Agnès, Nelly und der Hund - Albert Engelhardt - E-Book

Agnès, Nelly und der Hund E-Book

Albert Engelhardt

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Beschreibung

Sechs Erzählungen über das Erinnern und Vergessen sowie über den Versuch, in ein anderes Ich zu schlüpfen.Trauer, Wut und versäumte Gelegenheiten spielen ebenso eine Rolle wie die ewige Hoffnung auf Glück. Und in jeder Geschichte ist ein Hund Seelentröster oder auch nur zufälliger Begleiter.

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Inhalt

Der Tritt

Danach

Agnès, Nelly und der Hund

Zwischen den Kriegen

G.

Die Stimme

Der Tritt

12. August

SEIT FAST VIER WOCHEN dreht Caro jeden zweiten oder dritten Tag diese Runde, und sie genießt die Tour. Zuhause hat sie wenig Zeit und folglich auch wenig Muse, sich für eine oder anderthalb Stunden aufs Rad zu setzen. Die Topografie, daheim die unvermeidbaren Steigungen stadtauswärts und die Hügellandschaft, hier das eher verkehrsarme wellige Terrain, trägt das Ihre dazu bei. Hier und jetzt, während des Sommerurlaubs in der Bretagne, kann sie sich nicht nur dazu aufraffen, sondern die Ausfahrten machen ihr Spaß. Und sie tun ihr gut.

Die rund dreißig Kilometer führen sie von der Küstenstraße zu den Bauernhöfen im Hinterland, durch verschlafene kleine Dörfer und Weiler. Fast immer über Wirtschaftswege, auf denen ihr ab und zu ein Traktor oder Lieferwagen begegnet. Die beiden großen Lkw, die voll beladen mit Schweinen vom Mastbetrieb kommen, sind auf dem Weg zur N12 meistens pünktlich gegen elf Uhr unterwegs. Einer Begegnung kann sie ausweichen.

Caro rollt durch eine Senke, kommt am Relais Saint Aubin vorbei, umfährt weiträumig das Château Bien Assis, das in der Urlaubszeit viele Touristen anzieht, kreuzt die Landstraße und nähert sich dem Weiler La Fosse. Sie mag diese aus wenigen Häusern bestehenden Flecken. Alte Wohnhäuser, ein Schuppen oder Unterstand fürs Auto. Meistens erinnert nur eins der Anwesen an einen früheren Bauernhof, mit Stallung und Nebengebäude, angelegt als zur Straße hin offenes Viereck. Außer einem Gemüsegarten und Wiesen ist auch in La Fosse von der Landwirtschaft nichts geblieben. In dieser Gegend werden Viehzucht, Mast und Milchwirtschaft oder Mais- und Gemüseanbau ertragreich nur auf den großen, verstreut liegenden Bauernhöfen und in Kooperativen betrieben.

In La Fosse begrüßt seit Caros erster Tour ein Hund die durchfahrende Radlerin. Sobald sie rund fünfzig Meter vor dem Anwesen um die Ecke biegt, rast der Hund, ein Mischling mittlerer Größe, hellbraun mit weißen Flecken, quer über das Grundstück. So, als wolle er vor der Radlerin an der Stelle sein, an der er diese mit einem kläffenden Bellen begrüßt. Beim ersten Zusammentreffen hatte Caro sich fürchterlich erschrocken, auch beim zweiten Mal. Mittlerweile weiß sie um die Begegnung, und sie freut sich darauf. Caro winkt immer zurück und amüsiert sich im selben Moment über ihren Gruß.

Caro ist fast auf der Höhe des Zauns, der die kleine Wiese neben dem alten Steinhaus begrenzt, als sie den verrückten Hund sieht. Er springt und bellt. Doch als der Hund seine halbe Wegstrecke geschafft hat, ertönt ein Schrei, ein schimpfender, unbeherrscht schimpfender Schrei. Der Hund hält einen Moment inne. Bevor er weiterrennen kann, trifft ihn ein schwerer Stiefel am Kopf. Der Hund fällt auf die Seite, rafft sich blitzschnell wieder auf und will zum Zaun rasen. Der im Schatten eines Schuppens stehende Mann tritt erneut zu, diesmal in die Flanke des Hundes, der jetzt laut aufheult und einen Meter zur Seite fliegt.

Caro ist auf ihrem Rad bereits am letzten Haus des Weilers vorbei, als ihr das in den letzten Sekunden gesehene, gehörte, erlebte Geschehen bewusst wird. Sie ist schockiert. Sie ist wütend, zornig. Und sie ist überrascht. Noch nie hat sie hier jemanden, ob Frau oder Mann, zwischen den Häusern zu Gesicht bekommen. Vielleicht hat sie in den vergangenen Wochen einmal ein Hämmern gehört oder ihr war ein in einem Hof parkendes Auto aufgefallen. Doch der Weiler machte um diese Tageszeit immer einen menschenleeren, verlassenen Eindruck. Und nun dies. Der brutale Tritt gegen einen Hund, ein zweifacher Tritt gegen ein wehrloses Tier. Das ist Tierquälerei, die angezeigt gehört, schreit Caro lautlos.

Mittlerweile ist sie bereits fast einen Kilometer weitergefahren. Soll sie umdrehen, den Mann zur Rede stellen? Den Hund versorgen und trösten? Jetzt noch? Sie könnte im Auto zurückkehren und mit dem Hund einen Tierarzt aufsuchen. Sie konnte auch dem Dorfpolizisten Bescheid geben. Ortsbeschreibung und Personenbeschreibung wären kein Problem. Das erste Haus nach der Kurve, ein Mann mit ungewöhnlich langem und lockigem Haar. So wie Peter Frampton, Jimmy Page oder Robert Plant. Nein, dieser Hinweis wäre sinnlos. Der Polizist war zu jung, um die drei zu kennen. Was blieb noch? Die Angelegenheit überfordert ihre Kräfte. Die Wut trübt ihre Sinne. Sie tritt kräftiger in die Pedale. Eine Viertelstunde später erreicht sie das Ferienhaus.

Caro zittert, als sie vom Rad steigt. Ihr ist übel vor Wut und Machtlosigkeit. Sie setzt sich vor dem Haus auf die Bank, schüttelt den Kopf und ballt beide Fäuste. Ihr Herz rast. Sie lässt den Tränen freien Lauf.

18. August

BEIM METZGER HAT SIE EIN FILET BESORGT, dazu zwei Saucisses secs, eine Ecke Paté Campagnarde und etwas Kochschinken. Das Baguette würde sie zum Schluss ihrer Einkäufe holen.

Sie betritt das Café. Am Drehständer mit Ansichtskarten wählt sie drei der am wenigsten nichtssagenden Karten aus. An der Kasse packt sie noch ein Exemplar der Ouest France in ihren Beutel und bezahlt. An einem der Tische sitzt wie üblich eine kleine Männergruppe, die Gläser vor sich, schwadronierend und müde dreinschauend. Samstags und sonntags liegen noch Belote-Karten auf dem Tisch. Fischer, Handwerker, Rentner, Trinker. Gezeichnete Gesichter, gebeugte Rücken und schwielige Hände.

Caro erschrickt. Sie erkennt den Lockenkopf sofort. Er ist ihr in dieser Runde, die jeden frühen Vormittag den Tisch am Schaufenster besetzt hält, noch nie aufgefallen. Sie bleibt in der Tür stehen, geht nochmals zurück und tut so, als würde sie sich für die kleine Auswahl Aquarelle mit Strandmotiven interessieren. Ein hübscher Kerl, jünger als die anderen Männer. Breite Schultern, kräftige Statur, ein freundliches Gesicht. Er trägt Arbeitskleidung, einen etwas verschmutzten blauen Overall, ein Halstuch und schwere Schuhe. Nichts Besonderes. Nur das sehr lockige und außergewöhnlich lange Haar hat ihn verraten.

Sie war in der zurückliegenden Woche zwei Mal auf ihrer Standardtour zum Tatort zurückgekehrt. Aus Gewohnheit und doch mit dem Ziel, den Ort des Geschehens nochmals in Augenschein zu nehmen. Warum? Darum! Und dann? Caro hatte nicht angehalten, war durchgefahren, wie immer. Neu war, dass der Hund nicht zu sehen und nicht zu hören gewesen war. Caro ist sich nicht sicher, traut ihren Sinnen nicht. Hatte sie den Mann nochmals gesehen, oder trat er nur aus ihren Albträumen hervor? Hat er, eine Schaufel in der Hand, hinter dem Schuppen gestanden, vor sich einen kleinen Haufen Erde?

Caro wagt noch einen Blick in Richtung des Tischs. Soweit sie es beurteilen kann, hat der Hundequäler sie nicht erkannt, wahrscheinlich noch nicht einmal wahrgenommen. Soll sie ihn ansprechen? Jetzt hat sie die Gelegenheit. Wie würde er reagieren? Verständnislos dreinschauen, alles leugnen? Wurde er mit einigen Gläsern intus handgreiflich? Oder würden er und seine Trinkkumpane in Gelächter ausbrechen, sich über sie lustig machen, sie taxieren und mit großen Gesten zu einem Glas einladen?

Caro verlässt das Café. Ihr Urlaub geht zu Ende. In drei Tagen wird sie wieder nach Hause fahren. Soll sie ihre Nerven noch mehr strapazieren, mit ungewissem Ausgang?

Caro holt beim Bäcker das Brot und gönnt sich noch ein Stück Schokoladenkuchen. An der Tür des Ladens hängt ein Plakat, das auf das Fest Noz am Freitag hinweist. Galettes Saucisses, Steak Frites, Moules Frites, Cidre. Wie immer begleitet von bretonischer Musik, dann Disco und Feuerwerk. Ein schöner Abschluss ihres Urlaubs, denkt Caro, wenngleich sie sich am folgenden Morgen wie üblich um sechs Uhr früh auf die Heimreise machen will. Naja, sagt sie sich, Schwofen und Feuerwerk würde sie sich ja schenken können.

21. August

DIE WARTESCHLANGEN SIND LANG. Caro entscheidet sich für Moules Frites. Nach einer Viertelstunde hält sie die beiden Plastikschalen in der Hand und geht zurück zu ihrem Platz. Ihre Banknachbarn haben zwei weitere Flaschen Cidre besorgt und füllen auch Caros Becher. Man wünscht ihr Bon appétit! und fragt, ob ihr das Fest gefalle und aus welcher Region sie in Deutschland komme. Als sie Göttingen sagt, fragt einer der Männer, ob sie dieses Chanson von Barbara kenne. Ja, antwortet sie. Das Selbstverständlich verkneift sie sich. Caro ärgert sich, dass sie auch in ihrem fünfzehnten oder zwanzigsten Bretagne-Urlaub immer noch als Deutsche erkannt wird. Sie spricht ein sehr gutes Französisch und findet nicht, dass sie wie eine typische deutsche Touristin auftritt. Ihr Ärger weicht sofort, sie schmunzelt. Was war jenseits von Klischees typisch deutsch?

Man bedauert sie, dass für sie schon morgen die Rückreise ansteht, doch gleichzeitig beneidet man sie, dass damit ein fünfwöchiger Urlaub hinter ihr liegen wird. Caro erzählt ein wenig von ihren diesjährigen Ausflügen, schwärmt von einem kleinen Lokal im Hinterland und von einer Bootsfahrt auf der Rance. Caro genießt die Unterhaltung, heimst Komplimente zu ihrem Französisch ein, und die Zeit geht wie im Flug vorbei. Am Ende lässt sie sich sogar zum Tanzen überreden. Die beiden Frauen aus der Runde nehmen Caro in die Mitte und alle drei finden schnell ihren Platz im immer größer werdenden Kreis der Tanzenden. Caro ist keine Liebhaberin der bretonischen Musik – Akkordeon, Bombarde, manchmal auch eine Geige. Doch die Gruppentänze strahlen etwas aus, das Caro als Ausdruck von Gemeinsamkeit, Zuversicht und Freude empfindet. Sie fühlt sich wohl, und sie bereut nicht, sich zum Besuch des Festes aufgerafft zu haben.

Als Caro gegen halb elf Anstalten macht zu gehen, wird sie von den beiden Frauen, sie heißen Eliane und Nolwenn, und deren Begleitern aufgefordert, doch noch bis zum Beginn der Disco zu bleiben. Caro zögert, verweist nochmals auf die lange Fahrt, lässt sich aber erneut drängen und willigt am Ende ein. Notfalls werde ich erst mittags fahren und irgendwo hinter Paris übernachten, denkt sie. Ihr würde der Sonntag fehlen, doch erst am Montag musste sie zuhause sein.

Akkordeon, Bombarde und Fiedel sind abgetreten. Ein DJ und die Lichtorgel übernehmen das Ruder. Und wieder geht Caro mit den beiden Frauen auf die Tanzfläche. Eliane und Nolwenn sind bestimmt weit mehr als zehn Jahre jünger, sie hüpfen und stampfen, wie es die Deutsche vor zwanzig Jahren getan hat. Caro kommt bald ins Schwitzen und ist schon etwas außer Atem, als sie den Lockenkopf entdeckt. Das Schicksal spielt offenbar mit Zufällen.

Es ist wieder der Haarschopf, der keinen Zweifel zulässt. Die schiefe Nase fällt ihr erst jetzt auf. Er lehnt am Cidre-Ausschank und unterhält sich mit einem der dort tätigen Männer. Ohne dass sie irgendwelche Worte hätte verstehen können, vermutet Caro, dass der Hundequäler, so nennt sie ihn für sich, bereits genug getrunken und Schwierigkeiten hat, sich klar auszudrücken. Sein Gegenüber scheint immer wieder nachfragen zu müssen und winkt zwischendurch auch mal belustigt ab. So, als sei das Gehörte sowieso nicht zu glauben oder einfach belanglos.

Der Blitz der bösen Erinnerung schlägt ein. Das kläffende Bellen, das plötzliche Aufheulen und das anhaltende Jaulen droht Caros Kopf zu sprengen. Sie hält sich die Ohren zu, wirft Eliane wirre Worte der Entschuldigung zu, flüchtet von der Tanzfläche und stürzt fast über eine Sitzbank. Sie nimmt ihre kleine Tasche und ihren Pulli, grüßt auch nochmals Nolwenns Mann und steuert den Ausschank an.

Caro entscheidet sich.

Der Hundequäler hat sich mittlerweile auf einen Stapel Paletten gesetzt. Caro nimmt keine fünf Meter davon entfernt Platz. Sie sieht ihn an, er nimmt sie wahr. Sie lächelt, er schaut eher verdutzt als zielstrebig zurück. Er ist etwas in sich zusammengesunken und kann seine trüben Augen kaum aufhalten. Sie nimmt den Pulli von den Schultern und strafft ihren Rücken. Er gibt ihren Brüsten ohne Worte eine gute Note. Die Alte kann sich sehen lassen, denkt er jetzt wohl, vermutet Caro. Er dürfte ungefähr so alt sein wie Nolwenn und Eliane, vielleicht sogar jünger.

Der DJ legt nach Johnny Hallyday nun einige Grunge-Hits aus den Neunzigern auf. Meine Jahre, sagt sich Caro. Der lockenköpfige Hundequäler erhebt sich, scheint seinen Alkoholpegel und die befürchtete Antwort abzuwägen, riskiert aber die Frage, ob sie zu einem Tänzchen bereit sei. Caro tut überrascht, scheint zu überlegen und sagt ja.

Er ist wohl auch nüchtern kein guter Tänzer, erkennt Caro bereits nach den ersten Schritten. Rhythmische Bewegungen, selbst das Minimum, das Rock und Punk möglich machen, sind ebenso wenig zu erkennen wie ein gewisses Maß, miteinander tanzen zu wollen. Er ist eher tollpatschig, sein Reden ist schwer verständlich. Er überhäuft Caro mit Komplimenten zu ihren Augen, ihrem Mund, ihrem Haar und fragt sie nach ihrem Vornamen. Silke, antwortete Caro und fügt lachend an, das sei ein seltener und für Franzosen ein sicherlich ungewöhnlicher Name. Sie komme aus Castrop-Rauxel, fügt sie lachend an, dafür könne sie auch nichts. Er hat den Scherz sicher nicht verstanden, denkt Caro, obwohl er ihr zunickt und ebenfalls lacht.

Nirwana, Soundgarden und Pearl Jam dröhnen aus den Boxen. Caro tanzt, behält ihr Gegenüber im Auge und lässt sich von Kopf bis Fuß begutachten. Sie greift in den Tanzpausen sogar nach seinem Arm, spürt seine Muskeln. Sie ist auf dem richtigen Weg.

Caro macht dem Hundequäler, dessen Namen sie nicht wissen will, Avancen. Sie schlägt vor, noch einen Schluck zu trinken und gemeinsam das Feuerwerk anzusehen. Und danach, man wisse nie.

Sie trinken eine halbe Flasche, gehen hinunter zum Strandparkplatz, finden auf der Kaimauer noch ein freies Plätzchen, wo der Hundequäler während des Feuerwerks immer wieder einnickt.

22. August

KURZ NACH MITTERNACHT BRECHEN SIE AUF. Caro hat nicht Ja und nicht Nein gesagt. Der Hundequäler nimmt sie bei der Hand und führt sie zu seinem Auto. Caro signalisiert Einverständnis, besteht aber darauf, selbst und in ihrem Wagen zu fahren. Er sei zu betrunken.

Sie fragt nach seinem Zuhause, stöhnt laut und tut erstaunt, als er den Namen des Weilers und nicht eine Adresse im Ort nennt. Unterwegs fragt sie ihn mehrmals, ob sie abbiegen oder weiter geradeaus fahren müsse. Er nickt immer wieder ein und sagt zwischendurch, Munich sei die schönste deutsche Stadt und er sei Künstler. Er arbeite mit Eisen, so viel verstand Caro.

Als sie auf den Hof einbiegen, hört Caro ein kurzes Bellen. Der Hundequäler wankt vor ihr auf das Haus zu. Er zeigt auf den Schuppen, spricht von seinem Atelier und seiner Werkstatt. Er nimmt Caro bei der Hand, bleibt stehen, umarmt sie, packt ihre Pobacken, hebt sie hoch, setzt sie wieder ab, lacht und streicht über ihre Brust. Er wird doch nicht plötzlich wieder nüchtern werden. Caro würgt. Sie späht über seine Schulter in die Dunkelheit, lauscht nach dem Hund.

Küssen will der Hundequäler anscheinend nicht. Caro ist erleichtert. Dafür finden seine Hände keine Ruhe. Als sie die Außentreppe hinaufsteigen, hoch in die obere Etage, rasen seine Hände über ihre Hüften, über ihren Rücken, zwischen ihre Beine. Sie weicht ihm nicht aus, macht ihm Mut, konzentriert sich auf jeden Schritt und auf den entscheidenden Augenblick.

Als sie auf der obersten Stufe ankommen, auch Caro torkelnd, er ihr folgend, dreht sie sich abrupt um, sammelte all ihre Kräfte und ihre Wut und ihren Hass. Sie stößt den Hundequäler die steile Treppe hinab. Zwanzig harte und scharfkantige Holzstufen. Der Lockenkopf hat keine Möglichkeit, den Sturz zu bremsen. Seine Körperkontrolle versagt, der Alkohol fordert im rechten Moment Tribut, sagt sich Caro. Fast ganz unten, auf den ersten Stufen der Treppe bleibt der Hundequäler liegen. Er blutet aus einer Wunde am Kopf und er stöhnt. Caro tritt ihm voller Abscheu mit ihren schweren Schuhen, die vor drei Stunden noch zu Smells Like Teen Spirit und Rusty Cage getanzt haben, ins Gesicht. Seine Lippe platzt, Blut fließt über sein Kinn. Er öffnet die Augen und schaut sie fragend an. Merde! Putain! Über dem Ohr klafft eine Wunde, das dichte Haar ist von dunkelbraunem Blut verklebt. Caro tritt erneut zu. Die silbernen Schnallen ihrer Schuhe blitzen im Mondlicht. Sie tritt ihm ins Gesicht, in seine Seite. Will sie das Krachen der Rippen hören? Der Hundequäler will schreien, aber zu vernehmen ist nur ein Gurgeln. Er spuckt Blut. Caro tritt ihm nochmals in die Rippen und in den Bauch. Ein kurzes Zucken. Der schöne Lockenkopf rührt sich nicht mehr.

Caro hält inne, duckt sich unter die Treppe, als ein Auto vorbeifährt. Sie erschrickt, als der Hund hinter dem Schuppen hervorkommt und zu dem Mann an der Treppe humpelt. Er schnuppert am Hals und am Kopf. Caro spricht den Hund an, streckt ihm lockend die Hand entgegen. Der Hund entscheidet sich gegen sie. Auch ein zweites Zureden ändert nichts. Der Hund legt sich winselnd an die Seite des Mannes.

Caro steigt in ihr Auto.

Danach

Tage

ES WAR KALT GEWORDEN. Die meisten Trauergäste, die von der Toten Abschied nehmen wollten, saßen bereits winterlich gekleidet in den engen Bankreihen der Friedhofskapelle. Dicke Jacken, Anoraks, Mäntel. Männer legten ihre Wollmützen ab, Frauen ihre Schals. Man trug festes Schuhwerk, sogar Stiefel.

Viele waren froh, dass die Tote eingeäschert und nicht in der nächsten halben Stunde in ihrem blumengeschmückten Sarg begraben werden würde. Draußen zwischen den Gräbern des auf einem Plateau liegenden Friedhofs waren es im besten Fall drei Grad, wahrscheinlich sogar wenige Grad unter null. Der scharfe Ostwind tat ein Übriges, sodass der Großteil der Trauergemeinde bereits an die Heimfahrt oder an das gut beheizte Lokal dachte. Nur die Familie, einige Nachbarn sowie eine Handvoll ehemaliger Klassenkameradinnen und zwei langjährige Freundinnen würden im Goldenen Löwen zum Leichenschmaus zusammenkommen.

Zur Familie gehörten die hinterbliebenen zwei Töchter und ein Sohn. Deren Vater war bereits vor fünfzehn Jahren bei einem Bergunglück umgekommen. Die vier Schwestern der Mutter waren ihr vorausgegangen. Eine in sehr frühem Alter, die anderen im Laufe des zurückliegenden Jahrzehnts. Auch deren Männer waren, bis auf einen, bereits im Himmel oder schmorten in der Hölle. Die Mutter der Verstorbenen war sehr früh, schon Anfang der sechziger Jahre gestorben, der Vater zwanzig Jahre später, bereits hochbetagt. Er hatte im Dreikaiserjahr das Licht der Welt erblickt.

DIE VERBINDUNG IN DIE VERGANGENHEIT, die Seile und Lebenslinien, die die heute lebenden mit den gestern gestorbenen Familienmitgliedern gemein hatten, sind zerrissen. Am Tag der Trauerfeier, während des letzten Gebets oder beim Löffeln der Suppe, spät in der Nacht oder am nächsten Morgen ahnen die hinterbliebenen Kinder der Toten, dass mit der Mutter die letzte Verbindung in