichts gegessen. Ich reiße den Deckel eines orangefarbenen Bechers auf. Während ich den ersten Löffel in den Mund schiebe, frage ich mich, wieso die Jungs bloß so nett zu mir sind, wieso sie mir ihre ganzen Vorräte geben. Ist irgendwas faul? Der intensive Geschmack des Joghurts verdrängt meine Gedanken. Er schmeckt anders als die, die ich bisher gegessen habe. Süß, ungewohnt fruchtig. Und ich merke, dass ich unglaublichen Hunger habe. Kaum habe ich den Joghurt ausgelöffelt, öffne ich den nächsten Becher.

„Schmeckt dir das?“, fragt Arif mit ungläubigem Blick. Erst jetzt merke ich, dass die vier mich unverhohlen anstarren. Als ich nicke, erklären sie, dass sie zwei Mal in der Woche eine Kiste mit Lebensmitteln bekommen und dass jedes Mal Fruchtjoghurts dabei sind, die keiner von ihnen essen mag. Ich zucke die Schultern, esse noch zwei Joghurts. Dann ist mein Bauch voll.

„Du solltest dein Gesicht waschen“, sagt Arif und springt auf. „Ich sollte überhaupt mal duschen“, erwidere ich. Während ich Handtuch und Seife aus dem Bündel packe, das ich am Eingang bekommen hatte, holt Arif aus einem schmalen Blechschrank Unterwäsche, eine Jeans, ein T-Shirt und eine Jacke und legt alles vor mir auf ein Bett. „Kannst du haben, bis du was eigenes bekommst.“

Die Duschen liegen im Keller. Auch meine Arme und mein Hals sind schwarz von Öl, Ruß, Abgasen. Es dauert lange, bis ich den ganzen Dreck von meiner Haut gewaschen habe. Als ich fertig bin, bringe ich die schmutzigen Sachen zur Wäscherei, sie liegt gleich neben den Duschen. Dort scheint ein Mann nur auf mich zu warten. Er nimmt meine Schmutzwäsche entgegen, packt sie in einen Beutel, gibt mir eine Nummer, sagt etwas und macht dabei Zeichen. Ich verstehe, dass ich meine sauberen Klamotten morgen abholen kann.

Die Afghanen, die ich in Patras getroffen habe, scheinen in diesem Punkt recht gehabt zu haben. In Deutschland ist man als Flüchtling unmündig. Man darf weder Wäsche waschen noch selbst Essen kaufen. Ich beschließe, dass das jetzt mein geringstes Problem ist.

Am Abend kocht einer meiner neuen Mitbewohner Nudeln mit Fleischsauce. In der Küche stinkt es nach verbranntem Fett. An schmutzigen Kochplatten stehen Männer und Frauen, einige komme aus Afrika. Sie reden viel, ich verstehe kein Wort. In sechs Waschbecken stapelt sich schmutziges Geschirr. Auf dem Boden liegen leere Konservenbüchsen, Plastikverpackungen, Zwiebelschalen. Kaum habe ich meinen Teller Nudeln aufgegessen, übermannt mich Müdigkeit.

In unserem Zimmer gibt es zwei Stockbetten und ein Einzelbett. Das Einzelbett ist schon belegt. Trotzdem sage ich, dass ich gern dort schlafen würde, ich will ein wenig Ruhe. Meine Mitbewohner verstehen das und räumen das Einzelbett.

Ich lege mich auf die Matratze. Sie ist weich, die Decke auch. Ich höre leise die Stimmen meiner Zimmergenossen, die am Tisch in der Mitte unseres Zimmers sitzen, und muss an die Unterkunft in Griechenland denken, wo wir in einem riesigen Raum mit Hunderten von Menschen schliefen. Ich denke an Naem und Hamid, meine Freunde aus Almitu, mit denen ich aus dem Iran bis nach Patras gereist bin. Ich wünsche mir, dass sie jetzt auch in so einem weichen Bett liegen. Über dem Gedanken schlafe ich ein.

Ich träume, dass ich in einem schneebedeckten Tal eine verlorene Ziege suche. Es ist dunkel, Wolken bedecken den Mond, ich stolpere über Steine. Als ich endlich die Ziege vor mir sehe, zu ihr laufen will, fallen plötzlich Steine auf mich. Ich wache auf.

Die anderen Betten sind leer, draußen ist es hell. Jemand klopft kräftig an der Tür. Ich springe auf, ziehe mir die Jeans über und öffne. Vor der Tür steht ein freundlicher junger Mann. Ein Sozialarbeiter.

Er winkt mir, und ich folge ihm in den Keller, in einen Raum, der aussieht wie ein Geschäft auf einem iranischen Basar. In Regalen stapeln sich Hosen in verschiedenen Farben und Stoffen, T-Shirts, Pullover, Jacken. Alles ist geordnet nach Größen. Der Mann reicht mir eine Plastiktüte und gibt mir mit einer ausladenden Handbewegung zu verstehen, dass ich mir etwas aussuchen soll. Ich gehe zuerst zu den Jacken. Ich nehme zwei – ich friere – und blicke fragend zu dem Mann, der im Türrahmen steht, unsicher, ob ich wirklich so viel nehmen darf. Er nickt freundlich. Ich packe auch noch einen Schal in die Tüte, Handschuhe, vier Pullover, T-Shirts, Socken, Unterwäsche, ein Paar Turnschuhe.

Ich verstaue die Sachen in dem freien grauen Metallschrank in unserem Zimmer, der Sozialarbeiter, der in der Tür auf mich wartet, gibt mir zu verstehen, dass ich das Vorhängeschloss am Türrahmen benutzen soll. Dann bringt er mich zu einem Gebäude ein paar Häuser weiter. Später erfahre ich, dass es die Münchner Außenstelle des Bundesamts für Migration ist, der Ort, an dem über meinen Asylantrag entschieden wird. Schon jetzt ahne ich, dass es dort um meine Zukunft in Deutschland gehen soll.

Das Gebäude ist dunkel, riesig, einschüchternd. Vom Foyer laufen wir in einen langen Flur mit unzähligen Türen. Vor einer bleibt der Sozialarbeiter stehen. Während ich mich noch wundere, wieso er gerade diese Tür gewählt hat, zeigt er auf einen Stuhl, der neben der Tür steht. Ich verstehe, dass ich warten soll. Als ich mich gesetzt habe, reicht er mir ein Papier, lächelt, winkt und verschwindet.

Was, wenn ich auch so lange auf das Ergebnis des Asylverfahrens warten muss wie die jungen Afghanen, die ich in Patras kennengelernt habe? Was, wenn auch ich jahrelang nicht arbeiten kann? Und was, wenn es bei mir anders läuft? Was, wenn ich Glück habe? Ich habe keine Antworten, nur immer neue Fragen. Ich versuche, die Gedankenflut zu stoppen, diese fürchterliche Unruhe wegzuatmen, aber es gelingt mir nicht.

Nach langer Zeit öffnet sich endlich die Tür, und mir gegenüber stehen zwei Männer in grauen Anzügen, einer dunkelhaarig, der andere blond. Mit strengem Blick winken sie mich herein. Plötzlich sind die Fragen in meinem Kopf verschwunden. Der Dunkelhaarige stellt sich als Dolmetscher vor, ein Iraner. Die beiden wollen Dinge von mir wissen, die ich schon den Polizisten erzählt habe. Von meiner Reise. Ich wiederhole, dass ich in der Türkei in den Lastwagen gestiegen bin. Ich sage, dass ich hier bin, weil ich für meine Familie in Afghanistan verantwortlich bin. Nach meinem Vater fragen sie nicht, ich sage auch nichts.

Nachdem wir etwa eine Stunde gesprochen haben, gibt mir der Dolmetscher einen Zettel mit persischen Buchstaben, die ich nicht lesen kann. Ich bin müde, will aus diesem Büro, frage nicht nach. Auf den Zettel hat der Dolmetscher ein Datum geschrieben. „An dem Tag sehen wir uns wieder.“ Zuhause werde ich meine Mitbewohner fragen, welcher Tag gemeint ist, um was es geht.

In der Unterkunft erfahre ich, dass auf dem Zettel nicht nur mein nächster Termin in dem großen, einschüchternden Gebäude steht, sondern auch, dass ich am folgenden Tag zum Gesundheitsamt muss.

Den ganzen nächsten Vormittag brauche ich, um die Adresse zu finden. Wieder zeige ich Passagieren und Passanten den Zettel mit dem Straßennamen. Diesmal habe ich weniger Glück, ich muss lange fragen, bis mir jemand hilft. Im Gesundheitsamt begrüßt mich eine freundliche Krankenschwester. Sie gibt mir einen Plastikbecher und schickt mich aufs Klo. Später nimmt mir ein Arzt Blut ab, hört meine Lunge ab, meinen Herzschlag. Dann muss ich in einem kahlen Zimmer warten. Nach einer halben Stunde kommt die freundliche Krankenschwester und gibt mir zu verstehen, dass ich jetzt gehen kann. Von den Ergebnissen der Untersuchungen werde ich nie erfahren.

Am nächsten Morgen ist der Himmel strahlend blau. „Ich gehe Fußballspielen, kommst du mit?“, fragt Arif. Er erzählt, dass er sich bei schönem Wetter immer mit ein paar anderen afghanischen Jungs trifft, im Ostpark.

Wir fahren mit der U-Bahn zu dem grünen Park, er ist umstellt von Hochhäusern. Nicht weit von der Haltestelle kicken schon ein paar Jungs auf einer großen Grünfläche, vier Jacken markieren die Tore. Es ist kühl, die Luft ist so klar, wie ich sie zuletzt in Almitu erlebt habe. Wir warten am Spielfeldrand, bis der Ball ins Aus geht, verteilen uns dann auf die beiden Mannschaften. Ich laufe dem Ball hinterher, verteidige ihn, werfe mich vors Tor, blockiere die Gegenspieler. Mein Kopf ist leer. Schon lange habe ich mich nicht mehr so gut gefühlt.

In einer Spielpause erzählen die anderen Jungs, dass sie schon mehrere Jahre in Deutschland leben. Ein paar arbeiten in Supermärkten, ein paar putzen, ein paar spülen in Restaurants Geschirr.