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Christian Herzog

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Beschreibung

Fesselnd geschrieben und brillant recherchiert: Ein rasanter Thriller vor dem Hintergrund der Olympischen Spiele 1936 in Berlin Ein Komplott jenseits aller Vorstellungskraft, dazu ersonnen, die ganze Welt zu erschüttern Berlin, 1936. Zu den Olympischen Spielen präsentiert sich Deutschland der Welt im besten Licht: Man putzt die Hauptstadt heraus, entfernt antisemitische Parolen und tanzt zu Swing-Musik. Doch im Verborgenen verfolgt die «Arbeitsgruppe Phoenix», zu der auch Hermann Schmidt vom Propagandaministerium gehört, einen perfiden Plan: Die Hindenburg, das größte Luftschiff der Welt, soll in Flammen aufgehen und der Anschlag einer «Internationalen Judenverschwörung» angehängt werden. Parallel plant eine Gruppe um die Kunststudentin Anna Kollmann, aus dem Luftschiff regimefeindliche Flugblätter abzuwerfen. Als Hermann im neu errichteten Stadion erstmals Anna begegnet, fühlt er sich sofort zu ihr hingezogen. Auch Anna findet den jungen Mann attraktiv, aber wie könnte sie ihm je vertrauen? Indessen gerät der Zeppelin-Steward Georg Finkbeiner in den Fokus der Geheimdienste und findet heraus, dass weit mehr hinter der Propaganda-Fahrt steckt, als alle dachten: Die Welt steht am Abgrund.

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Seitenzahl: 550

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Christian Herzog

Aktion Phoenix

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Die Welt am Abgrund

Berlin, 1936. Zu den Olympischen Spielen zeigt sich die Reichshauptstadt glamourös und weltoffen. Um den guten Eindruck bei Gästen und Reportern aus aller Welt zu bewahren, muss sich Hermann Schmidt vom Propagandaministerium mit hasserfüllten Schlägern und einer Widerstandsgruppe auseinandersetzen, die regimefeindliche Plakate aufhängt. Sein Leben gerät vollends aus der Bahn, als er sich in die Kunststudentin Anna Kollmann verliebt, die zu den Umstürzlern gehört. Unterdessen gerät auch der Zeppelin-Steward Georg Finkbeiner zwischen die Fronten und deckt ein schreckliches Geheimnis auf: Hinter der Fahrt der Hindenburg zur Eröffnungsfeier der Spiele steckt weit mehr als reine Propaganda. Ein perfider Plan jenseits aller Vorstellungskraft, dazu ersonnen, die Welt zu erschüttern.

Vita

Hinter Christian Herzog steckt der Autor Ralf H. Dorweiler. Er studierte Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Köln, war als Schauspieler sowie im Management internationaler Konzerne tätig und als Redakteur einer großen deutschen Tageszeitung. Daneben schrieb er zunächst Krimis beim Emons Verlag, später historische Romane bei Lübbe. Mittlerweile lebt er mit seiner Frau in Bad Pyrmont und konzentriert sich ganz auf seine Tätigkeit als Autor.

Impressum

Die Recherche für den vorliegenden Roman wurde im Rahmen des von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien initiierten Programms NEUSTART KULTUR durch die VG WORT gefördert.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Songtext auf S. 312/314: «Wenn ich vergnügt bin, muss ich singen». Text: Hans Fritz Beckmann, 1936

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung ullstein bild

ISBN 978-3-644-01533-3

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Prolog

Berlin, Freitag, 17. April 1936

«Da ist ein Herr Pölzl für dich am Apparat.»

Verärgert über die Störung blickte Sauer von seinem Schreibtisch auf. Er schob die Papiere des Untersuchungsberichts zusammen und klappte den Umschlag zu.

«Kenne ich nicht. Wieso ruft er freitagabends hier an?», fragte er seine Frau.

«Das wollte er mir nicht sagen. Er war nicht gerade freundlich.»

«Sag ihm, ich komme gleich», trug er ihr auf. Er drückte den Stempel ins Tintenkissen und schlug ihn auf dem Umschlag ab. «Streng geheim», hieß es nun direkt unter dem Hakenkreuz auf der rotbraunen Pappe. Die Unterlagen kamen in die Schublade, die er doppelt verschloss. Schließlich folgte er Marianne nach unten.

«Hören Sie? Da kommt mein Mann schon», sprach sie in den schwarzen Bakelithörer des Wandtelefons und reichte ihn gleich darauf weiter.

«Hans-Werner Sauer», meldete er sich.

«Sind Sie allein?», kam es aus der Hörmuschel.

«Wer ist denn da am Apparat?», fragte er gereizt.

«Ich bin es.»

Jetzt erkannte er die Stimme. Reflexhaft nahm er Haltung an.

«Sie? Ich bitte um Verzeihung», stammelte er und drehte sich zu Marianne um, die ihn mit besorgter Miene musterte.

«Sind Sie allein, Sauer?»

«Einen Moment, bitte!», sagte er in den Hörer und fügte zu seiner Frau gewandt hinzu: «Geh bitte nach oben!»

«Was ist denn los?», wollte sie wissen.

«Geh sofort nach oben!», befahl er scharf und bekräftigte seine Worte mit einer nachdrücklichen Geste.

Endlich verschwand sie.

«Ich kann jetzt frei reden. Es ist mir eine große Ehre, dass Sie …»

«… Schwätzen Sie nicht!», brachte die Stimme ihn zum Schweigen. «Sie sollten wissen, dass der Phoenix sich in die Lüfte erheben wird.»

Sauers Mund war auf einmal ganz trocken.

«Haben Sie mich verstanden, Mann?»

Sauer räusperte sich, bevor er stammelte: «Der Phoenix. Jawohl!»

«Ich kann mich doch voll und ganz auf Sie verlassen?», drang es schnarrend in sein Ohr.

Sauer fasste sich endlich. Er riss den rechten Arm mit der flachen Hand empor, obwohl er wusste, dass sein Gesprächspartner den Gruß nicht sehen konnte. «Jawohl, mein Führer. Zu einhundert Prozent.»

Ein Knacken in der Leitung zeigte, dass Hitler aufgelegt hatte.

Wildkätzchen

Berlin, Freitag, 17. April 1936

Edith trat vom Trottoir auf die gepflasterte Straße und überprüfte ihre Arbeit mit kritischem Blick. Sie hatte die goldfarbenen Lettern an der Fassade von Staub und Ruß befreit. Jetzt glänzte der Schriftzug «Rosen-Apotheke» wieder. Der Name wiederholte sich auf dem kleinen Schaufenster, das sie soeben mit dem Fensterleder poliert hatte. Keine Schliere war mehr zu sehen. Sie nickte zufrieden. Nur der Inhalt der Auslage erregte ihr Missfallen. Leere Schachteln und Verpackungen auf staubigen Aufstellern blichen neben Trockenblumen im Schein der Nachmittagssonne vor sich hin. Das wirkte schlichtweg völlig altbacken und erregte keinerlei Aufsehen. Kein Wunder, dass die Kundschaft immer öfter ausblieb. Vielleicht erlaubte der Chef ja, dass sie das Schaufenster neu gestaltete. Mit ihren bisherigen Überredungsversuchen in diese Richtung war sie allerdings auf taube Ohren gestoßen.

Die Rosen-Apotheke stand leider Gottes zum Verkauf. Edith war bei Josef Finkelstein – Apotheker in dritter Generation, wie auf der Glastür stand – gerade erst seit drei Wochen als Aushilfe beschäftigt. Ob der neue Besitzer sie vielleicht übernehmen würde? Aber bisher gab es ja noch nicht einmal einen ernst zu nehmenden Interessenten. Den letzten hatte Josef Finkelstein nach einem unverschämt niedrigen Angebot eiligst hinauskomplimentiert.

«Kannst du mir bitte die Stufen hochhelfen, Mädchen?», riss eine gebeugt gehende alte Frau sie aus ihren Gedanken.

«Gerne», antwortete Edith. Sie ließ das Fensterleder in den Eimer gleiten und wischte sich die Hand schnell an ihrer Schürze trocken. Endlich wieder eine Kundin! Sie reichte der alten Frau den Arm, den diese mit einer schmalen Hand dankbar ergriff. Pergamentdünne Haut lag über den hervortretenden Knochen. Die zwei Stufen bis zum Laden nahm die Frau mit deutlich hörbarem Schnaufen und Stöhnen. Edith stieß die Tür auf und löste damit die kleine Messingklingel aus.

«Kundschaft», trällerte sie in den Ladenraum. Sie trat zur Seite und ließ der Frau den Vortritt.

«Danke, Kindchen. Ab hier geht es wieder», sagte die Alte mit einem angestrengten Lächeln. Edith strahlte zurück und nickte. Sie sprang geschwind die Stufen hinab, um noch den Eimer hereinzuholen. Auf der Pestalozzistraße ratterte gerade ein schmucker Opel vorbei, wie Wilhelm ihn sich wünschte. Edith schaute dem Wagen hinterher. Die Glocke der nahen Trinitatiskirche schlug gerade zum vierten und letzten Mal. Edith hatte jetzt nur noch eine Stunde Dienst. Sie schnappte sich den Eimer und eilte zurück in den Laden.

«Frau Becker, was macht das Bein?», begrüßte Miriam Finkelstein die alte Frau und führte sie zum Tresen, wo sie sich auf die dicke Mahagoniplatte stützte.

Edith bewunderte die Frau des Apothekers, weil ihr Gesicht bis auf die Krähenfüße und Lachfältchen um den Mund ohne jede Schminke ebenmäßig glatt wirkte.

«Ach, Frau Finkelstein, ich sag Ihnen …», begann die Kundin. Es schloss sich ein wortreicher Krankenbericht über eine Wunde an ihrem Bein an, die auch nach Wochen der Behandlung nicht recht verheilen wollte. Miriam Finkelstein hörte ihr geduldig zu. Es ging um Wundflüssigkeit und Eiter, um offenes Fleisch und Fliegen, die sich daraufsetzten. Edith schüttelte es.

«Tanzen kann ich mit dem Bein nicht mehr», sagte die alte Frau Becker und lachte bitter.

Tanzen! Den Eltern hatte Edith gesagt, dass sie heute bei ihrer Freundin Gerda übernachten würde. Streng genommen stimmte das, aber dass die beiden sich vorher mit einer Gruppe Jungs in einer Tanzbar treffen wollten, hatte sie tunlichst verschwiegen. Einer davon war ihr Wilhelm. Er war nicht der beste Tänzer, aber in seinen Armen fühlte sie sich geborgen. Sobald sie an ihn dachte, durchfuhr ein wohliges Kribbeln ihren Leib. Wenn Wilhelm sie heute Abend küssen wollte, würde sie es zulassen. Edith biss sich erwartungsvoll auf die Lippen. Nur die Eltern durften nichts davon erfahren! Wenn es nach denen ginge, würde Edith wahrscheinlich noch mit 25 jeden Abend zu Hause sitzen und Tischdecken klöppeln. Vater war natürlich auch dagegen gewesen, dass seine Tochter bei einem jüdischen Apotheker arbeitete. Sie solle sich lieber fernhalten von diesem Pack. «Bei denen kommst du noch in die Bredouille», hatte er gesagt. Aber der Verdienst war gut, und sie brauchten das Geld. Und die Finkelsteins waren nette Leute, die ihr trotz des schlechten Zeugnisses aus ihrer vorigen Anstellung eine Chance gegeben hatten.

«Edith, kannst du Frau Becker den Stuhl holen, bitte?»

«Ja, Frau Finkelstein.»

Edith ging zum Korbstuhl beim Schaufenster. Sie nutzte die Gelegenheit für einen prüfenden Blick von innen. Auch hier waren keine Schlieren zu sehen! Obwohl draußen die Sonne schien.

Das Wetter war einfach großartig heute. Im April erwartete man in Berlin eher kalten Regen – es konnte sogar nachts noch bitteren Frost geben. Aber dieses Jahr war es richtig warm. Ein vorbeifahrender DKW bremste kräftig. Mehrere Jungs, die mit Eimern bepackt vor ihm über die Straße marschierten, pöbelten in Richtung des Fahrers. Der schimpfte zurück und gab Gas, als die Kerle aus dem Weg waren. Das gefiel ihr an ihrer Heimatstadt Berlin. Hier lebte man ganz ungeniert frei nach Schnauze.

«Edith, träumst du?»

«Oh, nein, Frau Finkelstein.» Schnell brachte sie der alten Frau den Stuhl und half ihr beim Hinsetzen.

Schwungvoll wurde die Ladentür mit einem erneuten Klingeln aufgestoßen. Ein groß gewachsener Kerl mit einem markant hervorstehenden Kinn kam herein. Er war einer der Jungs, die sie eben gesehen hatte. Die Seiten des Schädels waren geschoren, dunkelblondes, glattes Haar hing darüber. Er fuhr mit der Hand hindurch, um eine ins Gesicht gefallene Strähne zur Seite zu legen.

«Heil Hitler», bellte er und erhob den rechten Arm zum Gruß.

Edith bemerkte, wie die Miene ihrer Chefin sich verdüsterte.

«Guten Tag», gab sie kühl zurück.

Der junge Mann positionierte sich direkt neben der jetzt sitzenden Frau Becker, die ungerührt berichtete, dass sie zu allem Ärger mit dem Bein auch noch eine Blasenentzündung habe.

«Heil Hitler!» Diesmal ging der Gruß in Ediths Richtung.

«Heil Hitler», murmelte sie zurück. «Was kann ich für Sie tun?»

Der Mann war ungefähr in ihrem Alter, also um die zwanzig. Sein breiter Oberkörper steckte in einem braunen Hemd mit einer Schulterklappe auf der rechten Seite und glänzenden Silberknöpfen. Edith machte einen etwas jüngeren Rothaarigen aus, der durch die Glastür spähte. Auch der Rest der Gruppe versammelte sich jetzt vor der Apotheke.

«Wir sammeln Spenden für die Hitlerjugend.»

Edith bemerkte seinen Blick auf die Wölbung ihrer Bluse. Auf ihr Räuspern hin sah er ihr wieder in die Augen. Sein Grinsen zeigte keine Spur von Verlegenheit. Miriam Finkelstein atmete durch und bat Frau Becker um einen Moment Geduld.

«Hier», sagte sie knapp und legte ein paar Groschen auf den Tresen.

«Warte, Junge, ich gebe dir auch etwas», mischte sich Frau Becker ein. Sie kramte eine Mark aus ihrem Portemonnaie und legte sie dazu. «Für die Hitlerjugend.»

Der Mann blickte abschätzig über die Münzen. «Die Kundin gibt ’ne Mark und das Geschäft grade mal lumpige fünfzig Pfennige?», fragte er.

«Sie haben recht», sagte die Apothekerfrau nach kurzem Zögern. Sie öffnete die Kasse erneut, um eine weitere Mark zu den anderen Münzen dazuzulegen. «So, das muss reichen. Gehen Sie jetzt bitte!»

Der Kerl schob jede einzelne Münze quälend langsam zum Rand des Tresens und ließ sie von dort in seine offene Hand fallen. Als er alles Geld hatte, packte er es in seine Hosentasche.

«Wie heißt du, Kleine?», fragte er Edith.

Edith fühlte sich unter seinen Blicken wie gelähmt. Kleine. So hatte auch Gröbke, ihr voriger Chef, sie genannt, bevor er ihr einfach so an den Po gelangt und sie dann an sich gedrückt hatte. Edith war ihn kaum losgeworden. Als sie sich seiner Frau anvertraute, hatte die sie als liederliches Dreckstück beschimpft. Noch am gleichen Tag war sie hochkant rausgeflogen.

«Geh nach hinten, Edith, und sag dem Herrn Apotheker, dass er kommen soll.»

«Ja, Frau Finkelstein.» Edith war froh, sich den unverfrorenen Blicken des jungen Mannes entziehen zu können.

«Soll der Apotheker etwa meinetwegen kommen?», hörte sie ihn noch blaffen.

Der schwere Vorhang zum hinteren Bereich schluckte bereits jede Reaktion. In den tiefen Schubladen der deckenhohen Mahagonischränke lagerten die Medikamente, die regelmäßig benötigt wurden. Noch weiter hinten befand sich der Raum, in dem Salben gemischt und Pillen gepresst wurden. Von dort ging eine weitere Tür ab ins Büro von Josef Finkelstein. Edith klopfte vorsichtig.

«Ja?»

Der Apotheker war ein mittelgroßer, hagerer Mann, dessen knochigen Schädel ein weißer Haarkranz zierte. Er blickte Edith über den Brillenrand an, vor sich die Bücher und in der Hand einen Füllfederhalter.

«Ihre Frau möchte, dass Sie bitte vorkommen.»

«Was ist los?»

«Da ist so ein Junge, der sammelt für die Hitlerjugend. Er will einfach nicht gehen.»

Josef Finkelsteins Gesichtszüge verhärteten sich. Er setzte die Kappe auf den Füllfederhalter und legte ihn sorgsam auf den Tisch. Durch die Geschäftsräume erklang jetzt ein Klirren von zerberstendem Glas, gefolgt von einem erschrockenen Aufschrei seiner Frau.

Finkelstein eilte in Richtung Verkaufsraum. Edith packte aus einem Impuls heraus den Brieföffner vom Schreibtisch und verbarg ihn im Ärmel ihrer Bluse. Dann folgte sie ihrem Chef.

Der Mann war noch immer da. Er hatte bereits eine zweite braune Flasche ergriffen und hielt sie mit spitzen Fingern vor sich, als wolle er sie jeden Moment loslassen. Frau Finkelstein wich einen Schritt zurück, Frau Beckers Blicke wechselten entsetzt zwischen den beiden und den Scherben auf dem Boden hin und her. Die Flüssigkeit war klar wie Wasser, verbreitete aber einen alkoholischen Geruch.

«Was ist hier los?», fragte Josef Finkelstein mit seiner brüchigen Stimme.

«Erst mal Heil Hitler!», sagte der Kerl rotzig.

«Ich kenne dich», stellte der Apotheker überrascht fest. «Wie war noch der Name?»

Erkannt worden zu sein, schien den Burschen für einen Moment aus der Fassung zu bringen. Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht.

«Wie war noch der Name? Wie war noch der Name?», äffte er den Apotheker nach. «Ist doch scheißegal, wie ich heiße. Hauptsache ist, dass ich ein stolzer Deutscher bin, der sich um sein Land sorgt! Das zählt!»

«Hier braucht keiner besorgt zu sein», entgegnete Finkelstein nüchtern. «Stell die Flasche mit dem Peroxid zurück!»

«Benimm dich doch, Jungchen!», bat Frau Becker ihn von der Seite. Der Kerl schien verunsichert. Edith hoffte, dass er bald Ruhe geben würde. Zum Glück stellte er jetzt die braune Flasche auf dem Rand des Tresens ab.

«Das sind Juden», wandte er sich an die Alte.

Edith stellte fest, dass der Apotheker seiner Frau sorgenvolle Blicke zuwarf. Es gab sowieso nicht mehr viele jüdische Apotheken in Berlin.

Nun wandte sich der Unruhestifter an Edith. «Bist du auch eine von denen, Kleine? Siehst gar nicht so aus.»

«Ich bin keine …», begann Edith, wurde aber von Josef Finkelstein unterbrochen.

«Du bist Horst Kollmann!», rief er aus. «Du bist früher oft mit deiner Mutter und deiner Schwester hier gewesen.»

Ein erneutes Klingeln ließ alle zum Eingang schauen. Zwei weitere Jungs kamen herein. Der Rothaarige, der Edith vorhin an der Tür aufgefallen war. Er hatte ein völlig verpickeltes Gesicht und wog ein Kantholz in der Hand. Der andere war ein magerer Kerl mit Brille. Er hielt einen Wanderstock, an dem zahlreiche bunte Plaketten prangten. Allerdings nutzte er ihn nicht als Stütze, sondern präsentierte ihn wie eine Waffe.

«Wollen die Juden nichts rausrücken, Horst?», fragte der Rothaarige.

«Ich fordere Sie auf, meine Apotheke unverzüglich zu verlassen», bemerkte Josef Finkelstein. Das Zittern in seiner Stimme nahm seinen Worten jede Kraft.

«Und wenn wir das nicht machen?», fragte der Anführer und stieß auch die zweite Apothekerflasche vom Tresen. Sie zerschellte laut, und die durchsichtige Flüssigkeit spritzte umher.

Finkelstein wich zurück. Die beiden Neuankömmlinge lachten.

«Hört auf damit», maßregelte die alte Frau Becker.

«Ich glaube, die Oma sollte sich mal besser auf den Heimweg machen», sagte Horst Kollmann. «Kurti!»

Der Junge mit dem Wanderstock packte die alte Dame am Arm und zog sie vom Stuhl hoch.

«Lassen Sie die Frau los!», befahl Miriam Finkelstein, aber die Betroffene schüttelte hektisch den Kopf und sagte: «Ich gehe ja.»

«Brav, Oma. Und kauf in Zukunft bei Deutschen!», empfahl der schmächtige Junge.

«He, was macht ihr da?» Josef Finkelstein stürmte zum Schaufenster. Edith bemerkte es nun auch. Ein Kerl schmierte von draußen mit einem breiten Pinsel weiße Farbe auf ihre gerade eben schön geputzte Scheibe. «JUD», war schon in Großbuchstaben darauf zu lesen. Farbnasen tropften das Glas hinab. Der Apotheker pochte von innen gegen die Scheibe. Als Reaktion schlug der Schmierer von draußen mit dem weißen Pinsel gegen das Glas und erzeugte einen fetten ausgefransten Fleck. Durch die sich gerade schließende Eingangstür drang noch schadenfrohes Gelächter.

«Es sollen ruhig alle wissen, dass das hier ein Sauladen von Saujuden ist», sagte der Anführer und spuckte auf den Boden. Edith fand ihn ekelhaft.

Josef Finkelstein bewegte sich vorsichtig zurück zum Tresen. «Ich fordere Sie zum letzten Mal auf, meine Apotheke zu verlassen.»

«Sonst was, Jude?», rief der Rothaarige lauernd.

Der Apotheker stellte sich zu seiner Frau. Die Spannung in der Luft war fast greifbar. Ediths Hand umschloss den Brieföffner so fest, dass sie schmerzte.

«Sonst … sonst rufe ich die Polizei», sagte Finkelstein schließlich und schob seine Frau weiter zum Vorhang.

Sogar Edith erschienen seine Worte lächerlich. Selbst wenn es ihm gelänge, die Apotheke zu verlassen und die Polizei zu alarmieren, würde man diesen Horst und sein Gefolge bestenfalls wegschicken. Viel wahrscheinlicher war, dass dem jüdischen Apotheker am Ende noch größerer Ärger blühte.

«Du gehst nirgendwo hin. Schon gar nicht zur Polizei», stellte der Kerl klar. Er und sein Kumpan lachten. Frau Finkelstein schob den Vorhang zur Seite. Sie hielt jedoch inne, als der Rothaarige das Kantholz mit einem lauten Klatschen in seine Hand schlagen ließ. Horst Kollmann ballte die Fäuste. Beide machten einen Schritt auf den Tresen zu.

«Stopp!» Edith wurde erst jetzt bewusst, dass sie den Brieföffner wie ein Messer auf den Anführer gerichtet hielt.

«He, denkst wohl, du bist ein Wildkätzchen!», spottete er. Aber er hielt inne.

«Raus!», setzte Edith nach. Sie war überrascht, wie fest ihre Stimme klang, anders als sonst.

«Kind, lass es», bettelte Frau Finkelstein, doch schon schnellte Horst Kollmann vor, packte Ediths Handgelenk und drehte ihr den Arm schmerzhaft auf den Rücken. Es klirrte, als die improvisierte Waffe zu Boden fiel. Der Kerl schubste sie von sich. Edith prallte gegen eine Regalwand und stürzte hin. Mit großem Gerumpel fielen Seifen und Waschmittelpackungen auf sie herab.

Sofort kämpfte sich Edith wieder hoch und verschaffte sich einen Überblick. Der Rothaarige hielt sein Kantholz zum Angriff erhoben, und der Anführer befand sich wieder auf dem Weg zu dem Apothekerpaar. Er wandte ihr den Rücken zu. Ihr Denken war wie ausgeschaltet. Sie handelte nur noch aus einem Instinkt heraus.

Edith rannte los und schlug Horst Kollmann mit der Faust von hinten gegen den Kopf. Sie traf ihn an der Schläfe. Der große Mann stoppte im Schritt, begann zu taumeln und hielt sich an der Ecke des Tresens fest.

Schon dachte Edith, gewonnen zu haben, da hörte sie erneut die Klingel der Eingangstür. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis ihr bewusst wurde, was das bedeutete. Jetzt kamen auch noch die anderen rein! Und sie würden mit keinem von ihnen zimperlich umspringen, nicht nachdem sie ihren Anführer geboxt hatte.

Edith spürte Tränen der Wut und der Enttäuschung in sich aufsteigen. Wut über ihre Hilflosigkeit der Übermacht gegenüber und Enttäuschung über die verlorene Gelegenheit, heute von Wilhelm geküsst zu werden.

Stürmer

Berlin, Freitag, 17. April 1936

«Lassen Sie uns bitte hier raus, Reuseneck!», sagte Hermann zu seinem Fahrer.

«Gerne, Herr Schmidt.»

Der kleine, rundliche Chauffeur trug eine Nickelbrille. Seine Fahreruniform war tadellos gebügelt und sein zurückgekämmtes Haar mit Pomade fixiert.

«Ich warte dann am Bahnhof Charlottenburg auf Sie», sagte er.

Hermann wusste, dass er die Zeit bis zu ihrer Ankunft nutzen würde, um jedes Insekt von der Windschutzscheibe und der Stoßstange des Mercedes-Benz 170 zu kratzen und die Kühlerhaube zu polieren. Im Ministerium kursierte die Legende, dass Reuseneck sogar mitten in der Nacht aufstand, um nach dem Wagen zu sehen.

Reuseneck hielt an einem freien Platz vor dem Gloria-Palast. Hermanns Assistent, Emil Penske, stieg eilig aus, um seinem Vorgesetzten und den sie begleitenden Presseleuten die Tür aufzuhalten.

«Und wo sind wir hier genau?», fragte der Reporter mit hessischem Einschlag. Den Namen des Mannes mit Glatze und altmodischem Backenbart konnte Hermann sich einfach nicht merken, obwohl er schon einmal nachgefragt hatte. Etwas Französisches. Er schrieb für die Frankfurter Zeitung, ein liberales Blatt, das sich schon mehrfach über Vorgaben des Propagandaministeriums hinweggesetzt und deswegen einige scharfe Rügen der Kollegen der Abteilung Presse abbekommen hatte. Da hieß es, vorsichtig zu sein.

Der Reporter stieg schnaufend aus dem Wagen. Der zu ihm gehörende Fotograf, ein sportlicher Mann mit einer NSDAP-Mitgliedsnadel am Revers, folgte ihm. Er hieß Dremberg, das immerhin hatte Hermann sich gemerkt.

«Der Kurfürstendamm», präsentierte Hermann mit Stolz in der Stimme, als sie zu dritt auf dem breiten Trottoir standen. Eine Vorstellung im Gloria-Palast war wohl gerade zu Ende, denn viele Leute, meist jüngere, strömten schwatzend aus dem Gebäude. Andere standen vor den meterhohen, gemalten Plakaten und überlegten, welchen Film sie sich heute Abend ansehen sollten. Der Raub der Sabinerinnen wurde schon seit mehreren Wochen gegeben und zog immer noch Publikum an. Heißes Blut, der neue Film mit Ufa-Sternchen Marika Rökk, war gerade angelaufen. Minister Goebbels hatte von dem Film und seiner Hauptdarstellerin nach einer persönlichen Vorpremiere in höchsten Tönen geschwärmt.

Auch sonst war gerade einiges los auf dem Ku’damm. Die zahlreichen Cafés hatten bei dem erstaunlich schönen Frühlingswetter die Tische nach draußen gestellt. Daran saßen verliebte Paare, plappernde Freundinnen oder Herren mit Zigarren und genossen die Sonne. Zwischen den Sitzplätzen und der Fahrbahn flanierten Damen mit modischen Hüten und wurden von einfach gekleideten Kerlen überholt, denen es pressierte, zurück zur Arbeit zu kommen. Mütter zogen ihre Kinder hinter sich her, und Geschäftsleute gingen in Gespräche vertieft an ihnen vorbei. Zwischen den Autos und Lastern nahmen mutige Fußgänger mit Papiertaschen voller Einkäufe eine Abkürzung auf die andere Straßenseite.

«Das ist also der berühmte Ku’damm!», rief der Reporter begeistert. «Ja, wo sind sie denn?»

«Wer?», fragte Penske verwundert.

«Na, die Kühe?»

Hermann fiel angestrengt in das kehlige Lachen des Journalisten ein und sagte dann gleich wieder ernst und zum eigentlichen Zweck ihres Ausflugs kommend: «In die Bäume wollen wir Lautsprecher hängen, um die Ergebnisse der Wettkämpfe direkt hierher übertragen zu können.»

Der Journalist kramte seinen Block hervor und kritzelte im Gehen ein paar Notizen hinein.

«Und was ist damit?», fragte er mit einem Wink auf einen Stürmer-Kasten, an dem sie vorbeikamen. «Ich habe gehört, das Blatt soll ebenfalls für die Zeit der Olympischen Spiele verbannt werden.»

Eine Handvoll Leute stand vor dem Glaskasten und regte sich über den aktuellen Aufmacher der Zeitung auf. Ein jüdischer Geschäftsmann hatte sich demnach mit Betrügereien am Volk bereichert und dabei noch einem jungen deutschen Mädchen Gewalt angetan. Eine übertriebene Zeichnung eines alten, hakennasigen Mannes mit gehässigem Grinsen zierte das Titelblatt.

Hermann bezweifelte, dass sich alle Stürmer-Geschichten wirklich so zugetragen hatten wie geschildert. Er hatte im Laufe seines Lebens einige Juden kennengelernt, die fraglos als ehrenwert zu bezeichnen waren. Seine in Amerika lebende Schwester war sogar glücklich mit einem verheiratet. Ihr David war ein wirklich guter Mann. Der Stürmer allerdings präsentierte nur negative Nachrichten. Das Blatt arbeitete bewusst mit Übertreibungen in die eine Richtung und Auslassungen in die andere und zielte darauf ab, Angst und Hass zu schüren. Hermann mochte diese Form des Vorgehens nicht. Nach seinem Verständnis sollte Propaganda im besten Fall durch das Erzeugen positiver Gefühle wirken. Aber das würde er diesem Zeitungsmenschen nicht auf die Nase binden.

Dass man es Hermann aufgebrummt hatte, den Journalisten durch Berlin zu führen und ins Stadion zu bringen, lag zum einen daran, dass er als Referatsgebietsleiter Fremdenverkehr Hauptstadt und Mitglied des Propagandaausschusses einen thematisch weiten Überblick über die Planung rund um die olympischen Spielstätten in Berlin besaß. Im Ministerium bildete er eine Schnittstelle zwischen mehreren Abteilungen und arbeitete eng mit dem Innenministerium und dem deutschen Organisationskomitee zusammen. Dazu kam, dass Hermann auch bei schwierigen Gesprächspartnern stets die richtigen Worte zu finden wusste. Die Frage nach den Stürmer-Kästen überraschte ihn zwar, da dieser Teil der Planung noch nicht veröffentlicht worden war, aber er machte gute Miene zum bösen Spiel.

«Es gibt tatsächlich Überlegungen, die Stürmer-Kästen in Berlin zeitweise abzumontieren», antwortete er so beiläufig wie möglich.

«Warum wollen Sie die Kästen entfernen?», bohrte der Hesse weiter.

«Wie ich es Ihnen schon im Ministerium erklärte, wollen wir, dass sich das Deutsche Reich – und im Besonderen Berlin – der Welt in einem positiven Licht präsentiert», antwortete Hermann. Seine Ahnung, welche Frage nun folgen würde, wurde nicht enttäuscht.

«Der Umkehrschluss wäre also, dass der Stürmer Berlin in ein schlechtes Licht rückt?»

Langsam ärgerte Hermann sich über den Pressemann.

«Der Stürmer hat seine Berechtigung als Medium, seinen Lesern seine Themen nahezubringen. Genauso wie Ihre Zeitung», sagte er betont ruhig. «Aber das Ministerium hat beschlossen, dass wir die Einheit des deutschen Volkes und nicht die Konflikte in den Mittelpunkt unserer Funktion als Gastgeber der Spiele stellen wollen. Darum soll innerdeutsche Politik im Sinne des olympischen Gedankens im Umfeld der Wettkämpfe keine Rolle spielen.»

Während der Journalist sich Notizen in den Block kritzelte, knipste sein Fotograf die Gruppe vor dem Stürmer-Kasten.

«So, jetzt sollten wir aber weitergehen. Die Stürmer-Kästen werden in Ihrem Bericht sowieso keine Rolle spielen.»

Hermann sah dem Journalisten an, dass er sich diese Vorgabe nicht ohne Weiteres gefallen lassen würde.

«Ich kann mir vorstellen, dass das unsere Leser aber durchaus interessieren wird», sagte er.

Hermann lächelte ihn liebenswürdig an, als verteile er Zuckerstangen an Kinder. Er sagte: «Und ich kann mir vorstellen, dass die Frankfurter Zeitung und ihr Verleger es sich nicht schon wieder mit dem Reichspropagandaministerium verderben möchten.»

Der Journalist schluckte trocken. Er dachte einen Moment nach, dann sagte er: «Herr Schmidt, ich möchte Sie etwas fragen.»

«Nur zu.»

«Sind Sie nicht auch der Überzeugung, dass eine freie, unabhängige Presse ein wichtiges Gut für eine Gesellschaft ist? Insbesondere in den modernen Zeiten, in denen wir leben?»

Hermann wies mit der Hand nach rechts. Sie bogen ab in die Knesebeckstraße.

«Die deutsche Presse ist frei», sagte er schließlich bestimmt und fügte an: «Aber diese Freiheit darf niemals über die Verantwortung gestellt werden, im Interesse des deutschen Volkes zu handeln.»

Der Journalist blickte Hermann lauernd von der Seite an. «Und was im Interesse des Volkes ist, das entscheiden Sie?»

Hermann blieb wie angewurzelt stehen.

«Dafür haben wir unseren verehrten Führer, der die Geschicke unserer Nation wie ein Vater steuert und lenkt», stellte er kühl fest. «Ich hoffe, Ihre Bemerkungen zielen nicht in die Richtung, seine Führung infrage zu stellen?»

«Selbstverständlich nicht!», wiegelte der Reporter entschieden ab und wedelte abwehrend mit der freien Hand. «Nichts läge mir ferner.»

«Dann verstehen wir uns ja», sagte Hermann.

Sie gingen unter der Bahnbrücke auf den Savignyplatz und überquerten die Kantstraße. Auf der nördlichen Seite der Grünfläche zeigte Hermann den Besuchern die Skulpturen, bevor sie die Häuserschlucht der nördlichen Knesebeckstraße betraten.

«Hier sehen Sie ein gutes Beispiel für die Anstrengungen, zu den Spielen ein schöneres Berlin zu präsentieren», erklärte Hermann und zog die graue Weste zurecht, die zu seinem Anzug gehörte. Er zeigte auf eines der Gebäude. In den Türsturz des Mehrfamilienhauses war das Baujahr 1903 eingemeißelt. «Nach 33 Jahren war der Putz gesprungen und die Farbe kaum noch zu erkennen. Nach den Malerarbeiten sieht es jetzt aus wie neu.»

Der Journalist nahm den Themenwechsel dankbar an.

«Ja, das macht einiges her», sagte er. «Sie können aber doch nicht alle Häuser renovieren?»

«Natürlich sind wir auf die Eigentümer angewiesen», gab Hermann zu. «Und die Zeit ist knapp. Es sind keine vier Monate mehr, bis die Spiele eröffnet werden.»

«Dremberg, vielleicht könnten wir hier ein Porträt von Herrn Schmidt schießen?»

«Gerne, Herr Bouchard», sagte der Fotograf.

Bouchard. Das war der Name. Hermann prägte ihn sich ein, während der Fotograf ihn vor dem Haus postierte. Mit einem Belichtungsmesser nahm er die Helligkeit ab und wies Hermann an, noch ein Stück weiter zur Seite zu rücken. Dann stellte er scharf und drückte ab. In dem Moment öffnete sich die Tür des Hauses hinter ihm.

«Was gibt’s denn hier zu fotografieren?», hörte Hermann eine schnodderige Frauenstimme.

«Wir machen gleich noch ein Bild», kündigte Dremberg an.

Hermann drehte sich um. Die Frau trug eine zerknitterte Kittelschürze und einfache Schlappen.

«Bouchard von der Frankfurter Zeitung», stellte sich der Journalist vor und schob sie fürs zweite Foto zur Seite. «Sie wohnen hier?»

Hermann nahm wieder Position ein und setzte sein Zeitungslächeln auf.

«Dann sind Sie bestimmt froh, dass Ihr Haus wieder so schön geworden ist?», fragte Bouchard.

«Hör bloß auf!», polterte das Weib los. «Nur die Fassade haben sie angestrichen. Drinnen, da wäre es nötig gewesen, was zu machen.»

Hermann spürte, wie ihm das Lächeln gefror.

«Und durchs Dach tropft’s auch!», warf sie nach.

Endlich drückte Dremberg ab. Hermann wandte sich zu der Frau und sagte: «Soweit ich informiert bin, war der neue Anstrich nur der Anfang umfangreicher Arbeiten, die auch im Haus stattfinden sollen.»

«Das sagen sie immer, aber was wird dann gemacht? Nichts!» Die Frau winkte ab und eilte vor sich hin schimpfend davon.

«Es gibt Leute, die nie zufrieden sind», sagte Hermann abwiegelnd. Bouchard nickte.

«Das hab ich gehört!», rief die Frau.

«Jetzt hau endlich ab», zischte Penske ihr zu.

«Gehen wir!», sagte Hermann. Sie bogen in die Goethestraße und gingen an der Trinitatiskirche vorbei Richtung Bahnhof.

«Neben Tausenden von Sportlern, Trainern, Betreuern und Funktionären erwarten wir Zehntausende Gäste aus aller Welt», erklärte Hermann routiniert. «Berlin wird ein Aushängeschild für das ganze Reich sein und unser Land im Ansehen der Völker weit nach vorne bringen.» Er war froh, die Lage wieder unter Kontrolle zu haben.

«Was ist denn das?», fragte der Fotograf.

«Was?»

Aller Augen folgten seinem ausgestreckten Arm.

«JUD» stand in Großbuchstaben auf dem Schaufenster einer Apotheke. Ein aufgequollener Jugendlicher setzte gerade zum «E» an. Die Farbe lief in langen Nasen vom krakeligen Schriftzug die Scheibe herab und versaute das Trottoir.

Hermann verengte die Augen wütend zu schmalen Schlitzen.

«Penske!», fauchte er seinen Assistenten mit eiskalter Stimme an.

«Ich kümmere mich sofort darum», erwiderte der Angesprochene. Er wartete einen brummenden Lastkraftwagen ab, dessen Dieselwolke sie einnebelte, und lief schräg über die Straße.

Vier weitere Jungs feuerten den Schmierer an, ungelenke Kerle, deren Körper im letzten Jahr schneller gewachsen waren als ihr Geist. 13 bis 15 Jahre alt, schätzte Hermann. Zwei von ihnen trugen die Uniform der Hitlerjugend. Ein weiterer Junge führte eine alte Frau weg.

«So werden Sie die Besucher aus dem Ausland aber nur schwerlich beeindrucken», sagte Bouchard und konnte einen spöttischen Unterton in seiner Stimme nicht verbergen.

«Dieser Vorfall wird in Ihrem Bericht selbstverständlich keinerlei Erwähnung finden», entgegnete Hermann entschieden. Er verfluchte seine Idee, mit dem Journalisten ein Stück des Weges spazieren zu gehen.

«Herr Schmidt!», drang Penskes Ruf Hilfe suchend über die Straße.

Hermann wandte sich ihm zu. Er war umringt von den Jungen und winkte ihn mit hastigen Zeichen zu sich.

«Sie warten hier!», befahl er dem Reporter und machte sich auf den Weg. Erst im letzten Monat war das Gesetz über die Verpachtung und Verwaltung öffentlicher Apotheken erlassen worden, mit dem Ziel, dass Juden keine Apotheken mehr leiten durften. Sie wurden damit gezwungen, ihre Geschäfte zu verkaufen oder einen arischen Pächter zu finden. «Rosen-Apotheke» stand über dem Fenster und an der Tür.

Hermann machte durch das Fenster mehrere Personen im Inneren aus, während Penske auf die Jungen einredete.

«Schluss mit der Schmiererei!», dröhnte er mit befehlsgewohnter Stimme. «Wer hat hier das Sagen?»

Penske wirkte erleichtert, denn mit Hermanns Erscheinen und entschiedener Autorität wurden die Jungen plötzlich winzig klein mit Hut.

«Aber es sind doch Juden», krächzte ein Knabe. Er befand sich mitten im Stimmbruch.

«Der Führer will, dass Berlin für die Olympiade sauber ist. Es wird also nicht mehr geschmiert, weder bei Juden noch bei Deutschen», erwiderte Hermann streng. Er machte sich im Kopf eine Notiz, die Reichsjugendführung anzuweisen, auf ihre Jungen einzuwirken.

In dem Moment drang aus der Apotheke ein lautes Poltern. Hermann wartete nicht ab, sondern nahm die Stufen und drückte die Tür auf.

Mit dem Bild, das sich ihm hier bot, hatte er nicht gerechnet. Ein halbwüchsiger Rothaariger hielt ein Kantholz erhoben und bedrohte ein älteres Paar, wahrscheinlich die Apotheker. Ein anderer junger Mann wollte gerade auf ein Mädchen einschlagen.

«Halt! Sofort!», brüllte Hermann.

Seine Rufe sorgten dafür, dass die Szenerie für einen Moment wie eingefroren wirkte. Dann wandten sich ihm alle Gesichter zu. Der älteste der Jungen trug ein ausgewaschenes SA-Hemd. Die Verstimmung in seinem Blick war nicht zu übersehen. Zu seinen Füßen lagen Scherben in einer Flüssigkeit. Er stieß das Mädchen gegen ein Regal, zu dessen Fuß bereits mehrere Schachteln lagen. Sie schrie vor Schmerz, als sie dagegenprallte.

«Schluss, habe ich gesagt!», schrie Hermann.

Der Kerl stürmte plötzlich mit wütenden Schritten auf ihn zu. Er war sicher zehn Jahre jünger als Hermann, überragte ihn jedoch um eine Handbreit. Hermann blieb trotz der kaum gezügelten Angriffslust regungslos stehen. Nur mit dem Zeigefinger der rechten Hand gab er dem Mann ein warnendes Zeichen. Sein ruhiges und gefestigtes Auftreten zeigte Wirkung. Kurz vor ihm hielt der Kerl an. Hermann spürte sein Herz rasend schnell schlagen, ließ es sich aber nicht anmerken.

«Und wer bist du?», wollte der junge Mann wissen. Das Mädchen stand derweil mit der Hilfe des hageren Apothekers auf.

«Hermann Schmidt, Referatsgebietsleiter Fremdenverkehr Hauptstadt im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda», schoss Hermann Silbe für Silbe wie Maschinengewehrfeuer heraus, dem Anführer direkt ins Gesicht.

«Und was mischen Sie sich hier ein?», fragte dieser nun deutlich weniger großtuerisch. Hermann konnte Unsicherheit in seinen Augen erkennen.

«Bitte helfen Sie uns!», schluchzte das Mädchen aus dem Hintergrund.

Hermann gab dem Mann einen Wink zurückzutreten. Nach kurzem Zögern kam er der Aufforderung nach.

«Wie heißt ihr beide?»

Die beiden jungen Männer blickten sich unsicher an.

«Ich bin Horst, das ist Erwin», antwortete der Ältere. Der Rothaarige nickte.

«Ich brauche die Nachnamen», beharrte Hermann.

«Wozu?»

«Die Nachnamen!»

«Er heißt Kollmann», sagte der Apotheker in die Pause.

«Sie halten sich da raus!», befahl Hermann streng. Wie dumm konnte man sein? Als Jude musste er doch wissen, dass er sich besser bedeckt halten sollte. Wie zur Bestätigung von Hermanns Gedanken wandte sich Kollmann mit einem vernichtenden Blick zu ihm um.

«Und du?», versuchte Hermann, von dem Juden abzulenken.

«Rebkowicz», murmelte der Rothaarige.

«Also Erwin Rebkowicz und Horst Kollmann», wiederholte Hermann.

«Wir wollten eigentlich nur Spenden sammeln für die Hitlerjugend», sagte Rebkowicz.

«Genau», bestätigte Kollmann. «Ist doch nicht verboten.»

Hermann ließ sie stehen und schritt über die Scherben zu dem Mädchen. Sie weinte, schien aber nicht verletzt.

«Ihre Tochter?», fragte er die Apothekerfrau, die den Blick hob, aber den Kopf schüttelte.

«Sie ist eine Hilfskraft, mein Herr.»

«Sie sind alle drei Juden?», fragte Hermann.

«Wir sind …», begann der Mann und setzte dann neu an: «Meine Frau und ich sind Deutsche jüdischen Glaubens, mein Herr.»

«Und ich bin überhaupt gar nicht jüdisch», versicherte das Mädchen eifrig.

Hermann nickte und wandte sich um. Durch die Scheibe machte er draußen den Journalisten im Gespräch mit dem feisten Schmierer aus. Penske war damit beschäftigt, sich dem Fotografen ins Bild zu stellen. Verdammt. Dass der Junge sich einfach nicht durchsetzen konnte!

«Also, warum hast du das Mädchen gestoßen?»

«Sie hat mich angegriffen. Da, mit dem Ding.» Kollmann zeigte auf einen zwischen den Scherben liegenden Brieföffner.

«Ihr könnt weiter für die Hitlerjugend sammeln. Lasst nur in Zukunft jüdische Geschäfte aus. Die Apotheke wird sowieso bald geschlossen, weil Juden keine Apotheken mehr führen dürfen.»

«Richtig so!», rief der Rothaarige. «Wer weiß, was die uns für Gifte untermischen.»

Hermann brachte ihn mit einem Fingerzeig zum Schweigen. «Im Rahmen der anstehenden Olympiade möchte der Führer, dass das Deutsche Reich bei seinen Gästen aus aller Welt einen guten Eindruck hinterlässt. Solche Schmierereien sind ab sofort zu unterlassen. Und jetzt seht zu, dass ihr Land gewinnt. Wenn ich euch noch einmal erwische, läuft das nicht mehr so glimpflich ab.»

Die beiden verschwanden auf Hermanns Wink nur zu gerne. Das Klingeln der sich schließenden Tür ließ die Spannung im Raum abfallen.

Hermann wandte sich an den Apotheker: «Sie sorgen gefälligst dafür, dass diese Schmierereien unverzüglich gesäubert werden!»

«Ja, mein Herr», sagte der Mann und fügte hinzu: «Danke, dass Sie uns geholfen haben.» Er hielt ihm die Hand hin.

Hermann schlug nicht ein. Er nickte dem Mädchen zu, drehte sich um und folgte den beiden Kerlen nach draußen. Penske, Bouchard und Dremberg erwarteten ihn. Die Jungs machten sich schon aus dem Staub.

«Gehen wir weiter», befahl er so scharf, dass Bouchard und die anderen ihm ohne Fragen folgten. Doch das hielt nicht lange an.

«Worum ging es da drinnen …», begann der Journalist.

«Um nichts, was für Sie von Interesse wäre», fiel Hermann ihm ins Wort. «Das waren einfach Rabauken, die mit Ihrem Bericht nichts zu tun haben. Jungs. So sind sie eben.» Er bemühte sich, wieder zu lächeln.

Am Bahnhof Charlottenburg wartete Reuseneck auf sie. Der Chauffeur hatte das Verdeck des 170er Mercedes-Benz geöffnet. Wenn er das tat, konnte man sicher sein, dass es trocken blieb. Mit einem weißen Tuch polierte er inbrünstig eine Stelle auf der Kühlerhaube. Als er Hermann bemerkte, steckte er das Tuch schnell weg und beeilte sich, seinen Fahrgästen die Türen zu öffnen.

«Zum Stadion», sagte Hermann. «Haupteingang.»

Palindrom

Berlin, Freitag, 17. April 1936

Wenn Leni Riefenstahl unzufrieden war, zuckten ihre Augenlider angespannt wie die einer Raubkatze, die ihre Beute vor dem Sprung fixiert. Und ihr Opfer hieß gerade Anna Kollmann.

Anna war seit zwei Wochen als Hilfskraft bei der Olympia-Film GmbH der Riefenstahl-Geschwister angestellt. Sie erledigte, wofür die anderen Mitarbeiter zu wichtig waren: Sie besorgte der Regisseurin bei schlechtem Wetter einen Regenschirm, trug ihrem Bruder Heinz Papiere zum Paraphieren hinterher, kochte Kaffee für die Kameraleute und die zahlreichen Besucher oder saß, wie heute, stundenlang im Sand der Weitsprunggrube im Olympiastadion. Lichtproben. Weil endlich eine wärmende Sonne über Berlin stand. Anna hatte sich die Arbeit beim Film glamouröser vorgestellt.

Seit sie dem Aushang an der Universität gefolgt und nach einem kurzen Gespräch angestellt worden war, hatte sie Leni Riefenstahls Launen schon ein paarmal zu spüren bekommen. Das kleinste Rad musste sich immer am schnellsten drehen.

«Das geht so nicht, Fräulein Kollmann», insistierte die Riefenstahl. Ihre sonst etwas nasale Stimme nahm die Schärfe eines frisch geschliffenen Messers an.

Anna wich unwillkürlich einen Schritt zurück.

Die Regisseurin ließ ihre weiße Jacke ins junge Gras neben der rötlichen Aschenbahn fallen, ganz in der Nähe von Annas Bildermappe. Darunter kam eine strahlend weiße Bluse mit taillierter Tweedweste über einer dunklen Marlene-Hose zum Vorschein. Ihr süßes Parfum konnte einen anderen, säuerlichen Geruch nicht ganz überdecken. Der Termin mit den Funktionären des Weitsprungverbands war ihr offenbar doch nähergegangen, als sie es sich anmerken lassen wollte. Doch die Wasserwellen auf ihrem Kopf waren so steif, dass die leichte Frühlingsbrise im Olympiastadion kein Haar in Bewegung bringen konnte.

«Ich habe in den letzten beiden Wochen jeden Tag zwei Stunden mehr gearbeitet, als ich Lohn bekomme», argumentierte Anna.

«Ach Gott!», ließ sich die Riefenstahl theatralisch aus. «Das Fräulein ist überanstrengt!»

«Ich muss heute einfach pünktlich los», setzte Anna nach. «Ich habe noch was vor.»

Die Regisseurin schüttelte voller Unverständnis den Kopf. «Wenn Sie es als Künstlerin zu etwas bringen wollen, kommen Sie mit Dienst nach Vorschrift nicht weit.»

«Ja natürlich, aber …»

«Unterbrechen Sie mich nicht!», nahm Leni Riefenstahl ihr mit erhobenem Zeigefinger das Wort. «Ich habe als junges Mädchen beschlossen, Tänzerin zu werden. Wissen Sie das?» Sie wartete keine Antwort ab, denn alle wussten das. «Und ich habe jede Minute trainiert. Mein Vater ist ein einfacher Handwerker. Der hatte keinen Sinn dafür, dass seine Tochter Tänzerin werden wollte. Aber auch als ich in seinem Betrieb als Sekretärin arbeiten musste, habe ich vor der Arbeit trainiert, währenddessen unter dem Schreibtisch Tanzschritte geübt und bin danach ins Studio.»

«Es ist wirklich nur heute», sagte Anna etwas kleinlauter.

«Wir müssen das Licht ausnutzen.» Die Regisseurin schnitt mit der rechten Hand durch die Luft, um deutlich zu machen, dass die Diskussion beendet war.

Der Schatten der Tribüne näherte sich dem Sandplatz der Weitspringer unbarmherzig und würde den Lichtproben ohnehin in spätestens einer halben Stunde ein Ende bereiten.

«Ich habe eine wichtige Verabredung», preschte Anna noch einmal vor.

Leni Riefenstahls Blick wurde weicher. «Wenn er der Richtige ist, dann wartet er auf Sie», sagte sie und strich Anna zart über die Wange. Scharf fügte sie an: «Los! Zurück in den Sand!» Leichtfüßig und mit mädchenhaftem Lachen lief sie zu Walter Frentz hinüber und kniete sich hinter den Kameramann, der im Schneidersitz im Gras neben der Weitsprunggrube saß. Mit einem Blick über seine Schulter kontrollierte sie die Position der auf einem niedrigen Stativ befestigten Kamera, die den Sprung der Sportler im Schwenk einfangen sollte. Das Objektiv bewegte sich vom Absprungpunkt bis zur Sandgrube, um schließlich dort zu verharren, wo Anna eigentlich stehen sollte.

«Anna!», rief Wolfgang Brüning auffordernd. Leni Riefenstahls persönlicher Assistent war erst zwanzig und damit vier Jahre jünger als Anna und 13 Jahre jünger als die Riefenstahl. Es war offensichtlich, dass Wolfgang nicht nur bei der Arbeit ihr Liebling war. Sie ließ ihn morgens von ihrem Fahrer abholen, und abends sprang er manchmal auf einen Wink zu ihr ins Auto. Stets sah er sie an wie ein verliebter Welpe.

Anna fand es durchaus in Ordnung, dass eine Frau sich die gleichen Rechte herausnahm, die Männer schon immer zu besitzen glaubten. Sie selbst hatte die 1920er-Jahre nur als Mädchen mitbekommen. Aber was man so hörte, musste es verrückt zugegangen sein.

«Träumst du?» Wolfgang winkte ihr erneut.

Anna lief unter dem missbilligenden Kopfschütteln der Regisseurin in die Grube und ging bei der Acht-Meter-Markierung in die Hocke. Wolfgang schenkte ihr ein Lächeln und einen erhobenen Daumen. Der Kameramann sagte Blendenwerte und Zeiten an, die der Assistent in seine Kladde notierte. Die Riefenstahl überließ nichts dem Zufall.

Frentz verrückte die Position der Kamera um einen Meter, und die Prozedur wiederholte sich. Anna verfolgte derweil ungeduldig den Schatten, der über den Rasen Richtung Weitsprunggrube kroch.

Sie waren nicht die einzige Gruppe, die Lichtproben vornahm. Zwei Kameraleute arbeiteten auf der Tribüne, und eine weitere Gruppe filmte im Bereich der Hochspringer. Der Assistent, der den Springer mimte, kauerte auf einer Klappleiter. Klein und verloren wirkte er in dem kolossalen Oval, das höher als die Häuser in Berlin-Mitte emporwuchs. Anna ließ ihren Blick weiter durch das Stadion wandern. Der Boden war tief in die Erde des Olympiageländes einmodelliert. Wie in einem römischen Amphitheater reihten sich die Sitze versetzt nach oben. Hunderttausend Menschen fanden auf den Rängen Platz. Obwohl sie seit zwei Wochen regelmäßig hier ein und aus ging, stockte Anna beim Anblick des monumentalen Bauwerks noch immer der Atem.

Hitler hatte beschlossen, dass anstelle des alten Stadions ein neues, modernes entstehen sollte. Erst vor zwei Jahren hatten die Bauarbeiten begonnen, ein echter Kraftakt. Tausende Arbeiter hatten im Schichtbetrieb das alte Stadion abgerissen, das Reichssportfeld umgestaltet und den Neubau errichtet. Und auch heute gab es noch viel zu tun, damit hier am 1. August die besten Athleten aus aller Welt zur Eröffnungsfeier auflaufen und dann in den Wettkämpfen gegeneinander antreten konnten.

Wohin Anna auch schaute, überall sah sie Handwerker. Ihre Rufe und der Lärm ihrer Maschinen und Werkzeuge waren allgegenwärtig. Einige montierten Reihe um Reihe die Sitze oder brachten Leuchten an. Am Marathontor wurde ein letztes Stück der Treppe fertiggestellt. Ein Kran neben dem Stadion hob ein Bündel mit Fahnenmasten über den Rand, die später die Zinne des Stadions schmücken sollten. Der Rasen wirkte noch spärlich und musste geschont werden. Laufen war verboten.

«Das war’s», hörte Anna von rechts. Der Schatten hatte die Lichtproben für den Hochsprung erreicht. Jetzt hatten sie höchstens noch ein paar Minuten. Schließlich half alles Antreiben von Leni Riefenstahl nicht weiter. Die Sonne verkroch sich hinter der Zinne. Im Schatten wirkte es gleich ein bisschen kühler.

«Wir machen am Montag hier weiter», rief Leni Riefenstahl. «Fräulein Kollmann!»

Anna wollte gerade in die andere Richtung verschwinden, aber den Ruf der Regisseurin konnte sie nicht übergehen.

«Ja?»

«Ich frage mich seit unserem Gespräch eben, ob Sie eigentlich erfassen, worum es hier geht.»

«Sie meinen den Film?», fragte Anna verunsichert.

«Filme, Mädchen. Es werden zwei Filme!»

«Ja, zwei Filme.»

«Es geht aber nicht einfach nur um Filme. Es geht um meine künstlerische und gesellschaftliche Reputation. Ich habe lange gezögert, als das Internationale Olympische Komitee mich davon überzeugen wollte, die Olympiade zu verfilmen. Die künstlerischen Chancen sind groß, aber das Risiko zu scheitern ist gewaltig. Verstehen Sie mich?»

«Ja, Frau Riefenstahl.»

«Und ich kann niemanden gebrauchen, der das Projekt auf die leichte Schulter nimmt.»

«Es ist wirklich nur heute, Frau Riefenstahl.»

Der Blick der Regisseurin wurde gnädiger. «Ja, für heute ist es gut. Aber heute ist nicht alle Tage. Merken Sie sich das!»

Aus den Augenwinkeln bemerkte Anna, dass Wolfgang sich ihrer Mappe näherte und sich danach bückte.

«Lass die liegen! Das ist meine», rief sie ihm zu.

Die Augen der Riefenstahl verengten sich wieder. Aber bevor sie etwas sagen konnte, brachte Anna vor: «Vielen Dank! Wie gesagt: Es soll auch wirklich nur heute sein. Wolfgang!»

Leni Riefenstahls persönlicher Assistent hob trotz Annas Mahnung die Kunstmappe an, die aus weinrot überzogener Pappe bestand und mit zwei schwarzen Bändern verschlossen war. Er grinste in ihre Richtung und kam auf sie zu. Über dem Arm trug er bereits die Jacke der Regisseurin.

Er reichte Anna die Mappe und half der Riefenstahl in die Jacke.

«Damit Sie sich darauf einstellen können», sagte die Regisseurin, «ich brauche Sie am Montag, Dienstag und Donnerstag. Schönes Wochenende.»

«Schönes Wochenende», entgegnete Anna. Dann atmete sie tief durch. Sie hatte es geschafft. Mit einem Winken verabschiedete sie sich von Walter Frentz und prüfte noch einmal ihre Mappe. Gut verschlossen. Dann schnell. Leopold wartete sicher schon auf sie.

 

Solange sie den jungen Rasen überqueren musste, ging sie vorsichtig. Kaum aber hatte sie die Aschenbahn erreicht, lief sie los. Sie fühlte sich fast wie eine Athletin, hörte regelrecht die jubelnde Menge und sah das Zielband vor sich. Bevor sie es erreichte, bog sie allerdings ab und nahm die Treppe in den Rang, immer zwei Stufen auf einmal. Hier waren die Arbeiten noch in vollem Gange. Überall standen Pakete und Stapel mit Baumaterialien wie Holzbretter und Sand. Der Platz unterhalb der Sitzreihen war nicht nur für Technik- und Aufenthaltsräume vorgesehen, sondern auch für zahlreiche Toiletten, Geschäfte und Gaststätten. Es gab sogar eine Post, damit die Besucher ihren daheimgebliebenen Lieben eine Ansichtskarte vom Ort des olympischen Geschehens schicken konnten.

Anna fragte sich, ob Leopold heute wohl etwas Besonderes zu ihrem Geburtstag geplant hatte. Sicher würden sie zuerst über Phoenix reden, aber dann würde er sie ja vielleicht sogar ausführen? Sie musste sich sputen, um die nächste Bahn nicht zu verpassen.

Anna eilte um eine Ecke und erschrak. Ungebremst prallte sie gegen die Brust eines Mannes, der ihr mit mehreren Begleitern entgegenkam. Er war einen guten Kopf größer als sie und breit gebaut. Während sie von der Wucht des Aufpralls zurückgeworfen wurde und sich gerade noch vor einem Sturz retten konnte, hatte ihn der Zusammenstoß nicht einmal aus dem Gleichgewicht gebracht. Nur sein Hut rutschte ihm vom Kopf und landete direkt neben Annas offener Mappe auf den quadratischen Steinplatten.

Annas Blicke schossen zwischen dem stattlichen, aber erschrocken wirkenden Mann und ihrer Mappe auf dem Boden hin und her. Schockiert stellte sie fest, dass die Verschlusskordel gerissen war. Man konnte die oberste Zeichnung sehen, das Porträt eines bettelnden Mädchens, das sie vergangene Woche beim Warten auf den Zug auf dem Bahnsteig am Kottbusser Tor beobachtet hatte. Der im Gang kanalisierte Wind griff sich das Mädchen und riss es ein Stück mit sich.

«Fräulein!», mahnte der Mann mit einem warmen Bariton. «Passen Sie besser auf!»

«Entschuldigung», murmelte Anna. Weitere Blätter wurden vom Wind angehoben. Sie griff hektisch nach der Mappe, während der Mann gleichzeitig nach seinem Hut langte. Beinahe wären sie mit den Köpfen zusammengeprallt – wobei Anna nicht umhinkonnte, seinen überraschend angenehmen Duft wahrzunehmen. Ein dicker, älterer Mann mit einem Block in der Hand lachte über das Missgeschick. Bevor Anna die Mappe zu fassen bekam, erfasste ein weiterer Windstoß mehrere Skizzen und verteilte sie im ganzen Gang.

«Oh nein!», stöhnte sie laut.

Ein jüngerer Kerl aus der Entourage stürzte in einem Anflug von Hilfsbereitschaft einem Blatt mit einer Tuschezeichnung hinterher.

«Ich hab’s erwischt», rief er und hielt die Zeichnung stolz empor. Anna hatte sich auf die anderen Blätter gestürzt und sammelte sie hektisch ein. Niemand durfte diese Skizzen sehen!

«Oh, das nenne ich mal ansprechende Kunst», spottete der Dicke amüsiert.

«Penske!», erklang die mahnende Stimme des Mannes, der seinen Hut wieder aufgesetzt hatte.

«Was ist, Herr Schmidt?»

Anna spürte das Blut in ihr Gesicht schießen. Es handelte sich um einen weiblichen Akt. Das Modell saß nackt mit überschlagenen Beinen auf einem nur angedeuteten Stuhl und hielt eine Brust verborgen, während man die andere sehr genau sah.

Jetzt bemerkte auch der junge Mann, was er da in der Hand hielt, drehte das Blatt schnell um und hielt es gegen seinen Bauch. Das machte die ganze Situation noch peinlicher.

Anna bemerkte, dass Schmidt sie musterte. Sein Blick war streng, aber dahinter schimmerte noch etwas anderes, das sie nicht benennen konnte. Gern hätte sie länger hingesehen, aber da unterbrach er ihre Grübeleien: «Sie sollten wirklich besser aufpassen, wo Sie hinrennen, junges Fräulein. Vor allem, wenn Sie so brisante Fracht bei sich tragen. Herr Bouchard, Herr Dremberg, ich würde sagen, wir sollten uns von diesem Missgeschick nicht aufhalten lassen, sondern schon einmal weiter ins Stadion gehen. Penske, helfen Sie dem jungen Fräulein doch, diese Kunstwerke einzupacken.»

«Ich brauche keine …», sagte Anna, doch Schmidt war mit seiner Entourage ohnehin schon weitergezogen. Eitler Affe, dachte sie.

«Emil Penske, sehr erfreut!»

«Her mit dem Bild», sagte Anna schroff. Sie steckte den Akt zurück in die Mappe und blätterte hektisch nach einer besonderen Skizze, die nur für Leopolds Augen gedacht war. Da! Penske hob sie gerade auf!

«Gib mir das sofort!», fauchte sie ihn an und riss ihm das Papier förmlich aus der Hand. Einen Moment später lag es mit der bemalten Seite nach unten in der Mappe. Anna klatschte die Front zu.

«Ich wollte ja nur helfen», sagte der Junge.

«Es tut mir leid. Heute ist einfach …» Sie beendete den Satz nicht, sondern stand auf.

«Nicht dein Tag?», ergänzte Penske grinsend.

«Eigentlich schon. Es ist sogar mein Geburtstag. Aber irgendwie geht alles drunter und drüber. Aber wieso erzähl ich dir das überhaupt?»

Penske war kaum größer als sie. Sein Anzug war klassisch einfach geschnitten, der Hut schien eine Nummer zu klein und wirkte ein bisschen altmodisch, als gehöre er seinem Vater. Er hatte weiche Gesichtszüge und versuchte ganz offensichtlich, sich einen Hitlerschnauz zu kultivieren, aber der Bart wuchs nicht dicht genug.

«Glückwunsch», sagte er strahlend.

Automatisch ergriff sie die ihr hingereichte Hand.

«Äh, danke. Ich glaube, du musst jetzt gehen.» Seine Gruppe war fast außer Sicht. Er blickte kurz in die Richtung, schien aber noch bleiben zu wollen.

Anna fragte: «Was seid ihr überhaupt für eine Truppe? IOC? Leichtathletikverband?»

«Propagandaministerium», erwiderte Penske stolz. «Und wer bist du?»

«Ich muss los.» Anna schüttelte den Kopf und presste ihre Mappe so fest unter den Arm, dass sie auf keinen Fall noch einmal aufgehen konnte. «Danke für die Hilfe.»

«Moment, das geht so nicht», rief er ihr hinterher. «Sag mir wenigstens deinen Namen!»

Im Laufen drehte sie sich um. «Ich bin ein Palindrom.» Sie grinste über seinen verwirrten Gesichtsausdruck und hastete aus dem Stadion.

Kruzifix

Berlin, Freitag, 17. April 1936

Anna zog die hohe Tür vorsichtig hinter sich ins Schloss. Leopold arbeitete noch. Mit schnellen, kraftvollen Schlägen übertrug er seine Energie und Kreativität mit Eisenfäustel und Meißel auf den knapp zwei Meter hohen Marmor vor sich. Der Stein ließ bereits eine menschliche Figur erahnen. Leopold stand mit dem Rücken zu Anna und hatte sie noch nicht bemerkt. Obwohl es im Atelier kühl war, trug er nur seine verstaubte Arbeitslatzhose und ein geripptes Unterhemd.

Anna betrachtete ihn. Auf seinen muskulösen Armen vereinten sich Marmorstaub und Schweiß zu einer matten Schicht, die ihn selbst wie eine lebende Skulptur wirken ließ. Seinen Beinen sah man es in der weiten Hose nicht an, aber Anna wusste, dass sie ebenfalls sehr muskulös waren. Sie hatte sie gezeichnet und berührt.

Auf einmal hielt er im Schlag inne, ließ die Werkzeuge sinken und drehte sich zu ihr um. Ein breites Lächeln entblößte Zähne, so weiß, als habe er sie sich selbst aus Carrara-Marmor geschlagen. Sein ebenholzfarbener Schopf bildete dazu einen reizvollen Kontrast.

«Anna!», begrüßte er sie mit seiner samtigen Stimme und fuhr mit seinem Blick ihren Körper entlang, als wolle er ihn ebenfalls in Stein verewigen.

«Ich bin etwas spät», sagte sie.

Er winkte generös ab. «Das ist nicht schlimm. Ich war so in der Arbeit, ich habe es nicht einmal gemerkt.»

Anna mochte seinen bayerischen Akzent. Er ließ ihn exotisch und distinguiert erscheinen.

Leopold kam auf sie zu und wollte sie an sich ziehen, aber Anna wich zurück.

«Du bist so staubig», sagte sie.

Leopold zuckte mit den Schultern.

«Sind alle schon weg?»

Er zeigte herum. Der Bildhauersaal in der Vereinigten Staatsschule für freie und angewandte Kunst war nur noch von Steinfiguren und Plastiken bevölkert. Seilzüge hingen von schweren Haken an der Decke, in verstaubten Regalen lagen Werkzeuge, Bildbände zur Kunstgeschichte und vergessene Ersatzkleidung. An Wochentagen konnte es hier sehr laut sein, wenn die Steinsäge angeworfen wurde und an jedem Arbeitsplatz Metallhämmer auf Stein prallten. Nun jedoch hing nur noch Leopolds letzter Schlag wie eine hörbare Erinnerung im Raum.

«Und?», fragte Anna. Sie wartete eigentlich darauf, dass er ihr gratulierte.

«Ich geh mich waschen», sagte er stattdessen.

Anna wischte in der Zwischenzeit den Staub von seinem Werkzeug und packte die Meißel zurück in die Ledertasche. Zuletzt ergriff sie seinen schweren Hammer und strich darüber. Der Gedanke, Leopold einfach im Waschraum zu überraschen, erregte sie. Aber auch wenn jetzt niemand mehr hier war, mochte doch jederzeit jemand kommen.

Anna hatte schon vor Leopold Erfahrungen mit Männern gesammelt. Das reichte vom schüchternen ersten Kuss mit einem früheren Freund ihres Bruders über eine leider einseitige Liebe zu einem Kollegen während ihrer Ausbildung zur Bauzeichnerin bis hin zu der einjährigen Affäre mit Gerhard. Durch Gerhard war sie schließlich mit Leopold Stickelsperger bekannt geworden. Der stammte aus München, war das schwarze Schaf einer wohlhabenden Ärztefamilie und strahlte eine Selbstsicherheit und künstlerische Reife aus, die Anna sofort in ihren Bann gezogen hatte.

Sie waren nun seit acht Monaten ein … Anna wusste nicht, wie sie es nennen sollte. Denn sie waren kein Paar im klassischen Sinn. So, wie Leopold stets an mehreren Kunstwerken gleichzeitig den Hammer ansetzte, hielt er es auch mit den Frauen, das war Anna von Beginn an klar gewesen. Trotzdem – die Verbindung zwischen ihnen beiden war weit intensiver als die zu seinen anderen Bewunderinnen, die er nach ein oder zwei Wochen ablegte wie einen schmutzig gewordenen Mantel.

Und neben allem körperlichen Verlangen, einer gegenseitigen Bewunderung, die zu Freundschaft und vielleicht sogar einer Form von Liebe geworden war, teilten Anna und Leopold noch eine Gemeinsamkeit: Sie gehörten beide zur Aktionsgruppe Phoenix und kämpften mit den Mitteln der Kunst gegen das Regime.

«Wie war dein Tag?», fragte Leopold, als er zurückkam. Er hatte sich gewaschen und umgezogen. Graue Hose, weißes Hemd, modische Hosenträger. Das Sakko trug er an der Schlaufe über der Schulter. Er lächelte.

«Ehrlich gesagt war es schrecklich heute.»

«Hast du dich wieder über die Hexe geärgert?»

«Ich musste den halben Tag für Lichtproben im Sand kauern.»

«Trotzdem ist es gut, dass du so im Stadion dabei sein kannst», meinte er.

Sie nickte. Die Arbeit hatte sie nicht nur wegen des Geldes angenommen.

Leopold legte das Sakko über eine Stuhllehne, nahm sie bei der Hand und zog sie zu sich. Er roch angenehm nach Kernseife und dunkler Erde. Anna erhob sich auf die Zehenspitzen, um ihren Geburtstagskuss zu empfangen. Neben einem aufregenden Kitzeln durchfuhr sie mit seinem Kuss ein ruhiges, tiefes Gefühl der Zuneigung. Sie hätte ewig so weitermachen können, aber Leopold wich bald zurück und beendete den Moment.

«Hast du die Skizze?», fragte er. Mit einer wischenden Handbewegung schuf er Platz auf einem der Tische.

Anna holte die Mappe.

«Sie ist lädiert», stellte Leopold überflüssigerweise fest.

«So ein Kerl vom Propagandaministerium ist mir im Stadion in den Weg gelaufen. Dabei ist sie mir auf den Boden gefallen. Und alle Blätter sind rausgefallen. Einer seiner Begleiter hätte beinahe die Phoenixskizze gesehen. Stell dir vor!» Sie lachte.

Leopold zuckte. Seine dunklen Augenbrauen zogen sich zusammen wie Gewitterwolken. «Du hattest sie den ganzen Tag dabei?»

«Ich hatte geahnt, dass die Riefenstahl mich nicht pünktlich gehen lässt.»

«Das soll heißen?»

«Dass ich viel zu spät gewesen wäre, wenn ich die Mappe vorher noch aus der Wohnung hätte holen müssen», verteidigte sie sich.

«Also hast du dir gedacht, du nimmst sie einfach mit?» Er blickte sie ungläubig an.

Anna nickte vorsichtig. Leopold schüttelte nur den Kopf.

«Ist das ein Verhör? Ich hatte die Mappe immer direkt bei mir. Und die Skizze steckte mitten unter den anderen Zeichnungen und Tuschen», sagte sie. «Das beste Versteck überhaupt.»

«Offenbar nicht gut genug, wenn irgendein herbeigelaufener Goebbels-Knecht deine Mappe in die Hände bekommen hat. Kruzifix! Was hast du dir dabei gedacht?» Leopold musste sich beherrschen, um nicht laut zu werden.

Anna wollte etwas erwidern, aber er ließ ihr nicht die Möglichkeit dazu. «Das war mehr als leichtsinnig. Will das in deinen Kopf oder ist der doch nur da, um hübsch auszusehen?»

Anna spürte, dass ihr Tränen in die Augen schossen. Aber sie würde nicht weinen!

Leopold atmete mit geschlossenen Augen tief durch. Dann zog er ihr einen Stuhl heran und wies darauf. Anna setzte sich mit der Brust zur Rückenlehne. Ihr Herz pochte.

«Wenn irgendjemand von Phoenix erfährt, sind wir alle dran. Es ist längst kein Spaß mehr. Das war vollkommen unverantwortlich von dir!»

«Meinst du, das ist mir nicht bewusst?» Eingeschnappt wandte sie sich ab. Sie wusste selbst, dass sie mit dem Feuer spielten. Ihre Aktionen waren gefährlich genug, wenn auch das Risiko wert. Als kurz nach Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler Käthe Kollwitz und Heinrich Mann aus der Akademie gedrängt und an der Hochschule jüdische und regimekritische Lehrkräfte entlassen worden waren, hatten sich Kommilitonen und Professoren ernsthaft betroffen gezeigt. Aber aus Angst vor Konsequenzen hatte keiner protestiert. Doch ein paar Studenten, Leopold, Helmut, Theo und Hape, konnten nicht tatenlos zusehen, wie der Faschismus die Kunst zu seinem Knecht machte. Also starteten sie die ersten geheimen Protestaktionen an der VS. Dann waren Anna und ein paar weitere Studenten zu der Gruppe dazugestoßen, und vor einem Jahr hatten sich alle acht geschworen, dass Freiheit und Kunst im Deutschen Reich wiederauferstehen sollten wie der sprichwörtliche Phoenix aus der Asche. So war ihre Aktionsgruppe Phoenix entstanden.

«Ich will hoffen, dass es dir bewusst ist», mahnte Leopold. Was wir vorhaben, geht weit darüber hinaus, auf Flugblättern die Freiheit der Kunst zu beweisen. Wir haben einstimmig beschlossen, die Aktion Phoenix durchzuziehen. Also zuerst die Plakate in Berlin und dann … Jetzt zeig schon deinen Entwurf!», drängte er.

Anna schlug die Mappe auf und holte das Blatt hervor, das sie diesem Penske vorhin aus der Hand gerissen hatte. Wenn der oder sein Chef – Schmidt hieß er – es sich angesehen hätten, wäre wahrscheinlich wirklich die Hölle über ihnen hereingebrochen. Die nur mit Rot kolorierte Tuscheskizze, die sie Leopold nun hinschob, zeigte die Karikatur des Führers, der über das voll besetzte Olympiastadion hinausragte und es als Bühne für ein Marionettentheater nutzte. An seinen Fäden hingen zwei Figuren: ein Fackelläufer und ein dicker Mann mit schwarzem Anzug und Hut, der ein Schild mit der Aufschrift «IOC» hielt. Das Schild kam mit der Flamme der Fackel in Berührung und drohte, Feuer zu fangen. «Glaubt nicht der Propaganda!», stand in Großbuchstaben darüber.

Leopold sog hörbar die Luft ein.

«Gefällt es dir nicht?», fragte Anna unsicher.

«Doch. Ich stelle mir nur vor, dass du das beinahe in die Hände von Mitarbeitern des Propagandaministeriums gegeben hast.»

«Kannst du es jetzt mal gut sein lassen?», fauchte sie ihn gereizt an.