Aggression und Gewalt unter geschlechtsspezifischem Aspekt - Christine Töltsch - E-Book

Aggression und Gewalt unter geschlechtsspezifischem Aspekt E-Book

Christine Töltsch

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  • Herausgeber: GRIN Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2004
Beschreibung

Examensarbeit aus dem Jahr 2002 im Fachbereich Psychologie - Sozialpsychologie, Note: 1+, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (Lehrstuhl Psychologie II), Sprache: Deutsch, Abstract: Gewalt unter geschlechtsspezifischen Aspekten zu betrachten ist nach wie vor also eher die Ausnahme. In vielen Untersuchungen zur „Jugendgewalt“ wird einseitig vom Phänomen der „Jungengewalt“ gesprochen – aggressives Verhalten von Mädchen findet dagegen kaum Berücksichtigung. Das zentrale Anliegen meiner Arbeit besteht darin das Gewalthandeln des weiblichen Geschlechts näher zu beleuchten, geschlechtstypische Unterschiede aufzuzeigen und mögliche Erklärungen zum gewaltförmigen Verhalten der Geschlechter darzustellen. Im Folgenden soll nun ein kurzer Überblick über den Aufbau der Arbeit erfolgen. Im ersten Kapitel werden die Begriffe „Aggression“ und „Gewalt“ näher erläutert, um dann zu einer - für diese Arbeit - gültigen Begriffsklärung zu kommen. Im Anschluss wird ein sozialkonstruktivistisches Verständnis von Geschlecht vorgestellt und Geschlecht als soziale Strukturkategorie in einem hierarchischen Geschlechterverhältnis beschrieben. Ansätze zur Erklärung der weiblichen und männlichen Identitätsbildung sowie Ergebnisse der geschlechtsspezifischen Sozialisationsforschung sollen vor diesem theoretischen Hintergrund näher erläutert werden. Inzwischen wird ein Wandel des Geschlechterverhältnisses konstatiert, der allerdings an strukturellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern wenig geändert hat. Daher wird an dieser Stelle ebenso auf Individualisierungsprozesse und daraus resultierende Probleme im Jugendalter eingegangen. Der Aspekt der geschlechtstypischen Lebensbewältigung unter dem Zwang zur Individualisierung soll dabei ebenfalls näher zur Sprache kommen. Im folgenden Kapitel der Arbeit wird die Bedeutung verschiedener Sozialisationsinstanzen in Hinblick auf Gewaltphänomene Jugendlicher näher betrachtet. Beispielsweise wird, wenn es um die Erklärung der Entwicklung zur Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen geht, die Bedeutung der Familie immer wieder hervorgehoben. Als weitere wichtige Sozialisationsbereiche, die die Entwicklung gewaltbereiter Orientierungen begünstigen können, werden die Gleichaltrigengruppe, die Medien sowie die Schule näher beleuchtet. Anschließend wird sowohl auf die moralische Verurteilung „weiblicher Gewalt“ als auch auf Konstruktionsprozesse „abweichender“ und „normaler Weiblichkeit“ näher eingegangen. Im nächsten Abschnitt werden zunächst einige traditionellere Erklärungen zur „Frauenkriminalität“ vorgestellt, sowie neuere feministische Erklärungsansätze der kritischen Kriminologie zu diesem Thema.

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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Aggression und Formen von Gewalt - Begriffsklärung
2.1 Arten der Aggression
2.2 Verschiedene Formen der Gewalt
3 Geschlecht als soziale Kategorie
3.2 Aspekte der Geschlechtersozialisation und der „weiblichen“ und
3.3 Hindernisse und Möglichkeiten im Leben weiblicher und
4.1 Gewalterfahrung in erster Instanz - die Familie
4.2 Schule - Szenerie der Gewalt?
4.3 Effekte des Konsums - Die Medien als Sozialisatoren
4.4 Im Bann der Gleichaltrigengruppe
5 Erklärungsansätze zum abweichenden Verhalten von
weiblichen und männlichen Jugendlichen
5.1 Aspekte weiblicher Kriminalität und ihre Deutungsversuche
5.2 Weibliche Gewalt - kurios, befremdlich, widernatürlich
5.3 Gewalt als Schattenseite der Individualisierung
6 Zusammenfassung

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Vorwort - II -VORWORT

„Jugendgewalt“ ist ein Thema, das in regelmäßigen Abständen medienwirksam in Szene gesetzt wird. Bislang standen meist männliche Gewalttäter im Mittelpunkt der Diskussionen. Neu in der Debatte ist nun, dass Jugendgewalt zunehmend auch als Mädchengewalt thematisiert wird. Parallel zu der Zunahme weiblicher Gewaltkriminalität, wie sie die Kriminalitätsstatistiken nachweisen, mehren sich Schilderungen von Pädagogen und Pädagoginnen aus der Praxis, die sich in ihrer Arbeit vermehrt mit gewalttätigen Mädchen konfrontiert sehen.

Im Rahmen einer Tagung des Staatlichen Schulamts Wetzlar zum Thema „Gewalt an Schulen“ im September 2000 wurde ich zum ersten Mal auf diese Problematik aufmerksam. In den Berichten der Pädagogen stand immer wieder die eigene Hilflosigkeit und Handlungsunsicherheit im Vordergrund. Sie schilderten verschiedene Fälle aus dem Schulalltag, die das Bild der „friedfertigen Frau“ nachhaltig in Frage stellen. Die Palette an gewaltförmigen Handlungen zog sich von Intrigen und Mobbing über verbale Anfeindungen bis hin zu brutalen körperlichen Schlägereien. Mit ihren Ausführungen strebten die anwesenden Pädagogen vor allem nach Aufklärung eines Ausschnitts mädchenspezifischer Realität, damit Mädchengewalt nicht länger tabuisiert oder ignoriert wird.

Nachdem mir der Bedarf an Klärung zum Gewaltpotenzial der Mädchen so sichtbar vor Augen geführt wurde stand für mich fest, dieses „Phänomen“ näher zu beleuchten. Der anfängliche Ergeiz wurde jäh gebremst, da ich bei der Auswertung der Gewalt- und Aggressionsliteratur feststellen musste, dass Mädchen meist nur in einem Satz erwähnt werden: „Sie neigen eher dazu psychische Gewalt auszuüben“. Bei der Suche im Internet hatte ich jedoch größeren Erfolg und konnte verschieden Wissenschaftlerinnen ausfindig machen, die sich bereits mit geschlechtsspezifischen Aspekten der Gewalt beschäftigten. Mein besonderer Dank gilt somit Kirsten Bruhns vom Deutschen Jugendinstitut sowie Mechthild Schäfer vom Lehrstuhl für Psychologie in München, die mich mit reichlich Literatur versorgten.

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Einleitung - 1 -

1Einleitung

Gewalt untergeschlechtsspezifischen Aspektenzu betrachten ist nach wie vor eher die Ausnahme. In vielen Untersuchungen zur „Jugendgewalt“ wird einseitig vom Phänomen der „Jungengewalt“ gesprochen - aggressives Verhalten von Mädchen findet dagegen kaum Berücksichtigung. Das zentrale Anliegen meiner Arbeit besteht darin das Gewalthandeln des weiblichen Geschlechts näher zu beleuchten, geschlechtstypische Unterschiede aufzuzeigen und mögliche Erklärungen zum gewaltförmigen Verhalten der Geschlechter darzustellen.

Im Folgenden soll nun ein kurzer Überblick über den Aufbau der Arbeit erfolgen. Im ersten Kapitel werden die Begriffe„Aggression“und„Gewalt“näher erläutert, um dann zu einer - für diese Arbeit - gültigen Begriffsklärung zu kommen. Im Anschluss wird einsozialkonstruktivistisches Verständnis von Geschlechtvorgestellt undGeschlecht als soziale Strukturkategoriein einem hierarchischen Geschlechterverhältnis beschrieben. Ansätze zur Erklärung derweiblichenundmännlichen IdentitätsbildungsowieErgebnisse der geschlechtsspezifischen Sozialisations-forschungsollen vor diesem theoretischen Hintergrund näher erläutert werden. Inzwischen wird ein Wandel des Geschlechterverhältnisses konstatiert, der allerdings an strukturellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern wenig geändert hat. Daher wird an dieser Stelle ebenso aufIndividualisierungsprozesseund daraus resultierende Probleme im Jugendalter eingegangen. Der Aspekt der geschlechtstypischen Lebensbewältigung unter dem Zwang zur Individualisierung soll dabei ebenfalls näher zur Sprache kommen.

Im folgenden Kapitel der Arbeit wird die Bedeutung verschiedenerSozialisationsinstanzen in Hinblick auf Gewaltphänomene Jugendlichernäher betrachtet. Beispiels- weise wird, wenn es um die Erklärung der Entwicklung zur Gewaltbereitschaft bei

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Jugendlichengeht, die Bedeutung derFamilieimmer wieder hervorgehoben. Als weitere wichtige Sozialisationsbereiche, die die Entwicklung gewaltbereiter Orientierungen begünstigen können, werden dieGleichaltrigengruppe,dieMediensowie dieSchulenäher beleuchtet.

Im nächsten Abschnitt werden zunächst einige traditionellereErklärungen zur „Frauenkriminalität“vorgestellt, sowie neuere feministische Erklärungsansätze der kritischen Kriminologie zu diesem Thema. Einige der älteren Ansätze finden sich in theoretischen Darstellungen zur „weiblichen“ und „männlichen“ Aggression wieder, die z.B. geschlechtsrollentypisches Verhalten als eine Erklärung für das geringere Maß an (physischem) gewalttätigem Verhalten von Frauen heranziehen.Sanktions-und Reaktionsweisenauf abweichendes und delinquentes Verhalten sind ebenso in einegeschlechtstypische Struktureingebunden. Anschließend wird sowohl auf diemoralische Verurteilung „weiblicher Gewalt“als auch aufKonstruktionsprozesse „abweichender“und„normaler Weiblichkeit“näher eingegangen. Frauen werden in der Öffentlichkeit als das friedliche Geschlecht gesehen, davon abweichendes Verhalten wird meist als anormal verurteilt.

Danach werden verschiedene theoretische Ansätze vorgestellt, die sich auf Jugendgewalt beziehen und die Kategorie Geschlecht berücksichtigen. Darauf folgend werden theoretische Ansätze erläutert, die von einem gleichenAggressionspotenzialder Geschlechter ausgehen, abergeschlechtstypische Äußerungsformenberücksichtigen. Zur Erklärung wird in diesen Ansätzen häufig auf geschlechtstypische Sozialisationsprozesse verwiesen. Die Bedeutunggeschlechtstypischer sozialer Repräsentationen von Aggression und Gewaltwird in diesem Zusammenhang ebenfalls näher erläutert. Zuletzt wird ein Erklärungsansatz derAspekte des „doing gender“im Hinblick auf Gewalt betrachtet. Am Beispiel von Jugendlichen in gewaltbereiten Cliquen lassen sich u.a. vielfältige Entwürfe von Weiblichkeit und Männlichkeit finden, die vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verhältnisse interpretiert und als situative Bewerkstelligung von Geschlecht begriffen werden können.

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Aggression und Formen von Gewalt - Begriffsklärung- 3 -

2Aggression und Formen von Gewalt - Begriffsklärung

Das Thema Gewalt und vorrangig das gewalttätige Handeln Jugendlicher spielt in dieser Arbeit eine zentrale Rolle, daher erscheint es mir wichtig, einige allgemeine Überlegungen zu den Begriffen Aggression und Gewalt näher zu erläutern. Eine solche Begriffsklärung ist notwendig, da es sehr unterschiedlich gerichtete Definitionen und Schwerpunktsetzungen in der sozialwissenschaftlichen Literatur gibt. Im weiteren Verlauf wird ebenso deutlich, welches Verständnis von Gewalt, dieser Arbeit zu Grunde liegt.

2.1 Arten der Aggression

Der Begriff Aggression ist zum Teil sehr weit gefasst, wodurch eine Verständigung über den Phänomenbereich erschwert wird. Weder im Alltagsverständnis noch in der Psychologie gibt es einen allgemein akzeptierten Aggressionsbegriff, denn auch die Grenze zwischen aggressiven und nicht-aggressiven Verhaltensweisen ist fließend. Doch kann zunächst festgehalten werden, dass Aggression ein Begriff ist, welcher einem anthropologisch-psychologischen Kontext entstammt und dort vornehmlich Verwendung findet.

In Definitionen wird häufig der lateinische Ursprung des Wortesaggredi(= herangehen) verwendet, vor allem in solchen, in denen Aggression äußerst weit gefasst wird. Die gerichtete Aktivität wird hier zunächst nicht negativ bewertet, sondern als positive und notwendige Lebensäußerung betrachtet. Nach LEHNER (1992) sind Wut oder Aggression universale menschliche Reaktionen, die verbunden sind mit Wärme und Lebhaftigkeit, daher zeigen diese stets eine Handlungsbereitschaft an. Dieser

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Definitionstypfindet meist in der triebtheoretisch ausgerichteten Literatur seine Verwendung. An dieser Stelle muss jedoch kritisch angemerkt werden, dass Aggression in dieser weiten Definition im Wesentlichen dasselbe wieTatkraftmeint und demnach jegliches Verhalten aggressiv zu nennen wäre. Zur Präzisierung und um das Thema abzugrenzen soll Aggression hier nicht in diesem allgemeinen Sinne verstanden werden, sondern eingegrenzt werden.

Ein Verhalten wird dann als Aggression eingestuft, wenn eingerichtetesAusteilenschädigenderReize erkannt wird; eine Aggression kann offen (körperlich, verbal) oder verdeckt (phantasiert), sie kann positiv (von der Kultur gebilligt) oder negativ (mißbilligt) sein. (LÖSEL, SELG, SCHNEIDER, MÜLLER-LUCKMANN, 1990, S. 10, Herv. i. Org.)

Man unterscheidet die Arten der Aggression weiterhin nach derArt der ihr zu Grunde liegenden Motivation,d.h. nach der Art des Zieles bzw. der angestrebten Befriedigung. Alsreaktive Formengelten dabei beispielsweise die Vergeltungsaggression und ärgerliche bzw. ängstliche Abwehr-Aggression, wohingegen die Erlangungsaggression und spontane Aggression alsaktive Formenbezeichnet werden. Dabei handelt es sich allerdings um eine idealtypische Einteilung, da faktisch auch Mischformen vorkommen (NOLTING 1999). Eine weitere Differenzierung ist die inindividuelleundkollektive Aggression.Nach NOLTING (1993) sind diese Formen auf der psychologischen Ebene nicht gleichzusetzen, „weil bei kollektiver Aggression der Einzelne ganz anderen situativen Einflüssen ausgesetzt ist, nämlich demstimulierendenVerhalten anderer Personen“ (S. 94, Herv. i. Org.). Durch diese Einflüsse wird es möglich, dass Menschen Dinge tun, die sie vermutlich als Einzelne niemals tun würden.

Ein Kriterium zur Bewertung eines Verhaltens als aggressiv ist häufig dieintendierte Schädigung,womit Verletzungen ausgeschlossen werden, die nicht beabsichtigt waren (SELG, MEES, BERG 1997; NOLTING 1993). Diese Schädigung kann sich gegen Menschen oder Sachen richten. Dabei kann sowohl normgetreues als auch abweichendes Verhalten als Aggression gelten. Hier wird bereits die Komplexität deutlich, ein Verhalten als aggressiv zu bewerten, da das Ausmachen desselben als

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gerichtetbzw. nicht-gerichtet sehr schwer ist. Die Deutung einer Handlung als aggressiv bzw. gewalttätig hängt dabei von der jeweiligen Sichtweise der Betroffenen sowie densituativenundnormativen Kriteriender Angemessenheit ab. Im Rahmen der Klärung des Gewaltbegriffs wird auf die Interpretationsschwierigkeiten noch näher Bezug genommen (vgl. Kap. 2.2).

Aus der Definition von LÖSEL et al. (1990) geht hervor, dass Aggression ein Verhalten meint und keinen Affekt wie z.B. Ärger, Wut oder Hass. Menschen, die von sich sagen, sie „hätten Aggressionen in sich“, meinen damit ihre Gefühle, Impulse oder Bedürfnisse, was sich aber nicht zwangsläufig in aggressiven Handlungen niederschlagen muss. Ärger kann beispielsweise unterdrückt werden und stellt somit keine aggressive Verhaltensweise dar. Mit anderen Worten, es müssen einer aggressiven Handlung, die z.B. auf einen Befehl hin ausgeführt wurde, nicht zwangsläufig aggressive Gefühle zu Grunde liegen. Demnach muss darauf geachtet werden, ob man sich auf dasVerhaltenoder aufGefühlszuständebezieht, wenn von Aggression die Rede ist (NOLTING 1993).

Es gibt verschiedene Arten aggressiver Gefühle, Stimmungen u. Ä. und die Übergänge zwischen den Emotionen zu nichtaggressiven Gefühlen sind fließend (NOLTING 1999). Aggressive Emotionen zielen auf Verletzung, Herabsetzung usw. und finden darin ihre Befriedigung. Wegen der Verwechslung der beiden Ebenen schlägt NOLTING (1999) vor, dass es am besten wäre, „den Terminus Aggression ganz zu streichen und stets von aggressivem Verhalten/Handeln einerseits und aggressiven Emotionen, Bedürfnissen, Impulsen usw. andererseits zu sprechen“ (S. 30f.).

NOLTING (1999) wendet sich z.B. gegen die Auffassung, dass es möglich sei Aggressionen „abzureagieren“, um so einen gefährlichen „Stau“ zu vermeiden, wie es in verschiedenen Versionen der Katharsis-Hypothese formuliert wird (S. 197ff.). Er weist die Annahme zurück, dass Sport und starke körperliche Aktivität „Aggressio- nen abbauen“ können. Manche Menschen fühlen sich zwar nach verbalen Angriffen,

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demso genannten „Dampfablassen“, wesentlich besser, aber ihre Aggressionen nehmen dadurch keineswegs ab (ebd., S. 211). Daher ist es ratsam, einen Menschen nicht prinzipiell als aggressiv zu bezeichnen. Wesentlich sinnvoller ist es, danach zu fragen, in welchen Formen sich die Aggressivität äußert, bei welchen Anlässen, mit welchen vermuteten Zielen und gegen wen sie sich richtet (ebd., S. 183). Sichtbare Aggressivitätsunterschiede zwischen Menschen resultieren aus der Aktivierbarkeit einerAggressionstendenzsowie aus einerHemmungstendenz.Demnach könnte geringe Aggressivität sowohl auf einer geringen Aggressionstendenz als auch auf starken Hemmungen beruhen. Allerdings können allzu starke Aggressionshemmungen letztlich doch zu Gewalt führen. Es gibt einen Typ extremer Gewalttäter mit übermäßigen Aggressionshemmungen, die plötzlich explodieren können: Solche Menschen vermeiden auch schwächere Formen der Aggression, die sie unter Umständen für ihre Selbstdurchsetzung und Verteidigung benötigen würden. Schließlich geraten sie in so extrem demütigende Situationen, dass sie plötzlich »explodieren« und, zum ersten Mal in ihrem Leben, gewalttätig werden - und zwar in einer geradezu maßlosen Weise. Für eine gesunde psychische Entwicklung ist es also unerlässlich, dass neben inneren Normen gegen Aggression zugleich alternative Verhaltensweisen für das Ausdrücken von Gefühlen und das Verfolgen eigener Ziele erlernt werden. (NOLTING 1999, S. 266)

Unter den Begriff Aggression wird häufig offene Aggressivität, die sich durch körperliche oder verbale Angriffe zeigt, gefasst. Doch auch indirekte Strategien, um andere Menschen zu verletzen, werden zum Teil ebenso als Aggression bezeichnet. Dazu zählen etwaindirektereundpassivereFormen destruktiver Aggression. Diese führen gerade in empirischen Untersuchungen, welche sich lediglich auf physische Aggressionen beziehen, auch zu verzerrten Aussagen. Wenn es beispielsweise in diesen Untersuchungen heißt, Frauen zeigen ein geringeres Ausmaß an Aggressionen im Vergleich zu Männern, so kann dieser Befund nur etwas über das gezeigte Verhalten aussagen, nichts hingegen über das Potenzial an Aggression. Indem diese Un- tersuchungen sich ausschließlich auf eine Aggressionsform beschränken, tragen sie

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nichtzur Klärung der Frage bei, ob Frauen tendenziell andere Formen destruktiver Gewalt ausleben (HEYNE 1993).

Die Konzentration auf offen aggressives Verhalten hat dazu geführt, dass wenig über aggressive und viktimisierte Mädchen bekannt ist. Der Begriff der Aggression wurde von einer Reihe amerikanischer Wissenschaftler erweitert, um dem systematischen Geschlechtsunterschied in der Aggressionsliteratur Rechnung zu tragen. Man spricht nun vonBeziehungsaggressionoderrelationaler Aggression,die für das Verhalten von Mädchen typischer sei (WERNER, BIGBEE, CRICK 1999, S. 153). In einem Projekt zur Erforschung „der weiblichen Aggression“ definieren WERNER et al. (1999) die relationale Aggression als ein Verhalten, dass „die Beziehungen einer Person zu Gleichaltrigen oder die Gefühle der sozialen Zugehörigkeit und Akzeptanz beschädigt. Hierzu gehört auch die Androhung einer solchen Schädigung“ (S. 154). Soziale Beziehungen werden demnach dazu benutzt, um gleichaltrigen Kindern, z.B. durch das Verbreiten von Gerüchten, durch Ausschluss aus der Gruppe oder durch ignorantes Verhalten, zu schaden (vgl. Kap. 4.2). Dieser Aspekt steht im Vorder-grund dieses Ansatzes und kennzeichnet den Unterschied zur indirekten Aggression, die vorliegt, wenn ohne direkte Konfrontation mit dem Opfer eine Schädigung erreicht wird (WERNER et al. 1999).

Es gibt viele Ansätze, in denen davon ausgegangen wird, dass beide Geschlechter über ein gleich großes Aggressionspotenzial verfügen, jedoch hinsichtlich der Art und Weise der Äußerung dieser Aggression Unterschiede bestehen, was auf verschiedenartig Ursachen des aggressiven Verhaltens zurückgeführt werden kann (vgl. Kap. 5.4).

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2.2Verschiedene Formen der Gewalt

Der Begriff Gewalt ist sehr vielschichtig und überschneidet sich in einzelnen Teilen mit dem der Aggression. Dies lässt sich vor allem daran zeigen, dass sich einige Kriterien beiden Begriffen zuordnen lassen. Der Gewaltbegriff wird allerdings eher in soziologischen, rechtlichen und politischen Kontexten verwendet. Gemeinhin lassen sich zwei Richtungen in der Diskussion um den Gewaltbegriff aufzeigen. Zum einen wird auf eine weite Fassung des Begriffs plädiert, man spricht in diesem Zusammenhang auch von „struktureller Gewalt“ (GALTUNG 1975). Zum anderen will man den Gewaltbegriff ausdrücklich eingeschränkter definieren (LÖSEL et al. 1990; SCHNEIDER 1994).

Zu Beginn der 70er Jahre entwickelte GALTUNG (1975) im Rahmen der Friedens-und Konfliktforschung eine erweiterte Definition von Gewalt. In dieser benennt er auch die Folgen aus ungleichen gesellschaftlichen Machtstrukturen und Zwangsverhältnissen als eine Form der Gewalt. GALTUNG (1975) umschreibt den Begriff derstrukturellenGewalt folgendermaßen:

Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung. … Gewalt ist das, was den Abstand zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen vergrößert oder die Verringerung dieses Abstandes erschwert. (GALTUNG 1975, S. 9; Herv. i. Org.)

In diese Definition fließt auchpsychischeGewalt mit ein, welche sich in Form von „Indoktrination, Lügen und Gehirnwäsche“ (ebd., S. 11) durch bestimmte Ideologien äußern kann und der zufolge die geistigen Möglichkeiten eines Menschen eingeschränkt werden. Eine Besonderheit bei dieser Form von Gewalt ist, dass keine konkreten Akteure erkennbar sind, demnach wirkt die Gewalt auf indirekte Weise. Sie äußert sich in Chancenungleichheiten, die durch ungerecht verteilte Ressourcen und Machtverhältnisse entstehen, was den Individuen allerdings nicht bewusst sein muss. Demzufolge ist strukturelle Gewalt nicht unmittelbar beobachtbar, wohl aber über die in einer Gesellschaft bestehenden Hierarchien und Rollenzuweisungen erschließ-

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bar,die die ungleichen Herrschafts- und Machtverhältnisse in einem gesellschaftlichen System widerspiegeln (THEUNERT 1996).

An dieser Stelle sollte jedoch kritisch angemerkt werden, dass eine solche umfassende Definition von Gewalt zu einer starken Ausweitung des Gewaltbegriffs und letztlich zu Unklarheiten führt. Ebenso bezeichnet diese Auslegung eher die möglichen Ursachen von Gewalt (SCHNEIDER 1994, S. 15; SELG et al. 1997, S. 8). Im Gegensatz zurstrukturellen Gewaltsieht GALTUNG (1975) diepersonaleoder auchdirekteGewalt. Man spricht von personaler Gewalt, wenn sich bei ihrer Ausübung ein Akteur oder eine Akteurin eindeutig identifizieren lässt, eine Person also direkt Gewalt ausübt. KUNCZIK (1994) bestimmt personale Gewalt wie folgt: „Unter personaler Gewalt (Aggression) wird die … beabsichtigte physische und/oder psychische Schädigung einer Person, von Lebewesen und Sachen durch eine andere Person verstanden“ (S. 18).

In dieser Definition wurde bereits eine weitere Unterteilung der personalen Gewalt in einephysischeund einepsychischeAusprägung vorgenommen. Je nachdem mit welchen Mitteln diese Form der Gewalt ausgeübt wird, spricht man von psychischer Gewalt, wenn eine geistige oder seelische Verletzung vorliegt, wie etwa Erniedrigung, Bedrohung, Nötigung, Demütigung oder Isolierung. Hingegen meint physisch, alle Formen körperlicher Verletzung, also direkter, tätlicher Gewalt, aber auch die Drohung mit ihr, ebenso Vergewaltigung und Zudringlichkeit. Im Gegensatz zu physischer ist psychische Gewalt sehr viel schwieriger wahrzunehmen und zu beschreiben, da sie auf einer sehr viel subtileren Ebene ausgeübt wird. Psychische Gewalt kann nicht nur auf der verbalen, sondern auch auf der non-verbalen Ebene (u.a. über Körpersprache) ihren Ausdruck finden. (THEUNERT 1996).

In der Regel wird Gewalt als intendiertes Schädigen oder Beeinträchtigen verstanden, um unbeabsichtigte Schädigungen auszuschließen. Hierzu führt NOLTING (1993) aus: „von Gewalt sprechen wir meist nur beischweren, insbesondere körper-